Gandauers Ankunft
Dietrich
Kothe
(romanhafte
Verarbeitung authentischen Materials der Geschichte des Dritten Reichs, der
Stadtgeschichte Landsbergs und Breslaus und recherchierter Lebensläufe)
Handlung:
Die Justizvollzugsanstalt Landsberg.
Die Stadt Landsberg im sozusagen Blick aus dem Knastfenster, nämlich in
Verarbeitung von Berichten einer einsitzenden, einfältigen, politisch
rechtslastigen Person, die ein wenig Ortskenntnis auftischen kann. Die
Hinterlassenschaften der jüngeren Geschichte, vor allem des NS-Staates, im
Umfeld der Stadt. Flüchtlingsschicksale.
Eine kleine Landgemeinde
aus der Sicht eines Aussteigers und dessen Rückblick auf seine Tätigkeit als
Gemeinderat. Augsburg auch, im Kopf des Dropouts, der sich im fünften Stock ein
Urwaldparadies schaffen will.
Breslau in der Erinnerung
an seine Zeit als Festung im Inferno des Niedergangs des NS-Staates.
Personeninventar:
Gandauer,
der sich in seinen alten Tagen, von der Justiz veranlasst, mit der eigenen
NS-Vergangenheit auseinandersetzen muss, nebst jener Verbrechen des beim
Bomberangriff in Breslau Umgekommenen, dessen Identität er sich angeeignet
hatte. Gandauer alias Odtke ist die Hauptfigur, die es sich in jener in der
Nachkriegsgesellschaft weitverbreiteten, vorgeschobenen Nichtwissenshaltung
eingerichtet hatte.
Der
ehemalige Dorfpolitiker und praktizierende, allerdings missgelaunte Gutmensch
Piscator. Der einen extremen Lebensweg einzuschlagen versucht. Der jedoch auch
damit nicht zurechtkommt. Erst im Knast will er versuchen, sich an den vielen
Angeboten dort ein wenig aufzuheitern.
Rebekka,
im Grunde eine starke Frau, die allerdings etliche Male vom Schicksal in
Gestalt von Mistkerlen gestreift wurde. Sie holt Piscator immer wieder auf den
Boden der Tatsachen zurück.
Der
junge Frank, Zivildienstler, der um seine zölibatäre Zukunft ringt, nachdem er
einer Frau begegnet war. Diese zieht ihn nach und nach in ihre Bande von
Neonazis. Er plant, die extreme Truppe, der sie angehört, zu demokratisieren –
was dort aber nicht so gut ankommt.
1
Die Bilder überspiegeln sich (im
Seniorenheim; Anschuldigungen gehört; der Zivi - Sommer ‘88)
2
Notizen des Zivildienstleistenden (Begegnungen
mit dem Mädchen im Café und im Heim)
3
JVA für Ersttäter (G. in U-Haft: die
Knastsituation; 1. Brief an Peters – LL)
4
Einer im Krankenstand (Buchhalter
Fischer (Piscator) krank; politische Zustände im Lande)
5
Sterzinger, der Anwalt (Erster Dialog; G. will keine
Haftverschonung)
6
Vom Knastalltag eingeholt (G's
Mithäftling Cziflic; Geschichte im Ruethenfest; der Fluss -LL)
7
Gandauer erhält einen überraschenden Besuch (Der Zivi kommt zu Gandauer, erstes
Gespräch)
8
Fischer schmeißt hin (Fischers
Unterschlagungen entdeckt - er steigt aus; Hitlers Hundertster)
9
Gedanken des etwas verstörten jungen Mannes
10
Der vitale Stummelstaat ist 40
11
Der Zivi hält fest (Der Traum und
die Weiblichkeit)
12
Hussl und das Päckchen (Wärter
Hussl u. das Päckchen; Story von Pospiczil; HH Suiter )
13
Kontaktvermerk des Zivis (Er
begegnet Manuela/Hilda an der Arbeitsstelle; "Kameradschaft")
14
Auf Tauchstation im Hochhaus
(Piscator im Hochhaus; Politik im Dorf- Gemeinderat - die 70er)
16
Ein unerwarteter Dialog (Der Zivi
kündigt seine Demokratisierungsaktion der NEOS an)
18
Bericht Frank Sollers über seine erste Aktivität
19
Recycling und das Innenleben
(Piscator denkt nach über Recycling in seiner Versteck-Wohnung)
20
Seelenhirte in Aktion (G. über seinen religiösen Werdegang; HH
Suiter bei G.)
22
Hilda nimmt sich Franks erziehlich an
(Frank verknallt sich in sie)
23
Diese traurige Grenze (Piscator: DDR-"Vision"; Plan: Politmemoiren seiner Provinzposse)
24
Menschlichkeit und Menschheit
(Frank u. d. NEOS; an Peters über die Leute im Städtchen – LL)
25
Frank Sollers völlig privates Geständnis
(eine geheime Liebeserklärung)
27
Bei der Fahrt nach oben (Piscator
u. Rebekka intim; Beginn der Niederschrift verschoben)
28
Hedwig aus der bürgerlichen Existenz
(Erinnerung an Hedwig und bürgerliche Existenz - die 30er )
29
Davon loskommen wollen (Frank leidet;
Brief an Gandauer über Umtriebe der Neos)
30
Bergner, der Glaube und Mathilde Ludendorff (Bergner rechtslastig; Gespräch mit HH
ü. Glaube)
31
Vier Gäste, darunter ein Hund
33
Frank hält fest (Eine Aktion der
NEOS)
38
So eine Zumutung (Frank notiert
Abstoßendes beim Lagerspiel der Neos)
39
Parteifreunde und andere Feinde
(Piscator: Polit-Erinnerungen: Wahlkampf auf dem Dorf)
40
Chaos der Erlebnisläufe (G. - HH
Suiter: Chaos d. Erlebnisläufe; Besucher-Dienst angekündigt)
41
Rebekka und die Männer (Piscator:
August, baden; Rebekka und die Männer)
42
Der Untergang einer Stadt (Anwalt
v. Urlaub zurück, G. über Breslaus Untergang – Breslau)
43
Die Stadt, das Dorf, die Flucht
(Piscator: Rebekka fährt zum Knastbesuch, P. Polit- Erinnerungen)
44
Eine sonderbare Aussprache (Hildas
Neos-Bekenntnisse)
45
Am Knastfenster (G. erzählt seinen
Spatzen: Breslau Jan. '44 – Breslau)
46
Vielgesichtigkeit (Piscator: in
Augsburg, Afra-Story; 2. DDR-"Vision")
47
Ihr und die Politik (Piscators im
Knast bei G., Vorwurf: "ihr und die Politik" )
48
Strategiewechsel (Frank will mit
den NEOS anders verfahren)
49
Motive (zweiter Knastbesuch von
Piscator bei G.: Politgespräch über Motive)
51
weg damit (G. versucht, davon loszukommen;
Besuch von Piscator)
54
Eine Selbstbezichtigung (Frank mit
NEOS-Pimpfen auf Wanderschaft)
55
Über Dilettantismus der Lebensführung
(Tiefe Einsichten von Fischer alias Piscator)
56
Eine etwas ausgefallene Aktion
(Frank notiert Widerwärtiges -LL)
57
Vom Grauen erfasst (G's Notiz nach
der Verhandlung; G. nimmt Schuld an)
58
Es bewusst leben (Gandauer alias
Odtke will Anwalt schreiben)
„Da ist ja noch Gandauer!“, stellte der junge Mann fest, als er in den Fernsehraum kam. Er blickte eine Weile auf den Bildschirm und war sich sicher, dass es noch dauern würde. So setzte er seinen Kontrollgang fort.
Nach einer Weile erschien er wieder. „Es geht auf Mitternacht zu, Herr Gandauer! Die Geisterstunde naht!“, witzelte er, um seine Mahnung freundlich abzurunden.
Es war keine Reaktion auszumachen. So setzte er sich etwas abseits, zog seinen Gallischen Krieg aus der Jackentasche und begann zu lesen. Cäsars Bezwingung der südlichen Belger hatte er erreicht. Er kam damit nicht weit. Das fade Flimmern des Fernsehers, unterlegt mit monotonen Geräuschen, schläferte ihn immer wieder ein. Das Buch klappte zu. Mit einem Ruck richtete er sich dann jedes Mal auf.
„Machen sie Schluss, Herr Gandauer. Sie sind ja auch todmüde!“, nörgelte er.
„Tod“, echote es matt herüber.
„Machen sie doch diesen Western weg!“, knurrte der Junge verärgert.
Er schien Gandauer nicht erreicht zu haben.
„Ich weiß gar nicht“, wurde er lauter, „was sie an dieser Viehtreibersoap finden!“
Er ließ es sein, nahm doch wieder das Buch zur Hand und rückte sich unter der Leselampe zurecht. „Es ist doch immer so“, sagte er sich nach einem Blick auf seinen Text. „Andere niedertrampeln. Obenauf sein. ... nach der Unterwerfung ganz Galliens ...“, las er. Er ließ das Buch auf die Knie sinken und schloss die Augen. „Wenn ich einschlafe, bin ich eben weggetaucht. Gandauer kommt ohne meine Aufsicht zurecht.“ Er schielte zur Fensterseite des Raums, wo der alte Mann saß. „Welke Figur“, überkam es ihn, „scheint fast verwachsen mit dem verschlissenen Backensessel. Gesamtkunstwerk“, lästerte er. „Gandauer hat zwar den Kopf dem Fernseher zugewandt“, stellte er noch fest, „scheint aber die Augen geschlossen zu haben. Na so was. Und ich kriege ihn hier nicht weg. Und der Apparat wirft Farben und Geräusche in das spärlich beleuchtete Zimmer. Es ist wie eine Lichtorgel“, malte er sich die Szene aus. „Jetzt quillt alles grellrot aus dem Kasten. Im Dämmer flimmert es wohl meinem Alterchen durchs Hirn“, fantasierte er sich weiter: “Rot wie Blut. Das nun hier. Aus. Schluss. Gandauer! Überall Sand. Deine Sanduhr ist bald abgelaufen“, sinnierte er noch. „Eine von der Art ist sie, eine, die einer nicht mehr umdrehen kann. Damit es wieder von vorne losgeht ... Dem Gandauer tut das womöglich auf so eine selbstquälerische Weise schmerzlich wohl, was der Apparat da auswirft. Wenn er es denn überhaupt wahrnimmt. Und wie es sich ihm dann vielleicht über die Erinnerung schiebt und sich vermischt: Ich hänge hier im Sattel, könnte sich ihm da hineinspielen. Nach dem äußersten Einsatz und den vielen Gefahren! Mensch, Gandauer. Du hattest dich sicher auch total eingesetzt, damals in eurer tollen Zeit. Wie so viele von euch, viel zu viele, fast alle. Wenigstens im Kopf und mit dieser erhobenen Heil-Unheil-Hand. Die ganzen Gefahren. Ja, ja. Und der Durst jetzt in deiner Alterswüste. Wofür das alles? Es ist lachhaft! Die Zeit. Der viele Sand. Ihr hattet immerhin nicht weniger gewollt, als den neuen Menschen zu formen und mit ihm die ganze Zeit in den Händen zu haben! In euren Greiferklauen ... Und als ihr dann eure Hände betrachtet ...“ Der junge Mann ließ es sein. „Er ist vielleicht gar keiner von denen“, beruhigte er sich, „die wir heute verdächtigen. Allein ihres Alters wegen und der Zeitgenossenschaft ...“
Er wollte eigentlich eine Weile dösen. Um Gandauers Film abzuschlafen. Er versuchte es jedoch noch einmal mit seinem Buch. Da stieß er auf diese Stelle in Cäsars Bericht: ... hob ich in Oberitalien zwei neue Legionen aus ... Das bescherte ihm wieder so einen Adrenalinstoß und ließ ihn hellwach werden. Er maulte nun in sich hinein, dass das typisch sei für diese Gewaltmenschen, was sie da den jungen Kerlen antun, die das Material abgeben müssten bei dieser ewigen Ausheberei, Schleiferei, Verheizerei „...ei, ...ei ...“ Er lachte schließlich seinem Wortspiel nach. Er blickte auf – und zu Gandauer hinüber. „Auch so ein Ausheber damals?“, schimpfte er, „mit langen Stiefeln unten und oben einer großen Klappe. – Und wie er dasitzt, wie ein Ölgötze. Blödes Wort. Wie immer auch die Ölgötzen dasitzen – ich muss ihn aufscheuchen“, nahm er sich vor: „Herr Gandauer! Dieses Ami-Zeug ist doch nichts für sie!“
Der Junge konnte wieder keine Bewegung drüben im Backensessel ausmachen. Er beugte sich etwas vor, um zu sehen, ob Gandauer nun wirklich eingeschlafen sei – „oder sogar entschlafen“, gönnte er sich böse. „Für einen Ölgötzen ist er allerdings zu dünn“, schränkte er ein. „Den hätte ich mir sicher irgendwie fett vorzustellen. Als so einen Buddha vielleicht“. Das packte ihn – er begab sich in Gedanken auf weite Reisen. Weit weg, sehnte er sich. Weg von hier. In einem Indien baute er sich sein Luftschloss. Er ging gleich auf in diesem gesegneten Wirrsal dort in seinem Orient. Er wandelte unterm Turban halb nackt umher. Er pries das andere Klima, die anderen Menschen, dieses bunte Gewusel. Strömung, Rausch der Sinne, Leben in einer ganz anderen Gangart ...
„... Jetzt noch auf dem Gaul“, flimmerte es Gandauer. „Die Leute hatten uns doch gerufen. Sie hatten sich nicht mehr zurechtgefunden in ihrem Durcheinander ohne starke Führung. Wir machten ihnen da schonungslos Ordnung. Man hatte sich freilich bald mit dem Erfolg zugesoffen und war verblendet. Nüchtern dann nach einiger Zeit: Blut und Trümmer vor Augen. Das viele verbrauchte Menschenmaterial! Ehemals blühende Landschaften verwüstet! Es konnten nur Bestien gewesen sein, die da gewütet hatten! Und doch nicht etwa wir? Was sie einem jetzt alles überkippen. Diese Kübel moralisch angerotteten Dreckes. Diese stinkende Last. Ich muss mich auf dem Gaul halten ...“
„Was murmeln sie da?“, fuhr der junge Mann aus seinem fernöstlichen Eden auf, „... auf dem Gaul halten? Im Sattel ist doch der getürmte Gangster da im Film!“, wunderte er sich und witzelte leise vor sich hin: „Mein Gandauer reitet da schon mit. Wenn er es gefälligst im Bette machte. Hoppe Reiter! Auf der Matratze!“ Er lachte sich von seiner platten Gegenwart weg und träumte sich wieder in verklärte indische Weiten.
„... Überall der heiße Sand“, war es Gandauer im Kopf. „Verflucht. Keiner wagt, das Maul aufzumachen. Die Lippen zusammengepresst. Um nicht ganz auszudörren. Auch die Gedanken. Gedanken, die durchs Hirn brennen und einen von innen her versengen. Sie hatten uns verjagt, als uns alles entglitten schien. Öde überall. Eine große rotheiße Schüssel. Die Zunge am Gaumen kleben fühlen. Der Gaul am Verrecken. Doch was ist das dort? Von irgendwo her Bewegung in der flirrenden Einsamkeit. Irgendwas. Ein Schatten vom Horizont her. Ein dunkles Etwas. Ein Rollen. Aufkanten. Springen. Immer näher. Immer schneller. Auf mich zu ... Ach ja, ein Steppenläufer rollt da heran. Ein Noch-Leben. Aus seiner Verwurzelung gerissenes Sein. Ein herausgerissenes Etwas. Ein paar Lebenskreise durchquerend. Wessen auch immer. Leere Begegnung. Nur Eigengeräusch. Kaum vernehmbar. Spuren im Sand. Von der Zeit sofort verwischt. Ein Steppenläufer rollt vorbei ...
Ein lautes Lachen von irgendwo. Zusammenschrecken. Ein Ruck. Ein Reißen im Genick. Es schmerzt. Als zerrte der Henker am Nacken ...“
„Also sehen sie, Herr Gandauer! Ihnen nickt ja dauernd der Kopf runter! Beinahe wären sie aus dem Sessel gekippt!“, kam es vorwurfsvoll zu ihm herüber. Es verklang aber. Gandauer wurde es wieder dämmerig und gut. „Alters sterben! Man darf aber doch nicht nur aus einem so nichtigen Grund abtreten!“, murmelte er noch. In seinem Kopf spulte es sich weiter ab: „Wir hatten doch allen das Sterben als Opfer angetragen für Volk und ... Da war doch immer noch was in dieser Formel. Die vielen jungen Männer und die Frauen und Kinder ... Wieder dieses Lachen hier irgendwo. Jemand in meiner Nähe? Ich muss gequatscht haben ...“
„Alters sterben ist nicht genug? Ob so ein Held oder ein anderer Verrückter mehr Grund hat, lieber Herr Gandauer, das weiß niemand! Mir reicht es. Gestern waren es wieder drei, die ihren Kratzfuß gemacht hatten! Das Waschen dann und Aufbahren ... Dieser Job hier!“
„... Ob es schmerzt? Vielleicht tut es nicht weh“, war Gandauer wieder ganz in seiner Welt. „Wenn der Tod sein Handwerk versteht. Manchmal soll er ein Freund sein. Allerdings ist er oft auch ein Stümper. Ein gleichgültiger Mörder überhaupt. Der so häufig Helfer einsetzt. Die seine Opfer schinden und schänden ...“
„Mensch, der Kerl in der Flimmerkiste ist immer noch auf seinem Gaul. He, Boy, gib dem Klepper die Sporen und gönne dir in der Kneipe einen Schluck!“, rief der Junge. „Das nervt!“, ärgerte er sich. „Und ich veröde hier meine Zeit. Diese Jahrgänge von vorgestern haben doch ihr Leben gelebt und sind marschiert. Immer hinter einem her!“, maulte er leise und blätterte in seinem Buch, um das Ende von Cäsars gallischem Krieg zu suchen. „Klar, wer in der Kolonne marschiert, der hat immer auch die Verlängerung eines Rückens vor sich ...“
„... Sie sollen ruhig ihren Triumph haben“, ging Gandauer plötzlich wach durch den Kopf. „Jetzt hat man wieder einen erwischt. Sie sollen sich ruhig freuen. Einen ausfindig gemacht zu haben von diesen abgetakelten Ariern. Einen von den schlauen Ratten aus dem braunen Untergrund ...“
„Also bitte, jetzt dem Apparat den Saft abdrehen und zu Bett gehen!“, bestimmte der Junge und schaltete ab. „Aber sie sind mir doch nicht böse?“, setzte er hinzu, weil er über seinen Eingriff selber erschrocken war. Gandauer schüttelte verneinend den Kopf und erhob sich. Er schwankte etwas, als er sich aufgerichtet hatte. Er suchte Halt an der Lehne. Der junge Mann war hinzugesprungen und hatte ihn beim Arm gefasst. „Jetzt nicht auch noch blaue Flecken!“, warnte er sich und lockerte den Griff. „Wenn das dann die Verwandtschaft sieht. In der Zeitung steht dann wieder, dass Alte in den Heimen misshandelt würden. Doch zu dem Gandauer kommt ja nie wer ... Bloß dieser Typ neulich. Echter Zombie. Der aussah wie Gestapo als Wiedergänger aus einem Gruselkabinett. Schwarzer Ledermantel ...“
„Sie sind Zivi, nicht wahr?“, wollte Gandauer wissen.
„Jawohl, Zivildienstleistender!“
„Mit dem Ton hätten sie gut zum Militär gepasst!“
„Ist eben nicht nur eine Sache des Tons!“
„O ja, Gesinnung, wird jetzt wohl gleich kommen. Ich kenne das mit der Gesinnung!“
„Wissen sie, ein Teil meiner Kumpel studiert bereits oder verdient schönes Geld. Ein Teil gammelt bei der Bundeswehr rum. Und ich lasse mich hier womöglich auch noch verquer anreden!“
„Sie werden es überleben. Nichts für ungut! Sie haben doch den Wehrdienst vermutlich aus sogenannten Gewissensgründen verweigert.“
„Diese Gewissensgründe waren wirklich so und nicht etwa nur genannt, Herr Gandauer!“
„Das mit dem Gewissen und der Moral, das ist ja allezeit eine äußerst heikle, gleichwohl wichtige Sache. Doch sie sollten vielleicht ihrer Bildung noch das Quäntchen Humanität hinzufügen – wenn sie gestatten – und mit alten Leuten respektvoll verkehren. Auch wenn das mitunter ziemlich anstrengend ist!“
„Ich werde in mich gehen!“, grinste der junge Mann. „Ich kann ihnen ja ein Kompliment machen, Herr Gandauer. Sie sind noch der angenehmste Patient. Ach, Verzeihung, das heißt ja bei uns Bewohner.“
Gandauer machte ein paar Schritte in Richtung Ausgang, blieb jedoch noch einmal stehen. „Wie war das jetzt eigentlich in diesem Western? Diese Verbrecherbande hatte die ganze Stadt fest im Griff und gehörig tyrannisiert? – Ich bin nämlich immer wieder mal eingenickt. Da haben sich bei mir vielleicht Bilder aus der Vergangenheit mit dieser Filmhandlung vermengt. Erst wieder bei der Flucht des Kerls auf dem Gaul hat sich das etwas entwirrt. Ich bin gewissermaßen in der Wüste wieder zu mir gekommen. Es kann leicht sein, dass mir einiges durcheinandergeraten war. Das waren doch Verbrecher, widerliche Mörder, nicht wahr? Solche, die anfangs als zwar derbe, doch brave Saubermänner dahergekommen waren.“
„Diese Bande hatte auf die meisten Menschen dort tatsächlich zuerst einen guten Eindruck gemacht. Das habe ich auch mitgekriegt“, erklärte der junge Mann. „Oder diese Kerle schienen zuerst nützlich gewesen zu sein in diesem Durcheiander.“
Als er bemerkte, dass Gandauer noch in der Tür stand und anscheinend wartete, fuhr er fort: „Diese Ausputzer hatte man sogar gerufen. Das war doch bei ihnen damals am Ende dieser sonderbaren Weimarer Zeit auch so!“
„Wenn sie wüssten, junger Mann!“, wich Gandauer aus.
„Sogar der Gottesmann hatte diesen Gangstern schöngetan. Er war damit ganz zufrieden, dass die mit ihrer Handgreiflichkeit etwas geschafft hatten, was ihm mit seinem Predigen nicht gelingen wollte. Etwas jedenfalls mit dem Anschein von Sitte und Anstand. Die Gangster hatten allerdings bald die Sau rausgelassen. Und wirklich irre, dass das die Leute fast bis zuletzt für richtig und für notwendig hielten!“
„Ja, man kriegt immer die Herrschaftsverhältnisse, die einem angemessen sind“, kommentierte Gandauer und wollte gehen. Dem jungen Mann war diese Formel nicht neu, so ging er nicht weiter darauf ein, sondern berichtete noch, dass dann wieder Pistolen gekommen waren, um diese Bestien zu vertreiben.
„Es ist vielleicht so“, meinte Gandauer: „Was heute als nützlich und als richtig erscheint, das kann morgen schon lästig sein!“ Er nickte dem jungen Mann zu und ergänzte: „Oder mit Saint Just ... – Kennen sie den?“
„Aha, Examen!“, lachte der. „Dachte, ich hätte die Schule endlich hinter mir!“
„Also“, war Gandauer ungeduldig, „dass ich mein Volkshochschulwissen präsentiere. Und zwar frei nach besagtem Revolutionsfranzosen: Die Ordnung von heute sei das Chaos von morgen.“
„Der Satz klingt verflixt entschieden – und macht mich misstrauisch.“
Gandauer verließ den Raum. Er hörte noch hinter sich rufen: „Ich weiß allerdings nicht, ob sie mit ihrem Saint Just in guter Gesellschaft sind, Herr Gandauer! Gerade fällt mir ein, dass der Kerl mit Robespierre eine satte Schreckensherrschaft betrieben hatte. Er landete auch unter der Guillotine und verlor seinen Kopf.“
„Eine ruhige Nacht!“, kam nur von Gandauer, schon auf dem Weg zum Aufzug.
„Ich muss es hinter mich bringen“, kam ihm bei der Fahrt nach oben in den Sinn. „Ich weiß ja nun, dass die Justiz die Hand nach Gandauer ausgestreckt hat. Ich weiß, dass sie kommen werden, um mich zu holen. Man kennt das. Das lederbemantelte Gespenst von neulich hatte es mir ja geflüstert, dass da etwas auf mich zukomme. Ich weiß allerdings nicht, warum da jemand, den ich gar nicht kenne, glaubte, mich warnen zu sollen. Und auch noch mit dieser Begleitmusik: Sie hätten diesen Arzt, diesen Mauthausen-Heini, auch nach Kairo und in Sicherheit gebracht. Anfang der Sechziger. Den die ganze Hetze böswillig Doktor Tod betitelt habe.
Es kommt immer wieder hoch, das alles.
Mensch, Kopf hoch! Endgültig Schluss damit! Ich werde mich stellen!“
Gandauer war oben angelangt. Er fühlte sich gut. Er stand jetzt in seinem Zimmer. „Den letzten Schnörkel gönne ich mir. Alle anderen sind abgetaucht in Unschuldsbeteuerungen, in Vergesslichkeit. Oder sie machten irgendwo einen auf Exot. Vielleicht auch mit so einer Tarnkappe mittels Namensänderung. – Das war jetzt wohl ein Eigentor! Denn gerade damit habe ich mich unter diese Fälscher und Täuscher eingereiht. Trotzdem, ich stelle mich! Das genehmige ich mir. Nachdem ich mich ein halbes Leben lang bereits selber eingesperrt hatte. Schließlich besitze ich Übung darin, in virtuellen, wie sie heute sagen, verschlossenen vier Wänden zu sein.“
Er richtete sich das Bett. „Da stelle ich mich!“, bestärkte er sich laut. „Erhobenen Hauptes. Morgen bereits. Bei der Staatsanwaltschaft. So wie ich bin und ohne Gepäck. Im Taxi lasse ich mich nach München bringen. Ich fahre richtig vor. Zuerst schön gefrühstückt. Raus aus diesem Totenhaus. Und zwar aufrecht und auf beiden Beinen. Und nicht etwa entsorgt, mit den Füßen voran. Mal sehen, was sie meinen, mir anhängen zu müssen.“
Er kicherte, als er sich die Decke heranzog: „Es soll mein letztes Vergnügen sein. Mein letzter verdammter Spaß.“
„Alle niedergeschlagen! Jetzt nur noch warten auf ein Versorgungsklingeln. Rumsitzen.
Vielleicht was Nützliches anfangen. Nur nicht lesen, da fallen mir zur Nachtzeit die Jalousien runter. Gibt es was zum Arbeiten? Ach ja, zum Aufarbeiten. Endlich damit beginnen! Okay, Schreibzeug her!“
Ich notiere angesichts der Umstände ...
„Na ja, nicht gar so gestelzt mir selber gegenüber! Wenn es auch noch so ungewohnt ist und dazu so plötzlich, dass ich damit beginne, Tagebuch zu führen. Wenn ich überhaupt damit fortfahre. Hier also nur einmal so etwas wie ein Erinnerungsprotokoll. Also ...“
Neulich im Stadtcafé gewesen. Die Tasse noch für einen schlanken Zwickel. Für einen mit meinen Möglichkeiten noch erschwinglich. Sie haben das dort nett eingerichtet. Ein bisschen Kunst an den Wänden. Zum Kaffee gibt es nach alter Art Wasser – ich blödle mir wieder etwas vor: ... weder Seife noch Handtuch dazu. Und ein paar Tische weiter saß mir ein Mädchen gegenüber. Ich war allerdings erstaunt. Denn die etwa Siebzehnjährige hätte – nach der Ausrüstung neben sich – doch wohl eigentlich in der Schule sein sollen. Sie mochte gut einssiebzig sein, schätzte ich, als sie sich kurz erhob, um wohl zur Toilette zu gehen. Sie erschien wieder, ein wenig geschminkt, fiel mir jetzt auf. Ich nahm, zur eigenen Überraschung, ungeniert weiter Maß: Kräftige, eine von der lieben Natur gut gemodelte Figur.
Aber worauf lasse ich mich auch bei meiner Notiz wieder ein? Nachdem ich mich deswegen bereits im Café über mich selber gewundert hatte! Doch das war es ja im Grunde: Ich blickte immer wieder einmal zu ihr hinüber. Was die Begegnung, um die es sich bereits handeln mochte, nicht gerade neutralisierte.
„Ich werde den Stift jetzt weglegen, um Abstand zu gewinnen!“, bestimmte er sich.
Nach etlichen Kontrollgängen sah er ein, dass er vor etwas davonlief. Die Erinnerung ließ ihn nämlich nicht los. „Dieses Mädchen ist mir schier eine Erscheinung“, jammerte er sich vor. Er wollte sich sofort von diesem Eindruck befreien, dass nämlich so etwas wie Erscheinung doch dem Jenseitigen vorbehalten bleiben müsse und nicht etwa dem Auftauchen einer so irdischen Figur einzuräumen sei. „Eine solche Formel genügt dagegen nicht, um diese tiefere Regung, die bei mir zweifellos im Spiel ist, zu beherrschen!“, war ihm klar. „Ich muss mich eben diesem Ereignis, dem mit diesem Gefühl quasi Leben eingehaucht worden war, weiter widmen“, war er überzeugt. „Männlich mich diesem Eindruck von Weib stellen“, witzelte er sich hinterher. „Denn nur eine Auseinandersetzung“, war er überzeugt, „mit dieser Begegnung biete eine angemessene Möglichkeit zur Aufarbeitung. Also ...“
Das mutmaßliche Schulmädchen hatte mein – nun ja! – wiederholtes Auf-sie-Blicken vermutlich fehlgedeutet. Es fing an ... Und das doch ganz unverhohlen ... Ja doch! Ich muss es mir eingestehen! Das Mädchen begann, mit mir zu flirten: Augenzwinkern; ein in die Mundwinkel huschendes Lächeln; mit dem Finger dieses Haarschüppeldrehen. Um das die Psychologen wissen wollen, dass es eine Vertrauensspiegelung darstelle.
Vielleicht ist mir ein, wenn auch verklemmtes Grinsen übers Gesicht gezuckt. Ich hatte jedenfalls bald das Gefühl, dass da etwas, wie es heißt, gefunkt hatte. Löst ein solches Erlebnis sicher bei vielen Wonne aus ... – bei den normalen ... oder besser gewöhnlichen Menschen ... Ich gestehe mir hier – auf dem Papier ... Quatsch beiseite: Ich war eher schockiert – entblödete mich hingegen beim Hinausgehen nicht, nicht bei mir dann selber Maß zu nehmen: Im Spiegel einzuschätzen, ob meine Einsachtzig und mein kurz geschnittenes Blond zu ihrem streng in so was wie einem Knoten mündendem Brünett passen würde. Ich bekenne mir hiermit selber, mich dieser Dummheit zu schämen. Ich schreibe es in der Hoffnung nieder, mich davon einigermaßen befreien zu können. Eine Übung, ähnlich der des biblischen Sündenbockes, dem sie auch ihre notierten Probleme um den Hals gebunden haben sollen, bevor sie ihn in die Wüste jagten. Damit hätte es eigentlich sein Bewenden haben können. Diese Begegnung wäre als ein einmaliges Geschehen allmählich in hoffentlich blasse Erinnerung geraten.
Ich würde das alles eigentlich nicht notieren (müssen). Wäre nicht etwa einen Monat nach diesem zufälligen Treffen im Café dieses Mädchen plötzlich im Altenheim an mir vorbeigehuscht.
Gut, dachte ich, sie hat ihre Oma hier oder irgendwen. Ich ging meiner gewohnten Arbeit im ersten Stock nach – allerdings immer mit diesem Mädchen in den Gedanken. Als Ausrede dafür, als Ausgleich und womöglich ... Ich will es jedenfalls jetzt noch nicht ganz ausschließen: Ich leistete mir einen immerhin ziemlich drastischen Vergleich der Jugendlichen in voller Blüte mit den verwelkten Bewohnern vor Ort. Ja, ich erlaubte mir, gerade wenn das Mädchen im Augenblick meinen Kopf ganz besetzt hatte, einen sicher absolut verwegenen gedanklichen Abstecher. Und das unternahm ich gerade dann, wenn ich Vollpflegemaßnahmen durchzuführen hatte. Ich peinigte mich buchstäblich! Ich peitschte mich gewissermaßen innerlich aus! Ich versuchte tatsächlich, mich auf die Reise aus dem körperlichen Verfall der alten, entblößt zu Betreuenden zurückzufantasieren. Und zwar in deren dralle, pralle Jahrzehnte der Jugend. Ich schämte mich sogleich und schlug mir mein Kirchenlatein mit der Vanitas um die Ohren, dass alles eitel und nur Schein und also vergänglich – und ich ein Idiot sei. Ich bekenne mir an dieser Stelle, nach dem erforderlichen Entkleiden meiner dienstlich zu Betreuenden, leider auch noch in der Fantasie lüstern dieses Mädchen entkleidet zu haben. Allerdings verschaffte mir dieses drastische Unterfangen, das jeweils entgegengesetzte Bild erscheinen zu lassen, immerhin ein wenig Auspendelung.
Da tauchte das Mädchen auch am nächsten Tag wieder im Altenheim auf. Gleich am Morgen und eben zu einer Zeit, die für Besucher eher ungewöhnlich war. Es sah nach Arbeitseinsatz aus – und machte mich ratlos. Ich grüßte betont flüchtig, war jedoch ... – ja, was denn?
Schon wieder so eine Bußgeldabarbeiterin, hieß es später im Pausenraum. Gleich darauf die Schimpfe: Die sollten eigentlich helfen. Solche Arbeitsurlauber machten jedoch nur noch mehr Arbeit. Man müsse sie zu allem erst anleiten. Wenn sie dann ein wenig eingearbeitet seien, machten sie wieder die Fliege.
Eine Schulschwänzerin, brachte ich heraus. Ja dann ... Ja, was dann? Es aktivierte sofort so etwas wie einen Helferdrang in mir. Schlechtes Milieu, mangelnde Motivation und lauter solche Begriffe kramte ich hervor. Schon schlich mich der Plan an, helfenden, jedenfalls fördernden, nötigenfalls kurierenden Einfluss zu nehmen. Gottlob, sagte ich mir gleich. Denn das soziale Bemühen bediene ja durchaus auch, ob seiner Nähe zur Liebe, meine sympathischen Anwandlungen. Ich hoffe allerdings immer noch, dass es mir nicht auswachsen würde. Mittels dienenden Handelns wäre es mir immerhin möglich, die mich tatsächlich ein wenig heimgesucht habenden erotischen Anwandlungen zu überhöhen. Sie nämlich zu dem gedeihen zu lassen, was sie uns in Ethik als Agape, als sozusagen Entleiblichung der Liebe bezeichnet hatten. Ist es nicht schon ziemlich grenzwertig? Eine fleischlose Liebe. Du lieber Gott! Das alles als eine Vorübung in der gerade von der lieben Mutter so sehr von mir erhofften Berufenheit zum Geistlichen!
„Hindenburgring“, stellte Gandauer fest. „Meine neue Adresse. Wenn ich bedenke, dass der – ja, genau der! – in den Zwanzigern auch hier einsaß! Der Führer, Menschenskind. Festungshaft, wie es hieß. Klingt besser als Zuchthaus – und war für ihn tatsächlich auch eher Hotel. Geschichte fliegt einen da an. Und was für eine! Die Gitter überall. Endstation? Und das alles – wofür eigentlich? Gitter, wie grobmaschige Siebe. Gesiebte Luft, gesiebtes Licht, ha? Ein unbürgerlicher Ort.“
Gandauer hatte die Sachen, die ihm bei der Aufnahme ausgehändigt worden waren, noch in der Hand. „Neun Quadratmeter. Ich darf die eigenen Kleidungsstücke anhaben, weil es Untersuchungshaft ist. Sogar eigenes Essen könnte ich mir kommen lassen.
Dieses Schlüsselklappern dauernd. Die Uniformierten hier.
Sonst ist alles eigentlich nur eher ein bisschen ungewohnt.
Das Begrüßungsheft. Begrüßung!“, wunderte er sich. „Die heute alle mit ihrem Bemühen. Humaner Strafvollzug!“ Aufnahme: Beim Aufnahmebeamten in der Vollzugsgeschäftsstelle werden Ihre Personalien, die Strafdauer u. a. festgehalten. Dort erhalten Sie Ihre Gefangenenbuchnummer, Gb.-Nr., die Sie unbedingt bei allen Eingaben, Antragsscheinen und sonstigem Schriftverkehr angeben müssen, weil sie zu Ihrer Identifizierung dient ... „Diese Frage nach dem Namen beim Eintritt. Und ich drauf, dass ich mich des Namens Gandauer bedient habe.“
Den Beamten hatte diese Formulierung irritiert. „... sich des Namens bedient haben?“, wiederholte er nachdenklich. Er hatte Gandauer fragend angeschaut. Er überlegte dabei vermutlich, ob er seine Neuaufnahme nicht gleich ans Irrenhaus loswerden könne. Dann meinte er, dass es zu den ganz wenigen angenehmen Seiten der Arbeit in diesem Zirkus hier gehöre, auch mal den Auftritt eines Clowns zu erleben.
„Schreibzeug habe ich gekriegt. Was tun?“, fragte sich Gandauer. „Habe Zeit. Nicht lange gefackelt und den Peters kontaktiert“, sein Vorsatz. „Peters könnte von Nutzen sein, der alte Trittbrettfahrer. Vielleicht sollte ich mich doch wieder zurückmelden bei ihm. Auch wenn es vielleicht nichts nützt. Es ist zumindest Zeitvertreib, ihm Mitteilung zu machen.
Lieber Peters!
Unterfertigter schreibt Ihnen heute, um Ihnen zu eröffnen, dass er noch unter den Lebenden weilt.
„So eine Formulierung!“, staunte Gandauer über sich selber. „Der liebe Peters war eine von meinen Nullen. Es ist doch immer so: Sobald einer etwas geworden ist, wenn er also etwas zählt, also eine Nummer ist, da hängen sich gewissermaßen hinten von selber Nullen an“, spottete Gandauer.
„Aber ruhig weiter in dem Ton, es ist nur für mich. Wenigstens vorerst.“
Natürlich, davon bin ich weitestgehend überzeugt, verehrter Peters, haben Sie sich Ihr unbestritten hohes humanistisches Niveau zu denken und zu urteilen, eben Ihre geistige Kultur, über all die Unbilden der Zeiten hinweg bewahrt. Sie werden zu meinem Bedauern natürlich versucht sein, diese Kontaktaufnahme als ein Ansinnen und durchaus eine Zumutung zu empfinden. Gewissermaßen nach solch langer Zeit und diesen ganzen Umständen der Unerbittlichkeit der Zeitläufte. Ich bitte Sie jedoch um Geduld. Ich erlaube mir, dessen nachgerade sicher zu sein, dass Sie mir Nachsicht angedeihen lassen werden. Dies insbesondere mit Sicht auf die Ihnen hiermit zu eröffnende Tatsache, dass meine äußeren Daseinsbedingungen derzeit gewissen Einschränkungen unterliegen ...
„Ob es dich am Ende nicht doch anwidert, Alter?“, brummte Gandauer sich selber an. „So eine tiefe Verbeugung. Als wollte ich ihm hinten rein!“ Gandauer schämte sich. „Dieser Peters! Höre ihn direkt noch wimmern. Damals. Breslau. In der Eiseskälte kurz vor Torschluss fünfundvierzig. Angst. Der Russe dicht bei. Und die Horrorgeschichten in unseren Hirnen, die wir mit unserer Propaganda dort selber eingepflanzt hatten. Gräuelgeschichten! Wir mit unseren slawischen Untermenschen und mongolischen Horden immer in der Rede. Der Verdacht nun, dass unsere Agitation den heranrückenden Bezwingern diese Verhaltensmuster geradezu angetragen hatte.
Ich habe dich, Peters, auf dein Winseln hin mit deinen noch nicht mal vierzig, im Pass zum Greis von sechzig werden lassen. Du durftest aus Breslau raus, bevor dann der Iwan zugemacht hatte. Du konntest also mit Frauen und Kindern und Greisen vor dem Russen fliehen. Wie ich dich kenne, hattest du beide Pässe mit. Den für den alten Mann und den für den Enddreißiger. Du hast sicher beide, je nach Lage, zu deinem Vorteil benutzt.
Diese Errettung ist mein Guthaben bei dir, Peters. Weiß Gott, gerade jetzt im Rückblick. Da jeder so viel mehr weiß von all den Exzessen als damals in der peinlichen Enge der Unmittelbarkeit und Betriebsblindheit. Mein Guthaben bei dir, Peters. Und es ist auf die Begleichung der Schulden zu dringen, hatte man als Kaufmann gelernt.
„Der kriegt den Brief irgendwie – wenn ich ihn erst mal fertig habe!“, war sich Gandauer auf einmal sicher und fuhr beinahe gut gelaunt fort.
Gerne, lieber Peters, berufe ich mich auf klassische Vorbilder. Ich wage aber keinesfalls als, im Gegensatz zu Ihnen, Nichtlateiner, dieses „ich denke, also bin ich“ auf mein Briefeschreiben umzudeuten. Wie ich überhaupt nur wünsche, mich als ganz bescheidenen Rhetor, allerdings längst außer Diensten, zu bezeichnen, als welchen Sie mich, der ich Ihrer geschätzten Meinung nach weit über die Grenzen der Beredsamkeit meines Standes, des Kaufmannsgehilfen, hinausgewachsen sei, ehedem wiederholt auch in der Öffentlichkeit die Güte besaßen, hervorgehoben zu haben. Unterfertigter als Redner, dem allerdings – aus heutiger Sicht zwar: Gott sei Dank – seit langem die Zuhörerschaft ganz abhandengekommen ist ...
„Wie jetzt weiter?“, fragte sich Gandauer. Etwa: „Sie vermögen es vielleicht sogar nachzuempfinden und sich daher das jämmerliche Bild als Karikatur auszumalen, Peters, wie der ausgediente Redner in einem leeren Raum hinter seinem Pult herumwest. Wie ihm nun in seiner ihm endlich bewusstwerdenden geistigen Einsamkeit jene nur auf ein großes Auditorium zielenden und daher greifend knappen, formelhaften, ordinär anschaulichen, nur auf Tiefe des Erlebens zielenden ... Ach ja: und selbstredend am Verstand vorbeihuschenden Formulierungen, nunmehr alleingelassen, ...“
Gandauer ließ es sein. Er erhob sich und schlurfte zu seiner Pritsche.
„Vielleicht sollte ich Peters gleich raten“, meinte er, „dass er sich wegen des Namens Gandauer kein Kopfzerbrechen machen solle. Wir haben ja alle so unser Problem mit der Identität. Uns hat die Zeit durch ihre Mühlen gedreht. Wer weiß am Ende noch, wer er wirklich ist? Es ist wie das Rätsel mit sich selbst im Äußeren: Wer sieht denn in den Augen der Anderen so aus, wie er sich selber im Spiegel erblickt?“
„Eventuell erkennt mich Peters bereits am Schreibstil“, fuhr er in Gedanken fort. „In meiner gewiss überaus bemühten Art, mich auszudrücken, hat sich doch wohl mein alter Odtke in mir erhalten. Als den mich der Klapperstorch abgeliefert hatte.
Und du, Peters?
Ich hatte zwar längst deine Wohnanschrift in München aus dem Telefonbuch ... Kindisch, dieses Versteckenspiel. Bin immer wieder mal gegangen, um mich zu überzeugen“, erinnerte er sich, „ob Peters noch im Telefonbuch stand.“
Gandauer lag auf seinem Bett und fuhr mit den Blicken die Konturen der braunen Flecken im matten Weiß der Zellendecke entlang. Vom Flur her Geräusche, Schritte, die dann in der Entfernung allmählich verhallten. Irgendwo Schlüsselklappern. Wohl eines der Grundgeräusche in diesem Verschlusskomplex. Er drehte sich zur Wand. Sein Blick fiel auf Einritzungen und spärlich übertünchte Kritzeleien.
„Warum habe ich dieser eigentlich netten Dame, die da zwischen ihren Aktenbergen hindurch Vortrag hielt“, dachte er sich, „nicht richtig zugehört? – Was ist das da an der Wand?“, schreckte er beinahe auf. „Diese Konturen. Die Linienführung deutlich zu erkennen. Das ergibt ein Bild. Zwei Geraden, die sich in einem Punkt treffen. Mit wenigen Strichen. Vielleicht als zwei Schenkel auszumachen, zeichnerisch umpackt. Fleisch? Dieses stark hervorgehobene Zentrum. Dieses zu einer Furche ausgeformte Strichgebilde da. Mensch! Diese primitive Bescheidung: Der Körperteil Frau für den Mann.“ Er fühlte dem kurz nach. Ärgerte sich gleich darüber, dieser Beobachtung nachgegangen zu sein: „Eigentlich ist es Pissbudenmalerei. Das passt zu diesem Loch hier mit der Kloschüssel drin ... – Die Justizdame mit ihrem Text gestern – oder wann?“, lenkte er sich ab. „Wie lange bin ich hier? Die Zeit vergeht beinahe spurlos. Das gehört zum Abseits des Alters, dass die Zeitmarken irgendwie verwischt sind ... – Die Amtsfrau unterbrach sich nur ab und zu“, nahm er seinen Gedanken wieder auf, „indem sie ruckartig zu mir aufschaute. Ich begegnete ihr doch etwas verlegen, bemühte mich, freundlich zu lächeln. Am Ende einer Passage machte sie mir sogar große Augen mit der Stirn in Falten darüber. Meine Blicke wichen ihr dann in Richtung ihrer Frisur aus. Ach so, es waren wohl Anschuldigungen, die sie vorgetragen hatte. So als ob sie nacherzählen wollte, was mittlerweile mit Filmen und Literaturen über die dunkelsten Abschnitte unserer Zeit ganz üppig in Umlauf gebracht worden war. Aber ihre Haare! Ich habe immer wieder diese Frisur betrachtet. Mann, Haushalt, vielleicht Kinder und dazu diese kniffelige Aktenarbeit. Vermutlich hat sie wenig Zeit für sich. Ich hatte beinahe abgeschaltet gehabt. Es schien alles so, wie es seit fünfundvierzig immer wieder zu hören war. Diese Bilanz der Scheußlichkeiten. Jetzt wohl auch mit dem Namen Gandauer gespickt. Es muss eine Menge sein, was ich mir da mit dem Namen aufgehalst hatte. Mit den Gandauer-Dokumenten. – Auch diese Umgebung dort in der Amtsstube bei Gericht!“ Gandauer musste gähnen. „Sie schienen erstaunt zu sein und wussten womöglich nicht, wie ihnen durch mein freiwilliges Erscheinen geschehen war.“ Es überkam ihn so etwas wie Genugtuung darüber, dass ihm sein Streich gelungen zu sein schien.
Er nickte für eine Weile ein.
Dann ein Erwachen unter lauten, gereizten Stimmen, hintertönt von hartem, metallischem Scheppern. Fetzen schriller Zurufe. Befehle. Gandauer war aufgeschreckt, starrte ins Leere. Geladene Stille. Warten, was noch kommen könnte. Er fühlte jetzt den Herzschlag am Hals. Und da war auch sein Abstand zu den Gegebenheiten dahin, von dem er vorhin noch überzeugt gewesen sein wollte: „Ich bin hier nur mal für kurze Zeit und eben mal zur Abwechslung aus meiner geistigen Ödnis im Altenheim“. Er wusste plötzlich, dass er seine Rolle nicht mehr nur spielerisch wahrnehmen könnte. Er wusste sich nun mittendrin.
„Das alles wollte ich mir tatsächlich als Komödie leisten!“, klagte er laut, verwundert über sich den Kopf schüttelnd. Er ging in seinem Haftraum hin und her und wetterte laut auf sich ein: „Altersheldentum! Ich von damals, das alles auch noch vor dem Kratzfußmachen. Da seht her, alle Geschichtsbewältigungsbedenkenträger!“
Wieder dieser Lärm draußen. „Draußen ...“
„Abstand gewinnen!“, versuchte er es doch noch einmal. „Es betrifft mich im Grunde nicht direkt. Jedenfalls eigentlich oder auch nur noch nicht. Noch!“
Klappern von Metallkübeln der Reinigungskolonne. Schritte irgendwo.
„Noch ist auch das Weggehen für mich drin“, machte er sich vor. „Raus mit dem Nachweis, ein anderer zu sein als der, für den ich mich immer ausgegeben habe. Ich werde euch meinen unschuldigen Odtke vor Augen halten!“, beteuerte er sich.
Dann war da jemand an der Tür. Ein Uniformierter trat ein. Der Mann stellte sich höflich als Justizvollzugsbeamter Bergner vor, der ihn zu seinem im Sprechraum wartenden Anwalt zu begleiten habe.
Gandauer wunderte sich. Er hatte von einem in Uniform eine Art hoheitlicher Herbheit erwartet. Da war allerdings der ganz zivile Umgangston Bergners gewesen. Gandauer erhob sich, nestelte an seinem Kragen und fragte, ob er denn noch schnell seinen Binder ummachen dürfe.
„Warum fragen sie?“
„Nun, in Filmen ist immer zu sehen, dass die Leute bei Antritt in einer solchen Anstalt alles abgeben müssen. Insbesondere Schnürbändel und Krawatten. Ich habe mich schon gewundert ...“, redete Gandauer eher so vor sich hin, während er vor dem Spiegel stand und seinen Schlips knotete.
„Nur bei Leuten, die verdächtig sind, sich mithilfe dieser Bekleidungsstücke vom Leben zu verabschieden. Bei denen ziehen wir diesen Teil der Bekleidung ein“, erklärte Bergner und klapperte mit seinem Schlüsselbund. Plötzlich machte er einen Schritt auf Gandauer zu: „Sie haben doch nicht etwa vor ...?“
„Im Moment nicht!“, schmunzelte Gandauer, „aber was weiß einer? Ich glaube, jeder denkt auch mal irgendwann daran, sich endgültig davonzumachen.“
„Doch das gefälligst nicht während meiner Dienstzeit, wenn ich bitten darf!“, beeilte sich Bergner.
„In meinem Alter kann jeder getrost warten, bis das Ende kommt!“
Bergner schaute etwas ratlos drein.
„Jeder bläst sein Lebenslicht sowieso irgendwie mit der eigenen Puste aus“, erklärte Gandauer, während er seine Jacke anzog.
„Also doch?“, fuhr Bergner Gandauer an. „Noch mal – und auch wenn’s irgendwie komisch klingt: Nicht auf meinem Stockwerk und schon gar nicht, während ich Dienst habe! Auf jeden Fall geben sie ihre Krawatte heute noch ab!“ Bergner fahndete im Spind nach möglicherweise gefährlichen Dingen.
Gandauer vermutete, während er Bergner amüsiert zusah, dass seine Äußerung nebst dieser Vorbeugemaßnahme umgehend im Protokoll fixiert werden würden.
Sie verließen die Zelle.
Als Gandauer draußen seinen Blick zu der weiten Glaskuppel erhob, erfasste ihn ein Taumel. Es drehte sich plötzlich alles vor seinen Augen. Es überkam ihn das Gefühl abzuheben und wie ein Vogel in einer sich verjüngenden Spirale hinaufzuflattern. Mit beiden Händen klammerte er sich an den Handlauf. Der Wärter sprang hinzu, stützte Gandauer mit einem festen Griff unter die Arme. So standen sie ein paar Minuten. Wieder bei sich, beruhigte Gandauer seinen Helfer: „Möglicherweise bin ich fast schon ein Engel. Da kommt mich eben manchmal das Fliegen an!“
Dass sich Engel in diesem Knast eher selten aufhielten, kicherte Bergner böse und ließ den Alten los.
Mit dröhnenden Schritten marschierten sie auf dem Eisengerüst ein paar Stockwerke hinunter. Sie passierten Männer in blauem Drillich, die mit irgendwelchen Reparaturen beschäftigt waren. Ein kaum vernehmbares Nuscheln beim Vorbeigehen. Es konnte ein Gruß, ein Fluch, ein Schimpfwort gewesen sein.
Das Gefühl, von Blicken verfolgt zu sein.
„Faktenlage, Verhör, Ermittlung, Protokollierung“, zählte sich Gandauer auf, während er hinter Bergner her ging. „Das geht alles erst richtig los. Auch von meinem Umfeld hier werde ich unter die Lupe genommen werden. Sie werden mich auch erfassen wollen. Auf ihre Art, die hoffentlich nicht wie die im Fernsehkrimi ist. Ich brauche sicher eine eigene Vita für diese Gesellschaft“, gab er sich vor. „Ich muss mein Theater fortsetzen. Mit all der Übung aus den vergangenen Jahrzehnten müsste es auch gelingen. Diese Maskerade.“
Bergner merkte beiläufig an, dass hier lauter Ersttäter einsäßen.
„Ersttäter“, wiederholte Gandauer. Er konnte damit nicht viel anfangen.
Sie waren im Besucherflur angelangt. Hie und da ein Bild an der Wand. Die sehen nach amtlicher Pflichtübung aus. „Das kennt man“, erinnerte sich Gandauer. „Ich habe im Landratsamt immerhin auch öffentliche Mittel verwaltet. Zum Jahresende musste alles Geld ausgegeben und das Budget leergeräumt sein. Herrgott, wie viel wurde vergeudet! Jeder macht eben alles mit. Alle sind die meiste Zeit ihres Lebens Mitläufer – und sie werden unversehens zu Mittätern.“
Sie hatten das Sprechzimmer erreicht.
Buchhalter Fischer befand sich im Krankenstand und gerade bei der Lektüre der Tageszeitung. Er saß seit etwa einer halben Stunde im stillsten Raum seiner Wohnung. Dort hielt er sich mit der Zeitung gerne auf. Deswegen hatte er sich dieses meist vernachlässigte Separee sorgfältig eingerichtet. Die Wand schmückten mehrere Aquarelle, der keramische Sitzplatz war mit einer hölzernen Brille versehen. Den Boden veredelte ein kleiner Perserteppich.
„Es ist eine Zumutung“, stöhnte Fischer und rückte sich zurecht. „Es gibt anscheinend nichts Wichtigeres mehr in unserem Paradies der Zipfelmützen als die Umbildung der Regierung. Als ob das Rumgeorgle harmonischer zu machen wäre, wenn eine Pfeife ausgetauscht wird. Das sind doch alles nur presseernannte Entscheidungseunuchen. Lahmes Diätengeschmeiß.
Die Beine schlafen mir ein. Ob es nicht irgendwo Sitze mit breiteren Rändern gibt, vielleicht sogar gepolstert?
Die Zeitung beim Umblättern so reißen, dass es dieses krasse Geräusch gibt. Wo sie in der Bahn immer alle aufgeschaut hatten. Da, wie sie wieder alle alles einsacken! Da wurstelt ein Manager das Unternehmen in den Ruin. Er kriegt am Ende den Goldenen Handschlag. Eine schöne Wortschöpfung. Die Daseinsschlachten werden weiter vom Geldherrenhügel herab geführt. Mit diesen Etappenfeiglingen von der Politik. Durch das Verheizen der paar Piepen der kleinen Leute machen sie es sich warm im Gemüt.
Du musst mal zum Baumarkt gehen. Oder beim Tischler maßfertigen lassen. Dein Sitzfleisch sollte dir diese Investition wert sein.
Die Straße da. Da ist ja ein Bild mit einer Lobeshymne auf die gigantische technische Leistung. Da haben sie auf München zu schier zehn Meter Berg abgetragen. Ein paar Kilometer weit. Um eine gerade Piste zu kriegen. Sie wollen wie der liebe Gott in die Landschaft eingreifen mit ihren Bulldozergehirnen! Steuergelder. Weg damit. In die Grube. Das erinnert mich doch an mein Kaff. Wo sie es auch so gemacht hatten. Und dann den Leuten in die Tasche griffen.
Dieses dein Land. Dieser Albtraum von Lächerlichkeit und Verschwendung. Worin sich diese Pekunokratie inszeniert. Mit ihren Hofnarren aus der Medienklamotte.
Das linke Bein ist taub. Mit ein bisschen Bewegung kommt es wieder. Klobrillengymnastik.
Umblättern.
Witziger Kommentar. Manchmal versuchen sie es mit Glosse und so. Ein Wagnis. Bei dem Humorverständnis der Gartenzwerge. Das Elend deutscher Heiterkeit.
Das andere Bein ... Du hier in dieser deiner Luft. Mit dieser Zeitung ...
Dann rumort es wieder ein paar Seiten weiter im Kanal. Die braunen Ratten kriegen ihr Futter: klar, die Ausländer, die Fremden. Alles in einem Topf. In einem Kopf. Asylanten. Gastarbeiter. Aussiedler. Alle wollen unser Geld. Das brauchen sie gar nicht zu schreiben. Es reicht, wenn sie ganz sachlich über den Aufwand berichten, den die Hereinströmenden fordern. Dann wird in den Birnen ganz von selber der klauende Kanake draus. Weg damit. Egal auf welche Weise!“
Fischer schien es gelungen zu sein, sich ein wenig zu erleichtern. Er verließ jedenfalls sein stilles Örtchen mit einem guten Gefühl.
In seinem Wohnzimmer legte er die Zeitung beiseite und war gerade im Begriff, sich zu seinem Krankenlager zu begeben. Da läutete das Telefon. Er erschrak zunächst, griff jedoch zum Hörer. „Piscator“, näselte er kränklich und hüstelte dem nach.
„Was?“, brüllte einer am anderen Ende, dass Fischer den Hörer vom Ohr riss. Als er die Hörmuschel wieder vorsichtig näher brachte, war aufgelegt. Er machte es ebenso.
Kaum hatte er sich abgewendet, läutete das Telefon abermals. Fischer überlegte erst, ob er den Stecker ziehen solle, hob dann doch ab: „Piscator hier! Sofort sprechen!“
„He, Mensch, Fischer, Kollege, sind sie’s?“, klang es etwas irritiert.
„Piscator, auf Empfang!“, betonte der beharrlich.
„Ich kenne sie am Tonfall, Fischer, machen sie keine Faxen!“
„Bestehe auf Piscator!“
„Menschenskind, machen sie doch nicht auf Ausländer!“, kicherte der Anrufer. „Im Übrigen habe ich keine Zeit für ihre Scherzchen. Um mich herum türmen sich Akten. Nicht etwa Kissen wie bei Ihnen auf dem geruhsamen Krankenlager! Ich arbeite. Wenn sie noch wissen, was das ist!“
„Mit dieser dummen Äußerung vom geruhsamen Krankenstand haben sie hoffentlich ihr bisschen soziales Gewissen zum Kotzen gebracht. Andernfalls müsste ich glauben, was alle im Betrieb über sie längst wissen und gelegentlich auch verraten. Sie sauberer Kollege sie!“
„Was behaupten sie? Dass sie über mich etwas wüssten?“, war der Anrufer aufgebracht. „Na was denn? Raus damit!“
Piscator, wie er sich neuerdings nannte, war zufrieden, dass sich der Kollege am anderen Ende der Leitung so aus dem Häuschen hatte bringen lassen. „Was? Ich soll gesagt haben, dass ich über sie etwas wüsste?“, spielte Piscator erstaunt. „Ich fordere sie auf, diese Behauptung augenblicklich zurückzunehmen. Ich weiß überhaupt nichts ...“
„... und das auch nur halb!“, klang es vom anderen Ende boshaft.
„Ich glaube alles über sie“, trat Piscator den Rückzug an, „alles, was sich alle so erzählen im Betrieb. Und es herrscht in unserem Lande letztendlich eine diesbezüglich verfassungsmäßig zugesicherte Freiheit. Nämlich alles glauben zu dürfen, was man will! Und über sie gibt es viel zu glauben!“, beendete Piscator seine Ausführungen.
„Sie sind ...!“, er stockte. „Sie sind ... Das wollte ich Ihnen schon lange mal gesagt haben, was sie sind – und nicht nur für mich. Aber ich habe sie leider nie alleine und ohne Zeugen angetroffen, deswegen eben jetzt via Telefonstrippe: Sie sind ...!“ Wieder brach er den Satz ab, holte jedoch erneut aus: „Ha, ich werde mich nicht dazu hinreißen lassen, so etwas in den Mund zu nehmen, was sie sind, pfui Teufel! Da bin ich mir zu schade. Und nach diesem Vorspiel können sie sich sowieso den Rest denken – und mich mal kreuzweise!“, schien von Herzen gekommen zu sein.
Piscator lachte nur, allerdings etwas gequält.
„Der Herr Chef fordert, dass sie hier zur Vorsprache erscheinen“, hörte Fischer nun. „Der Herr Chef lässt mich zwar zunächst nach ihrem Befinden fragen. Nicht etwa, dass sie meinen, jemand macht sich was draus, wenn sich bei Ihnen ein Furz verklemmt hat. Sondern der Herr Chef will wissen, ob sie bettkrank oder nur hauskrank sind. In welch letzterem Falle ihr Herr Hausarzt prüfen möge, ob es denn nicht zu einer kurzen Vorsprache reiche“, klang es genüsslich. „Und in diesem Falle würde ich mich an ihrer Stelle warm anziehen!“
Piscator wollte ruhig bleiben: „Kein Mensch ist unersetzbar. Ein paar Wochen muss es sogar ohne mich gehen. Selbst wenn sich der Betrieb schwertun sollte damit, dass ich ihm meine Arbeitskraft leider vorenthalten muss.“
Der Kollege lachte und meinte noch, bevor er auflegte, dass sich Piscator wie eine bayerische Biermarke anhöre. Er wiederholte den Namen und sprach dabei die erste Silbe „Pis“ so abgesetzt aus, dass es wie flüssige Ausscheidung klang.
„Fuck“, konterte Fischer und schmiss den Hörer auf.
Er benötigte dann einige Zeit, um mit seiner Wut wieder fertig zu werden. Eine Zigarette und noch eine. Ein Glas Klaren. In der Stube umherlaufen.
„Es dauert immer länger“, jammerte er,
„bis es ruhig wird in mir.“ Seine Erregung ließ nicht nach, pendelte sich zwar
allmählich monoton ein, quälte ihn aber doch weiter. Er griff sich die
Schnapsflasche und leerte sie in wenigen Zügen. Dann war er sich eine ganze
Weile selber entschwunden.
Bergner hatte Gandauer ins Sprechzimmer gewiesen. Nun schritt der hagere Alte in etwas schräg nach vorne gebeugter Haltung auf einen stämmigen jüngeren Mann zu und reichte ihm die Hand. „Sterzinger, und zwar stets in Eile“, erwiderte der den Gruß, ohne eine Miene zu verziehen.
Er wird knapp einssiebzig groß sein, musterte ihn Gandauer, aber doch seine zweihundert Pfund auf die Waage bringen. „Ich nehme an, wir werden mit viel Witz zusammenarbeiten“, lächelte Gandauer, um auf Sterzingers Anmerkung von der Eile einzugehen.
„Die Dame Justitia wird allerdings eher nur unfreiwillig zur Komödiantin, verrate ich ihnen! – Auch sie werden mir vielleicht etwas verraten. Nämlich, warum sie gerade auf meine Kanzlei kamen.“
„Ihr Name erinnerte mich an meinen geliebten Ferienort in Tirol. Dieses schöne Sterzing. Herrgott, wie oft waren wir in diesem Fuggerstädtchen. Das alte Gemäuer. Mittelalter stellt sich jeder so vor. Dazu die herrliche Umgebung.“
„Prima“, dachte sich Sterzinger, „den Klienten plaudern lassen. Diese Quelle der Information nicht gleich versiegen lassen.“ Er wollte trotzdem etwas lenken: „Wenn das gar so ein Prachtstück ist, dieses Sterzing, frage ich mich, warum es ihr Polit- und Feldherrngenie samt Südtirol den Italienern überließ. Wo er doch sonst alles einsacken wollte.“
„Nun ja, schade. Doch mit der europäischen Einigung kommt es letztlich wieder zurück.“
Sterzinger ging nicht weiter darauf ein. „Es wurde mir verraten, sie hatten obendrein nach meinem Geburtsdatum gefragt, bevor sie sich für meine Dienste entschieden“, forschte er. „Das war für die Justizstelle nicht gerade alltäglich und hat einige Verwirrung gestiftet. Einem mutmaßlichen Täter den Verteidiger mit dessen Geburtsdatum zu servieren. Ich kann mir vorstellen, was da abgegangen ist!“, amüsierte er sich. „Da sind ein paar Beamtenhirne heißgelaufen. Darf jemandes Geburtsdatum so einfach preisgegeben werden, bei dem ganzen Datenschutz heute? Die haben bestimmt nach Kommentaren und Präzedenzfällen geforscht. Oder sie haben gleich nach einem Opferlamm gesucht, dem sie die Verantwortung aufdrücken können würden.“
„Eine Marotte von mir, das mit dem Geburtsdatum“, gab Gandauer zu. „Ich nehme an, dass der Geburtszeitraum auf das Wesen eines Menschen Einfluss hat.“
„Lassen wir das so stehen. – Haben sie nie an einen etwas älteren Anwalt gedacht? An einen mit Erfahrung in so einer politkriminalen Sache hier.“
„Ich, ein Krimineller?“, empörte sich Gandauer. „Hätte ich vielleicht den Anwalt Seidl aus München nehmen sollen?“, fragte er aufgebracht. „Seidl, der sich so nachhaltig für Führers Stellvertreter Heß eingesetzt hatte. Oder hätte ich etwa einen Herrn aus dem Heidelberger Kreis um diesen Herrn Kranzbühler bevorzugen sollen. Der hatte sich doch so verdient gemacht um die Nichtverfolgung von Aktivisten dieser, wenn sie wollen, meiner Zeit?“
„Na, da sind sie aber jetzt in eine Gesellschaft von Gespenstern geraten! Sozusagen in Wotans wilde Reiterschar über den Wolken“, grinste Sterzinger seinen Worten nach. „Doch erregen sie sich bitte nicht, Herr Gandauer.“
„Mit der Bestellung eines Spezialisten würde ich ja irgendwie belegen, dass ich es besonders nötig hätte“, merkte Gandauer an.
„Ich hege Zweifel, dass das als ein Kompliment gegenüber meinen Fähigkeiten auszulegen wäre“, spielte Sterzinger gekränkt.
„Um eines gleich klarzustellen, Herr Anwalt: Ich habe gar kein Geständnis abzulegen!“
„Da sind sie hier in dieser Verwahranstalt für lauter Unschuldige nicht alleine!“, spottete Sterzinger.
„Ich darf doch bitten!“
„Herr Gandauer, wenn sie schon ... – was allerdings ganz ungewöhnlich und bestimmt zu ihrem Schaden wäre! Wenn sie sich zu der Anschuldigung gegen sie nicht zu äußern gedenken ...“ Sterzinger war erregt – und hatte den Faden verloren. Er fuchtelte mit den Händen und setzte noch einmal an: „Also mit dieser Darstellung, dass sie nichts einzugestehen hätten, begeben sie sich auf unterstes Täterniveau!“
„Ich bin kein Täter, Herr Anwalt!“
„Hören sie auf mit diesen Plattheiten!“, polterte Sterzinger, holte tief Luft und begann, verlegen wegen seines Ausbruchs, ziellos in seinem Aktenkoffer zu kramen. „Sieht nach Dauerbrenner aus“, überkam es ihn dabei. „Allerdings ist diese Angelegenheit hier doch ziemlich abgehoben von der öden Routine der langen Latte von Verkehrsunfällen und Mietklagen“, fing er sich wieder. „Hat gar historischen Touch. Hast du auch mal so einen als Mandant gehabt, könntest du mal gefragt werden. Wenn diese Sorte Mensch ihren Löffel abgegeben haben wird. So einen zu verteidigen, das ist anwaltliches Filetstück“, bewilligte er sich dann auch noch. Er fühlte sich wieder motiviert und recht wohl. In dieser Laune wollte er, nachdem er einen Blick auf seine Uhr geworfen hatte, die Sache für heute allmählich zu Ende bringen. Er zückte einen mageren Aktendeckel, schlug ihn, betont besorgt dreinblickend, auf und stellte fest, dass er zwar über die Faktenlage der Staatsanwaltschaft Bescheid wisse: „Eine schier unglaubliche Anhäufung!“, begann er sichtlich angewidert, „von ...“ Er hielt jedoch damit inne und fuhr fort, dass er doch mehr Persönliches über seinen Mandanten wissen müsse, um ein Konzept entwerfen zu können.
„Dem wäre abzuhelfen!“, meinte Gandauer und beeilte sich anzufügen: „Im Laufe der Zeit.“
„Ich habe ja sonst nichts zu tun“, erwiderte Sterzinger unfreundlich. Er zündete sich einen Zigarillo an.
„Ich bitte sie um Geduld.“
Sterzinger schaute seinem Qualm nach.
„Wissen sie“, begann Gandauer und rückte mit seinem Stuhl näher an den Tisch, „bei dieser Art der mir vermutlich zur Last gelegten Vorgänge, haben sie immer schon darauf gesetzt, dass das ordinäre Leben das Todesurteil fällt. Es entstand im Laufe der Zeit immer wieder mal der Eindruck, dass bezüglich Vergangenheitsbewältigung die liebe Justitia ihr Auge nicht nur bedeckt gehalten, sondern ihr Augenlicht ganz verloren habe.“
„Ich will da zu diesem Gelabere ... – Sie entschuldigen schon! Denn das war tatsächlich doch bereits zu oft zu hören gewesen!“, empörte sich Sterzinger. „Also, ich will da was Informatives draufsetzen, was im Grunde hinreichend bekannt sein sollte: Die da von ihnen zitierte Blindheit der Justitia betrifft nämlich nur das Ansehen der Person, stellt also auf die Gleichbehandlung aller ab. Und ich darf sie doch darüber in Kenntnis setzen, dass der originäre Blick der Justiz auf die Vergangenheit zielt. Der Blick fällt auf das Ereignis und wertet es. Nun konnte es allerdings durchaus auch mal vorkommen, will ich durchaus einräumen, dass dieser Rückblick mit etwas Rücksicht behaftet war.“
„Ich bedanke mich für diese Lektion, Herr Sterzinger“, erwiderte Gandauer. „Den Herrschaften in der Robe bleibt heute nicht mehr viel Arbeit in dieser, angeblich auch meiner Sache. Die Angelegenheit bereinigt sich doch auf natürliche Weise weitgehend ganz von selber.“
„Herr Gandauer, wir sollten allerdings nicht auf biologische Prozesse bauen. Ich fühle mich nämlich nur für die juristischen Angelegenheiten zuständig ...“ Er saugte wieder an dem Stummel, den er jetzt nur noch zwischen zwei Fingerspitzen halten konnte. „Also, ich meine, dass der natürliche Ablauf in einem solchen Fall, der auf das Dahinscheiden abstellt, zwar einfacher ist. Jedoch würden sie, Herr Gandauer, das nun mal nicht überleben“, grinste er. „Und davon könnte ich als Anwalt nicht leben!“ Er lachte, dass das viele Fleisch an ihm schwabbelte, und nickte seinem Mandanten zu.
„Schöne Grüße aus Kalau!“, kommentierte Gandauer.
„Ach, das hätte ich doch beinahe übersehen!“, rief Sterzinger und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass es klatschte. „Sagen sie doch, warum sitzen sie eigentlich noch in Untersuchungshaft? Ich meine, weshalb wird der Haftbefehl nicht ausgesetzt. Es besteht doch weder Flucht- noch Verdunklungsgefahr.“
„Verdunklungsgefahr“, wiederholte Gandauer. „Die Dunkelheit, in der die Staatsanwaltschaft tappt, kann allerdings gar nicht tiefer werden.“
„Das muss sich erst zeigen“, ärgerte sich Sterzinger. Er holte tief Luft, beugte sich vor und blickte Gandauer bohrend an, dass der zurückwich: „Was ich bisher den Akten entnommen habe, mein lieber Klient, ist nicht zu toppen an abstoßender Belanghaftigkeit!“ Er lehnte sich zurück. „War vermutlich ein Treffer“, freute er sich insgeheim, als er sein Gegenüber erstarrt dasitzen sah. „Er denkt zumindest nach. Diesen Prozess darf ich jetzt nicht durch Fragen unterbrechen“, war Sterzinger überzeugt. Nach einer Weile wollte er das Schweigen beenden: „Was halten sie davon, Antrag auf Aussetzung des Haftbefehls zu stellen? Sie haben sich doch gestellt! – Was allerdings eine Suche nach der undichten Stelle im Justizapparat ausgelöst haben dürfte. Sie waren nämlich noch gar nicht dran, Herr Gandauer, wurde mir gesteckt. Wegen des noch nicht ganz vollständigen Beweismaterials. Und wer weiß, vielleicht wären sie tatsächlich auch gar nie drangekommen. Gerade in diesen Fällen gibt es die sonderbarsten Abläufe oder Stillstände!“
Gandauer hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, nicht sofort geantwortet, dann aber erklärt, dass er keinen Wert auf Haftverschonung lege. Dass er sich hier im Gefängnis im Grunde gar nicht so unwohl fühle. Während er sich durch die Anteilnahme der lieben Mitbürger außerhalb dieser Mauern mit Sicherheit belästigt sehen würde.
„Achtung! Ich weiß nicht, ob diese Einstellung nicht derart exzentrisch ist, dass nicht irgendwer auf die Idee kommen könnte, es liege ein Fall von Nichtzurechnungsfähigkeit vor!“, schien Sterzinger besorgt. „Abgesehen davon, die Öffentlichkeit wird es mir eventuell als Unfähigkeit auslegen, wenn ich sie nicht sofort heraushole!“
„Und ich stünde zwischen Hass und Hohn von der einen und Beileidsbekundungen von der anderen Seite“, erklärte sich Gandauer. „Es sind beides für mich die falschen Seiten. Nein! Ich habe in meinem Leben kassiert. Und ich habe bezahlen müssen. Letzteres in einigermaßen ausreichendem Maße, wie ich meine.“
„Ach so, sie sind mit allem quitt!“, donnerte Sterzinger. „Wenn sie sich da nicht gehörig täuschen!“
„Ich hatte eine ziemlich niedrige Mitgliedsnummer bei der Partei“, bekannte Gandauer. „Ich gehörte also zu den frühen Anhängern der Bewegung, wie wir das nannten, um den Begriff Partei zu vermeiden. Noch vor Mitte der Zwanziger war ich dabei. Bald nachdem der Führer nach seinem Putschversuch wieder aus der Landsberger Haft entlassen worden war und in München die Bewegung ausbaute. Alle werden mich demnach einen Überzeugungsnazi nennen. Sie werden mich jedenfalls nicht für einen eher harmlosen, spät aufgesprungenen Trittbrettfahrer halten.“
„Na, sehen sie“, schien Sterzinger zufrieden, „das ist ja wenigstens mal etwas von verwertbarer Selbsteinschätzung. Auch wenn diese Umstände nicht gerade für sie sprechen.“
„Doch ich habe letztlich für alles möglicherweise von mir Angerichtete bezahlen müssen. Ob ich meine Schulden an die Zeit ausreichend beglichen habe, weiß ich nicht.“ Dem setzte er nach: „Ich will ihnen was sagen: Als die tiefste Selbsterniedrigung vieler Nachkriegsdeutscher habe ich immer das Bücken nach Zigarettenstummeln der Sieger empfunden und das Streben nach dem anscheinend erlösenden Urteil, nur ein Mitläufer gewesen zu sein!“
„Aha!“, brachte Sterzinger zunächst nur heraus und machte große Augen, dann klagte er mit erhobener Stimme: „Von der Schuldenbegleichung zur Kippenplattitüde! – Du lieber Himmel, das kann ja heiter werden mit ihnen!“
„Ich muss ihnen gestehen“, ergänzte Gandauer seine Bemerkung, „dass ich mich in beiden Punkten auch vor mir selber verächtlich gemacht hatte. Nämlich im sogenannten Entnazifizierungsverfahren und bei der Versorgung mit Tabakwaren aus dem Rinnstein.“ Er fuhr beinahe flüsternd fort: „Wem ist es denn schon möglich, immer aufrecht durchs Leben zu schreiten und sich stets die Achtung vor sich selber zu bewahren?“
Sterzinger hatte so getan, als habe er gar nicht mehr richtig zugehört. Er erhob sich und reichte seinem Mandanten die Hand.
Beim Verlassen der Anstalt ging ihm dann durch den Kopf, dass er vielleicht als Notbremse letzten Endes ... – Es überkam ihn dabei allerdings so ein Gefühl, als müsse er sich bereits für den Gedanken bei sich selber entschuldigen ... Ich könnte mit etwas wie dementer Unzurechnungsfähigkeit arbeiten ... Denn in Gandauers Alter ...
Beim Betreten des Speisesaals blieb Gandauer kurz stehen und blickte umher, bevor er sich auf einen Platz begab. Das Essen dauerte noch etwas. Sein Blick ging zum Fenster hinaus und fiel dann auf das ihm bereits vertraute Bild einer alten Stadt, das an einer Seite großflächig auf den Putz gemalt war: Ein alter Torturm vor einer Häuserzeile, in den zu beiden Seiten von ihm wegführenden Gassen drängen sich spitzgiebelige Häuser.
Dem Wunsch, dort spazieren zu gehen, konnte er sich nicht lange hingeben. „Woher kommst’?“, hörte er. Die Frage kam von einem massigen Kerl. Dem stand sofort ein hündisches Grinsen im Gesicht, als sich die Blicke begegneten. „Heiße Egbert, Cziflic, auch noch! Sag’ einfach Siff zu mir“, sprudelte es ihm heraus.
„Ja gerne, warum auch nicht so kurz“, antwortete Gandauer und meinte, dass das wieder einer sei, der mit seinem Namen nicht zurechtkomme.
Cziflic hatte seine Frage an Gandauer nicht vergessen, war näher gerückt und drang auf eine Reaktion, indem er Gandauer immer wieder zunickte.
Gandauer reagierte nicht.
„Wie heißt eigentlich? Wo kommst her?“, bettelte Cziflic.
Gandauer nannte schließlich seinen Namen und fügte an, dass einer in seinem Alter von überallher, doch im Grunde aus dem Nirgendwo komme. Er holte weiter aus, um Cziflic nicht wieder zu Wort kommen zu lassen: Jeder vermute irgendwann im Leben, allerorts gewesen sein zu können. Wenn er das nur gewollt hätte. Dass der Mensch am Ende allerdings doch das Gefühl nicht mehr loswerde, dass er eigentlich nirgendwo war. Andererseits kämen einem auch so viele Dinge bekannt vor. Und daraus mag es bei diesem und jenem zum Glauben führen, schon mal ein Leben gehabt zu haben.
Cziflics Augen waren im Verhältnis zur wachsenden Länge von Gandauers Vortrag größer geworden. Gandauer hatte sich allerdings getäuscht, wenn er annahm, er habe Cziflic jetzt los. Der schien nämlich Gandauer vorhin bei der Betrachtung des Stadtfreskos beobachtet zu haben. Er deutete jetzt darauf und teilte mit, dass er dieses Nest ziemlich gut kenne. Und zwar nicht nur vom Bild her. Das sie auch noch eine Kunst nennen, was er schon ein paar Jahre anschauen müsse. „Ein ganz verdammtes Kaff“, ätzte Cziflic, „auch wenn es sich jetzt Große Kreisstadt heißt!“ Gandauer hatte nur etwas mit dem Kopf genickt. Cziflic spulte nun in einem berlinisch gesprenkelten Schwäbisch-Bairisch einen Fetzen Lebensgeschichte ab, vom Scheppern und Klappern des Speisegeräts untermalt: „Nach der Flucht, als wir rübergemacht sind. Als Junge etliche Jahre mit Mutter gelebt. Vater hatte sich verkrümelt. In dem nämlichen Ort gelandet. Mit jeder Menge Ami und Neger. Und auch die noch, die KZ-Juden, wo gerade freigekommen waren. Dann die Schule. Die Klasse mit sechzig Jungs proppenvoll. Und der Lehrer mit keim Haar aufm Koppe und der Brille und mit dem Knüppel immer übers Kreuz und auf den Arsch. Dieser Kommunist, den sie vergessen haben, nach Dachau zu treiben. Aber die Stadt mit keiner einzigen Bombe abgekriegt. Und klar, weil da KZ war und der Ami nicht auch noch von die Juden einen plattmachen wollten. Haben es dem Nazi überlassen. Da hat sich KZ sogar noch irgendwie ausgezahlt für die Eingebornen. Und immer proper alles. Wo ick doch auf der Reeperbahn vor jearbeit hab und so wat ...“
„Rübergemacht, eigentlich riberjemacht ausgesprochen“, wollte sich Gandauer einbringen, „das ist eher aus dem deutschen Osten, Schlesien zum Beispiel“.
„Hat ma hier so jesagt, wenn wer die Flüchtlinge verafft hat. Weil die auch so gredt ham“, erinnerte sich Cziflic und ging von diesem Gedanken dazu über, dass er sich gerade zu älteren Männern hingezogen fühle. Gandauer war unwillkürlich eine Gesäßesbreite weggerückt und musterte nun Cziflic von der Seite. Der fuhr unbekümmert fort, dass er „dajegen jar nix machen kann.“ Er berichtete, dass er auch mal beim Klapsdoktor gewesen sei. Warum, das wisse er heute noch nicht. Aber es sei auch egal, meinte er, die bräuchten auch die Kohle von der Krankenkasse zum Leben. Die idiotischen Fragen, die die stellten, seien ja auch irgendwie zum Lachen – „hinterher, nicht wenn sie einen gerade in der Mange haben. Weil das in die Akte kommt, wo eh so viel drinnesteht“. Mit bewegten Worten äußerte er dann die Vermutung, dass es sich bei dieser Anziehung zu „die älteren Männern“ doch wohl, wie der Weißkittel von der Klapse gesagt habe, um eine ausgewachsene Vatersuche handle bei ihm, Cziflic, einem Kerl aus der Mülltonne – wie er sich selber einordnete.
Cziflic schien noch in Bekennerlaune. Da kam endlich „Kartoffel mit Schweinebraten“, laut Speisenplan. Cziflic stürzte sich darauf, belud seinen Teller und gabelte seinen Körpermassen geräuschvoll die erforderliche Energie zu.
Gandauer dachte, während er auch ein paar Bissen zu sich nahm, über die Beschwernisse nach, die sich daraus ergeben könnten, sich in diesen beengten Verhältnissen einen Vatersucher zugezogen zu haben. Noch bevor Cziflic wieder loslegen konnte, erhob sich Gandauer. „Ich gehe jetzt Hofgang absolvieren“, betonte er, seinem Nachbar flüchtig auf die Schulter klopfend. Er fügte in der Hoffnung an, dass Cziflic bestimmt etwas zu tun haben würde: „Wenn sie Lust haben, kommen sie auch.“
„Hofjang, jawoll, bis zwölffünfunddreißig!“, kam es aus vollem Mund.
Es dauerte dann tatsächlich nur kurze Zeit, bis der schwere, lange Kerl auftauchte. Gandauer sah ihn mit angewinkelten Armen elastisch trabend über den Hof kommen. „Boxertyp“, folgerte er, „gute Beinarbeit. Gut anzuschauen – aus der Entfernung. Vielleicht hat er als Eintreiber oder Rausschmeißer geschafft. Bevor er von der Justiz aus dem Verkehr gezogen wurde. Hat möglicherweise ein bisschen zu fest hingelangt. Auch eventuell ein paar miese Nebengeschäfte abgewickelt. Leicht möglich. Irgendwas weitergegeben, heiße Ware. Aber Kleinvieh sonst, einer von denen, die immer gleich erwischt werden. Weil sie im Grunde immer zu viel Gemüt und zu wenig Hirn haben. – Wenn das nicht Romantik ist. So etwa Schinder-Hannes in Schlagrahm. Und es führt dich immerhin zurück zu den vielen Zeitgenossen mit dem Bauchgefühl als Gesinnungsersatz.“
Cziflic war jetzt da, trippelte noch in seinem Rhythmus auf der Stelle und legte auch gleich los. Dass sie nach der Flucht in einer Baracke gewohnt hätten. „Viele Leute mit wenig Platz“, schnaubte er noch. „Dreck war einer für die vom Ort, die wo nix verloren ham. Und der Ami. Die Mädchen verdienten sich ihre Schokolade. Wenig Männer damals. Da hätt ich das richtige Alter haben müssen. Die waren noch weggesperrt vom Sieger. Dann kamen sie ohne Fleisch auf die Knochen. Aber da war der Neger mit Kaugummi und lauter Zeug, was dir Glotzaugen gemacht hat. Wo jeder scharf war drauf. Und wenn die gelacht haben, dann ham sie das Maul voll weiße Zähne gehabt. Wie das ausgesehn hat!“, hielt Cziflic Rückschau. „Für ein Päckchen Kaugummi ‘ne Nummer, ham sie gesacht, war der Tarif, und für ‘ne Schokolade ‘ne janze Nacht!“ Er schmatzte seinen Worten geil hinterher– und stürzte plötzlich ab: „Die Mutter ...“
Gandauer hatte geduldig zugehört und musste zumindest beim Ausklang des Berichts auf Cziflic den Eindruck von Anteilnahme erweckt haben. Jedenfalls trabte der nun davon.
Am Abend setzte sich Gandauer wieder zu seinem Schreiben – obwohl er sich immer noch nicht durchgerungen hatte, es auch auf den Weg zu bringen.
Nun, mein lieber Peters, werde ich Ihnen auf irgendeine Weise dartun müssen, wo ich mich befinde.
Ich verrate Ihnen bereits, dass es sich um ein bayrisches Städtchen handelt. Ich darf jedoch auf ihre mir wohlbekannte Geduld zählen, Ihre Engels-, ja nachgerade Schutzengelsgeduld (da Ihre bevorzugte Stellung stets in aufmerksamer Haltung hinter mir war – wenn Sie mir diesen Scherz erlauben).
Es ist eines von den zahlreichen barockverbrämten, von der Geschichte letztlich immer wieder begnadigten oder gelegentlich einfach übersehenen Sammelstellen der Biederkeit. In welchen die Menschen sich gerne an der Verklärung der Erinnerung erwärmen. Natürlich muss ich es mir jetzt versagen, darüber zu reflektieren. Denn ich beabsichtige lediglich, Ihnen das Vergnügen eines kleinen Ratespiels zu bereiten.
Ich denke mir allerdings, dass Sie den Namen dieses Ortes sehr bald ermittelt haben werden, angesichts Ihrer Belesen- und Weitgereistheit, an die ich mich noch gut erinnere und deren Früchte ich ehedem aus Ihren Erzählungen genießen durfte.
Sehen Sie bitte selber!
Vom genialen Baumeister Dominikus Zimmermann wäre zu berichten, der im achtzehnten Jahrhundert hier ansässig war und weiter südlich die sogar in Japan und Amerika bekannte Wieskirche errichtet hatte. Vom gewiss schönsten und auch größten gotischen Torwerkbau aus dem fünfzehnten Jahrhundert könnte ich berichten, wie es mir die Chronik verriet. Auch von der Grenzlage zum Schwäbischen an einem Fluss wäre zu sprechen. Einem Wasserlauf, dem sie mit vielen Stauwerken das Temperament eines Gebirgsflusses bald wegbetoniert haben werden. Doch ich meine, ich werde besser dieses Kapitel der Darstellung mit der Bemerkung verlassen, dass es sich bei unserem erwählten Ort um eine propere Siedlung mit urbanem Charakter und eigentlich gotischem Kern handelt. Auch hier buddeln sie gelegentlich nach den Spuren der Römer, finden sogar Gegenstände viel früherer Zeiten – vernichteten jedoch so ziemlich die neueren, mit Peinlichkeiten behafteten Zeugnisse der jüngeren Vergangenheit. Ihr Eifer dabei erweckt mir allerdings doch eher den Verdacht, dass die braven Leute sich schämten und etwas zu verbergen trachteten.
Lassen Sie es uns mit allen Ansässigen halten und die weiter zurückliegende Geschichte Freizeithistorikern ans Herz legen, jener liebenswerten Zunft, die eigentlich keinem wehtun will. Sie kennen die Resultate aus beflissenen Veröffentlichungen in Heimatzeitungen und aus den alle paar Jahre stattfindenden Kinderfesten, in denen theatralisch formbare Teile der Geschichte auf die Straße gebracht werden! In unserem Städtchen heißt diese Veranstaltung Ruethenfest. Da ziehen die Kleinen als historische Figuren durch die Straßen und stellen Szenen dar: Wie ein Herzog mit einem Bürgermädchen tanzte, wie böse Schweden die Mauern berannten, wie ein Bischof, welchen die Stadt hervorgebracht hatte, die Menge segnete und so weiter.
Ich muss gestehen, dass ich während des Berichtes meines Informanten über die kindlichen Landsknechts- und Pandurentruppen direkt auf etwas gewartet hatte. Nämlich darauf, dass da neuerlich auch die deutsche Wehrmacht, die hier in einigen Kasernen etabliert war, von diesen kleinen, unschuldigen Menschen dargestellt werden würde.
Wie steht es nun um Sie, mein Herr, ist Ihnen bereits ein Licht aufgegangen, um welches Gemeinwesen es sich handeln könnte? Wenn nicht, werde ich mir erlauben, mein Ratespiel ein andermal fortzusetzen. Für heute alles Gute und ein Servus (wie man es hier im Süden gerne sagt).
Zufrieden räumte Gandauer das Schreibzeug in die Schublade. „Müsste ich nicht doch versuchen, hier herauszukommen? Das ist kein pomadiges Sanatorium. Das ist Leben, viehisches Leben. Abgeschlagenes Leben und Leben im Abseits, hart auf hart. Kampf in Fesseln.“
Irgendwann gegen Morgen konnte er dann einschlafen.
Am nächsten Tag fühlte er sich nicht gut. Wieder diese Enge im Brustkorb. Und immer wieder diese Gedanken: „Wenn der ganze Laden vielleicht meine Vita kennt. Oder was sie dafür halten. Noch schlimmer, weil es sich meiner Kontrolle entzieht. Woher soll es kommen? Natürlich wird da getratscht. Reger Informationsfluss überall. Um sich wichtig zu machen. Verrat. Anbiederung. An jedem Ort. Die Kerle stehen herum und verschaffen sich mit Gerede Spannung oder vertreiben sich auch nur die Zeit – oder die Angst. Solange einer zuhört, tut er einem nichts.“
Einige Tage vergingen, in denen es ihn immer wieder überfiel. Um sich abzulenken, machte er sich schließlich wieder ans Schreiben:
Heute, mein Herr, nur eine kurze Vermeldung.
Sie haben mich gestern auf ihren Kopfsteinpflastern herumgefahren.
Wissen Sie, diese Art, Straßen zu befestigen, ist in dem Städtchen als historisch anzusehen. Sie ist begründet durch das Vorhandensein großer Mengen Wackersteine am Ufer des bereits von mir erwähnten Gebirgsflusses. Dieser hatte die Steine aus den Felslandschaften gewissermaßen als harte Reiseandenken für die Menschen an seinen Gestaden schön rundpoliert mitgebracht und abgelagert.
Ich müsste selbstverständlich auch den Ordnungssinn dieser Menschen, all der Generationen, die hier hausten, als Ursache der Pflasterleidenschaft nennen.
Überall also diese Kopfsteinbeläge, an einigen Stellen tatsächlich noch in alter Manier – bald hätte ich Manie geschrieben – als Katzenkopfpflaster, wie sie es hier nennen. So haben sie ihren ganzen Hauptplatz auf diese traditionelle Weise bedeckt. (Ein Platz, der, wie es sich in Katholischbayern gehört, eigentlich Marienplatz heißt. Der jedoch aus praktischen Gründen, die immer auch taktische Gründe sind, nämlich wegen der sich ständig wandelnden Zeitläufte, die auch Gesinnungsläufte sind, diesen grauen, zu jeder Farbkombination passenden Namen ‘Hauptplatz’ trägt.)
Grauer Granit sonst als Straßenbelag, aus den berüchtigten, in den Dreißigerjahren genutzten Steinbrüchen. Ich denke da an Flossenbürg und erschreckend gigantische Bauten andernorts. Geschichte auch darin, mit Schweiß und Tränen benetzt und von uns mit Blut befleckt.
Gandauer schaute auf. „Nun ist der Brief doch etwas länger geworden als ein ganz kurzes Schreiben, welches du eigentlich angekündigt hattest“, tadelte er sich. „Doch das macht nichts. Denn erstens hat der gute Peters sehr lange nichts mehr von mir gehört und also ein großes Defizit an Daseinsäußerung von mir. Andrerseits war auch er stets ein großer Könner in der Ausnutzung des engen Raumes zwischen Wort und Tat, zwischen Anspruch und Wirklichkeit – und wie diese ungleichen Zwillinge noch heißen.
Ich gehe zwar, verehrter Peters, davon aus, dass Ihnen ob Ihres fortgeschrittenen Alters ähnlich viel Zeit zur Verfügung steht wie mir, weiß jedoch um das Problem der Abneigung, diese in unseren Jahren jemand anderem zu widmen als sich selber. Wenn Sie es doch bitte nicht als Vermessenheit ansehen wollten, dass ich, ohne Offerte Ihrerseits, bezüglich Ihrer Zeit von einem Geschenk ausgehe, das ich mir dreistermaßen einfach aneigne.
Und gestatten Sie noch ein Bekenntnis. Ich sollte Ihnen allmählich von der Gesellschaft unseres Städtchens berichten. Doch bei der Verwirklichung dessen befinde ich mich erneut in einem Dilemma. Ich habe Ihnen einzugestehen, dass ich den Ort im Grunde nur aus dem Heimatteil der Zeitung kenne, die ich täglich zugestellt bekomme. Sicher, ein respektables Blatt, bei aller Bodenständigkeit redlich um Objektivität und Weltsicht bemüht. Allerdings für mich in Anbetracht meines Unterfangens, Ihnen als Mann von hohem Anspruch doch etwas bieten zu wollen, eine etwas dürftige Perspektive. So bin ich immerhin ein eifriger Besucher der Bibliothek in nächster Nähe.
Allerdings glaube ich, dass nach dieser Reihe von Eingeständnissen meines Nichtwissens bei Ihnen, werter Freund, keine rechte Stimmung mehr aufkommen kann, sich meinem Bericht zu widmen. Ich werde Sie für heute in Ruhe lassen, schon weil ich mich nach all den Ereignissen nun doch etwas matt fühle.
Der Aufseher hatte für morgen einen Besucher angekündigt, eine junge Person.
Gandauer war darüber so erstaunt gewesen, dass er sich gar nicht weiter erkundigt hatte. Nun trieb es ihn doch um, wer es denn sein könne. Er stellte alle möglichen Vermutungen an, durchstöberte in Gedanken seinen Bekanntenkreis. Er war damit jedoch bald am Ende angelangt. Da überkam ihn der Jammer. Die paar Leute nur noch, die geringen Kontakte – dass eben alles absterbe. Dieses sonderbare Wort, dieses Absterben, führte ihn dann zum eigenen Erstaunen doch wieder aus seinem tiefen Tal, indem er sich vormachte, dass sich die Erde schon so oft aufgetan, doch zunächst eben nur andere vertilgt hatte. „Viele Freunde, auch nur so geheißene darunter. Guten Appetit, liebe alte Erde!“, lachte er bitter.
Der Gedanke kam ihm, es könne sich eigentlich nur um jemanden von der Presse oder auch um einen Schnüffler handeln. Jemand, der ihn da nicht auf-, sondern eher heimsuchen wolle. Das versetzte ihn in Abwehrstimmung. Er begann damit, sich einige Bosheiten auszudenken, mit denen er diese Person gehörig an der Nase herumführen könnte. Er plante, wirres Zeug zu reden. Mit so etwas wie von Volkserlösung, die immer wieder, so auch heute erforderlich und die eigentliche Aufgabe der Politik wäre, wollte er tönen. Von so einer geradezu und mit Recht mystisch befrachteten Volksergreifung hatte er vor zu schwärmen, die bitter nötig wäre in chaotischen, orientierungslosen Zeiten wie den gegenwärtigen. Dass er, Gandauer, sich durchaus mit dem Gedanken anzufreunden dächte, an Seelenwanderung zu glauben. Dieses nicht etwa nur, weil es seinem Alter allmählich angemessen wäre, nämlich sich schon vorbeugend im Geiste auf die letzte Reise zu machen. Eine derartige Reise, die im Falle einer Wiedergeburt eigentlich gar kein Finale verkörperte. Er wollte vorgeben, davon fest überzeugt sein, dass die Daseinsbilanz aufzumachen wäre. Dass daher alle einem aus der Vergangenheit bekannten Personen sich wiederkünftlich bereithielten. Insbesondere dann, wenn sie sich mit einem starken Karma in jemandes Bewusstsein eingegraben hätten. Dass sie sich bereithielten, einen erneut aufzusuchen. Und wäre es nur als Spukgestalt.
Gandauer plante, in der Sache damit zum Höhepunkt zu kommen, dass Karma als Schicksalsbegriff tatsächlich indischer Herkunft und damit als durchaus auch mit arischem Charakter begnadet anzusehen wäre. Selbst wenn sich den Begriff derzeit ein völkisch mitunter problematischer Personenkreis angeeignet hätte. Was die Vorsehung und eine künftige, vielleicht bereits heranwachsende Generation rücksichtslos zu bereinigen hätte.
Gerüstet mit diesem Plan, freute sich Gandauer direkt auf den Spaß mit der angekündigten Begegnung.
Dann war es so weit. Gandauer öffnete die Tür zum Besuchsraum und warf einen Blick hinein. Als er seinen mutmaßlichen Gast ausmachen konnte, stockte ihm schier der Atem. Das musste sonderbar ausgesehen haben. Er blieb wie angewurzelt stehen und riss ganz unwillkürlich Augen und Mund weit auf. Diese Person, die da bei seinem Erscheinen vom Stuhl aufgesprungen war, kannte Gandauer sehr wohl. Allerdings sei die Beziehung zueinander eigentlich nur dienstlicher Natur gewesen, fiel ihm ein, als er sich wieder gefangen hatte. Jedenfalls sei diese Art des Bekanntseins nicht gerade besuchsträchtig, meinte er dann bei sich. Obendrein gerade an so einem Ort wie diesem. Das aktivierte ihm auch wieder etwas Genierlichkeit. So stand er immer noch beinahe regungslos da.
Der Zivi ging auf Gandauer zu und reichte ihm die Hand. Er musste allerdings einen Augenblick warten, bis sein Gegenüber sich ganz aus seiner Überraschungsstarre gelöst hatte und den Gruß erwidern konnte.
Sie nahmen Platz. Gandauer schien mit einem ganzen Bündel Fragen den wunderlichen Eindruck, den er vorhin bei seinem Besucher erweckt haben mochte, ausgleichen zu wollen: Was der Junge denn so treibe? Ach ja, treibe! Was ihn hierher und zu ihm treibe? Was in der guten Seniorenresidenz los sei ... Fragen nach diesem und jenem.
Der Zivi lächelte, als Gandauer seinen Katalog abgearbeitet hatte, und setzte zu einer Antwort an. Dabei wich er der Frage nach seinem Motiv für diesen Besuch aus und verlegte sich gleich auf eine Berichterstattung über das Wohnheim. Dass sie jetzt für die vielen Demenzerkrankten eine eigene Abteilung einrichten werden. Dass es dann möglich sei, sich auf diese leider immer größer werdende schwierige, dennoch eine spezielle Betreuung erforderlich machende Gruppe ... Er führte den Satz nicht ganz aus und formulierte es dann so, dass es doch für die Pflegepersonen fast unmöglich sei, über die Grundpflegemaßnahmen hinaus den zu betreuenden Personen Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu schenken. Es müsse das gefälligst so betrachtet werden, dass die Beschäftigung mit den Menschen, wenn denn die wirkliche menschliche Seite, die notabene individuell unterschiedlich zu sein habe, weil sie eben so sei ... – Der Zivi schien bemerkt zu haben, dass er in seinem Engagement zu sehr in Fahrt geraten war und sich ein wenig verhaspelt hatte. Er schnappte nach Luft und lächelte etwas verlegen in den Raum. Gandauer war jedoch den Worten aufmerksam gefolgt und nickte seinem Gast nun anerkennend zu. Es sei eben nicht ganz einfach, dem Einzelnen gerecht zu werden, bestätigte er. Gerade in solchen Ansammlungen wie in Heimen. Es sei erst recht bei alten Menschen so schwierig, die ihr Leben so gut wie hinter sich zu haben glaubten. Ihnen klar zu machen sei fast unmöglich, dass sie sich vielleicht noch einmal etwas wandeln oder gar anpassen sollten.
Sie nickten sich zu, wohl beide überrascht davon, so ins Grundsätzliche geraten zu sein. Dann war der Junge gleich bei diesem und jenem aus dem Alltag im Heim. Die Zeit verging auf diese Weise ausgesprochen kurzweilig, weil er auch nicht ausließ, etwas Klatsch und Tratsch in seine Geschichten einfließen zu lassen. Dann sah er auf die Uhr. Er sprang auf mit den Worten, sich zu seinem Bus aufmachen zu müssen. Es koste ihm Stunden, wenn der ihm vor der Nase wegfahre.
Gandauer erhob sich ebenfalls und ergriff die Hand des jungen Mannes, bedankte sich für die Nettigkeit und das Erscheinens hier. Dann unterbrach er plötzlich das Ritual der Verabschiedung. Er erkundigte sich danach, woher der Zivi denn erfahren habe, dass er, Gandauer, an diesem sonderbaren Ort sei.
„Ganz einfach“, beeilte sich der Zivi, nach einem erneuten Blick auf die Uhr. Er habe einem guten Bekannten der Familie, einem gewissen Anwalt Sterzinger, berichtet, dass da eines Tages ein älterer Herr plötzlich aus dem Heim verschwunden gewesen sei. Sterzinger habe sich informiert gezeigt. Was ihn, den Zivi, auch wieder erstaunt habe, obendrein zu hören, dass besagter Heimflüchtling nun sogar sein Mandant sei.
„Die angeblich große, weite Welt ist eigentlich doch sehr klein“, konnte Gandauer an seiner Verblüffung vorbei nur kommentieren.
Zivis Frage dann, wieder nach einem Blick auf die Uhr, ob er Kontakt halten dürfe, beantwortete Gandauer nur mit einem kargen „Selbstverständlich“, dem er allerdings gleich „warum auch nicht“ hinzufügte.
Auf dem Weg zu seiner Zelle hatte Gandauer seine Überraschung über diese Verbindung seines Besuchers mit Sterzinger zu verarbeiten. Schließlich ging ihm auch auf, dass er gar nicht wisse, wie dieser freundliche junge Mensch eigentlich heiße. Er lachte kurz laut auf. Sofort entschuldigte er sich bei der Dienstperson, die ihn begleitete. Es sei ihm gerade etwas Sonderbares durch den Kopf gegangen, was ihn, den Begleiter natürlich nicht betreffe.
„Menschenskind“, antwortete der, „eine Entschuldigung für ein harmloses Lachen! So eine absolut unerwartete Höflichkeit!“ Er wisse gar nicht wohin damit in diesem bizarren Herrenhaus hier.
Fischer hatte seinen Kollegen zu Beginn seiner Abwesenheit gefehlt. Sie mussten seine Arbeit weiterführen, hatten damit zusätzliche Belastung. Sie waren dazu gezwungen, sich erst in den einen oder anderen Vorgang des Spezialbereichs von Fischer einzuarbeiten. Daher wünschten sie Fischer zunächst baldige Genesung.
Doch es dauerte. Wochen vergingen. Allmählich wurde Fischers Abwesenheit in den Augen der Kollegen zu einem Urlaub, den der sich ärztlich verschreiben hatte lassen.
Die Existenz Fischers schien den Kollegen bald auf ein wenig Unmut geschrumpft zu sein. Vor allem deswegen, weil sie sich hatten anstrengen müssen, die Ergebnisse seiner, wie es gleich hieß, überaus eigenwilligen Arbeitsweise zu entschlüsseln und die umfangreiche Ablage zu durchforsten. Als dann sein Bereich durchleuchtet und aufgeteilt war, fragte niemand mehr nach ihm.
Dass Fischer irgendwie undurchsichtig arbeitete, war längst bekannt. Es lag da immer schon nahe, manchem der Kollegen sogar am Herzen, dieses Urteil auf die ganze Person des als etwas sonderbar angesehenen Zeitgenossen zu übertragen. Vor einiger Zeit war außerdem bekannt geworden, dass sich Fischer sogar politisch betätigte.
Satte zwei Monate waren dann vergangen, da tauchte Buchhalter Fischer wieder auf.
Er bevorzugte vordem graues oder braunes Tuch. Um ja nicht etwa als modisch zu gelten, trug er Anzüge gewissermaßen der vorletzten Mode. Immer hatte ein Binder in gedeckten Farben dazugehört. Heute hingegen kreuzte er lässig gekleidet auf, trug Jeans, up to date verwaschen, und einen auffällig bunten Pulli. Am Hemd waren zwei Knöpfe offen, so dass bei näherem Hinsehen der Ansatz seiner spärlichen Brustbehaarung auszumachen war.
Frau Metz im Vorzimmer hatte diese Erscheinung erst nur flüchtig wahrgenommen und vermutlich nicht als zu Fischer gehörend eingeordnet. Dann allerdings sah sie noch mal hin, grüßte kurz und wandte sich, offensichtlich irritiert, schnell wieder ihrer Arbeit zu. Dabei hatte sie die höhere Tonlage des Wiedersehens, die für gewöhnlich jedem zuteilwurde, nicht erklingen lassen. Fischer war auf keinen Fall bereit, sich mit einem einfachen, noch dazu flüchtig erscheinenden Gruß abspeisen zu lassen. Fischer fühlte sich ignoriert, spürte eine innere Erregung unzügelbar ansteigen. Er sah sich veranlasst, seinen Gruß noch einmal, jetzt allerdings scharf betont zu wiederholen. Er erfuhr von der nun auch noch erschrockenen Frau wiederum nur einen kurzen Seitenblick mit einer die Zumutung noch steigernden weiteren Verknappung der Formalität, nämlich beschränkt auf ein leichtes Kopfnicken. Fischer, alias Piscator, zischte zunächst nur etwas von einem „Abgeschriebensein, wenn einem die Gesundheit einmal die Dienste versagt!“ Aber es galoppierte in ihm auf. Er wurde unversehens lauter, steigerte sich in eine Klage über die Inhumanität der Gesellschaft im Allgemeinen und das unsoziale Pack in diesem Scheißladen – wie es ihm herausfuhr – derart, dass sich seine Stimme überschlug und der Rest seiner Abrechnung in einem Hustenanfall unterging.
Er zog sich mit puterrotem Kopf, beide Hände vor dem Mund und immer noch in seinem Anfall bellend, auf die Toilette zurück. Dort setzte er sich, bald genesen, mit einem seit langem nicht mehr genossenen Gefühl der Erleichterung zu einem auch sonst befreienden Geschäft.
Nach etwa einer halben Stunde tauchte Piscator dann ganz entspannt wieder auf und begab sich stracks an seinen Schreibtisch. Dort setzte er den Computer in Gang, tippte, nachdem sich das Arbeitsprogramm geladen hatte, sein Passwort ein, um Vorgänge einsehen zu können. Das beeindruckte den Apparat allerdings überhaupt nicht. Fischer begriff sofort. Er stieg kalt aus, indem er der Kiste einfach den Saft abdrehte. Dann lehnte er sich zurück. „Klar, die Schufte haben den ganzen Zahlensalat unter ein mir unbekanntes Passwort gestellt!“, war er überzeugt. „Da ist alles zugemacht für mich. Ich bin ganz abgeschnitten. Abgehängt und abgeschrieben bin ich. Das machen die so. Er lehnte sich zurück und atmete tief durch. „Out!“, stöhnte er laut. Er atmete noch mal so tief durch und dann immer wieder. Er sog die Luft so tief ein, wie es ihm nur immer möglich war. Er hielt die Luft an, wie immer es machbar war. Das trieb er, bis er Sterne vor den Augen hatte. Er schloss die Augen und machte sich auf diese Weise die Nacht dazu. Dann war er für eine Weile weg. Als er mit einem Stechen im Kopf zurück war, fasste er sich wieder: „Hoffentlich ist es von Dauer, dieses Abgestelltsein. Hoffentlich bleibt die Kiste hier tot. Hoffentlich bist du die Arbeit an dem verfluchten Kasten da los. Dieser Ausbund von elektronischer Seuche. Bloß die Betriebsöde bleibt noch mit dem Zeug. Alles sonst wird eh rausgefiltert in der Zentrale. Filmchen, Internetschweinigeleien, nach denen es einem manchmal ist, um zu entspannen. Eine kastrierte Mattscheibe eben.“
In der Erwartung, endlich wieder von Hand schreiben zu dürfen, begann er, Bleistifte zu spitzen. Dann sortierte er Büroklammern. Um das sanfte Kratzen eines Stiftes und die Befriedigung beim Entstehen von etwas Handgefertigtem zu genießen, begann er zu zeichnen. Schwerter, Pistolen und sonstiges in der Richtung aus dem aggressiven Parterre der Seele. Darüber, was so aus ihm herausfloss, war er am Ende selber erstaunt. Aber es hatte ihm wohlgetan. Er erinnerte sich, dass solche Kritzeleien früher manchmal an Klosettwänden zu sehen waren. „Auf die helle Schreibtischplatte damit“, kicherte er vor sich hin. „Das wird mal mein Abschiedsgeschenk.“
Nach einiger Zeit – seine Attacke zum Entree mochte im Betrieb bereits die Runde gemacht und den Leuten das dumpfe Robotsgemüt aufgehellt haben – kam Frau Metz und teilte ihm in einem irgendwie feindseligen Ton mit, dass Fischer bei Herrn Direktor Heldmeier zu erscheinen habe.
Früher, selbst noch zu Zeiten, als er bereits bekennender Sozialist war, hätte ihn diese Botschaft, egal in welchem Ton vorgetragen, elektrisiert. Sie hätte ihn emporschnellen lassen, wenigstens innerlich. Und wäre er ehedem erregt, Anzug und Krawatte zurechtzupfend, des Weges gewesen, so ließ ihn heute diese Nachricht samt des eigentlich herausfordernden Tons der Botin ziemlich unbeeindruckt. Er nahm sich Zeit, fragte sich, was er denn bei diesem Dinosaurier überhaupt solle. Er fand auch gleich eine Erklärung für seine Haltung, indem er sich erinnerte, dass dieser Mensch wiederholt in der Öffentlichkeit damit geprahlt hatte, dass es in seinem Betrieb weder einen Betriebsrat, noch gar gewerkschaftliche Umtriebe gebe. Allerdings wunderte sich Piscator dann auch wieder über sich selber, dass ihm das gerade jetzt durch den Kopf ging. Es war ihm doch trotz Parteibuchbesitzes stets ziemlich wurscht gewesen, weil es ihn nicht unmittelbar berührt hatte. In seinem augenblicklichen Zustand kam ihm diese Erinnerung jedoch gelegen. Und er blieb dabei, Heldmeiers negative Anschauung über das organisierte Arbeitnehmertum als Beleg für dessen bodenlose Rückständigkeit zu werten und damit seiner Verachtung auszuliefern.
Mit dieser Einstellung innerlich gerüstet, machte er sich auf den Weg.
Beim Betreten der Kommandozentrale und nachfolgenden Abschreitens der acht Meter Untergebenenpassage fühlte er stechende Blicke auf sich gerichtet und sich von oben bis unten gemustert. In Heldmeiers Gesicht fehlte heute das sonst wenigstens anfänglich zwar äußerst verhaltene, nichtsdestoweniger ohne weiteres feststellbare Exponentenlächeln. Auch der stets zwar unverbindlichen, immerhin ein wenig erfreulichen Floskeln enthielt sich Heldmeier heute. Piscator erhielt allerdings keine Zeit, Entzugserscheinungen aufkommen zu lassen. Er wurde gleich überaus schroff mit einer Frage konfrontiert: Wo er denn, verflucht noch mal, die ganzen Belege für die vielen Spenden habe, und zwar völlig unverständlicherweise jeweils Tausender. Und wer in Teufels Namen der ominöse Auftraggeber und vor allem der Empfänger gewesen sei. SOS gehöre für ihn zur Seefahrt und nicht zu so etwas wie einem Kinderdorf. Überhaupt sei für die Mildtätigkeit und solche auf die ewige Glückseligkeit zielenden Angelegenheiten ausschließlich seine Frau zuständig. Er könne sich um so etwas nicht auch noch kümmern im immer härter werdenden Konkurrenzkampf auf den Weltmärkten.
„Sieh mal an, Tausender immer. Das wird wie stets seine Richtigkeit haben, was den Dingen ja auch zukommt, dass sie ihre Richtigkeit haben aus dem Mund des Chefs“, antwortete Piscator gespreizt.
Aus Heldmeiers Augen blitzte es gefährlich. Er verbat sich diesen Ton. Doch entgegen Piscators Befürchtung, dass Heldmeier jetzt richtig loslegen würde, war sein Ausbruch auch bereits wieder zu Ende. Er warf seine Blicke kopfschüttelnd immer wieder auf seine Unterlagen, als könne er etwas gar nicht fassen.
Und die Unordnung in Piscators Ablage und sein heilloses Durcheinander, setzte Heldmeier doch wieder an. Allerdings tat er das auch diesmal, ohne richtig abzuheben. Er widmete sich erneut seinem Aktenstudium.
Vor dem großen, dunkel glänzenden Chefschreibtisch stehend, wartete Piscator geduldig ab, was da noch alles kommen würde. Während Heldmeier in den Akten kramte und immer wieder mit der Hand in der Luft herumfuchtelte, hatte Piscator daran Erbauung, die ehrwürdige Ahnengalerie der Heldmeiers zu betrachten: zwei Ölschinken archaischer Typen, der frühere mit mächtigem Voll-, der wohl spätere mit verwegenem Zwirbelbart. Bart-Imitate der kaiserlichen Preußen. „Da fehlt doch ein Heldmeier, der zu dem hinreichend bekannten Österreicher mit dem Rotzbremser passen würde“, überlegte Piscator. „Auch in dessen Gunst“, war er sich gewiss, „haben sich die Heldmeiers, dank des Bedarfs an Stressmaschinerie für die verfluchten Kriege, den sie neben harmlosem Maschinenbau befriedigten, ja ganz fett an den Fleischtöpfen des Staates gehalten. In Rüstungsaufträgen haben sie geradezu eine Erlaubnis zum Gelddrucken gehabt. Bei jedem Firmenjubiläum waren die Konterfeie der Ahnen hinter dem Rednerpult erhöht gewesen“, fiel ihm ein. „Oder sie hatten patriarchalisch versteinert auf die festliche Tafel herabgeblickt. Als könnten sie ihr Zählen nicht lassen und zählten einem nun die Bissen in den Mund und kalkulierten, wie ihre Esel verstärkt dazu gebracht werden könnten, die Atzung als Gold wieder auszuscheißen.“
Während dann Heldmeier aufsprang und anhob, auf ihn einzureden und ihn mit Worten zu geißeln begann, sich darin akustisch bis an die Grenzen seiner Ausdrucksfähigkeit steigernd, sah Piscator immer wieder auf die beiden toten Konterfeie in Öl an der Wand und versuchte eine Ähnlichkeit mit diesem vor ihm tobenden Lebenden auszumachen.
Der Aufforderung Heldmeiers: „Sehen sie mich gefälligst an, sie, sie ...!“, kam Piscator nicht nach. Diese Worte und die ganze Standpauke gingen an ihm vorbei. Sie hinterließen bei Piscator nur Geräusch und das Bild eines Wesens, das wie ein Gorilla vor ihm herumtobte.
Schließlich bot Heldmeier alle Reserven auf und hämmerte mit einer Kanonade schriller Töne, gespickt mit etlichen verbalen Entgleisungen, auf Piscators Trommelfell ein. Da er auch hinter seiner Bastion hervorkam und sich bedrohlich, mit hochgezogenen Schultern und angewinkelten Armen, die in Fäusten mündeten, auf Piscator zubewegte, schloss dieser, dass seine Anwesenheit nicht weiter von Vorteil für ihn sei.
Er entfernte sich beinahe so, als wäre nichts gewesen, begab sich allerdings noch kurz in sein Büro, um seinen Abschiedsgruß auf die nackte Schreibtischplatte zu kritzeln. Dann machte er sich davon. Einen jeden grüßte er ausgesucht freundlich. Am liebsten hätte er sich bei der Dame im Vorzimmer mit einem Handkuss verabschiedet, so gut war ihm zumute. Aber das schien ihm dann doch etwas übertrieben. So beschränkte er sich auf eine kleine Verbeugung.
Auf dem Fabrikhof griff er sich eines der Diensträder, die für untergeordnetes Personal zum eiligen Durchqueren des Firmengeländes bereitstanden. Er schwang sich auf den Drahtesel und trat, vorbei an seinem nagelneuen Opel, die Reise an. Einige Meter war er bereits in Richtung Straße, da kehrte er wieder um. Er fingerte aus der Hosentasche die Schlüssel für Auto und Wohnung. Er warf das Bund aufs Dach seines Wagens, dass es krachte – und in seinem Innern doch noch ein wenig schmerzte, wegen der zu vermutenden Beschädigung der kostbaren Außenhaut. Dann machte er sich fluchtartig davon, tauchte im stinkenden, röhrenden Straßenverkehr unter.
Nach etlichen Schüben von Lebensangst, die er jedoch in einer Stehkneipe wegspülen konnte, kam er bei Dunkelheit am Wohnsilo im alten Industrieviertel an.
Dort hatte er sich längst in einem Rest von bürgerlichem Vorsorgebedürfnis einen Unterschlupf geschaffen. Denn er ahnte seit geraumer Zeit, dass er eines Tages nicht mehr widerstehen können und alles hinhauen und abhauen würde: „So richtig mit Abbruch aller Brücken, so weg aus dem Spießerleben, aus dem verwünschten, so aus dem Alltag raus, der einen in seiner Greiferklaue hat.“
„Das Fahrrad in den Lift zwängen. Wenn du es unten stehen lässt, ist es morgen demoliert oder gleich weg. Fünften Stock anwählen. Oben streckte er erst den Kopf raus und schaute sich um, bevor er den Aufzug verließ. Er wollte endlich unbekannt und vor allen in Ruhe gelassen sein.
In seiner Behausung wuchs sein bereits üppiges Wohlbefinden noch. Er schob die Flurkommode vor die Eingangstür, um ganz sicher zu sein. Er warf eine Decke auf den Boden und wollte pennen. „Mal schlafen, wann du willst.“ Er lag eine Weile. Er war allerdings zu glücklich und viel zu aufgekratzt, um wegzutauchen. „Du bist erst vor einigen Jahren ... 1983? Egal. Aus deinem Bungalowviertel. Und das war bereits eine Heldentat. Immerhin noch in eine stinkordentliche Gegend der Stadt. Diese schwäbische Hauptstadt. Aus hoffnungsfrohen beruflichen und auch gesellschaftlichen Anfängen weg. Was würden die guten Eltern sagen?“, regte er sich auf und wälzte sich eine ganze Weile auf seinem Lager von einer Seite zur anderen.
„Gehört was dazu, alles wegzuschmeißen!“, konnte er sich wieder fangen.
„Und verdammt kein Abstieg, sondern ein Aufstieg. Nämlich zu dir. Man muss stolz sein. In einer Absteige, die eine Aufsteige ist! Wo sie aus den Niederungen der Kriegsbaracken mit ihren Betonsilos in die Höhe gegangen sind und die Wolken kratzen wollen. So ein Aufstieg. Du darfst dich hier und in deiner Lage, in die du dich gebracht hast, auf dem Gipfel deines Strebens nach Unabhängigkeit fühlen, Junge. So was wie Lebensziel törnt dich da an. Wenn’s nicht zu hoch gegriffen ist, begrifflich. Der Vater drehte sich im Sarge um, ha! Sein wohlerzogener Sohn. Was hat der Alte an Hiebe und Belehrung in die Erziehung investiert. Sein Erzeugnis nun mit Obdachlosen, mit Gastarbeitern und Asylanten unterm selben Dach. Mit Stützeempfängern und den ganzen Dauerbrennern der Stammtische. Der Hausverwalter, dieser Schweinehund, war auf deine Penunze scharf. Da stopft er noch ein paar Asylanten in die Buden, dass er für dich, gegen Schmiere, was leerkriegt.“
Dann erinnerte sich Piscator auch noch, wie er sich aus seiner alten Wohnung gestohlen hatte, unter Zurücklassung von Gegenständen seines Jungesellenhaushaltes. Geld, etliche Hunderter. Er hatte nicht genau nachgezählt. Er hatte es in einem Kuvert mit der Aufschrift hingelegt: „Für meine verehrten Gläubiger“. Einen Rest seines Geldes, einige braune und blaue Lappen, klemmten hinterm Gummiband seiner Socke. Nur für seine drei Bausparverträge und seine Lebensversicherung war ihm keine originelle Verwertung eingefallen. Er legte die Verträge in der neuen Wohnung unter die Matratze und wollte hie und da danach grapschen, weil das für ihn dann richtig greifbare Irrtümer seien.
Er dämmerte vor sich hin und dachte noch verschwommen darüber nach, wie er sich das Nötigste beschaffen könne, wenn die Büchsen mit den Fertiggerichten alle sein werden. Besorgungen in der Dunkelheit, plante er. Dann eben in einer Tankstelle, wo sie jetzt alles anbieten. Dass er auf jeden Fall ab jetzt sein Leben als Solist spielen wolle. In Ruhe sollten sie ihn lassen. Bis er kalt sei, war er überzeugt, nämlich wenn er abkratzen würde. Sie sollten ihn erst in seiner Wohnhöhle finden, wenn der Gestank davon durch alle Ritzen dringe.
Als er nach Stunden aufwachte, blieb er noch eine Zeit liegen und starrte an die Decke. Dann rappelte er sich auf und begann zu kramen. Er garnierte die Wände mit irgendwelchem Zeug. Er hängte an die Nägel, die noch von den Vorgängern da waren, was ihm so in die Finger kam: eine Bratpfanne, Zeitungsfetzen, seine Dreihundert-Mark-Schuhe, die er bestimmt nicht mehr tragen wollte. Er freute sich und hüpfte in der Behausung herum und riss sich die Klamotten vom Leib und vollführte dann splitternackt seinen Freudentanz.
Als ihm schwindlig war und er auch mit dem Atmen nicht mehr richtig mitkam, ließ er sich auf sein Lager fallen. Nachdem er sich wieder erholt hatte und es ihm immer noch so gut zu Mute war, fummelte er ein wenig an sich herum. Schließlich schlief er wieder ein.
„Auf diese Weise kann es natürlich nicht immer weitergehen“, erkannte er gleich, als er am nächsten Morgen die Augen aufmachte. „Erst sieben. Die lästige innere Uhr noch. Was anfangen mit so einem langen Tag?“ Er ging ans Fenster und sah sich in der Gegend um. „Überblick schaffen von hier“, betonte er. „Stadtrand ohne Landschaft“, stellte er fest, hatte es allerdings vorher bereits gewusst. „Alles hier so fertig, obwohl es noch gar nicht richtig da ist. Ohne irgendwie Natur, dass ein Baum was zudecken könnte. Was fürs Auge nichts ist. Der Unrat. Die Autowracks. Die offenbar immer als Traumfragmente zur Umgebung der Randfiguren gehören. Ich denke noch wie ein Spießer!“, beschimpfte er sich. Konnte sich dadurch auch nicht aufhalten: „Der Wohlstandsmüll der Besitzlosen als Abklatsch von Besitz.“ Das machte ihn ein wenig traurig. Am frühen Morgen schon. „Was soll dann aus dem Tag werden? Zum Schluss fängst du noch zu saufen an. Weil du es nüchtern nicht packst.“ Er machte sich Milch heiß. Als er dann so dasaß und immer wieder einmal davon schlürfte, überlegte er, was er mit der vielen Zeit anfangen könne. Dann kam er darauf, dass es interessant wäre, den Geräuschen in diesem Silo zu folgen. Er legte sich gleich auf Lauer. Er presste das Ohr an die Wand zur Nachbarwohnung. Es war noch zu früh am Tag. „Lauter Leute hier ohne Arbeit. Die stehen nicht so früh auf. Wenn sie überhaupt aufstehen. So jemand hat verdammte Angst vor dem Tag.“
Als er auf dem Boden lag und horchte, schlief er zwar wieder ein. Beim Erwachen fasste er sofort einen Entschluss. Er wollte sich ein Hörbild von seiner Umgebung machen. In seiner immer noch wirkenden Neigung zur Registrierung strebte er die Gewichts-, Geschlechts-, und dergleichen Feststellung mittels Erfassung des Gehgeräuschs an. Er war sich auch sicher, bald über die Stimmung der Leute, die er den Flur entlangkommen hören würde, urteilen zu können: erregtes Tippeln, missgelauntes Schlurfen ...
Das ging dann über Tage.
Die Stimme eines Kindes, das nach seiner Mutter rief, drängte sich ihm irgendwann in den Vordergrund: „Mama, mach auf!“ Das ging so eine ganze Zeit. Immer wieder: „Mama ...“ Tags darauf wieder, etwa zur gleichen Zeit. Das fesselte ihn. Er wartete jeden Tag darauf, konnte ausmachen, dass da zuerst schwere Schritte waren: „Mann mittlerer Größe, etwas Übergewicht“, wertete er. Schritte, die in dieser Wohnung verschwanden. Dann Türenschlagen: „Frustrierter Macho“, folgerte er. Drauf wieder dieses Mamamama. Nach einiger Zeit war der Spuk stets vorbei. „Interessant“, bemerkte er und hatte seinen Zeitvertreib damit. Er hätte brennend gern auch gehört, was da lief. „Da werden dunkle Geschäfte abgewickelt“, unterstellte er. „Drogen etwa und solches Zeug. Ausländer und Verbrecher. Du im selben Stock! Wenn da die Bullen aufkreuzen!“, erschreckte ihn. „Wenn sie auch bei dir herumschnüffeln und dich zu packen kriegen!“
Die Angst überkam ihn und verfolgte ihn. Er stellte seine Geräuschestudien ein, um nicht dauernd wieder auf diesen ungemütlichen Einfall zu stoßen.
Da überkam ihn, entgegen seinem Vorsatz, das Bedürfnis, am helllichten Tag seinen Unterschlupf zu verlassen. Er kämpfte zwar erst ein wenig dagegen an, gab sich aber doch bald nach.
Ein Blick in den Spiegel überzeugte ihn, sich wenigstens geringfügig kultivieren zu müssen. Etwas kämmen, vielleicht auch waschen, auch eine Rasur sei fällig.
Er machte sich mit dem Rad auf den Weg in die City. Umherschlendern. Konserven beschaffen. Vielleicht auch eine Spraydose, um das geklaute Fahrrad etwas umzuspritzen.
Die Bewegung tat gut. Aber die Puste ging ihm bergauf allerdings immer gleich aus. „Das Gammeln hat seinen Preis“, gab er sich zu und stieg ab. Da stand plötzlich ein kleiner Mann vor ihm. Piscator wollte ihm ausweichen. Der Typ machte ihn aber in einem geradebrechteten Deutsch an: „Bitte, Cheffe, nix Kohle. Nix Essen. Viel Hunger. Bitte, viel Kind.“ Piscator sah genauer hin. Es mochte ein Türke oder sonst ein Orientale sein. Dem rann auch schon eine Träne über die unrasierte rechte Backe. Piscator war fasziniert. Wie macht der das? Nur rechts! Sofort war da wieder das bisschen soziale Gesinnung, das ihn vor Jahren sogar in die Politik gelockt hatte. Piscator griff in die Tasche und drückte dem Mann einen Fünfer in die aufgehaltene schrundige Hand.
„Scheiß Ausländer!“, durchfuhr es ihn dann doch auch wieder, und er mochte eine Sekunde auf die Seite geblickt haben, um zu sehen, ob ihn Passanten bei seiner ihm jetzt eher peinlichen Mildtätigkeit beobachtet hätten. Als er wieder nach dem eben subventionierten Typ sah, war der spurlos verschwunden.
Piscator zog weiter.
Leute in Straßencafés, die freundlich gelangweilt in die Sonne blinzelten. Andere hasteten aneinander vorbei. Dazwischen flanierten wieder welche, offenbar mit viel Zeit und ohne Ziel. Piscator war davon angetan.
Dann wollte er sich wieder in seiner Behausung verkriechen.
Er ging zu seinem Fahrrad, löste den Kettenverschluss vom Laternenmast. Da wurde er auf eine Gruppe von drei Männern aufmerksam, die an einem verbeulten VW-Kombi standen und in einem breiten Bairisch ihre Witze rissen und laut herumalberten. Die Kleidung der Kerle war so verlottert, wie das Auto vergammelt war. Da packte es ihn! Er erkannte im Vorbeiradeln einen der Witzbolde als seinen vermeintlich orientalischen Schnorrer von vorhin.
Es mochte auch auf der anderen Seite gezündet haben. Jedenfalls huschte der Strolch blitzschnell davon. Piscators „Sauhund und Parasit“ und dass er ihm eine in die Fresse hauen würde, verhallte im Gelächter der Gauner. Piscator trat trotzdem fester in die Pedale, um nicht selber eine Tracht Prügel einstecken zu müssen. Bei einem kurzen Blick zurück, konnte er ausmachen, dass die Halunken mit ihrem alten Kasten verschwunden waren. Jetzt schrie er immer wieder: „Verreckte Saubande!“ Die Passanten drehten sich nach ihm um. Etliche tippten an die Stirn.
Er kam an einem Kiosk vorbei. Die fetten Aufmacher der Boulevardblätter verkündeten „Führers Geburtstag“ und dass Hitlers Hundertster anstünde. „Es sieht ja aus wie Naziquatsch!“, redete er vor sich hin. Er stoppte.
Im Text stand dann nur was davon, dass die Polizei Demos der Neonazis erwarte.
„Allerdings ist der Zweck erfüllt“, war Piscator überzeugt, „Adolfs Gedenktag ist verkündet!“ Er kaufte sich Kaugummi und schaute noch ein wenig aufs Angebot. Entblößtes Weibliches stach ins Auge. Er griff sich eines von den Pornoheften. „Zwölf Mark für die Wichsvorlage“, kam es trocken von der fetten Alten. Piscator kriegte ein heißes Gesicht, schmiss das Geld hin und zog ab. Auf dem Rad lachte er wieder blöde und beteuerte sich, dass er sich das früher nicht getraut hätte. „Jetzt kennt dich hier keiner. Du bist und bleibst so ein bescheuerter Biedermann.“ Und er trat in die Pedale.
Ich notiere, weil ich darüber nicht reden kann. Ich will es jedoch nicht in mich hineinfressen: Meine Berufswahl schien bis jetzt ziemlich klar zu sein. Sie war im Grunde nicht hinterfragt. Die Lebenszielplanung. Sie war eigentlich von der Mutter getroffen. Seit Vater weg ist? Kommt es aus ihrer Frömmigkeit? Mich Sohn an den Altar zu bringen und ihn sozusagen darauf zu opfern? Der biblische Abraham mit der Sohnesopferung huscht mir da durch den Sinn. Und der liebe Gott, der Abraham damit beauftragt hatte. Es wäre mit dem Messer zu vollziehen gewesen. Er hinderte Abraham jedoch im letzten Augenblick daran. Wie nun, wenn Er auch den unblutigen Opferplan der Mutter verhinderte?
Dieser doch ziemlich ausgefallene Vergleich stellte sich mir. Wie so ein inneres Kabarett ist es mir. Mit spitzen Fragen, die da aufgeworfen werden. Und ich vermute, es sind die von der Sorte, die gerne unbeantwortet bleiben, wenn es um die Zukunft geht. Ich habe den Verdacht, dass Mutter mich mit diesem vatikanischen Instrument der erzwungenen Ehelosigkeit von Frauen fernhalten will. Sonderbar. Entschuldige, liebe Mutter! Doch ich muss es ganz einfach mal ausdrücken – mir selber gegenüber. Was ich dir nicht verraten kann, dass es in meinen Gedanken ist. Fast wie eine Sünde. Jetzt auf Papier gebracht, das bekanntlich geduldig ist. Die Vermutung ganz niedergeschrieben: Weil eine deiner Geschlechtsgenossinnen, liebe Mutter, dir den Mann wohl ver-, aber auf jeden Fall entführt hatte. Deswegen willst du den Mann in mir der Weiblichkeit vorenthalten?
Ich muss zu mir ehrlich sein. Redlich, okay. Wenigstens mit der Frage: Überfällt mich das hier alles nun, wegen dieser Begegnung neulich im Café? Du (Ich will jetzt einmal meine erste Person verlassen. Ein Spiel. Allerdings ist mir das als notwendig angezeigt, weil ich mich von mir selber verlassen fühle. Oder so etwas.) Dein Ich hatte mit oder von der holden Weiblichkeit ehedem Ruhe. Früher. Was die Klassenkameraden gelegentlich zu einem Seitenhieb veranlasst hatte. Dass du einer vom anderen Ufer seist. Was du stets abwehren konntest als Ausdruck ihres Neides auf deine Unerregbarkeit, im Gegensatz zu ihrem Umgetriebensein. Doch mit einem Mal!
Ob du wieder zur Ruhe kommst? Wenn du dir zugibst, wie es um dich bezüglich des Herzens steht? Solltest du dich vielleicht darin auch der guten Mutter gegenüber zu erkennen geben? Darfst du ihr wehtun? Mutter müsste ihren Priesterwunsch für dich zu Grabe tragen, wie ihre Ehe, die von dieser Eindringlingin damals gemeuchelt worden war. Welch eine Bosheit!
Wie soll es weitergehen? Ich ... (Sei nicht feige und mache mit dem Du nicht einen auf Schizzo!) Ich muss mich entscheiden, denn die Zivi-Zeit läuft ab.
Mit Gandauer Kontakt halten!
Geschichtswissenschaft vielleicht als Alternative zur Theologie ins Auge fassen? Der Schwerpunkt könnte sein: Arbeit an Gandauers Zeit mit ihren vielen noch offenen Fragen – und Wunden?
Oder was Soziales. Mich mit diesem Mädchen sozusagen vorbereitend, studienhalber befassen. In Richtung Streetworker oder Erzieher.
Mir etwas Selbstveräppelung zur Entspannung gestatten: Herzenspädagogik als neues Fach in dieser kalten Gesellschaft. Kalt. Ein Stichwort: Besser cool bleiben. Oder es wieder werden. Diese bereits zur Herzensangelegenheit abgerutschte Angelegenheit mit dem Mädchen da. In der inneren Geografie von oben nach unten. Versuchen, es wieder etwas höher zu bekommen. Nämlich in den Schädel.
„Unsere nun doch ein bisschen geliebte Bundesrepublik“, lobte Gandauer und blätterte in der Zeitung weiter. „Sie kommt wie eine eitle Diva – und in der Presse ganz groß raus.“ Er las den Artikel fertig. „Unser lieber Stummelstaat“, überlegte er, „dieses amputierte Gebilde. Wunde gut verheilt!“ Die Zeitung legte er beiseite und verließ die Zelle. Er hatte dann den Hof erreicht. Die Sonne kam heute gegen eine Hochnebelschicht nicht an. Doch Gandauer war es vom Gehen warm geworden. Er knöpfte die Jacke auf.
„Was wird der Russe mit seinem Gorbatschow machen“, kam er auf einen Artikel zurück. „Wenn der Winter kommt und viele Läden weiter leer bleiben? Diese Bilder da von Regalen mit nichts drin.“
Gandauer drehte seine Runden – und die Erinnerung um vier Jahrzehnte zurück: „Der von den Bürokraten sogenannte Normalverbraucher mit seinen zweihundert Mark den Monat“, erinnerte er sich. „Die anständige Mark. Für die einer was kriegte. Bei allerdings fünf Mark fürs Pfund Butter.“
Gandauer kam in die Nähe einer Gruppe, die heiß diskutierte. Zu ihm schwappten nur Wortfetzen herüber. Denn er hielt sich vorsichtig abseits. Es waren nicht gerade feine Formulierungen, die er aufschnappte.
„Keine Ansammlung von Gentlemen“, war er überzeugt. „In dieser Anstalt“, hatte er früher schon gehört, „saßen allerdings nach dem Krieg eine Reihe sehr feine Leute ein. Solche wie Krupp und Von Weizsäcker. Die Herrschaften aus der Wirtschaft sollen es da recht gut gehabt haben. Bestens mit Nahrungsmitteln versorgt. Sie hatten Zeit zum Pläneschmieden. Es ist ja ganz interessant. Das spätere Wirtschaftswunder ist vermutlich auch in dieser Anstalt geplant worden. Sonderbar, wir draußen hatten nichts zu futtern. Tausend Kalorien am Tag als Zuteilung über Lebensmittelmarken. Die Leute hingen wie Striche in ihren Klamotten. Hundert Gramm Butter gleich fünf Amizigaretten. Das war die Währungseinheit ein Jahr nach dem Krieg. Hungernde, bettelnde, abgerissene ...“
In die Gedanken Gandauers polterte Cziflic mit der freudigen Mitteilung, dass er ihn endlich gefunden habe. „War gar nich so einfach. Denn fragen kannste hier nur die Hälfte, wo dich auch versteht. Dunkle Halunken. Wo das noch hingeht mit der Menge Ausländer und der ganzen Verrassung? Passieren muss da was. Wenn die Politik nichts macht, dann muss man selber hinlangen. Auch hier im Knast muss es losgehn. Mit dem Aufräumen endlich!“
„Aha. Hören sie mal: Gerade in genau dieser Einrichtung hatte das ganze Wegräumen schon einmal angefangen. Gerade von hier ging es aus!“, brauste Gandauer auf. „Einer, der dann furchtbar aufgeräumt hatte, saß hier ein und verfasste mit seinem ‘Mein Kampf’ die Un-Heilige Schrift der Aufräumgesinnung!“
Cziflic hatte Gandauer zwar nicht ganz verstanden, holte aber weiter aus: Dass die fette Politik zusehe, wie Drogenhändler, Messerstecher, Bluträcher und Diebe sich einschleusten und ihr Unwesen trieben. Dass die Bullen eher einen am Wickel hätten, dem gerade mal ein bisschen was schiefgelaufen sei. Statt einen von diesen Banditen am besten gleich kaltzumachen ...
Cziflic war noch eine Weile voll in Fahrt und bei mehreren Dutzend Asylanten, die dem benachbarten Weilheim zugewiesen worden waren. Nach einiger Zeit sei die Hälfte dieser Kerle verschwunden gewesen. „Bei der Haussuchung dann haben sie ein ganzes Lager geklaute Sachen gefunden. Diese orientalischen Ratten mit ihren klebrigen Pfoten. Haben ein ganzes Lager Klamotten, Rekorder, Fahrräder und Zeug zusammengerafft.“ Gandauer solle sich unbedingt einmal vorstellen, forderte der empörte Cziflic, dass dieses Pack aus dem Ausland zu uns käme, auf unsere Kosten lebe und zum Dank dafür klauend umherziehe und uns ausplündere! Cziflic war vor Erregung außer Atem gekommen. Er hatte seine Pranken zu Fäusten geballt und fuchtelte jetzt damit in der Luft herum.
Gandauer war aus Cziflics Reichweite getreten, um nichts abzubekommen. Denn der war in seiner Vaterlandsliebe weiterhin asiatischen und afrikanischen Ganoven auf der Spur: Ein Balkanese habe einem Afrikaner den Finger abgeschnitten, kam noch. Und im Krankenhaus hätten sie den wieder angenäht. „Darfste raten, wer das bezahlt hat!“, fauchte er.
Gandauer nickte beipflichtend, um Cziflic zu beruhigen, und meinte, dass in der Zeit nach dem Krieg doch auch ganze Völkerschaften im Städtchen gewesen seien, aus allen Himmelsrichtungen kommend. Darauf stieg Cziflic ein und ließ sich durch diesen und jenen Denkanstoß sogar von Gandauer lenken.
Am Abend machte sich Gandauer wieder ans Schreiben:
Sie wissen ja, guter Peters! Wir Deutsche ... Friedrich Nietzsches Bemerkung ist gut zu verstehen, es kennzeichne die Deutschen, dass bei ihnen niemals die Frage aussterbe: „Was ist deutsch?“
Zurzeit sammelt es sich wieder politisch national unter dem Aufmacher Republikaner. Der verführerische Lockruf von Recht und Ordnung ist zu vernehmen. Dabei ist der Finger auf alles vermeintlich Undeutsche gerichtet.
Ich will Sie mit diesen Betrachtungen nun nicht weiter behelligen! Darum gestatten Sie mir bitte, mit meiner Rätselstellung fortzufahren.
Selber irgendwie eingeschränkt darin, Erkundungen vor Ort einzuholen, begegnete mir doch zufällig eine Person, die als Junge in diesem Ort gelebt hatte. Der Mann, mein Interesse mit einem Instinkt ausmachend, den wir sonst nur bei viehischen Wesen finden, berichtete mir. Sein nachgerade Feuereifer erweckte bei mir den Eindruck seines Bedürfnisses, etwas, nämlich seine geistigen Eingeweide Bedrängendes, abschlagen zu müssen.
Sie verzeihen!
Er war als Junge mit seiner Familie zu der Zeit im Städtchen eingetroffen, als sich Massen von Menschen nach dem von uns angerichteten Chaos vor der russischen Feuerwalze von Ost nach West bewegt hatten.
Von Völkerwanderung zu künden, das entspräche allerdings nicht eben dem historischen Vergleich. Denken Sie dabei nur an das heroische Element, das diesen Stammeszügen vor allem in der Heldendichtung innewohnte. Heroentum, das unseren germanischen Altvorderen immerhin doch im reichen Maße im Stoff der Sänger vergönnt – und im Mittelalter wieder aufgegriffen worden war. Es fällt mir schwer, die vielen kleinen Märchen dagegenzuhalten, die Männer unserer, nämlich der Landsergeneration, heute noch an ihren Stammtischen zum Besten geben. Jedenfalls sind mir diese in den Texten der Skribenten nur ganz vereinzelt zu Heldensagen gereift.
Lassen Sie mich den Faden dort wieder aufnehmen, wo es im engeren Sinne um unser Ratestädtchen geht.
Dieses hatte wohl noch nie eine derart umfassende, allerdings tragische Internationalität erfahren: Scharen Überlebender der KZ-Massaker, meist jüdischer Abkunft. Dieses liebenswürdige Städtchen war immerhin umgeben von Außenstellen des Konzentrationslagers Dachau. Dann waren da farbige und weiße Sieger der französischen und amerikanischen Armee. Ein buntes Völker- und Rassengemisch tummelte sich dort. Und da waren eben auch noch unsere bedauernswürdigsten Landsleute. Meist Frauen, Greise, Kinder, mit einem Handkarren, beladen mit den spärlichen Resten ihrer Habe. Sie waren mit dem Geschick befrachtet, nicht nur einer geschlagenen, mit den schwersten Beschuldigungen belasteten, verhassten Nation anzugehören, sondern auch mit dem Vakuum im Herzen, lieber Menschen, der Heimat und der Gesinnung verlustig zu sein.
Breslau im Wege der Evakuierung vor dem Anmarsch der Russen rechtzeitig verlassen habend, konnten Sie, lieber Peters, zu einem Zeitpunkt, zu dem unsereiner in der Festung noch end-siegen sollte, auch einen Eindruck von der Hoffnungslosigkeit und dem harten Los des Heimatverlustes gewinnen.
Ich denke hierbei ebenso an unsere Hedwig. Wie sie mit ihren beiden Kindern durch die deutschen Lande in deren tiefster Erniedrigung gezogen sein mochte. Das kleinere Kind, ein Mädchen, noch im Kinderwagen. Diesen mit ein paar Dingen des Hausrats bepackt. Der sechsjährige Junge nebenherstolpernd.
Sie werden Verständnis dafür haben, dass mich an dieser Stelle die Ergriffenheit die Feder aus der Hand legen heißt. Denn dieses Bild hat mich bis heute stets verfolgt, ich habe es nie aus meinem Bewusstsein zu löschen vermocht.
„Meine Anwandlung. Wie jedes Mal bei diesen Gedanken!“, flüsterte Gandauer vor sich hin, und ließ alles eine Weile über sich ergehen. Während er in seiner Zelle auf und ab ging, stand ihm sein versäumtes Leben vor Augen. Hedwig und die Kinder. Und da war auch die erdrückende Last der Vorwürfe sich selber gegenüber. Es wurde ihm eng. Er fühlte sich jetzt zum ersten Mal wirklich eingesperrt. So ging er zum Tisch und kramte die Schreibutensilien aus der Schublade, um sich abzulenken.
Lieber Freund, jetzt nur noch die simple Frage danach, wie viele Menschen wohl ihre Vergangenheit immer wieder zu verdecken suchen. Ob das allerdings nur eine dürftige Begnügung sein kann, in Ermangelung der Möglichkeit, Gewesenes auszulöschen?
Er wollte diesen Satz alleine stehen lassen, überlegte das jedoch und kam zu einem anderen Schluss:
Ich wüsste gerne, wie es Ihnen nach dem Zusammenbruch ergangen ist. Sind Sie ordentlich durch die sogenannte Entnazifizierung gekommen und haben Ihren Spruchkammerbescheid vielleicht sogar mit dem begehrten Zertifikat „nicht belastet“ erhalten? Konnten Sie auch wie ein bekannter Zeitgenosse, etwa unseres Jahrganges, mit Ihrem „Fragebogen“ die Sieger ordentlich narren? Ich meine Ernst von Salomon. Sie wissen doch, dass ich Intelligenz immer bewundert habe. Insbesondere bin ich begeistert, wenn sie dazu benützt wird, sich messerscharf durch ganze Epochen zu schneiden. Ernst von Salomon war mit annähernd viertausend mehr oder minder Belasteten im Niederbayerischen in einem Lager und hat Geschichten erzählt, Parteisprüche gesammelt und ironisch aktualisiert. Wie gefällt Ihnen das: „Gebt mir vier Jahre Zeit, und ihr werdet eure Städte nicht wiedererkennen!“, und: „Führer befiel, wir tragen die Folgen!“
Jeder erkennt daran, dass ein guter Verstand gerade in düsteren Zeiten enorm aufhellend wirkt.
Bemerkenswert finde ich die Behauptung dieses verehrten Zeitgenossen: „Die Zeit ist, wie sie ist, und sie hat ein Recht so zu sein.“ Und ein Kabinettstückchen der Formulierungskunst: „Die Wirklichkeit verhalte sich zur Wahrheit wie die Lüge zum Märchen.“ Hier muss ich ...
Mitten im Satz hörte Gandauer Schritte näherkommen. Mit einer einzigen Armbewegung wischte er seine Sachen in die Schublade, als hätte er etwas zu verbergen. Schon stand Cziflic neben ihm und zog sich ein Grinsen ins Gesicht, als der heimgesuchte Gandauer aufsah.
Gandauer bot Cziflic widerwillig seinen Platz an, während er sich aufs Bett setzte und wartete.
Cziflic spielte mit dem Kugelschreiber, den Gandauer in der Eile übersehen hatte.
Lästiges Knipsen eine ganze Weile.
Gandauer fragte dann nur, wie sich Cziflic heute fühle. Er erhielt die kurze Meldung: „Nicht gerade!“ Dann herrschte wieder Stille, in die das Geräusch klickte.
„Warum biste hier im Knast?“
Gandauer war baff: „Aus Justizirrtum!“, antwortete er – zu seinem eigenen Erstaunen. Dann redete er über diesen Ausspruch, so als freue er sich, in ihm einen alten Bekannten getroffen zu haben: Aus einem alten Kriminalfilm aus dem Spreemilieu der späten Zwanziger habe er diese Umschreibung erinnert.
Cziflic ärgerte sich. Er wollte drauflosschimpfen. Er entschied sich aber dafür, nur grimmig dreinzuschauen. Gandauer freute sich und genoss seinen Handstreich, indem er in die Filmstory noch ein paar Handlungsstränge einflocht und damit geraume Zeit über die Runden kam. Irgendwann waren dann doch alle Ganoven der Story umgebracht oder eingelocht. Gandauer hatte schließlich das Gute obsiegen lassen und noch eine versöhnliche Geste angefügt: Die Gangster damals hatten noch eine Ganovenehre, sie konnten sich gegenseitig einigermaßen vertrauen, und die Kriminaler waren ihnen noch richtige Vaterfiguren – wenigstens in den Kriminalromanen und in den Filmen.
Gandauer war zu Ende gekommen und zufrieden.
Cziflic konnte dieses Wohlgefühl nicht teilen. Er wollte wieder mit seiner Biografie aufwarten. Denn er erinnerte sich, dass er bis jetzt damit bei Gandauer einigermaßen gut angekommen war. Er blieb jedoch bereits kurz nach der Darstellung seiner Herkunft hängen, die er wieder in der Mülltonne verortete. Er schien zu überlegen.
Gandauer besetzte die kleine Denkpause Cziflics sofort mit Tröstungen: Dass alles, nämlich der Krieg und das mit seiner Mülltonne und so weiter, eben auch seine guten und nachgerade vorteilhaften Seiten habe. Es sei ihm doch sicher auch mal in den Sinn gekommen, dass das alles als ein entlastendes Moment vor Gericht zu verwenden sei. „Die Psyche, verstehen sie, Cziflic, die verflixte Seele nämlich! Die Richter haben auch selber damit zu tun. Was glauben sie? Wer hat heute nicht mit seinem Innenleben zu tun? Und dem oft ganz irren Leben um einen herum. Da gibt es ja überhaupt niemanden mehr ...“
Cziflic gab auf.
Ein Gedanke wie der Kaugummi an der Schuhsohle: Die Frau als solche ist in meinem Denken angekommen. Volltreffer in der Seele. Also nicht erst rumgeredet mit dem Alter Ego Du. Die Frau: Und alles drumherum, und zwar jetzt (ich verkneife mir „erst“ an dieser Stelle) zu Beginn meines zweiten Lebensjahrzehnts. So dass ich es mir endlich selber eingestehen muss.
Nächtens – ja, wann sonst? – habe ich einen Traum gehabt: In einer Schulklasse standen oder liefen die jungen Leute herum. Offenbar war Pause oder die Lehrkraft war noch nicht da. In Grüppchen schwatzten sie miteinander. Aus so einer Ansammlung löste sich plötzlich eine weibliche Gestalt. Sie war irgendwie schrill gekleidet: ein blaues Röckchen mit weißen Tupfen, darüber das Oberteil in gleicher Farbgebung. Puffärmelchen. Die ziemlich große, kräftige Figur ging auf mich zu. Sie gab mir zu verstehen, dass es ihr leidtäte, mit mir keinen Kontakt mehr gepflegt zu haben. Obgleich ich ihr doch Freundschaft angetragen habe. Doch sie plane, es nun wieder gerne dadurch gutzumachen, indem sie mit mir gerne Blumen pflücken wolle. Wo auch immer. Im selben Augenblick versammelten sich ebenso andere Frauen um mich. Sie machten mir deutlich, dass sie alle dieses Angebot gut fänden und sich dieser Offerte gerne anschließen würden.
Ich staune im Augenblick darüber, dass das weibliche Geschlecht auch in meinem nächtlichen Bewusstsein auf mich lauert. Um mich auch im Traum zu verführen. Das alles jedoch in schließlich unbefriedigender Weise. Ich muss mir gestehen, dass ich diese biologische, meinetwegen floristische Aktivität doch liebend gerne nur mit dieser Einen absolviert hätte – was mich irgendwie mir selber verrät, meine wahren Begierden betreffend.
Gandauer solle zum Häftling Zeltnik, der ihn zum Schachspiel erwarte. Er wunderte sich indessen darüber und begriff auch nicht, dass jemand einer Freizeitbeschäftigung nachgehen konnte, wo doch sonst alle an einem Arbeitsplatz waren.
Der Vollzugsbeamte Hussl, ein eher kleiner, stämmiger Mann, hatte die Einladung überbracht und begleitete Gandauer. „Dass dieser Häftling Zeltnik den Aufseher als Boten benutzen konnte“, irritierte Gandauer, er wollte darüber mehr wissen, mochte jedoch nicht direkt fragen. Er äußerte lediglich, dass er sich wundere, jemanden während der Arbeitszeit in dessen Haftraum treffen zu können.
„Haftraum! Sie sprechen ja schon unsere Sprache, Gandauer!“, wich Hussl aus. „Das sind so Feinheiten, es heißt wirklich nicht Zelle, nein. Denn wir sind doch bestimmt nicht in einem Kloster!“ Er setzte bissig drauf: „Jedenfalls wären das hier lauter recht sonderbare Klosterbrüder!“
„Es scheint zu stimmen“, fuhr Gandauer fort, „was die Leute draußen immer wieder behaupten ...“
„Was denn?“, bohrte Hussl schroff.
„... nämlich dass es einer so gut habe, dass von Strafe nicht mehr die Rede sein könne.“
Hussl nickte eifrig: „Drauf können sie einen lassen!“, und schnarrte herunter: „Die Freistellung von der Arbeitspflicht ist im Paragraf zweiundvierzig, ää, Strafvollzugsgesetz, geregelt. Demnach kann der Strafgefangene beanspruchen, ää, achtzehn Werktage von der Arbeitspflicht freigestellt zu werden. Verstanden? Wenn er ein Jahr lang seiner Arbeitspflicht als Strafgefangener genügt hat. Verstanden?“
„Womit bewiesen wäre, Herr Hussl, dass es den zu laschen Strafvollzug gar nicht gibt“, erklärte Gandauer amüsiert. Etwas außer Atem, blieb er stehen, hielt sich am Geländer fest und musste Hussl, der das nicht gleich bemerkt hatte, laut nachrufen: „In diesem Haus tut jeder anständig seine gesetzliche Pflicht und Schuldigkeit!“
„Was ist das für ein Arschloch?“, schrie plötzlich jemand von irgendwo herauf. „Gesetzlich und Pflicht! Halt bloß deine Fresse! Die Uniformen hier sind verdammte Sackratten! Lauter korrupte Schieber!“ Dann war es aus, wie abgewürgt. Und Hussl stand jetzt neben Gandauer: „Das ist der Haftkoller! Drehen manchmal durch, die Jungs und reden dann lauter blödes Zeug. Da muss man froh sein, wenn sie nicht auch noch welchen machen“, erklärte er. „Wir wissen allerdings immer gleich, wer das war. Und wir werden für eine Spezialbehandlung Sorge tragen müssen. Damit der Kerl wieder zur Ruhe kommt.“
Gandauer war erstaunt und wieder bei Atem: „Mit Sicherheit geht der Vorwurf eines zu laschen Strafvollzuges zulasten des Gesetzgebers. Der in falsch verstandener Liberalität seiner Pflicht, mit Gesetzen hart durchzugreifen ... Ich betone: hart! Verstanden?“, machte Gandauer Hussl nach.
Hussl ging nicht darauf ein.
Sie hatten den oberen Gang passiert. Hussl nahm seinen Faden wieder auf: „Auf das Jahr werden angerechnet: Erstens, Zeiten, in denen der Gefangene aus Krankheitsgründen an seiner Arbeitsleistung verhindert war, in der Regel bis ...“, Hussl stockte.
„Ja, bis?“, tat Gandauer interessiert: „Wie lange kann man krank machen – ää – sein?“
Hussl entschuldigte sich, er habe Gandauer nur zeigen wollen, dass alles so seine rechtliche, ää, Grundlage habe. Hussl holte Luft und anschließend aus: „ ... und haben muss!“ – und dass einer gar nicht anders könne, als sich daran fortwährend zu erinnern und auch die Leute darauf hinzuweisen. „Mit Nachdruck, selbstredend. Weil das auch gesetzlich ist. Verstanden?“
Gandauer war beruhigt, dass er sich den Kopf nicht weiter darüber zerbrechen musste, warum dieser Zeltnik einen Beamten als Botenjungen benützen konnte, wenn hier alles seine Richtigkeit habe.
„Gandauer, ihnen als immerhin Mensch“, hörte er Hussl. „Als einen mit irgendwie Hintergrund. Das verrät mir immerhin der gesunde Menschenverstand, ohne den einer glatt aufgeschmissen wäre, verratzt und verraten. Verstanden? Gandauer, sie glauben ja nicht, wie einer aufpassen muss, nicht immer wieder reingelegt zu werden. Also, Gandauer, ihnen kann ich ja anders gegenübertreten. Ich kann möglicherweise auf die im Allgemeinen überlebensnotwendige Mauer der Distanz ... Nun ja, sie verstehen! Nicht wahr?“, schloss er und ging weiter.
Gandauer war sich nicht ganz sicher, ob das als Kompliment gelten konnte. Doch er war in Laune. Selbst auf die Gefahr hin, bei Hussl wieder so eine Schleuse zu öffnen, merkte er an, dass Gesetze für den Bürger doch auch so etwas wie ein Halt zu sein vermögen oder ein Geländer, an dem er sich entlanghanteln könne, der Bürger. Gandauer schaute Hussl von der Seite an. Er wollte wenigstens die Reaktion in Hussls Zügen ausmachen. Er konnte jedoch keine Regung feststellen. Um Hussl doch noch ein bisschen zu foppen, setzte er hinzu: „Mir kommen Gesetzestexte gelegentlich so vor ... – ää, waren sie mal Ministrant, also katholischer Messdiener? – Eine blöde Frage, nicht wahr? – Also, wir mussten die lateinischen Texte für die Messe lernen. Wir mussten sie hersagen, auch wenn wir kein Wort davon verstanden. Aber Text ist Text. Ob er nun verstanden wird oder nicht. Ich will auf Folgendes hinaus: Ein Gesetz muss auch nicht verstanden sein. Es genügt, es zu beachten! – Oder was meinen sie?“
„Ministrant!“, pickte sich Hussl aus Gandauers Rede. „Mein Bruder war einer. Mich haben sie gleich nicht brauchen können. Mein Bruder war auch nur kurz in Aktion“, grinste er. „Der muss mal was zum Beichten gehabt haben, dass ihn der Pfarrer nicht mehr brauchen konnte.“
Sie waren jetzt am Ziel. Hussl machte nur eine Handbewegung zum Gruß und ging gleich weiter. Der Mann am Schachbrett hatte sich höflich erhoben. Das fand Gandauer für diese Umgebung hier bemerkenswert.
„Zeltnik, mittelgroß und Mitte dreißig, mittlerweile Ersttäter!“, sagte der höfliche Mensch auf.
„Gandauer, etwas älter, aber sonst auch ziemlich mittelmäßig!“, nahm Gandauer den Ton auf.
Nachdem sie sich über Weiß oder Schwarz geeinigt hatten, waren sie eifrig bei der Sache. Zwischendurch ging die Unterhaltung über den Knastalltag. Gandauer befürchtete, dass ihn die Situation, mit den Leuten vor Ort irgendwie gleichrichte. Nicht etwa der Einstellung nach, schränkte er ein, eher was die Verhaltensweisen betreffe. „Das wird vermutlich noch fortschreiten, sich am Ende in der Denkweise und Sprechweise eines Knackis zeigen – Knacki! Haben sie gehört? Wenigstens die banalen Dinge betreffend, das Futter, den Hofgang, den Umgang.“
„Wir wollen doch hoffen, dass sie hier bald wieder raus sind!“, warf Zeltnik ein. „Vielleicht bleiben wir gar in Kontakt! Auf irgendeine Weise wäre das sicher möglich. Ich gestehe ihnen, es wäre mir äußerst wünschenswert!“
„Warum auch nicht“, kam von Gandauer zunächst nur. Er musste erst den Grad der Anbiederung seines Gegenübers ausmachen. Dann fuhr er fort, dass ihn jedoch seine Anwesenheit hier nicht allzu sehr bedränge. „Offen gestanden, ich glaube, dass keiner das Einsitzen als ein schieres Kerkerdasein empfinden. Sicher, weniger Entfaltungsmöglichkeit. Ganz ohne Zweifel.“
„Na, wenn das alles ist. Seien sie vorsichtig mit solchen Behauptungen. Da können sie sich einen durchaus handgreiflichen Widerspruch einhandeln!“, warnte Zeltnik. Er kam auf den aggressiven Rufer von vorhin zu sprechen. Es war immerhin im ganzen Trakt zu hören gewesen. Er meinte, dass das heute wohl ein gewisser Mantler war. Der sei eine ganze Weile schwer in der Klemme. Weil er gewisse Schulden bei Kollegen habe. Immer, wenn er es nicht mehr ertragen könne, was er da alles abbekomme von denen, dann ziehe er diese Show ab. Wegen der ihn dann die Aufseher einige Zeit isolierten. Es sei also immer ein Hilferuf!
„Unter einem Mangel leiden wohl alle hier“, begann Gandauer und fuhr fort, dass er diesbezüglich den enormen Vorteil habe, dass, „salopp ausgedrückt, der Druck von unterhalb der Gürtellinie weg ist, unter dem vermutlich alle so sehr leiden.“ Gandauer war über die eigene Äußerung erstaunt und entschuldigte sich. Zeltnik lachte wissend und packte seine Dame, machte einen Zug und kalkulierte angestrengt die möglichen Gegenzüge, bevor er die Figur losließ. Dann wollte er von Gandauer wissen, ob er eine Frau habe.
Gandauer war überrascht. „Richtige Kerle“, grinste er dann, „Kerle wie unsereiner! – Nicht wahr, Herr Zeltnik? – Die haben immer eine Frau. Das geht so lange, wie einer auch nur einen Strohhalm über den Hof tragen kann. Hieß es zu meiner Zeit.“
„Frauen sind das Thema Nummer Eins. Bei fast allen. Da gibt es bekanntermaßen Ausnahmen. Sie verstehen? Der Frauenentzug ist allerdings vielleicht sogar die eigentliche Strafe. Mancher ist da bald so weit, dass ihm sogar ein Gezetere von Weibern fehlt.“
Gandauer hatte inzwischen Zeltniks Dame in Bedrängnis gebracht. Der benötigte nun etwas mehr Zeit für den nächsten Zug. Gandauer lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Alles verloren!“, kam plötzlich von ihm. Zeltnik schaute auf.
„Damit sie es gleich wissen: Dem Gandauer ist die ganze Familie abhandengekommen. Frau und Kinder. Ich weiß allerdings gar nicht recht, warum ich das erwähne, Herr Zeltnik.“
Zeltnik schaute seinen Gast überrascht an.
„Einfach weg!“, fuhr Gandauer fort. „Weg die Dame – um gedanklich im Spiel zu bleiben, Herr Zeltnik. Die Frau, die Kinder, die Verwandten. Was so alles zu einer Familie gehört. Da war der Krieg. Bomben. Verschüttung. Es wurde manchmal gar nicht mehr nach den vielen Toten gegraben. Das holen sie jetzt nach. Da buddeln sie die Knochen der Soldaten in Russland aus. Um sie dann wieder einzugraben. In den Städten sind aber wohl Hunderte mit dem Ruinenschutt einfach irgendwo abgekippt oder überbaut worden!“
„War wohl so.“ Zeltnik blickte aufs Schachbrett. „Sie sind jetzt am Zug!“
„Ausgerottet. Das ist der Preis!“, kam noch von Gandauer, der einen Springer bewegte. Zeltnik war dann mit den Gedanken ganz beim Schach, denn Gandauer hatte ihn dort in die Enge getrieben.
Sie saßen noch eine Weile schweigend über ihrem Spiel.
Als Gandauer dann von Hussl zur Sprechstunde mit Anwalt Sterzinger abgeholt wurde, war Zeltnik gänzlich festgenagelt und knabberte daran, sich aus dieser Lage zu befreien. Gandauer erhob sich und sah dabei aufs Schachbrett, um sich die Figurenstellung einzuprägen. Als er dann aufschaute, wunderte er sich über den sonderbaren Blick, den sich Hussl und Zeltnik zuwarfen. Gandauer hatte bemerkt, dass Hussl da etwas aus der Hosentasche gefallen war, als er nach dem Taschentuch gesucht hatte. Er wollte Hussl schon darauf aufmerksam machen. Er sah jedoch, dass Zeltnik sich blitzschnell nach dem kleinen Päckchen bückte und es einsteckte. Gandauer war irritiert, dass sich Zeltnik Hussls Beutelchen richtiggehend geschnappt hatte.
Der Anwalt mochte eine Zeit gewartet haben, jedenfalls standen im Raum dichte Hechte von seinem Zigarillo. „Billiges Zeug vom Kiosk“, urteilte Gandauer bei sich, als er den Rauch in die Nase bekam. Er hatte früher auch geraucht und kannte sich mit Tabak ein wenig aus. Sterzinger wirkte heute nervös und abgespannt.
„Existenzkampf kontra Ruhestand“, verglich Gandauer seine Situation mit der des jüngeren Mannes. Sterzinger kramte in seinem Aktenkoffer, schien nicht gleich fündig zu werden und wurde hektischer.
„Sie sollten auch Schach spielen!“, versuchte Gandauer ein Gespräch.
„Ich müsste mit der Zeit spielen können. Das wäre wichtiger!“
Gandauer stimmte ihm zu.
„Wir haben ja ganz nett geplaudert, neulich“, begann Sterzinger etwas ärgerlich, „aber der Formalmensch in mir kam dabei nicht auf seine Rechnung.“ Er sog an seinem Stummel. „Glauben sie mir“, fuhr er fort, „ich bin durchaus der Meinung, dass der formale Part die Hauptrolle spielen muss. In unserem Verhältnis, das ein Dienstleistungsverhältnis ist. Dieser Teil ist die Grundlage. Was ich bis jetzt in der Hand habe, das hat allerdings auch der Staatsanwalt. Ich muss darüber hinaus mehr wissen, auch zum Beispiel über ihr personales Umfeld. Um überhaupt eine Strategie aufbauen zu können. Mit deren Hilfe ich ihre Rechte zur Geltung bringen beziehungsweise wahren helfen kann.“
Auch diese Darstellung brachte ihn zumindest zunächst nicht weiter. Sterzinger erkannte, dass er einen anderen Einstieg suchen musste. Gandauer, der ihm das anzumerken schien, erinnerte sich plötzlich an einen alten Bekannten. Er fragte Sterzinger, ob er ihm von Pospiczil berichten dürfe. Der zuckte die Achsel: „Wer ist denn Pospiczil?“
„Ein Advokat von altem Schrot und Korn“, antwortete Gandauer.
„Und was hat es für eine Bewandtnis mit ihm bezüglich unseres Problems?“, wollte Sterzinger wissen und ließ sich anmerken, dass er verärgert war.
„Ein Unikum, sage ich ihnen, mit einer sonderbaren, ungemein schlagkräftigen Taktik“, pries Gandauer seinen Helden.
„Aha, Oberseminar für mich!“, amüsierte sich Sterzinger gekünstelt. „Vielleicht bringt es mich auch in ihrer Causa weiter!“, ergänzte er giftig.
„Ich hatte wiederholt mit ihm zu tun, damals in Breslau. In Zivilsachen, wohlgemerkt! Pospiczil, ein nur scheinbar etwas umständliches, ja ungeschicktes juristisches Individuum. Alle bezeichneten ihn als böhmischen Advokaten. Das war so ein Ausdruck für eine pomadige, etwas verschlagene juristische Kreatur. Seine Geheimwaffe war jedenfalls diese herausgekehrte Hilflosigkeit. Mit dieser hatte er seine Kontrahenten immer in die gefährliche Lage gebracht, sich überlegen zu fühlen – und dadurch unvorsichtig zu werden. Zweifelsohne! Das wusste Pospiczil. Er hatte etwas an sich, was irgendwie von selber dahin wirkte und ihm die Gegner schließlich auslieferte. Das Schlitzohr hat so manchen über den Tisch gezogen und so manchen bereits als aussichtslos geltenden Fall gelöst.“
„Das Märchen über ein verborgenes Genie“, spottete Sterzinger. „Und wenn er nicht gestorben ist ...“
„Das ist eben nicht gewiss“, fuhr Gandauer fort. „Pospiczil ist all seinen juristischen Erfolgen zum Trotz immer mehr seinem Steckenpferd nachgegangen, nämlich dem Klavierstimmen! Er soll gesagt haben, dass es jedem, der sich in Gesetzestexte einarbeite, so ergehe, dass sich nach und nach auch eine Identifizierung mit den Inhalten einstelle. Was gerade bei fleißigen Dummköpfen so gefährlich sei. Denn einer braucht, um sich mit etwas zu identifizieren, den Inhalt gar nicht richtig erfasst zu haben!“
„Ich denke, ihre Erzählfigur ist auch mit Nervensägen gut zurechtgekommen“, ging Sterzinger seinen Mandanten an.
„Bitte noch etwas Geduld: Mein Pospiczil wechselte nach und nach ganz zum Klavierstimmen. Und zum Cognac. Stellen sie sich vor, er war am besten in seinen zunächst beiden Berufen, wenn er ein wenig abgefüllt war. Er stimmte sogar in der Musikhochschule die Klaviere. Seinen Treibstoff, den Cognac, musste er allerdings geklaut haben, damit das alles funktionierte. Eine Marotte von ihm. Es sprach sich herum, und die Kundschaft ließ die Hausbar immer so ungeschickt versperrt, dass es Pospiczil möglich war, sich daraus scheinbar illegal zu bedienen. Es machte Spaß, sich immer wieder von dem Spleen des juristischen Klavierstimmers zu erzählen. Der liebenswürdig komische, gleichermaßen für genial gehaltene Pospiczil war fester Bestandteil des Gesellschaftsklatschs. Das Ende kam ‘33. Kurz nach Hitlers Antritt legte er nämlich seinen Johann nebst Doktortitel ab und nannte sich fortan Israel, Israel Pospiczil. Alle hielten es für eine neue Schrulle. Im Übrigen vollzog Pospiczil diese Änderungen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, so weit waren die – nun ja: wir Herrenmenschen zu Beginn unserer Zeit nicht gleich.“
„Ihr toller Pospiczil hatte wohl zu den wenigen gehört, die den ansonsten meist ungelesenen Bestseller ‘Mein Kampf ‘ nicht bloß im Bücherschrank hatten!“, stichelte Sterzinger.
„Das lief dann mit Pospiczil so: Er hatte auch immer wieder im Haus einer seiner ehemals unterlegenen Prozessgegner das Klavier gestimmt. Die Tochter war von den Eltern zum jungen Klaviergenie auserkoren gewesen. Auch in diesem Hause dann stets die Sache mit dem Cognac, vielleicht dort sogar mit besonderer Wonne. Nach ‘33 war nämlich der Hausherr mittlerweile Parteigenosse und bald drauf Oberstaatsanwalt. Kurz: Der juristische Parteigenosse lieferte Pospiczil, der ohnedies rassisch gezeichnet war, wegen des entwendeten Cognacs ans Messer. Darauf ward er nicht mehr gesehen.“
„Und jetzt kommt auch gleich die altbekannte Anmerkung, dass dieser Staatsanwalt strafrechtlich ungeschoren geblieben, noch befördert worden und in den Fuffzigern in den wohlverdienten Ruhestand getreten war!“, nörgelte Sterzinger. „Ich frage mich, was ich ihrer Schnurre Verwertbares entnehmen soll!“ Sterzinger schien es leid zu sein. Er forderte plötzlich seinen Mandanten barsch auf, seine Personalien zu nennen.
Gandauer staunte über diese jähe Wende, kam jedoch umgehend der Anweisung nach: „Gandauer Maximilian, geboren am ersten April neunzehnnullfünf zu Breslau, derzeit Wroklaw, einst Wratislavia, nach seinem Gründer, einem Böhmen, so genannt. Keiner muss sich heute an der nur scheinbar neuen Benennung stoßen ...“
Sterzinger zitierte Gandauers Geburtsdatum und schnitt ihm dadurch das Wort ab. Er holte unvermittelt und zu Gandauers Überraschung zu einem Lob der beachtlichen Rüstigkeit des alten Mannes aus. Eine fabelhafte Kondition, gepaart mit Temperament, was er für besonders bemerkenswert halte, gerade in Anbetracht der Bejahrtheit seines Mandanten. Er holte sich allerdings von der Höhe seiner Lobrede wieder herunter mit der Bemerkung, dass sich einer ruhig angesichts dieser Umstände geistig auch die eine oder andere Wunderlichkeit leisten könne. „Was mir allerdings Zeit raubt und Nerven kostet!“, schloss er.
Gandauer steckte den Seitenhieb weg und machte mit seinem Auftrag weiter: „Katholisch, und zwar römisch. Dreiunddreißig offiziell aus der Kirche aus- und fünfundvierzig – na ja, schon ein wenig verschämt – wieder eingetreten. Gewiss angemessen in dieser Zeit des Bekehrungswunders der sogenannten Stunde Null. Aber ich konnte ja nicht wissen, wozu es dienlich sein würde.“
Sterzinger grinste, hielt diese Mitteilung jedoch für so merkenswert, dass er sie notierte.
„Das mit der Konfession ging bei mir richtig weiter. Sehen sie, ich war neulich in der Anstaltskirche“, berichtete Gandauer. „Pfarrer Suiter wird mich irgendwann besuchen. Ein bisschen jünger vielleicht als sie ist er.“
Sterzinger warf einen Blick auf seine Uhr und erhob sich mit der Bemerkung, dass er leider keine Zeit mehr habe. Sie verabschiedeten sich. Schon im Gehen begriffen, fragte Sterzinger, ob er nicht doch versuchen solle, bis zur Verhandlung eine Haftverschonung zu erwirken.
Gandauer lehnte abermals dankend ab. Wohl jeder sei ja das ganze Leben auf irgendeine Weise eingesperrt, fand er. Auch sei gelegentlich zu hören, dass Alte und Kranke von den Jungen und Gesunden zu ihrem angeblich Besten irgendwo reingesteckt werden. In einen sozialen Kasten oder so etwas. Da die Leute immer älter werden, müsse sich die Gesellschaft eben daran gewöhnen, dass ein Teil der Bevölkerung immer irgendwo weggesperrt ist und einsitzt.
Sterzinger mochte den Humor seines Klienten nicht teilen, er warnte: „Ich lese in meiner Zeitung, dass sie wieder einen KZ-Wärter für lebenslang eingesperrt haben. Achtung: Bis sie ihn auch nur auf zwei Morde festnageln konnten, vergingen zehn Jahre!“
„Ich war nie KZ-Wärter!“, empörte sich Gandauer.
„Da bitte ich um Entschuldigung, wenn der Eindruck entstanden sein sollte, ich reihte sie unter diesen menschlichen Abschaum ein!“
„Lassen sie mich getrost hier. Es ist mir endlich gelungen, einen Spatzen an meinem Fenster anzufüttern. Ich bin nun gespannt, ob da nicht noch ein paar von den kleinen Burschen kommen werden.“
„Mein Gott“, lachte Sterzinger abgestanden und reichte Gandauer die Hand, „werden sie mir nur nicht ganz wunderlich! – Kann ich überhaupt nichts für sie tun?“
„Oh, doch“, beeilte sich Gandauer, „sie können mir einen Tauchsieder besorgen.“
Sterzinger blickte Gandauer skeptisch an. Er fühlte sich auf den Arm genommen. Gandauer erklärte ihm gleich, dass diese Dinger hier so sehr wichtig seien. Jeder habe einen Tauchsieder. Damit könne einer nach Auskunft der Spezialisten allerlei machen. Er vermute sogar, dass es sich dabei um ein Statussymbol handle. Jedenfalls hätten sie ihm geraten, sich so ein Instrument zu beschaffen. Jeder könne die Wichtigkeit eines solchen Besitzes leicht daran ermessen, dass immer wieder einmal Stromausfall sei, weil einer der Kollegen – wie man seine Mitgefangenen nenne – in seinem Haftraum sogar mit einem stümperhaft geflickten Tauchsieder hantierte. Also, wenn sich jemand in Gefahr begebe, dann müsse das einen wichtigen Grund haben. Immer wieder einmal sei Tauchsiederkontrolle durch Beamte. Jedenfalls wolle er nicht zurückstehen und auch so ein Ding besitzen, schloss Gandauer seine Rede auf den Tauchsieder.
Sterzinger hatte Gandauer, sorgenvoll dreinblickend, noch einmal die Hand gereicht und war gegangen. Sein Notplan, mit der Verwirrung im Alter zu argumentieren, kam ihm gleich wieder in den Sinn und ließ ihn eine ganze Weile nicht mehr los. Schließlich flog ihn auch noch ein Gedanke an. Er könne doch wenigstens versuchen, Frank Soller, dessen Familie er gut kannte, etwas über diesen sonderbaren Klienten herauszulocken. Der habe ihn doch in seiner Nähe im Altenheim gehabt.
Bergner sollte nun Gandauer zum Haftraum begleiten. Es ging durch die fast leeren Flure. Die Schritte hallten. Sie passierten immer wieder eine Putzkolonne. „Hier wird viel geputzt“, bemerkte Gandauer eher beiläufig.
„Darauf geben wir was, dürfen sie glauben!“ Gandauer schien einen Nerv getroffen zu haben. Denn Bergner ließ sich mit steigernder Begeisterung über Reinlichkeit aus: Wo man denn hinkomme, wenn alles versiffe und verlause. Über Ratten und Seuchen ging Bergners Rede. Dass es niemandem schade, wenn er sich um Reinlichkeit bemühe. Dass es immerhin einen ausgesprochenen Erziehungs-, wenn nicht gar Umerziehungscharakter besitze, der im modernen Strafvollzug als Resozialisierungsfaktor bezeichnet werde.
Kurz vor dem Ziel schien Bergner noch etwas loswerden zu wollen. Er fragte Gandauer, ob er denn bemerkt habe, dass da so viele Ausländer einsäßen: mehr die Dunklen oder vom Balkan und von weiter hinten. Das ströme hier nur so herein. „Eine Flut von Menschen! Und was für welche!“
Gandauer mochte nicht darauf eingehen, sondern bat darum, zu Zeltnik geführt zu werden, da seine Schachpartie noch offen war.
Habe das Mädchen im Altenheim wieder auf dem Gang getroffen und ohne lange zu überlegen angesprochen: Sie heiße Manuela, weiß ich nun. Sie werde jedoch von Freunden Hilda genannt. Ich könne mich gerne ebenfalls dieses Namens ihr gegenüber bedienen. Womit sie mich auch gleich, setzte sie kess hinzu, in ihren Freundeskreis aufgenommen habe.
Wir hatten nur einen kurzen Diskurs dort auf dem Gang. (Mehr war nicht von unserer Arbeitszeit abzuzwacken. Auch deswegen standen wir nicht länger beisammen, weil da Gerüchte hätten aufkommen können.) Sie habe gute Kontakte zu einer Kameradschaft von sauberen deutschen Jungs und Mädels. Ich könne da ebenfalls erscheinen. Ich passe, jedenfalls ihrem Eindruck nach, von der Statur her zur Truppe. Wenn einer auch als Zivi nicht gerade ... (Diesen Satz führte sie allerdings nicht ganz aus.) Sie träfen sich regelmäßig und hörten sich Vorträge an. (Ich solle mir nämlich erst gar nicht vormachen, dass sie da nur herumgammelten und hohlen, ziellosen Quatsch machten.) Sie führten ernsthafte Aktionen durch. Die Jungs zur körperlichen Ertüchtigung. Weil heute alles so schlapp sei, was da in der Freizeit herumhänge. Und was mit den Mädeln ist, wollte ich eigentlich fragen, stellte das aber zurück. Ich hatte kaum etwas von mir gegeben in diesem kurzen Gespräch oder besser ihrem Kurzvortrag. Das hing mit ihrem Redefluss, vor allem mit meinem Staunen und gewissen Begleitgefühlen zusammen, was mich im Übrigen alles jetzt noch beherrscht.
Ich rätsle, was das für Jungvolk sein könnte. Ach so, Jungvolk! Das ist mir jetzt so in die Gedanken gerutscht. Nämlich auf Hildas kurzer Vorstellung des Programms der Kameradschaft hin. Sind es vielleicht wirklich solche, wie sie sich da und dort zusammenrotten? Dieser Ton auch. Fast militärisch, irgendwie zackig, Hildas Vorstellung dieser Kompanie.
Na ja, vielleicht täusche ich mich
auch voreingenommener Weise, da derzeit immer wieder von solchen unguten Horden
zu hören und zu lesen ist.
„Jetzt seit Wochen zwischen diesen Wänden, Piscator.
Meine vier Wände. Dauernd diese Mauern in und um einen. Wenn sie wenigstens dichthielten. Dass da nicht wieder alles durch ihre Poren sickert. Von außen herein und von innen hinaus. Dieser Verkehr. Der an mir vorbeigeht. Und nur ich bleibe da. Das ist die Einsamkeit.
Dieser ganze Unsinn. Nach Inhalt schreien. Dieses Geräusch in diese ganze Sinnlosigkeit entlassen.
Zum Kühlschrank. Mir einen Joghurt reinschaufeln: Diese weiße Schlotze. Milch. Von Blutes Ursprung, des besonderen Safts.
Du kramst im Kühlschrank. Und unversehens auch in dir. Es wird für einen Augenblick ganz klar, wie du zusammengesetzt bist. Verdammte Bange. Dass alles sich zersetzt. Der Schimmel auf dem weißen Gallert! Ein brünstiges Sprossen, das alles durchdringt. Durchsetzt. Zersetzt. Alle Substanz zerfrisst. Du geilst dich auf daran. Alles zerfällt in seine letzten Winzigkeiten. Eine tolle Vorstellung: Aus der Problembelastetheit der Zusammenballung in eine problemferne Einzelheit entlassen sein. Am Anbeginn sein. Und dort bleiben.
Der brünstig aufblühende Verfall quillt richtig ins Auge. Da mit dem Löffel rein. Da überkommt es dich doch. Es ist längst tief im Kopf. Die Verwesung. Überall. Grauen. Hervorquellen. Fäulnis aus allen Winkeln und Ritzen. Es blüht grau-grün und stinkend auf. Ekel. Besetzt alles, alles überwuchernd. Es lauert seit Beginn alles Lebens. Meines oder was davon noch ist!“
Piscator hielt das verdorbene Zeug mit ausgestrecktem Arm von sich. Es würgte ihn. Er rannte ins Bad, schüttete den Matsch in die Wanne und kotzte drauf.
Als er sich wieder etwas erholt hatte, bemerkte er, dass er den Becher immer noch in der Hand hielt. Er rannte zum Fenster, riss es auf und befreite sich davon. Jetzt atmete er tief durch.
Dann schaute er in seiner Wohnung umher und an sich hinunter. In seiner Bange wollte er sehen, ob seine Befürchtung von vorhin bereits Wirklichkeit wäre. Ob er bereits befallen und bereits angefressen sei.
„Es beginnt mit einem winzigen Fleck irgendwo auf der Haut!“, warnte er sich. „Es ist dann lange bereits krebsig gewesen. Wenn es mit diesem Signal aus seiner Tücke heraustritt. Es weitet sich ganz allmählich und unaufhaltsam aus. Um sich zum Mal auszuwachsen!“, machte er sich vor und malte es sich weiter aus.
Es mussten Stunden vergehen, bis er wieder einigermaßen Ruhe fand. „Es stimmt ja noch alles“, konnte er sich endlich beruhigen. „Oder das meiste. In meinem Stall steht noch alles an seinem Fleck. Es hat sich nichts Neues gezeigt. Nicht einmal neuer Dreck. Es ist der alte. Es ist gar nichts zu ermitteln. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich werde die Schatten, die Ränder von der Haut wegwaschen und noch mal nachsehen. Ich werde wachsam sein. Wachsamkeit ist Abschreckung. Da ist dieser Innenhauch von Psyche auch wie ein Polizist. Das genügt. Es ist leider immer so mit mir. Ich aufrege mich immer so über mich.“ Das hatte er teilweise über sich und seine Zustände richtig gebrüllt und war schließlich erschrocken über die erzeugten Geräusche. Gleich war er wieder auf Wanderschaft zwischen seinen vier Wänden. Er kickte gegen eine leere Blechbüchse am Boden. Dass sie krachend am Küchenschrank landete.
„Weit gefehlt, und zwar meistens!“, beschuldigte er sich nach einigen Runden. „Ein Mensch, ich, mit einer hohen Fehlerquote.“
Allerdings übte er sofort auch wieder Nachsicht mit sich: „Es war doch immerhin ein bedeutender Gedanke. Der da um die Verrottung. So etwas richtig die ganze Existenz Betreffendes.“
Er hatte sich eine Zigarette angezündet und stierte, noch mit brennendem Streichholz zwischen zwei Fingern, auf die Delle. Die kleine Vertiefung, die die von ihm vorhin getretene Blechdose auf der glatten Oberfläche des Schrankes hinterlassen hatte. Ein Rest bürgerlicher Abscheu vor dem eigenen Vandalismus – ein brennender Schmerz an den Fingerkuppen. Er schrie auf und warf das Streichholz weg.
Dann lief er erneut, jetzt qualmend, wieder seine Runden. Eine Erinnerung flog ihn an und ließ sich in ihm nieder: „Dein verrückter Versuch, Anker zu werfen in der Öffentlichkeit. Damals in deinem Dorf. In diesem Gemenge dort. Wo jeder, wenn immer er nur konnte, aus dem Haus und hinter dem eigenen Geschwätz herlief. Du bist dann auch – allerdings deiner fixen Idee hinterhergelaufen. Stürzt sich dieses Rindvieh in das Gemeinwohl!“, rüffelte er sich. „Dabei wolltest du nur vor dir weg und in die Öffentlichkeit laufen. Was hast du da in diesem öden Miniparlament, dieser kleinen, dämmerigen, schmuddeligen Hinterstube des hehren Palastes Demokratie herumgeamtet. Diesem witzlosen Rat der Gemeinde?“
Er ließ sich stöhnend auf einen Stuhl nieder und drückte die Zigarette in einer Untertasse aus.
Piscator nahm dann, da er jetzt ein hohles Gefühl in der Magengegend spürte, einen neuen Anlauf in Richtung Kühlschrank. Er griff sich wieder ein Töpfchen Käse, öffnete es äußerst behutsam, während er es weit von sich hielt. Kontrolle mit Inaugenscheinnahme: Eine winzige Löffelspitze der Sinnenprobe von Nase und Zunge unterziehen, es schließlich für unbedenklich befinden. Er rückte es in seine Nähe und begann zu löffeln.
„Du hast dich gewundert über die Gegner. Oder einfach über die Anderen. Aber eigentlich waren die Anderen immer irgendwie alle auch gleich die Gegner. Du hast dich gefragt, wo haben die denn immer die Geschlossenheit her? Bis du ihnen draufgekommen bist, dass alles, was beschlossen werden musste, vorher bereits abgesprochen war. In der Geschlossenheit ihrer Kreise außerhalb des Parlamentes. Am Stammtisch. In der Sakristei. Am Feldrain zwischen zwei Fuhren Mist. Überall, wo du nicht warst! Erst dann sind sie zur Diskussion gegangen, wie sie das Durcheinander nannten, das sie sich leisten konnten, weil alles klar war, bis hin zum Handaufheben. Alle Freunde, wie sie sich nannten, hatten dir allerdings geraten, Piscator. Du müsstest dich zu den Sport-, Schützen-, Trachten-, Gesangs-, Veteranen-, Naturschutz... begeben“, erinnerte er sich, während er eifrig in sich hineinlöffelte. „Du musst vor allem an Stammtischen aufkreuzen – oder dir einen eigenen begründen und dir damit eine Hausmacht aufbauen!“
Piscator hielt jetzt das leere Plastiktöpfchen mit gestrecktem Arm in die Höhe. Er blickte daran mit einer starren Grimasse im Gesicht empor. „Wie eine Statue“, spottete er ins Leere, „zu der möglichst viele aufschauen. Eine Figur. Der kleine Bruder der Bavaria vom Oktoberfest im Hinterland.“
Er holte das leere Plastiktöpfchen wieder ein.
„Auswaschen und sammeln!“, befahl er sich.
Piscator wollte sich jetzt mit weiteren Anwürfen verschonen. Er lehnte sich zum Fenster hinaus, sah umher, suchte den weißen Punkt, der sein Wurfgeschoss von vorhin ausmachen könnte.
Dann nahm er, als er fühlte, dass er neue Kräfte gesammelt hatte, den Zeitungskram wieder zur Hand, den er sich neulich auf dem Nachhauseweg besorgt hatte. Die Illustrierten auch mit ihren Vorlagen für das solistische Geschlechtsleben.
Er blätterte erwartungsvoll, obwohl er das Zeug dutzendmal durchgesehen hatte.
Bei „vierzig Jahre Bundesrepublik“ blieb er wieder hängen. Ihm kam es jetzt wie eine Drohung vor. „So ein unfertiges Datum“, nörgelte er, „das sie da mit ihrem Schwulst übergießen. Wenn sie wenigstens noch einen Zehner gewartet hätten. Und die Brüderschwesterlichen hinter ihrer Mauer immer hinterher. Wie damals mit ihrem Staat. Wann war das? Achtundvierzig? Allenthalben Weihrauch hier auf bunten Blättern unter die Nase der Bundesrepublikaner. Nacktes Fleisch dazwischen. Eigenlob und Sex. In dieser Konsum- und AIDS-Horrorgesellschaft, der unseren.
Üppige körperliche Kurven. Etwas Beruhigung.“
Er gaffte die entblößte Zeitungsnixe an und begann sich wieder aufzuregen.
Als Gandauer zurückkam, räumte Zeltnik gerade die Schachfiguren weg. „Na, war ich zu lang weg?“, bemerkte Gandauer und setzte sich. Zeltnik zuckte nur ein wenig die Achsel. Wo er denn Schach gelernt habe, wollte Gandauer von Zeltnik wissen. Der fragte, ob sein Spiel denn so mäßig sei. „Vielleicht die Übung“, vermutete Gandauer. Er meinte, dass Schach vor Ort wohl nicht gerade an erster Stelle der Freizeitbeschäftigungen zu finden sei. „Aus dem Kasten, aus dem ich komme“, ergänzte Gandauer, „da stand so etwas wie Schach an erster Stelle, meistens sogar als Solo.“
Zeltnik kramte aus seinem Spind ein gelbes Heftchen hervor. „Ich lese ihnen was über die Freizeitangebote vor. Wenn sie wollen! Aus unserer Knastzeitung, die einige Freizeitangebote aufs Korn genommen hatte“, schlug er vor. „Angebot: Basteln – Nachfrage: Sexclips / Angebot: Schach – Nachfrage: Roulette / Angebot: Hofgang – Nachfrage: Disco / ...“ Er legte das Heft weg und lästerte: „Da bieten diese Komiker von der Resozialisierungstruppe Basteln an. Als wäre das hier ein verdammter Kindergarten ...“
„Hier gibt es doch eine Menge“, wollte ihn Gandauer beruhigen. „Da habt ihr diese Gazette und einen Rundfunksender im Haus, den ihr betreiben dürft, und Betreuung habt ihr rund um die Uhr und so weiter. Wie gut doch die Versorgung ist! Weder alte Leute noch junge werden so vielfältig betreut. Gut“, meinte er gallig, „die Jungen draußen treiben sich zum Ersatz für die Vernachlässigung rum und klauen im Supermarkt. Die Alten können das nicht mehr, sie müssen im Altenheim bleiben. Dafür reicht ihnen allerdings oft die Rente nicht. Sie müssen um Stütze einkommen. Allerdings könnten die sich das ersparen“, schmunzelte Gandauer, „nämlich wenn sie sich in dieses staatliche Institut hier einquartieren ließen.“
Zeltnik klatschte Beifall: „Geniale Lösung! Die Verlagerung der Kosten für die Alten auf die Justizkasse!“
Sie grinsten vor sich hin.
„Ich habe noch Kaffee, Herr Gandauer. Sie können eine Tasse davon abhaben“, bot Zeltnik an. Gandauer bedankte sich.
„Bei unsereinem hat die Justiz wenigstens Anlass gehabt, sich zu irren“, kicherte Zeltnik, „doch wie wäre das dann bei besagten alten Leuten, die sie hier einquartieren wollen?“
„Bei der Großzügigkeit unserer Justiz, müssten sie allerdings einen dicken Hund reinhauen. Um nicht nur Bewährung zu bekommen. Das ist der wunde Punkt unseres revolutionären Modells! Die alten Leutchen, die ihr Leben lang mehr oder minder brav waren, wollen ja nicht bestraft, sondern lediglich gut behandelt werden. Bestraft worden ist jeder bereits ausreichend vom Leben“, ergänzte Gandauer.
„Klingt nicht erfreulich, aber klingt irgendwie richtig, das mit dem Leben!“, lobte Zeltnik. „Ich erzähle ihnen jetzt, wie mich das Leben fies gepackt hat.“
„Nicht nötig, lassen sie das doch bitte!“, wehrte Gandauer ab.
Aber Zeltnik ließ sich nicht aufhalten: „Ich werde ihnen meinen Lebenslauf hersagen“, war Zeltnik entschlossen.
Dass er das gar nicht erwarte, versuchte es Gandauer noch einmal und ergänzte: „Ich werde mich nicht revanchieren!“
„Macht nichts!“, ließ sich Zeltnik nicht drausbringen. „Ich habe so richtig Übung im Erzählen. Denn was glauben sie wohl, wie oft ich mein Leben als Geschichte hersagen musste! So oft, bis eine Version rauskam, die meine Regisseure von der Justiz für richtig hielten. Eine Fassung, die ich dann allerdings auch übernahm. Weil es sich dabei immerhin um ein richtiges kleines Kunstwerk handelte.“ Zeltnik feixte zu Gandauer hin.
„Nun ja, das machen wir doch alle irgendwie“, bestätigte der, „die Regisseure sind immer die anderen, denen wir gefällig sein wollen.“
„Ich bin Spezialist in Sachen Lebenslauf“, pries Zeltnik sein Vorhaben an: „In dieser Umgebung müssen sie sich ganz einfach eine Geschichte zulegen. Sie müssen das Märchen bei Bedarf erzählen! Wir alle, die wir hier sind, sind es, weil wir nicht im Strom der Wirklichkeit, wie sie die Mehrheit sieht, schwimmen wollten ...“
„Donnerwetter!“, unterbrach ihn Gandauer, „Strom des Lebens!“
„Und das sage ich ihnen“, warf sich Zeltnik in die Brust, „wir sind ja überhaupt nicht ein-gesperrt! Wir haben uns selber aus-gesperrt! Verstehen sie?“
„Lassen sie es gut sein!“, wich Gandauer aus.
„Ich habe ein super Training abgekriegt“, machte Zeltnik weiter, „schon bevor sie mich erwischt haben: Ich bin nämlich ein bedauernswertes Heimkind. Der geborene Sozialfall, müssen sie wissen.“
„Gewesen!“, schulmeisterte Gandauer, „sie sind ein Heimkind gewesen!“
„Darauf habe ich gewartet!“, hielt Zeltnik dagegen. „Heimkind ist einer immer, guter Mann. Da gibt es kein Gewesen! Die Alten machen sich ‘ne heiße Nacht. Und unsereins kommt raus dabei. Als Unfall. Du bist ein Unfall sagst du dir dein Leben lang.“
Gandauer wollte fragen, warum er sich so aufrege. Doch Zeltnik kam jetzt erst richtig in Fahrt: „Ich sage ihnen jetzt auf den Kopf zu, dass sie sich eben gedacht hatten: Was für ein Haufen Dreck sitzt mir da gegenüber!“
Gandauer wäre am liebsten aufgesprungen und weggegangen. „Ich habe mir gar nichts gedacht. Jedenfalls nichts in der Richtung!“, wehrte er ab.
„Durch alle Mühlen der Bürokratie gedreht“, stieg Zeltnik wieder ein. „Erzeuger nie kennengelernt. Beide! Kannten sich vermutlich selber nicht richtig. Kriegsgeschick. Jahrgang fünfundvierzig. Heute ist das im Grunde nicht anders, trotz Pille. Aber fünfundvierzig und davor und danach trug immer der Krieg dran die Schuld“, redete er auf Gandauer ein und fuchtelte bestärkend mit dem Zeigefinger. „Die ganzen Scheißer, die auf dem Trittbrett mitgefahren sind damals und sich zu Opfern gemacht haben. Wenn du ein echtes Opfer bist, dann wirst du eben imitiert. Heute sind’s wohl eher die Schlachten zwischen den vier Wänden, die solche Sozialopfer wie mich produzieren. Aber Krieg ist es allemal.“ Zeltnik nahm sein Taschentuch und schnäuzte sich lautstark.
„Er ist überhaupt etwas dünn und klein geraten“, dachte sich Gandauer, „aber er ist drahtig. Wie so ein Wiesel, klein und flink, immer hellwach, ein kleines Raubtier.“
„Und sie haben es meiner unbekannten Alten irgendwie ganz einfach unterstellt, das mit dem Krieg. Sie haben mich allerdings nicht als Amibastard eingestuft“, machte er weiter. „Vielleicht hatten sie noch alle das mit der Rassensauberkeit im Hinterkopf. Ganz komisch, obwohl meine Alte mit Sicherheit eine Amischickse war und mein Alter ein geiler GI, der den Pariser vergessen hatte. Kriegerwaise war ich fürs Jugendamt. Vater fürs Vaterland im Feld geblieben oder damit das mit dem Datum stimmt, nach dem Krieg wegen dem Krieg abgekratzt. Mutter auch sozusagen ein Opfer gebracht fürs Vaterland. Der ganze Mist von damals. Eigentlich hätte ich ja mit dieser Waisenkacke auch wieder gute Startlöcher gehabt.“ Zeltnik legte eine Verschnaufpause ein, während der Gandauer einfiel, dass er eine ähnliche Geschichte ja schon von Cziflic gehört hatte. Nicht ganz so ausgebaut, eben weniger intelligent. Er amüsierte sich, ob er es denn hier mit vereinigten personalen Kriegsschäden zu tun habe. Schließlich kam er jedoch darauf, dass es sich möglicherweise um eine quasi heimliche Abstimmung auf ihn und auf sein Erscheinen hier handeln könnte.
„Ich bin auch Jahre lang im Radio gekommen“, war Zeltnik wieder da, „im Suchfunk vom Roten Kreuz!“ Dann war das Feixen aus dem Gesicht: „Als Kind immer im Heim gewesen, Herzogsägmühle. Gute Sache, das, im Großen und Ganzen. Evangelische Diakons. Aber Heim bleibt nun mal Heim. Und Schach! Ein Hausvater. So hießen die. Heute heißen sie Erzieher und machen nur Schichtbetrieb. Tun aber super gescheit. Die Hausvaters, Junge, das waren begnadete Schreinergesellen oder so was. Mit viel Herz und einer verflixt deutlichen Handschrift. Junge, wenn du eine gescheuert gekriegt hast! Das könnten die Rotzlöffel heute noch brauchen: Mal gelegentlich heiße Ohren, dann würde aus denen was Ordentliches. Vom Hausvater habe ich Schach gelernt. Schluss.“
„Ihr Lebenslauf hat ja Löcher wie ein Emmentaler Käse“, urteilte Gandauer.
„Taktik, das mit den Löchern im Lebenslauf. Du musst nämlich den Fragern etwas zum Fragen übrig lassen. Das habe ich auch erst rausfinden müssen. Sie glauben gar nicht, wie frustrierend ein vollständiger Lebenslauf für die von der Gegenseite ist. Du musst denen die Möglichkeit lassen: Sie so mit ganz cleveren Fragen kommen lassen, die aus deiner Karriere was ganz anderes machen. Aber dass es sie befriedigt.“
„Das ist ja ganz ausgefuchst!“
„Ich sage ihnen jetzt noch schnell, warum sie mich eingelocht haben. Weil sie, wie mir scheint, kein so’n Frager sind. Eher sind sie mir allerdings ein Verheimlicher, wie geflüstert wird.“
„Gerede ist – sie entschuldigen, Zeltnik! – wie Magenwind, der hinten rauskommen“, erklärte Gandauer. „Es riecht immer ein bisschen schlecht!“
„... die hinten rauskommen!“, freute sich Zeltnik, wusste jedoch nicht recht, ob er das auf sich und seine Geschichte beziehen sollte. „Bin gelernter Feinmechaniker und mehrmaliger Beinahefamilienvater mit meinen gut Vierzig jetzt. Das nur nebenbei. Auch mal ist mir ‘s Scheckheft vom Chef in die Finger gekommen.“ Er blickte Gandauer an und jammerte gekünstelt: „Schwache Stunde gehabt!“
Sie schwiegen kurze Zeit.
„Wie war das gleich mit dem auf mich bezogenen Verheimlicher?“, wollte Gandauer dann wissen.
„Ach, was soll’s, man redet halt so“, wand sich Zeltnik, „hier kommen die seltsamsten Vögel her. Alle haben eben so ihren Schlag weg. Dann landet man in so einem Loch. Oder gleich in der Klapsmühle. Nur eben weg. Aus dem Verkehr gezogen. Wegen der anständigen Leute. Die so blöd sind, sich für normal zu halten. Das sind die Lumpen, wissen sie, die nur noch nicht erwischt worden sind. Denn Dreck hat jeder am Stecken. Allerdings musst du drinnen sehen, wie du zurechtkommst, in deinem Dreck. Alle brauchen Schutz, drinnen wie draußen. Ich würde das an ihrer Stelle mit dem Schutz hier nicht unterschätzen“, betonte er, „ist verflucht notwendig, wenn du überleben willst. Ist natürlich wie alles auf der Welt nicht umsonst. Sollen sie auch gleich klipp und klar wissen.“ Zeltnik blickte Gandauer lauernd an. Der war über diese plötzliche Wende irritiert. „Irgendwas will dieser Kerl von mir“, war er überzeugt. Er hätte sich am liebsten davongemacht. Da wurde ihm noch ein Rat zuteil: „Sie können erzählen, was sie erzählen wollen. Die Leute haben ein Urteil über sie längst fertig, bevor sie noch den Mund aufgemacht haben. Wichtiger ist allerdings, dass sie ein interessantes Märchen bringen. So wegen dem Zeitvertreib, der ist in diesem Käfig wichtig! Noch viel wichtiger ist es, fällt mir gerade ein, dass sie sich noch eine Einnahmequelle schaffen. Wenn sie nicht mehr nur U-Haft haben, sondern Dauergast sind. Denn von dem, was sie da von der Arbeit kriegen, können sie sich nichts leisten. Da wird der Knast echt ungemütlich. Und wenn sie sich das überlegt haben, dann kommen sie zu mir. Ich wüsste da schon was, wie sie sich die Rente aufbessern könnten. Auch dafür habe ich was, wenn ihnen die Laune etwas durchhängt. Da habe ich was ganz Feines, allerdings auch leider wieder nicht umsonst. Ich habe da bestimmt einen Muntermacher für sie.“ Dann wurde Zeltniks Vortrag betont eindringlich: „Aber das geht nur uns beide was an! Begriffen? Denn da kann das Labern darüber nun wirklich ungesund werden und viele Schmerzen bereiten.“
Gandauer konnte nur staunen, sprang schier auf und machte sich mit einem kurzen Gruß davon.
Möglicherweise habe ich von der Gesellschaft in dieser Anstalt längst eine ganz neue Rolle verpasst bekommen und kenne diese noch gar nicht. Das verfolgte Gandauer. Daher wollte er sich nach dem Abendessen ablenken. Er ging seiner Beschäftigung nach, wenigstens seinem Peters noch für kurze Zeit ein Rätsel zu bleiben:
Gelegentlich wieder etwas nicht gerade Schicksalsbefrachtetes, verehrter Freund!
Ich sprach Ihnen unlängst von einem Gebirgsfluss, der unsere Rätsel-Stadt durcheilt. Mir ist, als hätte ich ihn direkt vor Augen, könnte also seinen Wechsel über die Jahreszeiten hinweg verfolgen. Seine gewaltigen braunen Fluten zur Schneeschmelze. Ich nähme diesen Fluss wahr, wie er sich bedrohlich daherwälzt und an die Zeiten gemahnt, in denen seine Gewalt die Flusslandschaften formte. Ich malte ihn mir aus in seiner grünen Gelassenheit des Sommers. Als stände ich an seinem Gestade, nähme ich sein ruhiges kraftvolles Dahinfließen bis zu den Stufen des Flusswehres am Rande der Altstadt wahr, wo er sich in Gischt zischender Helle über einige Stufen hinunterstürzt.
Seit dem Mittelalter hatten sie das Wehr mit Holzbohlen belegt. Nach einer Erneuerung würde es aus Beton gegossen sein und zu der neuen Spannbetonbrücke passen. Ein Zwillingspaar, wenn man so will, moderner Bauorgiastik, zu der auch noch ein Kraftwerk passte .
Die Hybris der Zeit. Wir kennen das, nicht wahr? Jede Gesellschaft vollführt stets das ihr Mögliche.
Es ist ja auch kein Geheimnis mehr, dass die Waffe Modernität mehr Baukultur nach dem Krieg vernichtet hatte, als die Bomben unseres Krieges in Schutt und Asche legten.
Ich blickte im Geiste in meiner Zeitung über die Wasser hinweg und hinüber auf die Altstadt, die sich zwischen Fluss und einer recht steil ansteigenden Geländeterrasse erstreckt. Die gotisch schmalen Giebel, dahinter die Silhouette des Stadtkerns, dominiert von einer Zwiebelturm bekrönten Kirche. Eine Allee von Laubbäumen hinter einem brusthohen Damm wäre zu erblicken. Gegen den Kern der Altstadt hin wäre die moderne herbe Betonerrungenschaft für die Regulierung des Wassereinlasses zu einem Mühlkanal auszumachen.
Das ist es eben. Bauen ist heute so unversöhnlich, so endgültig, so sehr die Entwicklung ausschließend: hinzementiert und später wieder weggerissen, gesprengt, niedergewalzt und zur Verfüllung von Gruben verwendet. Da wächst nichts mehr mit der Zeit. Da driftet nichts mehr allmählich aus der das Auge verletzenden Scharfwinkeligkeit, den schier messerscharfen Kanten und fantasielosen Gleichklängen hin zur natürlichen Vielfalt, der versöhnlichen Abrundung, die der Zahn der Zeit uns ernagte.
Und die Bunkerarchitektur und die kitschigen Protztempel unserer Zeit? Sie haben hier in der Nähe dieses Städtchens aus sozusagen den letzten Tagen des Dritten Reiches ein in jeder Hinsicht ungeheueres Bunkerbauwerk geerbt. Das wollten sie sprengen, was ihnen allerdings mehrfach gründlich misslang. Da haben sie es eben weitergenutzt, zunächst für die Besatzungsarmee, dann für die Bundeswehr.
Schaue ich wieder in meiner Fantasie auf das noch mit Holzbohlen belegte Flusswehr, höre ich direkt meinen Gewährsmann für die Darstellung unseres Städtchens schwärmen. Was hätten sich hier die Jungen herumgetrieben! Welche Mutproben seien da abgelegt worden! Die ganz tapferen Burschen hätten den Fluss geradezu unterquert. Sie kämpften sich, laut Bericht, unter dem donnernden Wasserschwall einer Wehrstufe, der ob der Fließgeschwindigkeit des Flusses eine Parabel beschrieb, von einem Ufer zum anderen.
Schaurige Geschichten erzählten sie sich von dem einen oder anderen, den es „erwischt“ und mitgerissen haben soll.
Dann auch die in den Tagen des Niedergangs in den Fluss geworfene Munition unserer Wehrmacht: Aufspüren, Aufschlagen, Pulver herausklopfen, anzünden. Die Stichflamme! Und mit einem prickelnden Gefühl in der Magengegend ein Held gewesen sein.
Auch dabei wieder das Absolute: Diese Romantik soll für einige kleine Abenteurer final gewesen sein.
Ich denke an dieser Stelle auch wieder an Hedwig, die einen Jungen in dem Alter ins Erwachsenwerden zu begleiten hatte, in dem einer alles vermeintlich Männliche ausprobieren will. Welche Ängste müssen die Mütter zu der Zeit ausgestanden haben! Wann war der Krieg denn wirklich zu Ende?
Geradezu idyllisch für ein Jungenleben in der Stadt seien die breiten Flussauen gewesen. Diese hatte man immer schon als Flutungsfläche unbebaut gelassen. Dort fanden sich die Jungen zu Banden, wie sie sich selber bezeichnet haben sollen, zusammen, beherrschten ein gewisses Territorium und führten gegeneinander, wurde mir berichtet, Krieg.
Sehen Sie, wie alles fortwirkte?
Seit sie jedoch die Wasser in ein Bett gezwängt haben, sind die Flussauen nicht mehr natürlich wild. So werden sie wohl zum Wildpark umgeformt.
Gandauer ließ es wieder sein und räumte weg. Als er sich vom Stuhl erhoben hatte, stand Cziflic hinter ihm. Gandauer war erschrocken.
„Mir is noch was eingefalln“, begann Cziflic gleich, „ich weiß jetzt noch ‘ne Geschichte von früher. Du weißt ja, auf die du so scharf bist. Das mit dem Nazi und so der Zeit.“
„Muss das denn jetzt noch sein? Geht es nicht morgen auch noch?“
„Das is nich so viel. Das ist ja auch so lang her. Da wird alles immer weniger. So wie vor Gericht. Du weißt doch: So mit der Zeit, da wird das Urteil weniger, was sie dir aufbrummen. Mensch, da hast du ja ein riesiges Glück!“, erklärte Cziflic und setzte sich, ohne aufgefordert zu sein.
Gandauer wollte protestieren, ließ es jedoch sein in der Befürchtung, dass dann die Sitzung noch länger dauern würde.
„Da erinner ich mich“, fuhr Cziflic fort, „dass uns große Jungens auch was erzählt haben. Solche, die wo schon was mitgekriegt haben vom Ganzn von euch dortmals.“
Gandauer setzte sich. „Ja, und?“
„Da sind immer so Kolonnen gewesn. Scharf bewacht. Zerlumpte Leute. Hier in der Stadt. Die Bergstraße, wo der Hitler gebaut hat. Auf der Münchner Straße und weiter. Irgendwohin in die Nähe von der Stadt. Waren ‘ne Menge vom KZ rum. Von Dachau her. Zum Bauen von irgendwas mit die Geheimwaffe. Wo sie alle immer gewartet habn. Dass der Führer den Russen und den Ami zurückhaun möcht. Wo auf uns zu sind. Und durch die Stadt marschiert sind die vom KZ oder dran vorbei. Getriebn worden. Ich sag dir, das warn ganz arme Schweine! Nur nich so fett wie richtige Säu!“ Cziflic grunzte seinem Vergleich nach und schlug sich auf den Schenkel. „Das darfst du mir glauben!“, war er noch in blöder Laune. „Und wo die Nazi das Fett hergehabt haben sollen von dene da zum Kernseifemachen!“ Er kicherte noch so gemein in Gandauers Bestürzung hinein, um unversehens zu schimpfen: „Auch so eine Lüge, das! Wie mit die KZ. Wo sie Menschen verheizt ...“
„Halten sie endlich ihr dreckiges Maul, Cziflic!“, platzte Gandauer heraus, dass es ihm die Stimme überschlug. In seiner Abscheu wusste er nicht gleich, ob er über die bodenlose Dummheit dieses Schwätzers empört sein sollte. Oder ob er eher bestürzt sein müsse über das böse Echo, das von der unermesslichen Abartigkeit einer der Strebungen seiner Zeit ausging. Gandauer floh der Entscheidung fassungslos stumm in tiefe Scham.
Cziflic hatte den Befehl Gandauers nur kurz befolgt. „Die Juden waren viel beschissner dran als wie unsre Alten. Das sag ich dir!“, schwafelte er vorbei am Kopfschütteln Gandauers. „Da war der Deutsche schon nicht gut dran. Das habn sogar unsere Alten kapiert. So, ich meine, so von die älteren Jungens. Die wo das begriffn habn. Was die SS alles machen musstn. Wenn da einer nich mehr gegangen ist, wo sie getriebn ham. Den Befehl hat einer vom Führer gemacht. Das war Pflicht für SS, kapiert? Pflicht ist Pflicht!“ Er warf einen kurzen Blick auf Gandauer, sah den aber noch stumm dasitzen, immer wieder den Kopf schütteln.
„Der Eine hat es angedacht“, mochte dieses Pflicht-ist-Pflicht für Gandauer zum Denkanstoß geworden sein, „andere haben es ausgearbeitet und wieder andere haben es ausgeführt. So ist die Hierarchie der Täterleiter gewesen. Am Ende wollte jeder behaupten können, dass er es nicht zu verantworten habe!“
„Und zum Fressn habn die Juden fast nichts gekriegt“, setzte Cziflic seine Sprüche weiter ab. „Da hat dann wer von der Stadt dann auch mal ‘ne Kartoffel hingeschmissen. Und ‘nen Lehrer habn wir noch gehabt. So ganz ein mickriger mit ‘ner dicken Brille. Der hat immer erzählt, dass er mal ‘n Brot hat falln lassn. Wo die vom KZ vorbei sind. Wo keiner selber nichts gehabt hat. Alles lebensgefährlich, so was. Hat alles radikal hart im Griff gehabt, der Nazi. Das muss man sie lassen. Peng, abgeknallt, wenn einer nicht gespurt hat. Oder an die Laterne mit ‘nem Schild um den Hals: Ich war ein Vaterlandsverräter. Mensch, da kann ich dir noch Geschichtn erzähln ...“
„Hauen sie eher ab, Cziflic!“, versuchte Gandauer abzuwehren. Das schien aber bei Cziflic nicht überzeugend genug rübergekommen zu sein: „Und dann warn da die in Barackn“, machte er unverdrossen weiter. „Da habn die sich nackert ausziehn müssn. Die vom KZ. Wegen die Hygiene. Und sauber war der Nazi, sag ich dir. Dreck musste überall weg. Da ist dann schon auch mal ‘n Mensch mit weggefegt worn mit dem Dreck“, fand Cziflic, bedächtig nickend. „Dann die Jungs. Hinter Büschn vorgeglotzt. Mal sehn, ob der Jude auch unter der Wäsche anders ist.“ Cziflic schien sich damit endlich entleert zu haben. Er lehnte sich zufrieden zurück.
„Schlimm, das alles!“, brachte Gandauer zunächst nur heraus. „Wenn auch nur ein geringer Teil davon wahr sein sollte“, ergänzte er.
„Du erzählst mir nich, warum du hier bist“, klagte Cziflic. „Ich bring dir was. Und du hörst dir das nur an mit ganz scharf drauf!“
„Ach, wissen sie, Cziflic, was soll’s?“, resignierte Gandauer.
„Was soll’s?“, maulte der nach. „Ich hab mir neulich ‘nen Kollegn ordentlich rangenommen. Der dir einen Kasper hinterher gemacht hat, Herr Gandauer. So mit Hand hoch und Gruß, so wie ihr dortmals immer und so ...“
„Was war da?“, fiel ihm Gandauer ins Wort.
„Klar, die haltn dich für ‘nen von damals, für ‘nen ganz scharfn Typen. Wo hier doch gleich nach’m Krieg die ganzen Nazis eingesessen sind. Wo sie aufgehängt habn. Und davor der Adolf. Mensch, wenn ich denke, ich hab meinen Arsch auf dem Führer seiner Matratze!“
„Ich war einer von damals!“, bekannte Gandauer, um sich ein wenig von seinem tiefen Schock zu befreien. „Das sehen sie ja wohl schon am Alter.“ Sie hätten das alles begleitet mit Gedanken, Worten, wenn auch nicht immer gleich mit Taten, wollte Gandauer eigentlich sagen – und hinzufügen: Wo es ihnen zu drastisch zu werden drohte, hätten sie eben auch mal die Gedanken abgeschaltet und weggesehen. Doch er ließ es sein. Er war überzeugt, dass es sein Gegenüber nicht nachvollziehen können würde. „Sind sie eigentlich ein richtiger Deutscher?“, ging Gandauer stattdessen Cziflic an. „So wie das damals geprüft wurde.“
„Deutscher bin ich schon hundertfuffzigpro! Und mit dem deutschen Gruß albert keiner nicht rum. Nicht bei mir! Deswegen hab ich dem auch ein paar aufn Rüssel gegebn. Die ganze Verrassung. Du musst dich hier im Knast bloß mal umdrehn, gleich sind zwei, drei absolut Fremde hinter dir!“
„Ich heuere sie als Leibwache an, Cziflic!“, gab Gandauer mit einer Flucht nach vorne auf.
„Bin icke längst!“
„Na siehste!“, versuchte Gandauer, Cziflics Ton zu treffen. „Nur blödes Gequassel muss Leibwache im Kopf behaltn“, ergänzte er und setzte noch drauf: „Weil’s dort viel Platz hat. Weil dort sonst nix is!“
Während Cziflic noch nachdachte, wie das wohl zu verstehen sei, meinte Gandauer: „Am besten hauen sie jetzt endlich ab!“
Sie konnten ohnedies hören, dass Einschluss im Gange war.
Am nächsten Besuchstag erwartete Gandauer erneut eine Überraschung. Der Zivi hatte sich angekündigt.
„Schön, dass sie wieder da sind. Ich habe gar nicht damit gerechnet, wenn ich so ehrlich sein darf!“, freute sich Gandauer. „Bevor wir uns setzen, muss ich ihnen gestehen, dass ich ihren Namen gar nicht weiß. Um noch ein Geständnis anzufügen: Ich hatte in unserer schönen Seniorenresidenz kein Interesse, sie danach zu fragen oder wenigstens das Namensschild auf ihrem Arbeitskittel zu entziffern.“
„Dem kann abgeholfen werden mit der einfachen Mitteilung: Ich bin der Soller, Frank, ein beginnender Twen.“
Sie reichten sich die Hand und nahmen Platz.
„Wenn wir mit den Offenheiten gleich fortfahren wollen, Herr Soller, dann die Frage, was führt sie zu einem alten Mann, der sich noch dazu an einem sehr unbürgerlichen Ort aufhält?“
„Ich schlage vor, sie nennen mich beim Vornamen und siezen mich meinetwegen, wenn es noch einen etwas förmlichen Klang haben soll. Es ist das bekannte Hamburger Sie, wie sie sicher wissen. Nicht so sympathisch fände ich das bayrische Du, das mit dem Familiennamen verwendet wird. Doch zu ihrer Frage: Ich bin dabei, meine Berufswahl zu hinterfragen.“
„Wie könnte ich ihnen dabei mit Antworten behilflich sein, Frank?“
„Es ist die Zeit, die sie repräsentieren, Herr Gandauer. Entschuldigen sie. Sie denken nun sicher, wieder so ein Hinterfrager ...“
„Und wenn schon!“
„Es ist so: Mein lange und im Grunde bereits gefestigter Berufswunsch war etwas, wofür jemand eine tiefe Berufung benötigt, wie es heißt.“
„Ach, lassen Sie mich raten: Sie sind auf Theologie eingestellt. Oder wie es heute lässig heißt: darauf abgefahren!“, rief Gandauer, dass die Leute im Raum herüberschauten. Er ergänzte: „Ich war lange Zeit, nämlich nachdem ich mich da in Niederbayern niedergelassen hatte, Messdiener, Messner, wie sie es dort nennen.“
Frank lachte: „Da hätten wir uns ja treffen können: ich als Kaplan von ihnen sozusagen bemessdienert!“
„Nun müssen sie mir, lieber Frank, verraten, welche Frage ich ihnen beantworten könnte. Ich ein halbgebildeter, obendrein auch nur halbfrommer Ex-Messdiener.“
„Es ist nicht die Glaubensproblematik, die mich zu ihnen treibt. Es ist die Geschichte und meinetwegen auch das Gesellschaftliche überhaupt. Denn sehen sie, da ist mir ein Mädchen begegnet.“
„Ach ja!“, war Gandauer überrascht. „Das alte Problem: der katholische Zölibat und das weibliche Geschlecht. Oder doch eher – Pardon! – das eigene Geschlecht?“
„Es ist nicht so sehr das Mädchen als solches. Oder ich sehe da wenigsten noch nicht so klar. Vielmehr ist es die Gesellschaft, zu der gehörend ich dieses Mädchen rechne. Dass da schon wieder etwas stark wird.“ Frank überlegte. „Nun, Brecht behauptete, bereits in den Vierzigern wohl, als vielen der braune Spuk vorüber schien: Der Schoß sei fruchtbar noch! Und er ist es tatsächlich, wie wir sehen ...“ Er unterbrach sich, über die eigenen Worte verdutzt. Dann brach es bei ihm beinahe heraus: „Das Mädchen und der fruchtbare Schoß! Was für eine Verknüpfung!“
Sie schmunzelten beide vor sich hin.
„Um wieder zur Sache zu kommen: „Ich möchte auf diese jungen Menschen einwirken.“
„Edel!“, zollte Gandauer Beifall. „Da bin ich gespannt, wie sie das anpacken wollen!“
„Recht einfach, doch nicht ganz ungefährlich. Bei dem bekannten Aggressionspotenzial dieser Leute und ihrer Verstocktheit. Ich werde mich dort einführen lassen und einzuwirken versuchen. Was das mit ihnen zu tun haben könnte, Herr Gandauer? Darf ich ihnen von meinen Aktivitäten Bericht erstatten? Schriftlich oder mündlich? Wir könnten dann darüber sprechen und uns austauschen. Ich benötige sicher ihre Erfahrungen im Umgang mit diesen Dingen.“
„Das überrascht mich freilich“, gab Gandauer zu, „und macht mich sehr neugierig!“
Beim Frühstück trieb es Sterzinger heute um. Er hatte die bisherigen Treffen mit dem Mandanten immerhin als harmonisch zu werten. Als er sich den Stand seiner nach persönlicher Einschätzung außergewöhnlichen Aufgabe vor Augen hielt, war er allerdings sehr unzufrieden. Er musste sich eingestehen, zwar die Faktenlage zu kennen, jedoch noch über kein Konzept zu verfügen.
„Die Angelegenheit da um Gandauer, die nachgerade historische Dimension annehmen könnte“, packte ihn. „Ich stehe womöglich plötzlich im Rampenlicht!“, überkam es ihn mit einem Schaudern.
Sich den Fall aufgeladen zu haben, warf er sich dann auch wieder vor. Am liebsten hätte er hingeschmissen. Ersatzweise nahm er in der Fantasie Platz neben den schlauen Brüdern vom Stammtisch. Und wie diese würde er dort die alte Frage gestellt haben: Ob das mit dieser Vergangenheitsbewältigung nicht endlich aufhören müsse. Er maulte in sich hinein, dass das Geschichte und es darum verlorene Liebesmühe sei, darüber zu Gericht sitzen zu wollen.
Mit der Bemerkung, dass er sich gerade ein Eigentor geschossen habe, bereitete er sich noch eine Tasse Kaffee. Dann war alles wieder im Lot. „Weitermachen, Sterzinger!“, seine Selbstermahnung. „Als Mensch von Charakter!“ Beim letzten Schluck überfiel ihn allerdings wieder ein tückischer Gedanke: die Plakette „Freiheit für Rudolf Heß“, den Stellvertreter des Führers und Dauereinsitzer in Spandau! Sterzinger erinnerte sich: „Diesen Aufkleber hatten doch etliche brave Bürger am Hinterteil von ihrem Auto haften. Beinahe, bis der alte verbohrte Bursche den Löffel abgegeben hatte.“
„Ob mein Gandauer auch einer von dieser starrsinnigen Sorte ist?“
Sterzinger war sich nicht sicher. Dass jedoch der Zufall seiner Begegnung mit diesem Kasus sich sogar zum Glücksfall entwickeln könnte, richtete ihn wieder auf. Zumindest in Anbetracht späterer Darstellungsmöglichkeit. Denn diese Fälle würde es tatsächlich aus Gründen der biologischen Selbsterledigung bald nicht mehr geben, munterte er sich auf. „Welch ein Vorzug historischen Ausmaßes!“, geriet Sterzinger schließlich – wie neulich schon einmal – beinahe ins Schwärmen. „An diesem Prozess beteiligt zu sein und einen von den letzten dieser Bagage zu vertreten. Möglicherweise fliegt mich eine originäre Lesart an. Vielleicht auch wie schon gelegentlich erst während des Prozesses.“
Am Ende hatte ihn die Erregung darüber sogar im Sitzen etwas außer Atem gebracht. Er begegnete dem sogleich mit einem Zigarillo und ließ sich einen Termin in der Vollzugsanstalt machen.
Dann saß er im Sprechzimmer und hatte noch etwas Zeit. Er steckte sich wieder so ein Tabakröllchen an. „Täter!“, sinnierte er, während er seinen Wölkchen nachblickte. „Der Faktenlage nach ist das immerhin eindeutig. Auch wenn ich die Einsicht dafür bei meinem lieben Gandauer wohl erst unter dem Teppich hervorkehren muss. Unter den es diese ganze Generation bei sich gekehrt hatte. Das ist es ja gerade!“, beteuerte er sich und paffte aus. Dabei geriet ihm sein Qualm zu einem richtigen Kringel. Er verfolgte dieses Gebilde, bis es sich in Luft auflöste und entschwand. „Dunstgirlande bildet Loch“, kommentierte er. Unversehens überkam Sterzinger Mitleid: „Mein Gandauer ist einer von den letzten Pechvögeln, die doch noch abgestürzt sind. Nachdem viel fettere Aasgeier, wegfliegen konnten. Es ist immerhin diesbezüglich einiges bekannt. Über meine eigene edle Zunft. Das hat man schließlich gelernt, wie man davonkommt. Braune Richter und Staatsanwälte sind geblieben, und nicht nur die.“
Sterzinger hatte während seines gedanklichen Ausflugs intensiver an seinem Stäbchen gesogen und stellte nun fest, dass alles ziemlich eingenebelt war. Er überlegte, ob er das Fenster öffnen solle. Dabei fiel ihm ein, dass ja Simon Wiesenthal, der allbekannte Rächer, den eben angezweifelten Reinigungsprozess der bundesdeutschen Justiz kürzlich auch wieder als doch ganz ordentlich bezeichnet habe. Sterzinger ließ das mit der Lüftung sein – und den Dunst im Raume stehen. „Ob dieser Wiesenthal mürbe geworden ist?“, fragte er sich. „Alle werden wir irgendwann müde und mürbe. Da zieht sich einer dann am besten freundlich lächelnd in die Verblödung zurück.“ Es durchfuhr ihn richtig angenehm: „Vielleicht könnte mir das mit der Verblödung auch zum taktischen Mittel in diesem verzwickten Verfahren gedeihen. Mal sehen!“
Er sog noch einmal energisch an dem Stummel und drückte ihn dann aus. Für heute war es sein fester Vorsatz, ein unbedingt zielgerichtetes Gespräch mit Gandauer zu führen. Auf keinen Fall wollte er sich wieder zum Plaudern verleiten lassen. Er öffnete sogleich seinen Koffer und nahm die Akte heraus.
Bald darauf trat Gandauer ein.
Sterzinger blickte nur flüchtig auf und schien noch einen Passus in seiner Handakte zu studieren.
Gandauer stand wartend ein paar Schritte vom Tisch entfernt. Er hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt und bemühte sich, irgendwie stramm zu wirken. Er grübelte der Bemerkung seines amtlichen Begleiters Bergner nach. Der hatte doch auf dem Weg zum Sprechzimmer etwas über die bei Gandauer in der Zelle liegende Schrift zum Jubiläum der Anstalt geäußert gehabt und gemeint, dass besonders das Kapitel über die Zeit unmittelbar nach dem Umsturz interessant sei. Umsturz! Diesen sonderbaren Ausdruck hatte Gandauer schon lange nicht mehr gehört. Wie die Amerikaner da mit den Deutschen umgesprungen seien. Die Amerikaner, die sich zur Weltpolizei aufspielten und selber das alles in ihrem Land betrieben mit den Negern und dem ganzen bunten Gemisch, wie sich Bergner äußerte.
Sterzinger schmiss das Aktenbündel auf den Tisch, dass es klatschte. Er entschuldigte sich flüchtig und blickte, in Gedanken, an Gandauer vorbei. Dann wandte er sich dem immer noch geduldig Wartenden zu. Ein kurzer Gruß. „Wollen sie nicht Platz nehmen? Na, haben wir eine gute Zeit gehabt? Fehlt uns etwas? Bitten, Beschwerden, Anträge?“, leierte Sterzinger herunter und verzog dazu ein wenig den Mund, dass dabei etwas Freundlichkeit herauskam.
„Zu viele Fragen auf einmal, die sie da einem alten Kopf zumuten“, erwiderte Gandauer.
Sterzinger hatte nicht hingehört. Er war wieder ganz bei seinem Plan, heute mehr in Erfahrung zu bringen. Jetzt war er erstaunt, dass Gandauer mit seiner Einlassung bereits zu Ende gekommen war: „Bitte?“ Er wartete aber keine Reaktion seitens Gandauers ab, sondern kam mit der Aufforderung zur Sache, sein Mandant möge unbedingt seine Darstellung des ihm zur Last gelegten Tatbestandes geben.
„Auch wenn es sonderbar klingt: Ich vermute, dass die Akten der Staatsanwaltschaft hierzu weit mehr zu bieten hätten. Das Resultat der sicher sehr umfangreichen Ermittlungen der eifrigen Staatsanwaltschaft, vertreten von einer netten Dame, darf ich anmerken. Es trifft auch auf mein gesteigertes Interesse.“ In das Erstaunen des Anwalts hinein ergänzte Gandauer: „Ich bin einfach neugierig. Sie wissen, ich befinde mich in einem Alter, das mit Überraschungen ausgesprochen geizt.“
„Also, sie wollen sich überraschen lassen!“, entrüstete sich Sterzinger. „Sie sollten mit derlei Wunderlichkeiten zumindest Außenstehenden gegenüber außerordentlich zurückhaltend sein“, mahnte er dann. „Ja, ich empfehle ihnen, eher so etwas wie Betroffenheit an den Tag zu legen!“
„Betroffenheit?“, wiederholte Gandauer nachdenklich.
„Ich hätte wissen müssen“, war Sterzinger unzufrieden, „dass ich ihnen mit diesem Begriff nicht kommen kann. Es ist mir zu spät eingefallen, was das für Leute sind, die mit dem Aufmacher Betroffenheit durch die Welt ziehen. Meine Verflossene fiel von dem Zeitpunkt damit an, als sie anfing, sich betont schlicht zu kleiden und in Dritte-Welt-Sandalen rumzulaufen: Gleichberechtigung, Apartheid, Umwelt. Ach ja! Sie war auch wiederholt wegen der jüngeren deutschen Geschichte in Betroffenheit geraten! Na ja, Auschwitz und solche Monströsigkeiten weltgeschichtlichen Ausmaßes! Es gibt natürlich schon Gebiete, die Betroffenheit echt verdienen. Ich will nicht weiter ausholen! Nur dem ganze Totalitäritätskram da hinter dem Eisernen Vorhang ... – ha!“ fuhr er auf. „...Totalitäritätskram!“, freute er sich laut und wiederholte seine Kreation einige Male. „Ein wunderbares Wort, richtige Zungenmusik: Totalitärität!“ Er beruhigte sich wieder, nickte nun seiner Szene mit einem etwas gequälten Gesichtsausdruck hinterher und fuhr dann betont kühl fort: „Ich hatte sie doch, Herr Gandauer, um ihre Stellungnahme gebeten! Denn ich benötige die Version meines Mandanten als die des Beschuldigten. Allein schon deswegen, um dessen Reaktionen vor Gericht abschätzen zu können. Übrigens, wenn sie Bedenken haben, sie kennen doch mit Sicherheit den Ausspruch von der Beichtvaterqualität des Verteidigers!“ Er blickte Gandauer in die Augen und ergänzte dann freundlich: „Es ist allerdings leider nicht möglich, dass ich sie losspreche von ihrer Schuld. Was ja eigentlich Pflicht dessen wäre, der die Beichte abnimmt!“
„Lossprechung, wovon? Etwa von der Teilhabe an der Zeit? Dem Zeitgeist“, sinnierte Gandauer laut vor sich hin.
Der Anwalt schaute seinen Mandanten wartend an. „Na, Herr Gandauer, sie hätten weiß Gott genügend Zeit gehabt zur Entwicklung einer Erklärung“, war er ungeduldig. „Ich räume ihnen gerne ein, dass mit den Jahren das Schuldbewusstsein schwindet. Doch wir werden nun mal bei Gericht erscheinen müssen, nicht etwa vor einem Psychologenkongress. Und dann noch eins: Was da anliegt, ist keine Frage eines doch letztlich immer irgendwie flüchtigen Zeitgeistes. Menschenrechte sind zeitlos!“
„Die Frage nach einer Schuld stellt sich für mich, wenn überhaupt, jetzt noch nicht. Ich weiß eigentlich gar nicht so recht, was ich Gerichtsverwertbares angestellt haben soll!“
Sterzinger holte tief Luft. „Ich habe angenommen, sie begäben sich nicht auf dieses Niveau!“ Gleich richtig in Fahrt geraten, brauste er auf: „Diese Art Unschuldsbeteuerung hat irgendwas – sie entschuldigen! – etwas furchtbar Blödes an sich. Das passt überhaupt nicht zu ihnen! Oder überhaupt zu dem ganzen verfluchten in der Nachkriegszeit doch wirklich ausgiebig durchgekauten Komplex. Und sie, mein Herr, stecken da mittendrin! Begreifen sie das denn nicht?“ Er erhob die geballte Faust und setzte heftig nach: „Und da tritt diese ganze dreckige Bagage Zeitgenossenschaft immer wieder auf. Und zwar idiotisch als eine Herde von Unschuldslämmern maskiert. Das ist ja Schmierenkomödie!“ Sterzinger schien den Dampf abgelassen zu haben und sah jetzt auf seinen noch zornig angewinkelten Arm, fuhr ihn mit den Blicken entlang und blickte verwundert auf die geballte Faust.
Diese Szene hatte Gandauer gebannt verfolgt. Es hatte ihn getroffen. Er nickte nun Sterzinger zu: „Offen gestanden, wir, die wir dabei waren, haben es uns im Danach alle irgendwie doch nur einigermaßen erträglich zu machen versucht. Was damals Nahrung beschaffen und Trümmer wegräumen und Wunden heilen bedeutete. Dann kamen aber die Amerikaner mit ihren filmischen Protokollen der Befreiung der Konzentrationslager heraus. Bereits bei den Nürnberger Prozessen. Da wurde das Ergebnis von so Abscheulichem aufzeigten, dass man sich abwenden musste, um nicht vor Fassungslosigkeit die Nerven zu verlieren. Da verkroch man sich ganz zwanghaft hinter die Schutzeinstellung, dass man damit nichts zu tun hatte, dass das woanders und von ganz anderen angerichtet worden sei ...“
„Verkriechen sie sich jetzt nicht schon wieder – nun hinter dieses jedermannige Man in ihrer Rede!“, unterbrach ihn Sterzinger scharf. „Sprechen sie, verdammt noch mal, von sich selber und über sich!“ Dieser Ausbruch war ihm gleich auch wieder ein wenig peinlich. Darum hob er beinahe beschwörend damit an, dass es unabdingbar sei, dass sein Mandant volles Vertrauen habe zu ihm, seinem Anwalt. Dass völlige Offenheit herrschen müsse in dieser Gemeinschaft, die er gerne sogar als Notgemeinschaft bezeichnen wolle. Es hatte wie eine Beschwörung geklungen. Er schnaufte schwer. „Ich habe ja sogar Verständnis für die heutzutage verbreitete Anschauung“, holte er aus, „dass solche Vorgänge, solche Untaten, anders einzustufen sind, als – na, wie soll ich sagen? – also als etwas aus diesem Bereich in heutiger Situation zu beurteilen wäre. Schon etwas Grundsätzliches ist ja nicht immer gleich zu beantworten, nämlich was als Recht ihres Unrechtsstaates heute als Recht in unserem Rechtsstaat anzuerkennen sei?“ Sterzinger überkam das Gefühl, sich irgendwie verheddert zu haben. Da kam es ihm entgegen, dass Gandauer den Faden aufgriff mit dem Einwurf, dass man schließlich einen Richter, der in Zeiten der gesetzlich vorgesehenen Todesstrafe diese auch verhängt hatte, heute nicht als Mörder verfolgen könne.
Dass das doch längst abgehandelt sei, entgegnete Sterzinger nachdenklich. Dann schnellte er fast empor: „Das, mein Guter, ist in ihrem Fall auch gar nicht das Problem. Denn was ihnen vorgeworfen wird, das hat etwas damit zu tun, dass es mit fanatischer, ideologisch motivierter Verletzung der Menschenrechte gekoppelt ist – um das sprachlich auch auf Verfassungsniveau zu setzen. Was ihnen zur Last gelegt wird, das hat damit zu tun hat, was gemeinhin mit Folter und Mord beschrieben wird!“
Gandauer war sichtlich betreten, saß wie erstarrt da und schwieg – und Sterzinger genoss das ganz ungeniert. Dann wollte er jedoch seinen Mandanten wieder aufrichten: „Wir müssen uns im Verfahren rausarbeiten aus diesem Sumpf von Fanatismus und Ideologiebesessenheit!“, appellierte er. Er hielt ein wenig inne, um diesen Satz als Grundlage seiner Arbeit wirken zu lassen. „Diese Menschenverachtung und der daraus erwachsene Tatenkomplex! Das alles ist heute kaum noch nachvollziehbar.“ Er rang um Worte: „Also, das ist das Beirrende, dass das von damals ... Ja, ich muss schon sagen, dass das, nämlich was ihre Generation da aufgeführt hatte oder meinetwegen auch nur über sich ergehen hatte lassen, uns Heutigen nahezu als albtraumhaftes Theater erscheint. Dass wir es schier gar nicht für möglich halten ...“ Er brach ab. Dann erklärte er, erregt mit dem Zeigefinger fuchtelnd, dass das unbegreiflich Entsetzliche vielen Menschen Schwierigkeiten bereite, es als wirklich gewesen anzunehmen. „Dieses scheinbar Unwirkliche, das gelegentlich von bescheidenen Geistern sogar zur Leugnung des Holocausts führt“.
Gandauer wollte hier einstimmen: Dass diese geistig Beschränkten sogar behaupteten, die Amerikaner hätten diese Szenen für die Nürnberger Prozesse nur gestellt. Mit Gefallenen. Die hätten sie sozusagen hindekoriert ...
„Sie müssen nicht so tun, als ob ...!“, fuhr ihm Sterzinger aufgeregt dazwischen, brachte aber seinen Einwurf nicht zu Ende, hielt mit einer wegwerfenden Handbewegung schnaubend inne. „Mein Mandant will sich den Schuh noch nicht anziehen“, jammerte er in sich hinein. Er war mit sich ziemlich unzufrieden, dass er seinen Plan für heute auch noch nicht annähernd verwirklichen hatte können. Das schlug sich auf seine Stimmung. „Diesem Gandauer muss ich anders kommen“, war er überzeugt. Er begann in seinen Akten zu blättern, blickte nach ein paar Minuten auf und herrschte Gandauer wieder mit der Aufforderung an, seine Personalien darzustellen: „Name, Geburtsdatum!“ Gandauer war überrascht, befolgte jedoch umgehend den Befehl und haspelte die Daten herunter, abgeschlossen mit einem „Jawohl!“.
Sterzinger lehnte sich zurück: „Sehen sie, wir könnten auch so!“ Er erklärte, dass er das Gefühl hatte, die Identität überprüfen zu sollen. „Aus mir völlig unbegreiflichen Gründen tun sie so, Herr Gandauer, als ginge sie die ganze Sache gar nichts an, als wären da immer andere am Teufelswerk gewesen. – Mann!“, brauste er auf, „das stinkt hier geradezu nur so aus den Akten nach Verwesung. Und da eiert der vor mir mit dem Tod bloß ein bissl rum!“, schoss es ihm heraus. Als er auf den erschrocken mit großen Augen dasitzenden Gandauer blickte, fasste er sich wieder und fuhr fort: „Da kam, auch wenn das sonderbar klingen mag, bei mir der Verdacht auf, dass ich es überhaupt mit einer ganz anderen Person zu tun habe, die da vor mir sitzt, als mit besagtem Gandauer. Daher die ihnen sicher als sonderbar erschienene Erfassung ihrer Personalien.“
Sie saßen sich wieder eine ganze Weile schweigend gegenüber. Beide gingen ihren Gedanken nach. Sterzinger jedenfalls griff seinen vorhin gefassten Plan auf, dass er es bei seinem Mandanten anders anzupacken habe. „Wenn es sein muss, dann sogar link“, räumte er sich ein. „Eine andere Infoquelle anzapfen! Meinen guten Frank Soller kontaktieren, wie ja neulich schon mal angedacht!“ Er erhob sich. „Ihr Umgang mit der Wirklichkeit bekümmert mich sehr!“, tadelte er. „Sie sollten nicht vergessen, dass ihnen vorgeworfen wird, etliche Menschenleben auf dem Gewissen zu haben. Und zwar nicht etwa auf eine auch nur annähernd humane Art. Wenn es die allerdings dabei überhaupt gibt!“, merkte Sterzinger an, als er sich bereits auf die Tür zu bewegte.
Gandauer war wieder merklich zusammengezuckt, als ihm das mit den Menschenleben erneut vorgehalten wurde. Jetzt reichte er Sterzinger die Hand: „Ich habe sicher große Schuld auf mich geladen. Doch ich fürchte, Herr Rechtsanwalt, dass meine Probleme keinen gerichtlichen Belang verkörpern“, schüttelte er seinen Schock ab. „Die Schuld betrifft eher nur mich in meinem Inneren.“
„Ich bin überzeugt, dass das Gericht da hineinschauen will“, betonte Sterzinger, während er den Raum verließ, „in dieses recht sonderbare Innere, das sich in ebensolchen Äußerungen zu erkennen gibt!“ Er wandte sich noch einmal um: „Seien sie mir nicht böse, Herr Gandauer! Wenn die Leute mit ihrem Inneren daherkommen, dann kriege ich immer so ein Verlangen, mich schnell davonzumachen und sie in ihrem Gefängnis, ihrem ominösen inneren, alleine zu lassen. In dem sie sich schließlich immerhin selber eingesperrt haben!“
Gandauer war dann wieder auf dem Weg zu seinem Haftraum. Während er hinter dem Beamten durch die Gänge schritt, dachte er über das nach, was Sterzinger so in Rage gebracht hatte. „Ich soll etliche Menschenleben auf dem Gewissen haben? Wohl zumindest im Krieg und als Soldat. Ein weites Feld. In dichte Nebelschleier gehüllt!“, besänftigte er seine Bedrängnis etwas poetisch.
Er sah im Vorübergehen auf die Männer, die Kabel aus der Stromleitung zogen.
Dann blickte er wieder auf sich: „Wie konnte ich nur die ganze Zeit diesen Wust von quälenden Gefühlen um die Familie handhaben?“, ging es in ihm um. „Habe ich eigentlich Hedwig verlassen? Oder haben uns nicht doch vielmehr die Umstände getrennt? – Freilich, das ist genau mein Instrument gewesen, einem offenen Bekennen aus dem Weg zu gehen. Mich der Bürde zu entledigen, indem ich sie weggeschoben und womöglich anderen aufgeladen habe. Am besten den Anderen oder gar entpersönlicht, gleichsam entleibt, nämlich den Umständen zugeschrieben habe.“ Gandauer entfuhren Laute wie ein Kichern. Denn es sei ein Trugschluss, hatte er sofort erkannt, dass die Umstände seine Lasten hätten aufnehmen können. Die Geräusche von eben wollte er seinem amtlichen Begleiter gegenüber entschuldigend begründen. „Ja nicht komisch wirken!“, warnte er sich. Er wies daher auf den Arbeiter, der beim Strippenziehen beinahe von der Staffelei gestürzt sei.
Durch die bekannten, jetzt bald vertrauten Gänge führte der Weg weiter über Stiegen, durch Flure.
„Warum habe ich Hedwig und die Kinder nie wirklich gesucht? Nachdem ich aus Breslau abhauen konnte mit dem anderen Namen. – Natürlich musste diese Frage wieder kommen!“, ärgerte er sich und hatte sich auch gleich wie immer darin verfangen: „Nachdem sich meine Verhältnisse stabilisiert hatten und ich eine gesicherte Stellung im Amt in dieser Gegend am Ende der Welt hatte. Dort hinten im Bayerischen Wald. Warum habe ich auch dann noch nicht gesucht, nachdem in diesem neu entstandenen Staat Bundesrepublik die Vergangenheit immer weiter in bloßem Wortschwall vertont war. Es wäre bestimmt möglich gewesen, Hedwig zu finden und sogar mit ihr unter dem neuen Namen Gandauer eine Ehe einzugehen. Wie oft habe ich mir das denn bereits zurechtgesponnen? In verwegenen Augenblicken tauchte mir auf, mit ihr in gleichsam wilder Ehe zusammenzuleben. Damit wir die Rente für den lebendigen Leichnam Odtke behalten hätten können. Denn eigentlich bin ich ganz offiziell mausetot!“
Er hätte sich also mittels Betrugs an dem neuen Staat rächen können, überkam es Gandauer tatsächlich auch noch. Das bereute er jedoch sofort als gaunerhaft und mit der Einsicht versehen, dass den Menschen schon viel zu viel zugemutet worden war.
Gandauer ließ sich in seiner Zelle auf dem Bett nieder.
Sehr geehrter Herr Gandauer,
hier nun mein Schreiben mit meinen ersten Eindrücken. Wie ich es Ihnen in unserem Gespräch vorgeschlagen hatte.
Die Vermittlung zu der Problemgruppe kam, wie neulich angedeutet, auf die Fürsprache eines Mädchens zustande. Dieses hatte ich zufällig getroffen, und zwar anlässlich ihres amtlich bestimmten und befristeten Arbeitseinsatzes in unserem Seniorenheim.
Diese Neos, wie ich sie nennen will, ... Sie verzeihen bitte, gerade beim Schreiben fällt mir auf, dass diese Wortwahl zu harmlos ist und im Übrigen auf das Neue schlechthin weisen könnte. Dagegen handelt es sich doch bestimmt um etwas sehr Altbackenes. Ich ändere also auf NeoNS, das scheint mir treffender zu sein. Also, diese Neons, die ich traf, haben mich in ihrem Rudel geduldet. Ich fühlte jedoch sofort, dass ich da nicht gleich ganz vor Anker gehen konnte. Denn die sonst so bullig tapfer erscheinen wollenden, eingebildeten Kämpfernaturen sind im Grunde Angsthasen (was durch ihr zwanghaftes Bedürfnis angezeigt ist, immer in Rudeln aufzutreten):
In dem Hinterzimmer einer Spelunke auf dem Land fand das Treffen statt. Meine Gesprächspartner waren auch etwa in der bekannten Maske ihrer Bande erschienen. Nämlich weiß geschnürte Springerstiefel, Bomberjacken, Kürzestfrisuren mit kahlen Nacken usw.
Das Gespräch war eher eine Art Verhör. Ich glaube sogar, ein Aufnahmegerät zum Mitschnitt in der Jacke eines Teilnehmers bemerkt zu haben. Schließlich kamen sie damit heraus, dass ich mich in ihrer Umgebung aufhalten dürfe. Zum Mitmachen müsse ich erst Qualifikation erwerben. Das klang gnädig, als müsste ich dafür dankbar sein. Mir wurde das Aufnahmeprozedere dargelegt, das so aussieht: Sie bedienten sich keines schriftlichen Aufnahmeantrags – ein angewidertes Igitt war da richtig rauszuhören gewesen; sie betrieben keine bürokratische Personalienerfassung – was mit einem symbolischen Ausspucken abgepunktet worden war. Die eigentliche Aufnahme erfolge per Handschlag, wie unter richtigen Männern eben üblich („Wie beim Viehhandel“, verkniff ich mir allerdings). Zunächst sei ich Eleve. Ich konnte mich nicht enthalten, ihnen ihren fremdwortlichen Eleven als Lehrling, Anwärter oder Knappe zu verdeutschen.
Gut, entgegnete mir der Wortführer. Wir hätten auch die verdammte Pflicht, die deutsche Sprache von Fremdelementen zu reinigen. Damit sie nicht verwahrlose wie weite Teile der Volksgemeinschaft, die er sich ob ihrer nicht nur gesinnungsmäßigen, sondern mittlerweile auch erbgutmäßigen Verkommen- bzw. Vermischtheit wegen gar nicht mehr als solche zu bezeichnen wage. Er sprach mir auf meine zuvor abgesetzte Sprachreinigung hin einen Pluspunkt zu – den ich ihm flugs wieder zu einer Kerbe in meiner sinnbildlichen Verdienstelatte verdeutschte. Was mir dann tatsächlich zusätzlich Pluspunkte eingetragen haben mochte, wie ich den positiv zu wertenden Brummellauten der mich umgebenden Gesprächslauscher entnehmen zu können glaubte.
Jeder solle sich der sprachlichen Säuberung annehmen. Ich könne mich gerne daran beteiligen, und zwar dank meiner eben ausgewiesenen ... – Kompetenz lag sichtlich schon auf seiner Zunge, er brachte stattdessen „Zuständigkeit“ heraus. Ich könne also schon einmal damit rechnen, mit dieser Ausputzertätigkeit betraut zu werden.
Am Ende erfolgte noch der Hinweis, dass eben Abgelaufenes samt Inhalt nach alter Sitte dem Mannesschweigen unterliege. Es würde ihnen jedenfalls ein Anliegen sein, mich bei Undichtheit etwas zusammenfallen lassen zu müssen.
Nun, wir werden sehen, wie es sich entwickelt. Wenn Sie gestatten, berichte ich Ihnen darüber.
Mit freundlichen Grüßen, Ihr
Frank
„Kenne ich das eigentlich? Das Abendbrot, ich als Piscator, im Zauber der sinkenden Sonne genießend. Das Frühstück in der Verheißung – noch praller formuliert, aber sei’s drum – in der strahlenden Verheißung des Morgens, wenn sich die zarten Schleier Dunstes – die zarten Schleier der Morgennebel heben, zelebrieren.
So eine Weihe. Damit gelangte hinter alle Dinge des Tages, etwas wie eine, nämlich deine geheime Kraft. Wie etwa eine dir verliehene Gabe. Oh ja, geheime Kraft im Betreiben der Dinge. Wäre nicht schlecht. Vielleicht gar nicht solo, sondern mit Segnung und Handauflegung. Ein geweihter, weihender Typ als Hexenmeister.
Dann auch wieder die Wirklichkeit!
Ich kann auch mal so daran vorbeispinnen. Vielleicht versetzt es mich in einen Rauschzustand, den ich mir schließlich als Optimismus genehmige.
Wie viele Gesichter, besser, da erhabener: Antlitze doch das Glück hat! In welches davon habe ich denn bereits geblickt?
Da kann ich hier in meiner Absteige doch froh sein. Hier im fünften Stock bekommst du immerhin ein ganz eigenartiges Abendgefühl. So etwas, wie es die in ihren parterren Häuschen gar nicht kriegen. Vielleicht musst du da weitersülzen. Deine ganze die Seele aufladende Gewalt. Immer diese Seelenmeilenstiefel. Und ich beteuere dir, dass eine solche Erkenntnis wie die durch das Abendlicht sonst nur mittels mehrerer Räusche zu erzielen sei. Deswegen sind die Leute dauernd so besoffen. Wegen ihrer Seele. Diesem möglicherweise sogar auch noch tatsächlich vorhandenen Hauch. Und dem vielgesichtigen Glück.“
Piscator legte eine Pause ein, in welcher er einen tiefen Schluck aus einer seiner Schnapsflaschen nahm – und in der er eine Vorstellung von Seele zu gewinnen suchte. Diese wollte sich ihm jetzt – nach etlichen Schlucken natürlich erst – als ein farbloses, teilweise sogar durchsichtiges Gebilde offenbaren. So etwas Ähnliches, malte er sich weiter aus, bis sie ihm ganz zu einem weißen, äußerlich wenigstens ungemein transparenten Hering – in Aspik wurde und leicht säuerlich zu sein verhieß.
Er griff sich seine Buddel und hängte sich dran. „Das macht fertig“, gab er sich zu und sackte weg. Piscator schlief nach ein paar kräftigen Schlucken ein.
Als er am Morgen mit trockener Zunge erwachte, erinnerte er sich sofort, dass er unlängst in einem Artikel in seiner Zeitung über einen städtebaulichen Versuch in Bayerns ‘Hauptstadt mit Herz’ gelesen hatte. Nämlich dass sie das Regenwasser auffingen und nutzten, dass sie das Badewasser auffingen und nutzten, dass sie lauter solche nützliche Sachen machten.
„Nichts soll mehr verschwendet werden!“, war Piscator sofort überzeugt. „In Hinblick auf die unleugbare Tatsache irgendwann zur Neige gehender Ressourcen, und zwar nicht nur des Weltganzen im Allgemeinen, sondern auch der eigenen Existenz im Besonderen. Ich bestimme, es wird alles zurückgewonnen werden, wenn das Leben unaufhaltsam und nicht wiedergewinnbar entschwindet!“
Schnell reifte der Plan, die Dachrinne anzubohren. Bei den Mengen Regens, die in dieser nassen Gegend dauernd vom Himmel fallen.
Aber wie? Er hauste zwar im fünften Stock, also gleich unterm Dach. Doch wie hinaufkommen, ohne bemerkt zu werden, auch ohne das Genick zu riskieren? Und dann das andere alles! Das viele Wie.
Piscator war in der nächsten Zeit von seinem Vorsatz und dessen Ausführung planerisch voll in Anspruch genommen. Für kaum sonst etwas hatte er Zeit. Er konnte gerade noch das unbedingt Erforderliche erledigen. Allerdings bereits das Endergebnis der Nahrungsaufnahme – wenig genug in seinem Fall, aber immerhin –, bereitete erneut Kopfzerbrechen: „Könnte ich das Zeug nicht auch recyceln? So über Pflanzen, über Grünzeug, dem immerhin Appetit darauf nachgesagt wird.“
Er schob diesen neuen Zweig seines Nachdenkens über eine moderne Überlebensstrategie noch beiseite. Er wollte erst sein Wasserproblem lösen. „Zu der Dachrinne. Eine Stange zum Hinaufkommen. Ein Rohr. Irgendwie ein Loch ins Blech kriegen? Verflixt. Ein gelernter Buchhalter!“
Er dachte nach und war bald überzeugt, dass gerade die einfachen Dinge immer einen Haken haben und sich am Ende als unlösbar zeigen. Statt eines Loches also eine Erkenntnis. Bezüglich des Flüssigkeitsproblems beschloss er schließlich, sich zunächst mit der Weiterverwendung seines Badewassers zu begnügen.
Das bescherte ihm allerdings eine neue Verlegenheit, weil ja bei ihm keine nennenswerten Mengen Badewassers anfielen. Er schnupperte an sich, unter den Achseln, gelangte zur Ansicht, dass es keine Vergeudung sei, riss sich die Wäsche vom Leib ...
Er hatte sich entspannt und war in der Wanne eingeschlafen. Wieder wach, im jetzt unangenehm kalten Wasser sitzend, schlugen die Wellen des Alltags erneut über ihm zusammen: Sollte er sich rasieren oder den Bart stehenlassen, sollte er sich die Haare etwas kürzen oder hinten zusammenbinden, sollte er ... Unter Flüchen auf die Banalitäten der Lebensbewältigung sprang er aus der Wanne, so dass ein gehöriger Schwapp herausplatschte. Aufwischen oder es sein lassen? Die Schwierigkeiten nahmen kein Ende.
Was sich da an Resignation anzubahnen schien, wurde allerdings gleich von dem Einfall überdeckt, dass er noch gar kein Grünzeug für die Verwertung seines Badewassers besaß. Dieser höherwertige Planungsgedanke rettete ihn vor den Entscheidungen im Kleinkram von vorhin. Auf diese Weise erlöst, dachte er aufzubrechen, um sich Natur zu beschaffen.
„Diese Aufregung. Nur weil da einer von einer Zunft kommt, deren Dienste ich geraume Zeit nicht mehr wirklich in Anspruch genommen habe.“ Gandauer stutzte. Er hatte sich angewöhnt, vor sich hin zu murmeln. Es war zwar so eine Art Selbstwahrnehmung, die jedoch für gewöhnlich damit abgeschlossen wurde, dass er sich einen alten Trottel nannte.
„Von den Schulmeistern mit salbungsvollen Worten ins Leben entlassen“, kramte er hervor. „Herrgott, der Erste Weltkrieg gerade vorbei. Der Kaiser weg. Niemand wusste, wie es weitergehen sollte. ‘Schöne Welt, du gingst in Fransen ...’, sang man. Ausgediente Leutnante geisterten umher und knallten Sozialisten ab: den Eisner in München, die Luxemburg in Berlin. Die wackelige Demokratie, der von den Generälen der verlorene Krieg mit der ‘Dolchstoßlegende’ angedichtet wurde ...“
Gandauer schaute in seinem Raum umher, um zu prüfen, ob alles in Ordnung war.
„Familiärer Kaffeeklatsch damals, bei dem eigentlich nur noch das Geschirr an dieses Getränk erinnerte. Wie auch in Tante Amalies Gesprächsvorrat der entfernte Kaiserglanz noch glitzerte. – Warum sollten die Menschen auch aufblicken, wenn es da oben kein bisschen mehr funkelte? Zu dem Sozi vorne dran etwa, diesem Ebert? Danach schon eher zu dem, wenn auch reichlich verknöcherten Hindenburg. Der war den Leuten wohltuend unpolitisch, hatte nach eigenem Bekunden außer der Bibel und der Heeresdienstordnung noch nie ein Buch gelesen. Dafür verkörperte er ferne Glorie und hatte den Sieg bei Tannenberg in der Tasche, für den er allerdings auf Ludendorffs Schlachtenplan lediglich die Unterschrift gegeben hatte. Die Leute hatten von Politik die Nase voll in dem Pleitedurcheinander. Und überhaupt, woran sollte einer noch glauben?“
Gandauer zupfte an der Bettdecke und streifte die Falten heraus.
„Der guten Mutter zuliebe noch etliche Jahre ein Kirchgänger. Ordentlich war anständig frisiert und regelmäßig in der Kirche. Wessen Gottglaube überlebt allerdings die Kindheit? Das bisschen Verstand, das einer zu haben meint, das will das Mutmaßliche verdrängen, gerade wenn es auf den Himmel zielt. Die Überzeugung genügt einem im Lebenskampf, ein hinreichend guter Mensch zu sein: nämlich niemanden umgebracht oder beraubt zu haben. Dann abgedriftet und ausgewandert aus der Kirche. – Ach so, niemanden umgebracht?“, durchfuhr es ihn.
Gandauer spülte noch einmal das Waschbecken und rieb es mit dem Handtuch trocken.
„Das Anständigsein ist für den ordentlichen Bürger Religion genug. Das Gewissen goutiert das auch. Es ist immerhin auch schwer genug, redlich zu sein. Und es zu bleiben. Geistiges Ringen? Es muss im Innern bleiben. Deutsche Innerlichkeit ist auch Religion – gewesen?“
Gandauer blieb kurz vor dem Spiegel stehen und bewegte sich dann weiter im Raum von der Tür zum Fenster und immer zurück.
„Dieser junge Mensch, dieser Pfarrer Suiter. Der ist doch wohl noch nicht lange Priester.“
Gandauer nahm jetzt erst wahr, dass sein rechter Schuh knarrte. Er blieb stehen, um nur mit diesem Fuß das Geräusch zu erzeugen. Kleine Kniebeugen wurden daraus. Da durchfuhr es ihn: „Nach dem großen Zusammenbruch, dem Platzen deiner Seifenblasen, Odtke, altes Haus, nachdem du in die Hülle des Gandauer geschlüpft und getürmt warst. Mensch, mein Salto rückwärts: So was wie schlichte Bürgerlichkeit übergestülpt – und auch in der Kirche tätig geworden, als Messner Gandauer. Habe ich das Leck in mir mit einem Glauben an etwas Überirdisches richtig zugestopft? Durch das mir das Irdische rauszusabbern drohte? Durch die immer Wogen glättende Gewohnheit ist immerhin aus diesem zunächst nicht greifbaren Irgendwas ein einigermaßen konkretes Etwas geworden, das sogar ein wenig Konturen bekam. Ich hatte mich mit Recht davon abgemeldet, mein Dasein nur mit dem Hirn ordnen zu wollen!“, versuchte er sich zu rechtfertigen. „So hat meine Existenz nach diesem schrecklichen Beben wieder einen ruhigen Platz bekommen. Soll ich das nun verrücken! Nein, nicht am Ende verrückt sein!“
Er schritt auf den Tisch zu und wollte sich etwas zum Lesen nehmen.
„Was anderes tun, bis dieser Himmelsbote kommt! Sich den Genuss einer unvoreingenommenen Begegnung gönnen. Lesen. Die Festschrift zum dreiviertel Jahrhundert Justizvollzugsanstalt Landsberg. Auf die mich Bergner, dieser sonderbare Heilige, noch mal hingewiesen hatte. Was treibt den eigentlich um? Also her damit. Seite fünfzehn soll ich lesen, hat Bergner gesagt! ... drei Gruppen von Kriegsverbrechern: Was denn? Gleich drei Gruppen hatten die Amis unter ihrer menschlichen Beute gebildet? Also: Die führenden Vertreter des Staates; weiter: Das KZ-Personal; weiter: Besonders belastete Soldaten ... SS vermutlich!
Na ja, interessant! Was? Wo würden sie mich eingeordnet haben?
Der Galgen im Kirchhof ... etwa dreihundert Hinrichtungen ...
Dieses peinliche Zählen immer! Diese Strichellisten der Geschichte!
... Die Menschlichkeit der Amerikaner ...
Dankbarkeit des Schreibers: Die Amis hatten einen Speisesaal errichtet. – Sie haben auch mal Urteile wegen deren Fragwürdigkeit nicht vollstreckt, heißt es ...“
Gandauer warf das Heft auf den Tisch.
„Warum will dieser Bergner, dass ich das lese? Natürlich sind die Amis nette Jungs gewesen. Die sogar den Verpflegungssatz auf drei Mark erhöht hatten, steht da. Aber das will mir doch Bergner nicht etwa nahebringen! Der gehört doch, nach seinen Bemerkungen jedenfalls, zu denen, die heute wieder mit dem Feuer spielen. Womöglich mit unserem Feuer? Alle dachten doch, es sei erloschen!
Die Spatzen am Fenster. Tschip, tschip, komm, komm! – Idiotisch, das mit diesem Geflügel! Die Zelle aufräumen. Decke noch mal zusammenlegen. Den Tisch abwischen. Ordnung war immer auch Rettung.“
Gandauer werkte und merkte gar nicht, dass jemand eingetreten war.
„Herr Gandauer, grüß Gott!“
Gandauer fuhr von seiner Arbeit auf. „Ach, sieh an!“ Er verbeugte sich zu seinem Gast hin. „Ich erlaube mir, den Dichter zu zitieren: Wie kommt dieser Glanz in meine Hütte?“
„Durch die Tür, Herr Gandauer!“
„Bitte Platz zu nehmen!“
„Sie machen einen etwas abgespannten Eindruck, Herr Pfarrer! Wenn sie erlauben.“
„Nennen sie mich bitte bei meinem bürgerlichen Namen!“
„Gerne. Man hat in ihrem Beruf heute viel zu tun, nicht wahr?“
„Ich klage nicht. Die Pfarre. – Ach so, ich sage ihnen gleich, dass ich hier nur Vertretung bin. Ich vertrete den Anstaltsgeistlichen. Aber zur Sache: In der Pfarre, da gibt es heute Helfer, festbesoldete, sogar richtig ausgebildete.“
„Da kann ich ein wenig mitreden“, beeilte sich Gandauer, „denn ich habe jahrelang den geistlichen Herren als Messner gedient!“
„Interessant!“ Dem jungen Hochwürden war anzumerken, dass er mit der Information nicht gleich zurechtkam. „Und trotzdem sitzt er hier ein?“, wollte Gandauer den Gesichtsausdruck seines Gegenübers interpretieren können. Der Priester nahm sein Thema wieder auf: „Wissen sie, ich habe mir da freiwillig auch noch ein paar Schulstunden reserviert. Bei jungen Erwachsenen in der Berufsschule.“
„Respekt! Ein richtiger Aktivist Gottes. – Läuft das mit den jungen Leuten gut? Die haben doch vermutlich mit Religion nicht viel am Hut – wenn sie mir diesen saloppen Ausdruck gestatten!“
„Ich bitte sie! Da müssen sie mit der Wortwahl nicht so pingelig sein. Jedenfalls bin ich nicht verwöhnt. Ich gebe mir Mühe, nicht abzuheben, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich schon zu Lebzeiten versuche, in den Himmel aufzufahren“, bekannte er schließlich. „Drum eben diese Kontakte zu jungen Menschen, die noch sagen, was sie denken – auch wenn es gelegentlich nicht gerade durchdacht ist. Ich will sie auf ihrem Weg aus der kindlichen Märchenwelt des Glaubens in ein reiferes Bemühen darum begleiten. Leider tun viele Menschen diesen Schritt nicht und betrachten allmählich alles um die Religion als einen Firlefanz um einen rauschebärtigen Himmelspapa.“
„Jetzt hätte ich ihnen beinahe Beifall geklatscht! – Trotz aller bei ihnen zu vermutenden Toleranz. Stört es sie nicht, mir an diesem Ort zu begegnen, Herr Suiter?“
„Wie hätten sie es denn gern mit der Antwort? So etwa, dass wir alle Sünder seien? Deren jeder seine Buße zu tragen hat, wie und wo sie ihm auch auferlegt wird? Oder auch bibelkarätig: Dass Gott gerade die Sünder liebt – vorausgesetzt ... Nein, damit will ich ihnen gar nicht kommen! – Ach, wissen sie was, ich schenke ihnen gleich reinen Wein ein!“
„Sozusagen Messwein!“, schmunzelte Gandauer.
„Sieh an, da spricht der Fachmann!“, freute sich Suiter. „Also wieder zu meinem reinen Wein: Ich komme zu ihnen, weil ich an ihrer Generation interessiert bin. – Sie sind erstaunt? Wissen sie, es ist so viel von all dem zu hören, was damals geschah. Da wollte ich es mir nicht entgehen lassen, jemanden aus der viel besprochenen Zeit zu kontaktieren.“
„Also ein geistlicher Fossiliensammler! – Ich hätte fast unter meiner Gänsehaut – meiner seelischen, versteht sich – hervorlachen müssen. Ich dachte da an den verbreiteten Vergangenheitstourismus! Ein toller Begriff, nicht wahr?“
„Herr Gandauer, das tut mir leid. Bitte entschuldigen sie meine törichte Äußerung!“
„Aber, aber, sie müssen doch nicht in Reue fallen, Herr Pfarrer! – Doch zum Stichwort Reue. Da sage ich ihnen etwas, und ich sage es ihnen geradezu aus einer inneren Heiterkeit heraus. Es ist eine uralte Sehnsucht der Menschen, mit Reue, Sühne und Vergebung sich des belastenden Teils der eigenen Geschichte zu entledigen. Doch es ist ein Irrtum. Es gelingt nie. Denn Geschichte ist immer unwandelbare Tatsache.“
„Ihre, wie sie sagen, innere Heiterkeit ist erfreulich. Sie führt zum Lachen über sich selber. Das hat für mich immer etwas geradezu Unantastbares. Es geht da stets um eine, möchte ich schon sagen, urige Wahrheit, die dem Einsichtigen gegönnt sei. Nur – Verzeihung! – wenn ich ihre Heiterkeit und besonders das von mir zitierte Lachen kommentieren darf. Wenn sie gestatten, unter Einsatz meines beruflich geformten sprachlichen Handwerkszeugs: Dieses Lachen ist wohl nur bei der Begegnung mit lässlichen, also leichten Sünden angesagt. – Sie verzeihen!“
„Vergeben!“
„Herr Gandauer, ich muss protestieren!“, lächelte Suiter. „Mit der Verwendung des Begriffs Vergebung schlüpfen sie in meine Soutane!“
„Die sie erfreulicherweise gar nicht tragen!“
Sie nickten sich freundlich zu. Suiter blickte nach einer Weile auf die Uhr: „Verzeihen sie, ich sehe gerade, dass ich gehen muss. Die nächste Pflicht ruft!“
„Na, wie geht es uns denn heute?“, tönte Sterzinger wie im alten Krankenhausjargon.
„Nun, den Umständen entsprechend“, spielte Gandauer einen Kränkelnden.
Sie reichten sich die Hand. Ob er denn auch rauche, wollte Sterzinger von Gandauer wissen und hielt ihm seine Zigarillos hin. Gandauer wehrte dankend ab. Er habe früher geraucht, sonntags nach dem Essen die gutbürgerliche Zigarre. Ein Ritual sei es gewesen, von der Frau nachgerade erwartet. Das Rauchen als Zeichen der Zufriedenheit. Hie und da mit dem abgewandelten Luther-Spruch: Warum rauchet und qualmet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmecket?
„Sieh’ da, ihre Frau!“, war Sterzinger hellhörig geworden. „Ja, so! Sie waren ja verheiratet!“
„Steht doch möglicherweise in meinen Personalien“, wich Gandauer aus. Sterzinger hatte aber eine Spur in der ihm noch nahezu rätselhaften Biografie Gandauers gewittert. Er entschuldigte sich geschraubt, dass er Gandauer keinesfalls eine Ehe einreden wolle. „O nein, ich habe doch vor kurzem die meine erst erfolgreich hinter mich gebracht!“ Dann fuhr er fort: „Sie müssen zugeben, dass damit, vorausgesetzt, sie waren wirklich verheiratet, ein weißer Fleck in ihrer Biografie, angedeutet ist!“
„Ich werde kein Spiel mit ihnen treiben. Und ich werde ihre Zeit keinesfalls über die Maßen mit Beschlag belegen!“, hob Gandauer geradezu feierlich an. „Aber ich muss sie doch bitten, ein Einsehen mit mir zu haben und Verständnis dafür aufzubringen, dass ich ihnen keine Offenbarung in vielleicht sogar professionell knapper, aktenverwertbarer Form liefern kann. Selbst wenn sie eine solche aufgrund meiner ihnen immerhin bekannten ehemaligen Tätigkeit als die eines Amtsmenschen durchaus erwarten könnten.“
„So eine breit ausgefahrene Präambel“, ärgerte sich Sterzinger still, „was wird da wohl kommen?“ Er lehnte sich zurück und wartete. Er erhoffte sich eine umfangreichere Erklärung, hatte einen Zigarillo in Brand gesetzt und betrachtete noch, wie das Flämmchen das Streichholz verzehrte. „Der gute Alte“, ging ihm durch den Kopf, „hat was zu verbergen, vielleicht lässt er es doch endlich raus“. Gandauer hingegen unternahm nichts mehr, was der Erwartung seines Gegenübers entsprochen hätte.
Es dauerte nicht lange, da schreckte Sterzinger auf und blickte Gandauer fragend an. Der saß ungerührt da. Als sich ihre Blicke begegneten, bemerkte Sterzinger die jetzt kalt wirkenden blauen Augen des alten Mannes. Er wandte sich ab und begann, in seinem Aktenbündel zu kramen, hie und da an einem Dokument zu verweilen, um es anzulesen.
Gandauer wusste, dass er Sterzinger enttäuscht hatte. Er war jedoch überzeugt, dass die Zeit noch nicht gekommen sei, sein Problem mit der Identität offen darzustellen. „Ich muss den Peters erst wieder für mich aufbauen, erst wieder heranholen und dienstbar machen. Mein Peters, der muss seine Rolle erst begriffen haben. Ich muss die Puppen noch mal tanzen lassen – in einem Stück, das noch gar nicht ganz geschrieben ist.“
Sterzinger hatte das Herumblättern in der Akte eingestellt. Er schien einem Gedanken nachzugehen. Er hatte vergessen, an seinem Zigarillo zu saugen, so dass das braune Stäbchen zwischen seinen dicken, kurzen Fingern allmählich verglimmt war. Er fixierte sein Gegenüber. „Eiskalte Burschen, diese alten Nazis!“, überfiel ihn.
Gandauer sah Sterzinger die Frustration an. Es war ihm unangenehm. Er wollte beschwichtigen, indem er ihm erklärte, dass niemandes wirkliches Leben ganz in Worte zu fassen sei. Dass nämlich jeder niedergeschriebene Lebenslauf im Grunde nur als ein offener Rahmen zu begreifen sei, in dem ein dauernd wandelbares Bild zu hängen komme. Das sei fast so wie beim Bildschirm des Fernsehens, meinte er, wo alles nur so dahinflimmere. Dass sich das Leben für einen jeden immer als ein Sammelsurium letztlich unfassbarer, da ausschließlich unfertiger Geschichten zeige. Lebensläufe, das seien doch nur so kunterbunte Geschichten, deren Ende kein Betroffener selber erlebe ...
Sterzinger warf seinen Stummel weg. „Um Gottes willen, hören sie auf!“, schrie er mit überschnappender Stimme und rang verzweifelt die Hände. „Verschonen sie mich gefälligst mit derlei verschrobenem Geschwafel! Ich bin doch nicht hier, um mir solche absonderlichen Schnurren anzuhören!“
„Ich bedauere!“, versuchte ihn Gandauer zu beruhigen.
„Wir sollten sehr bald zur Sache kommen!“, war Sterzinger noch in Fahrt, „denn ich muss mich schließlich vorbereiten, wenn ich effizient für sie tätig werden soll. Es sei denn, sie wünschen sich ausschließlich die Version meines Kontrahenten, des Anklägers. Ich glaube allerdings, sie spielen Verstecken mit mir! Worauf ich mir keinen Reim zu machen willens und aus zeitlichen Gründen auch gar nicht in der Lage bin!“ Er fuchtelte noch mit den Armen, suchte nach Worten. Da er offenbar keine passenden Formulierungen mehr fand, begann er, wieder in seinen Papieren zu blättern. Es schien ihn ein wenig zu beruhigen, dass er in diesem Bündel von zwar weitgehend Gemutmaßtem, doch immerhin Fixiertem kramen konnte. „Was immer ihre Taktik auch sein mag“, fuhr er dann doch fort, „ich muss sie kennen! Ich bin zu jedem Abstrich an meiner Vorstellung bereit. Doch dafür ist Absprache erforderlich. Wenn sie etwas Besonderes vorhaben, ablaufen darf das nur nach Regieanweisung, die, bitte schön, nur von mir kommen kann. Der fachlichen, bitte schön, juristischen Kompetenz wegen!“ Sterzinger lehnte sich erschöpft zurück. Die Lehne des Stuhls ächzte unter dem Druck des massigen Körpers.
Dann herrschte wieder Schweigen. Ratlosigkeit. Sie sahen den grauen Hechten zu, die von dem Zigarillo noch im Zimmer standen und als staubdurchflirrte Wölkchen im schräg einfallenden Sonnenlicht schwebten. Die noch deutlich erkennbaren Konturen verschoben sich allmählich in der kaum merklichen Bewegung der Luft, stiegen empor und lösten sich auf.
Gandauer entschuldigte sich dann noch einmal. Er betonte, dass es ihm leidtäte, wenn er noch nichts dazu beitragen könne, die Sache voranzubringen. Sterzinger ging nicht darauf ein, schien immer noch geladen: „Das mit dem Leben da vorhin, mein Herr, diese ob ihrer Tollheit bald literarisch zu nennende Ausfertigung von der Unfertigkeit der ... Was denn? ... der Geschichten und derlei ... Leben!“ Er fuchtelte erregt mit der Hand. „Das können sie sich schenken! Diesen Gemeinplatz! Das ist für unseren Zweck wenig dienlich! In der Justiz geht es nicht um Geschichten, um Schnickschnack mit poetischen Girlanden! O nein, da geht es um Leben als solches. Und ich sage ihnen, das wird nachgezeichnet mit glasklaren, manchmal schmerzlich harten, ja schneidenden Konturen. Da hat sich am Ende schon so mancher so zu sehen bekommen, dass er sich nicht wiedererkannte!“ Er musste verschnaufen, da er mit seinen Worten in Tempo geraten war, auch schien es, als hätte er dem hektisch Hergesagten selber noch nachzusinnen.
Auf Gandauer machte er dann einen zusehends friedlicher werdenden Eindruck. Nach einer Weile beugte sich Sterzinger in der Richtung Gandauers über den Tisch: „Das mit dem Leben da, das können sie sich für einen Literaturzirkel an der Volkshochschule aufsparen. Oder sie können das als Thema in eine Selbstfindungsgruppe einbringen!“ Er lachte fett. Plötzlich hielt er inne. „Ich weiß nicht – auch das weiß ich nicht von ihnen“, polterte er und starrte Gandauer an, „ob – und wenn ja, wie oft sie schon vor Gericht gestanden haben, wie viel Erfahrung sie diesbezüglich besitzen. Von wegen hier: Lebensgeschichte, deren Ende keiner kennt oder erlebt! Ich kann ihnen versichern, dass die Damen und Herren von der anderen Seite des Tisches durchaus die Angewohnheit haben, sich die Lebensgeschichte ihrer Kunden, die ihnen immer Tatgeschichte ist, fertig darstellen zu lassen.“ Sterzinger trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und nickte dazu mit dem Kopf. „Oder sie, die Damen und Herren in Robe, konstruieren ihnen eine Geschichte aus Fakten, aus Indizien, mein Guter! Mit ihrem ganzen Unrat, den sie ihnen unter dem Teppich hervorholen. Da finden sie sich dann mitunter in einem Leben wieder, das dann als ihr Leben bezeichnet wird, das ihnen aber nicht unbedingt als bekannt erscheinen will. Weil sie sich immer davor gedrückt haben, diese Wirklichkeit zu sehen!“
Diese Worte klangen eine Weile in beiden nach. Ihr Urheber schien selber überrascht, in so eine Grundsatzerklärung geraten zu sein.
„Ich bin ja bereit, mir ihre Mahnung zu Herzen zu nehmen“, kam von Gandauer dann. „Ich frage mich jedoch, wer denn schon gewiss wisse, wer er wirklich ist. Also, für mich trifft das seit Mitte der Vierzigerjahre im besonderen Maße zu, verrate ich ihnen. Ich bin fast versucht zu behaupten, es käme mir auf eine weitere, nun vom Gericht übergestülpte Wirklichkeit gar nicht mehr an. Sehen wir tatsächlich zu, dass wir vorankommen!“, schlug Gandauer vor, als er sah, dass sein Gegenüber bereits wieder Luft tankte, um erneut zu einer Philippika anzusetzen. „Ich versichere, ihnen in meinen Lebenslauf den erforderlichen Einblick zu gewähren. Ich habe allerdings eine dringende Bitte. Und im Laufe von deren Erfüllung wird ihnen das von ihnen vermutlich erwartete Material von mir zugänglich sein!“
„Sie verklausulieren Bedingungen!“, protestierte Sterzinger.
Gandauer fasste sich ein Herz: „Es ist harmlos, denn ich bitte sie nur, Briefe an einen früheren Freund zu expedieren. Schreiben, in denen auch für sie als Anwalt Botschaften enthalten sind. – Bitte, ich will sie nicht etwa zum Laufburschen degradieren!“
„Grotesk! Ich vermittle Kassiber, mache mich womöglich schuldig!“, entrüstete sich der Anwalt und begann, seine Schriftstücke verärgert in den Aktenkoffer zu werfen.
„Entschuldigen sie! Den Inhalt meiner Schreiben kann getrost auch die Anstaltsleitung erfahren.“
„Dann besorgen sie die Briefe doch gleich selber! Paragraf 28 und folgende des Strafvollzugsgesetzes: Der Briefverkehr ist uneingeschränkt erlaubt ...“
„Sehen sie, Herr Sterzinger, genau das ist der wunde Punkt! Im Augenblick bin ich wohl bezüglich meiner Hausnummer etwas indisponiert, finden sie nicht auch? Was glauben sie denn, was für ein durch und durch anständiger und unbescholtener und honoriger und selbstverständlich sein Ansehen stets wahrender Zeitgenosse mein Adressat ist? Stellen sie sich vor, der Postbote brächte dem Herren eines Tages einen Brief mit hiesigem Absender. Mein Freund würde doch vor Scham im Boden versinken, sein altes Herz käme vielleicht augenblicklich zum Stillstand, wenn ich ihm zumutete, aus einem Zuchthaus Post entgegenzunehmen!“
„Ich hole sie eilends hier heraus!“, griff Sterzinger die Einlassung seines Mandanten fast dankbar auf und setzte nach, dass Gandauer in kürzester Zeit via Haftverschonung umziehen könne. „Allerdings hat es direkt den Anschein, als wollten sie jeglichen Erfolg untergraben. Als hielten sie das Prozedere, was immerhin Fortgang bedeutet, mit Wonne an“, klagte er kopfschüttelnd.
„Erfolg ist das Täglich Brot der Idioten, um das sie beten“, kam von Gandauer, kaum vernehmbar. Obwohl er den nur mühsam unterdrückten Zorn bei Sterzinger bemerkte, fuhr er laut fort: „Es bedauere außerordentlich, sie sogar um einen weiteren Gefallen bitten zu müssen. Seien sie nämlich so freundlich und versenden sie die Briefe nicht von ihrer Kanzlei, sondern von ihrer Privatadresse. Und zwar aus besagter Rücksicht.“
Sterzinger nahm die Schreiben in einer Mischung aus Widerwillen und Ratlosigkeit entgegen. Er wollte sich verabschieden, ohne noch einmal auf die Zumutung einzugehen. Gandauer meinte allerdings, dass sie doch vielleicht noch ein wenig Zeit hätten. „Lesen sie doch bitte das obenauf liegende Schreiben!“ Sichtbar abgeneigt, befolgte Sterzinger die Aufforderung:
Er fiel im Glauben an den Sieg.
Trauerfeier der Parteikanzlei für den gefallenen Hauptbereichsleiter der NSDAP Ernst Odtke.
„Unsere Herzen und unseren Geist aber bricht der feindliche Terror nie!“ Mit diesem Gelöbnis und in der Gewissheit, dass sein bedingungsloser Glaube und sein vorbildliches Kämpfertum die stolze Erfüllung finden werden, nahm am Montag die Bewegung in einer Trauerfeier der Parteikanzlei Abschied von einem der ältesten Nationalsozialisten unseres Gaues und fanatischen Gefolgsmann des Führers, dem Reichsamtsleiter Parteigenossen Ernst Odtke, Hauptbereichsleiter der NSDAP, der einem feindlichen Terrorangriff zum Opfer fiel. Selbst Schlesier, kämpfte er für unseren Gau, zuletzt als Gauschulungsleiter und Kreisleiter in Breslau-Stadt, bis ihn ein ehrenvoller Auftrag in die Parteikanzlei rief. Mit dem stellvertretenden Gauleiter des Gaues Oberschlesien, Metzner, hatten sich in dem Breslauer Feierraum, der Ernst Odtke unter den gleichen Fahnen und Standarten, die er in Schlesien aufpflanzen half, so oft im Dienst für die Bewegung sah, seine alten schlesischen Kampfkameraden um die von Oberdienstleiter Walkenhorst als Vertreter des Reichsleiters geleiteten Angehörigen versammelt, und die zahlreichen Kranzspenden ...
Sterzing legte das Blatt weg. „Was ist denn das?“, fragte er erstaunt und erhielt zur Antwort, dass es sich dabei um einen Nachruf handle, den er, Gandauer, wegen des schlechten Zustands des Originals einmal abgeschrieben und stets mitgeführt habe. Sterzinger solle den Text in Ruhe studieren, denn er gebe Auskunft.
„Zumindest bekomme ich Einblick in den Phrasenwust der Beerdigungsindustrie der Endzeit ihrer tollen Jahre, Herr Gandauer. – Entschuldigung, ich muss jetzt wirklich gehen!“
Wieder in seiner Zelle, atmete Gandauer auf. „Nicht einfach“, bestätigte er sich. „Auch für den guten Sterzinger nicht. Irgendwann werde ich ihn bedauern müssen.“
Er hatte sich auf der Bettkante niedergelassen und begann sich auszumalen, wie Peters auf die Briefe reagieren würde. Er rückte weiter aufs Bett und lehnte sich lässig an die Wand. „Ich kann und will dir, guter Peters, eine gewisse Ratlosigkeit über die Existenz eines Gandauer nicht ersparen. Denn du hast dir, auch mit meiner Hilfe, in deinem Leben selber so viel erspart, Peters. Dass ich dir das hier ruhig zumuten darf in deiner Ausgeruhtheit und deiner Unangefochtenheit. Du Bürger, du überbürgerlicher! – Peters, rate mal, wer ich bin?“, fragte er laut ins Leere und begann, Pläne über den Fortgang seiner Briefaktion zu schmieden. „Du Trittbrettfahrer!“, giftete er. „Ich bestimme dich dazu, meine Rückverwandlung in die dir bekannte Figur Odtke mitzuerleben, zu begleiten, sogar zu flankieren! Du wirst der Zeuge meiner Auferstehung sein! Du Subjekt aus der Masse unpolitischer Idioten aller Zeiten. – Ihr ekelhaften Nutznießer alle! Was habt ihr denn immer dennoch im Anus der Politik zu suchen? – Was hat es in meinem Deutschland, liebem Vaterland immer so gestunken, wenn eine Zeitenwende sich ergab und ihr euren rektalen Aufenthaltsort verlassen musstet! Deutschland, übelriechend Vaterland!“ Das hatte Gandauer so erregt, dass innehalten musste nach diesem Erguss. „Springe nicht so um, Alter, mit deinem Deutschland! Das hat immerhin in dem Jahrhundert schon viel geleistet mit zwei Weltkriegen und gut drei Gesinnungswenden und der jeweiligen Aufräumarbeit“, setzte er zornig hinzu.
„Wenn mich jemand so vor mich hinreden hörte!“, warnte er sich. „Beruhige dich, Alter!“
Er schreckte auf: Cziflic stand plötzlich in der Zelle: „Tag, wie steht’s denn? Der Anwalt dag’wesen? Läuft’s?“
„He, was wollen sie denn hier?“, war Gandauer ärgerlich. „Schleicht sich hier leise rein!“
„Wollt’ nur mal seh’n.“
„Ich bin mit Zeltnik verabredet, auf Wiedersehen!“
„Vor dem Zeltnik tät ich aufpassn. Der weiß alles. – Glaubt er wenigstens!“
„Was soll er denn wissen?“, fragte Gandauer, nun doch interessiert.
Cziflic legte die Stirn bedeutungsvoll in Falten und raunte: „Irgendwie unheimlich, der Mensch. Eine feige Sau. Macht nirgends mit und hat doch überall seine Ohren dran und die Finger drin.“ Dann fuhr er lauter fort: „Weißt du, wann ich ei’m Angst machn will, dann zeig ich ihm das hier. So!“ Er hielt Gandauer seine große Faust unter die Nase – und Gandauer roch es säuerlich. „Aber vor dem Gnom haben sie Schiss. Ein mickriges Popel mit seine mal achtzig Pfund und laufende Meterfuffzig. Weil jeder von dem jlaubt, der weiß jede Menge, so, was hier im Bau so läuft. – He, du bist eben ganz ruhig jebliebn, als ich dir die Faust unter die Nase jehalten hab! Die meistn fahrn da vor Schiss zurück. Bist irgendwie eiskalt komisch, du. Eben einer aus der juten alten Zeit!“
„Was habe ich mit dem Geschwätz um Zeltnik zu tun?“, fragte Gandauer verärgert.
Cziflic reagierte beinahe weinerlich: „Ich weiß nicht mal ganz, was du für einer bist.“ Dann setzte er hinzu: „Was, du bistn Politischer? Ha? So nich einer von die Scheißern heute, die Kaufhäuser anzündn und Leute umlegn – so Rote Armee Fraktion! Ne! Dafür biste auch zu alt!“
„Wenn das nicht gar so blöde gewesen wäre, dann müsste ich lachen!“
Cziflic machte ein trauriges Gesicht, das Gandauer sogar ein wenig rührte. Er wollte ihm eine kleine Freude bereiten: „Wir waren auch einmal jung. Das dürfen sie mir glauben, Cziflic. Ich schwöre ihnen, dass ich auch einmal so jung war wie sie. Und wir waren junge Deutsche, mein lieber Schwan. Wir haben Breslau verteidigt. Später, nämlich als wir es verteidigen mussten. Zuerst sind wir durch Breslau und überall marschiert. Waren schneidig drauf mit Helm oben und Stiefel unten und Knarre um und haben den anderen in der Welt auf die Hucke gehauen, Cziflic. Was wir vor die Kanone gekriegt haben, das war gleich Schutt und Asche. Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt, das kam hart und echt aus unseren Kehlen. Haben wir nicht nur gegrölt, sondern standen auch drauf. Allerdings hat sie uns am Ende vor ihren Kanonen gehabt: die ganze Welt. Das musst du dir vorstellen: von außen fest umzingelt am Ende vom Iwan, vom Russen. Und die hatten nicht nur den Ruf von Wilden, von Barbaren, von verfluchten Steppenwölfen. Asiatische Horden. Krummbeinig und erbarmungslos. Das feuerte, verrate ich dir. Aus allen Rohren. Als es so weit war. Als sie uns in der Mange hatten. Von allen Seiten – links, rechts, vorne, hinten – und von oben. Es hagelte nur so Tod und Verrecken. Das schlug krachend ein. Riss tiefe Krater in die Straßen. Ließ Wände zusammenkrachen, verstanden? Aber unser Glauben an den Endsieg! Verdammt! Der stand felsenfest. Bis alles pfutschikato war, mein lieber Schollie! Die Häuser, ganze Viertel in Schutt und Asche. Peng. Knall: Erde, Steine, zerfetzte ganze Leiber oder nur Stücke davon flogen durch die Luft. Alles deutsch, das, was da flog, und arisch dazu. Auch mal ein Russe oder Pole oder anderes Geschmeiß darunter. Und das ging immer rüber aus allen Himmelsrichtungen und vom Himmel runter, dass du gemeint hast, da oben im Himmel ist jetzt die Hölle. So verflucht verdreht war das alles. Und du hast dich ins Loch verkrochen und so was wie deinen Himmel dort unten gesucht. Je tiefer, je besser. Mein lieber Freund und Kupferstecher, da schrumpfen die Einbildungen von Sieg auf das beschissene nackte Leben zusammen. Das war Horror, guter Mann, und Gänsehaut und die Angst ist stinkend aus allen Löchern gequollen, die der Mensch hat. Wir haben gebibbert, waren in unseren Kellern und Höhlen gekauert und haben kaum gewagt, den Kopf rauszutun. Schiss, gestrichen voll. Und aus der irren Kraft der Verzweiflung haben wir Wahnsinnigen doch immer wieder mal einen auf Heimat und Vaterland gemacht. Und zu unserem ewigen Führer, diesem verfluchten Geschenk der Vorsehung, haben wir um Erlösung gebetet. Und zwischendurch kindisch zur Schlesienheiligen, zu Hedwig, gestammelt. Waren aber taub, die beiden – eh ein sonderbares Gespann in unseren angstverblödeten Hirnen. Die Hosen machten wir uns voll in dieser Hölle. Die einmal unser Himmel war. Und unser Gottlein, von damals der. Das war eine Ratte. Die da in ihrem sicheren Loch in Berlin steckte. Da war alles von der guten Stimmung hin. Und das schöne Gemäuer neben uns, über uns und um uns herum, das zerbrach krachend und zerbröselte in seine kleinsten Teile. Und die schöne Welt, die ging in Brüche.“
Cziflic hatte Gandauers Erzählung gebannt verfolgt und hatte immer wieder einmal mit der Faust in die hohle Hand geschlagen.
Jetzt wollte es Gandauer sein lassen: „Das ist so, Tschiff, oder wie sie heißen. Das ist so, wie wenn sie einem die Haut stückweise abreißen und dann die Arme und Beine wegschneiden. Das zischte, knallte und donnerte aus allen Rohren und ballerte uns tödlich zu. Und wir immer zurück und blieben ja eigentlich nichts schuldig. Wenn überhaupt noch was da war zum Zurückhaun. Um uns rum alles in Schutt und Asche. Wachsende Berge von Toten und dieses zermürbende Schreien und Stöhnen der Verwundeten und das Kreischen der Verschütteten aus den Kellern, die man oft gar nicht mehr ausschaufeln konnte. Das ist der Krieg, Mensch, verdammt hurra!“
„Irre, rums!“ Cziflic schlug wieder mit der Faust in die hohle Hand: „Muss wahnsinnig spannend jewesn sein!“
„Kennen sie Breslau? Sein gotisches Rathaus? Echte Gotik, Cziflic, vom Mittelalter, wo Gotik wirklich war! Nicht wie das Nachgemachte da in München! Da haben sie in München noch über ihren Marienplatz die Rindviecher getrieben, da war Breslau schon Kultur und eine Weltstadt!“
„Ja, Breslau. Klar, das war da, wo jetzt der Pole sitzt!“
„Für heute reicht es!“, bestimmte Gandauer und ergänzte: „Ich muss jetzt zu Zeltnik. Ich habe ihm noch eine Partie Schach versprochen! Machen sie mal schön den Krieg weiter in ihrem Kopf. Dort hat es nämlich bei uns auch angefangen. Denn im Kopf spielt es sich so schön damit, dass man gar nicht mehr aufhören kann, bis man endlich wirklich drin ist.“
„Jetzt teil ich dir was mit, so aus Dank für die geile Story“, kam Cziflic beinahe verschämt heraus, „ich bin dir zugeteilt.“
„Wie denn? Von wem oder was mir zugeteilt?“, war Gandauer überrascht.
„Nun, von dieser Ratte da, weißt du nich’?“, wunderte sich Cziflic. „Von dem Zeltnik, weil einer immer Schutz braucht. Und da brauchst du den von mir! Und hat er dir seine Jeschichte erzählt? So von Kind von ‘ner Amischickse? Und Heim und so Zeug? Brauchst nich zu glaubn, das alles. Passt bloß gut rein zu den anderen Quark. Der Zeltnik is vielleicht ‘n ganz Studierter, ‘n Doktor, so ‘ner, der mitm Messerchen die Leute aufmacht. Aber zu blöde, ‘nen Nagl in die Wand zu kloppn. Aber aufn Kopf, da trifft er. Und als er mal richtig ‘n bissl zuville Koks innehatte und seine Alte ihm beim Naglkloppn verarschmeiert hat, da hat er nicht aufn Naglkopf jehaun, sondern auf ihre Birne. Und da hat er so jut jetroffn, dass se alle war und sie ihn hier ins Loch gesteckt habn. Und das is vielleicht sogar die echte Geschichte von dem Zeltnik. Aber das bleibt unter uns, sonst brauchste ‘nen Schutz vor wem andern als mich!“
Gandauer machte sich auf den Weg zu Zeltnik.
„Dass du Zivi in so was wie einem Altenheim bist, macht dich bei uns natürlich irgendwie verdächtig.“
„Dass ich ein bisschen weich und schlapp sei?“, vermutete Frank. „Nicht wahr?“
„Das hast du gesagt, aber irgendwie ...“, sie sprach nicht weiter.
„Weißt du, das kenne ich bereits“, gab Frank zu. „Fast von überallher. Da steckt vermutlich bei vielen noch die Vorstellung von Männlichkeit aus der Steinzeit im Hinterkopf und das Unverständnis dafür, dass da ein Kerl Arbeit machen will, die von den etwas Blöderen als Weiberarbeit bezeichnet wird.“
„Es war nicht einfach, dich bei uns einzuführen, darfst du mir glauben!“, klagte sie. „Und das mit der Männlichkeit steckt nicht nur irgendwem im Kopf, sage ich dir! Und von wegen Blödheit! Männer und Frauen sind gleich viel wert. Aber sie haben unterschiedliche Aufgaben, von Natur aus nämlich!“, fügte sie zornig an. Dann fuhr sie auf: „Das ist sogar bei den Katholen auch so! Die machen es ganz so! Da haben die Frauen auch ganz andere Aufgaben. Dürfen gar nicht alles, was Männer machen in der Kirche. Und die behaupten sogar, dass das der liebe Gott so will und es ihnen gesagt hat!“
„Gut, das mit der Kirche, diese Trennung, nicht wahr? Passt euch gehörig in den Kram. – Doch danke, dass du dir die Mühe gemacht und mich bei euch eingeführt hast!“, ergänzte er gereizt.
Hilda mochte das nicht gefallen haben, denn sie belehrte ihn jetzt, dass er nicht immer so überspannt tun solle. Es passe nicht zu ihnen. Damit würde er nie richtig ankommen in der Kameradschaft. Frank lehnte sich zurück und hörte sich ihre Rede an, die ihr allmählich zu einer Strafpredigt gedieh: Dass er hier unter lauter einfachen, geraden Leuten sei und in keiner überkandidelten Gymiklasse mit lauter verhätschelten Weicheiern und Schönschwätzern; dass einer bei ihnen die Weisungen der Führung im Kopf habe und dass das genüge; dass jeder sie zu befolgen habe, und zwar ohne dass sie zuerst und danach zerlabert werden.
„Okay, okay!“, pflichtete Frank um des Friedens willen bei.
Da wurde er jedoch auch noch darüber aufgeklärt, dass selbst dieses Amideutsch mit diesem schwachsinnigen Okay unerwünscht sei und er pures Deutsch reden solle. Und warum er sich nicht daran erinnere, was er neulich diesbezüglich ihnen so obergescheit aufgelegt habe.
Frank nickte, denn er musste ihr auch ein wenig zustimmen. Er hatte, während sie redete, auch einen Plan für seinen Einstieg entwickelt. „Zuerst muss ich ganz Fuß fassen“, bestimmte er sich. „Und das auch mit den sprachlichen Mitteln, die mir ja zur Verfügung stehen. Mit denen ich offenbar ankommen kann. Denn ich bin und bleibe für die der Bildungsspießer. Auch wenn es zum Kotzen sein wird: Ich muss mich wohl mit ihrem Gerede und Getue nicht nur abfinden, sondern muss unbedingt mittun“, bestärkte er sich.
Als er nun Hilda ansah und in ihre Augen blickte, die wie vorhin noch aus dem erregt flammenden Gesicht blitzten ... Da riskierte er, sich diesem sein Herz doch ziemlich erwärmenden Eindruck wenigstens ein bisschen hinzugeben. Er erschrak allerdings auch sofort wieder über diese Regung, die ihm gleich zu so etwas Großem wie einer Leidenschaft auszuwachsen drohte. Einwände stiegen in ihm auf. Er sah sich also veranlasst, sich vor sich selber zu rechtfertigen: „Es ist ganz einfach erforderlich! Etwa mir, selbst bei meinem Zukunftsplan Theologie, den anderen Teil des Menschengeschlechts auch wenigstens geringfügig mit dem Gemüt zu erschließen“, philisterte er sich vor. Er konnte sich jedoch nicht sicher sein, das wusste er allerdings auch gleich, ob sein Verstandespaket ausreichen würde, das aus dem Innersten zu bändigen, was immerhin aus dem Herzen quoll.
„Dieses Loch, Piscator. Nicht zu glauben. Wie einem die Vorstellung von so etwas zusetzen kann! Urbild Loch vielleicht sogar.
Was ich mir auch dauernd vornehme! Wasser gewinnen. Die Natur anzapfen.
Was wieder für eine Feststellung! Du denkst bereits in Häppchen. Kannst du eigentlich noch sprechen? Wenn niemand mehr zuhört. Da flockt die Sprache aus. Die Einsamkeit. Die lässt den Zusammenhalt überflüssig werden. An wen auch das Wort richten? Wenn da niemand ist als das eigene Du. Auf Geräusch reduziert. Eine Wohltat, so besehen. Es soll das Denken auch ohne die Sprache zurechtkommen. Das wollen sie herausgefunden haben. Keinen Zensor im Nacken. Keinen Rotstift in der Birne. Jetzt gehört die Spreche dir. Aushängeschild Bildung. Der ganze Kram. Wie einer seine Gedanken zu handhaben weiß. Und sich dahinter verbirgt. Der feige Hund in jedem! Vor dir kannst du dich aber nicht verstecken, Junge. Du entgehst dir nicht!
Dein mickriges Grünzeug hier überall. Ein weiter Weg bis zum Urwald. Zwischen den paar Blättern kann sich noch nichts verstecken. Warum dann wiederum manchmal auch das: Die Frage, ob du dich überhaupt noch findest. Ob du dir nicht selber doch längst abhanden bist?
Dann bist du dir eben verlorengegangen. Musst dich gar nicht mehr verstecken.
Was einem alles so durchs Hirn zuckt.
Du musst noch ein Loch machen. Vergiss das nicht! – Und dir womöglich das Genick brechen.
Mal in den Hof schaun! Wo ist der Joghurtbecher von vorhin?
Da versucht der Hausmeister zu herrschen. Der mit der offenen Hand. Die Sache da mit den Asylanten. Die er wie Ölsardinen zusammengepfercht hat. Dass sie abhaun sollen, hat er gemault – und den Lappen für deine Bude eingesteckt. Auch ein Charakterschwein kann nach außen hin ordentlich sein. Mehr ist oft auch gar nicht nötig. Klaubt alles auf. Was da an Dreck liegt. Macht ein Gesicht gegen die Fenster. Wo dahinter die verlotterten Gardinen wackeln, wenn er unten ist. Kaum ist er mit dem Zeug weg, da gehen die Fenster auf und es fliegt wieder Dreck runter.
Dieses Loch in die Dachrinne kriegen? Lebensgefahr! Warum sich zum Abkratzen bringen? Es beim Badewasser belassen. Wenn du dich nur öfter baden würdest. Ohne Seife, hast du gelesen. Noch mehr Gebüsch muss her. Pflanzen. Andere. Mit deinem Eigenwasser beginnen: Indem der Mensch immer üppiger frisst, hat seine Jauche immer mehr Power. So richtig scharfes Zeug. Also mehr futtern. Dann kommt das Grünzeug. Wenn es das abkriegt. Das muss alles fett grün werden. Wuchern. Zu den Fenstern rausquellen.
Wie viel Zeit gibst du dir dafür?
Klar. Alles geht irgendwann zu Ende. Muss nüchtern gesehn werden. Und nicht so solobesoffen.
Wird es noch zur Durchgrünung reichen?
Wenn sie dich einsacken. Geldeintreiber. Bullen ...
Wen wird dir Heldmeier alles schicken. Dieser Kanonenzubehörerzeuger. Dieser Mordwerkzeugproduzent. Dieser Tötungsgehilfe mit dem niederen Beweggrund der Bereicherung. Den sie ja alle haben. Die da mehr raffen, als sie zum Leben brauchen. Diese ganze Bereicherungsgesellschaft!
Dann sollen sie dich in deinem Urwald suchen. Grüne Hölle. Vielleicht Viehzeug einsetzen. Spinnen, Schlangen. So toll alles, dass deine Geschichte im Fernsehen kommt. In einer grünen Hölle hier im fünften Stock sollen sie herumschnüffeln. Der gesuchte Fischer. Der mit dem Tarnnamen Piscator. In seinem Urwald aufgestöbert. In seinem irren Dschungel! In einem Chaos von Sachbeschädigungen, werden sie rumposaunen.
Sie werden richtig staunen. Ihre Glotzer aufreißen. Ihre Mäuler sich ausfransen vor lauter Gekläff. Alles Botanische irre weit oben. Was einer alles kann in so einem Wohnturm. So was wie einen wild gewordenen Indoor-Garden erschaffen. Den Affen machen und von Ast zu Ast springen.
Weg vom Fenster! Wo mir nur noch mehr Chaos in der Birne wird! Fernseher an. Ferngesehen und fernhören. Ach ja, heute. Sie bereiten sich auf ihren 20. Juli vor.
Sie wollen aber den Schreinergesellen Elsner nicht aufs Podest heben. Der da die Bombe in München im Bürgerbräu eingebaut hatte. Der den Hitler und seine Wahnsinnsgeschmeiß am 8. November ‘39 hochgehen lassen wollte. Georg Elsner, der verheimlichte Widerständler. Diesen unscheinbaren Handwerker wollen sie nicht neben die Opferoffiziere stellen. Die viel länger gebraucht hatten als der Tischlergeselle. Bis bei ihnen der Groschen gefallen war. Ein geteiltes Volk, auch im Verstand zerrissen!
Der 17. den Monat davor ist bereits absolviert. Die Sache dort in der Ostzone. Mit dem Aufstand von den Bauarbeitern. Ergiebig, dieser Tag, an dem sie immer richtig üppig über Freiheit reden können. Die Brüder und Schwestern dort drüben wegen ihrer Eingesperrtheit und mangelnden Bedürfnisbefriedigung bedauern. Die kaum mal eine Banane kriegen und kein Cola haben können.
Mal sehen, ob es was anderes gibt. Einen Film herzappen.
Diese Sommersachen da. Konsumeinheit eben. Du musst fressen, was sie dir auftischen. Aber sieh an: Da gibt es was über den Eisernen Vorhang, Made in Germany. Dieser deutsche Todesstreifen. Eine tiefe Wunde. Pfähle im Fleische eines Volkes. – Aha, auch du, Piscator! Dein Seelenhering liegt auf dem deutschen Teller serviert!
Mauer, Stacheldraht. Diese Kluft. Die Rechthaberei auf beiden Seiten. Der viele Stoff für die vielen Sprecher.
Die Kamera fährt von oben diese offene Wunde ab. Eine Reizlinie: Klagemauer der Nationalschwärmer. Rampe für Politherzeiger beiderseits.
Was werden die bloß alle tun, wenn das Ding einmal weg sein sollte? An was für einem Ding kondensiert dann ihr Bekennerdunst?
Dieser Film jetzt: Sie mussten den pedantischen deutschen Strich in der Geografie auch noch vermessen. Das passt ja. Klar. Alles in Linien und Zahlen. Dein Punkt- und Kommavolk. Menschen jetzt! Diese Blicke – aus ratlosen Augen. Auf den mörderischen Streifen gerichtet.
Die Landschaften der Trauer in den Gesichtern. Stille Bilder. Lange Zeit kein Wort. Sprechendes Bild. In eine mit Niedergeschlagenheit verschleierte Weite geblickt. Über diese unsre Teilung hinweg.
Vielleicht sollte ich versuchen, nicht weiter auf dieser Welle zu schwimmen? Man säuft so leicht ab.
Später werde ich mir vielleicht sagen: Heute Einblicke gehabt. So etwas wie Empfinden für ein Volk! Das sich stets selber bestiehlt.
Du erinnerst allmählich, während es noch auf der Scheibe flimmert, diese Bilder eigentlich die ganzen Jahre schon gesehen zu haben. Immer wieder einmal. Bis jetzt aber immerzu geplaudert dazu, zum Bier Knabberchips eingeworfen. Warst in deinen Alltagsgeräuschen stets der leisen Bezüge müßiggegangen. Heute allerdings in dieser schweigenden Größe der Bilder den Sinn erfasst zu haben, werde ich mir sagen können, welcher auch der Worte nicht bedarf. O ja, da tönt es: ‘Der Sinn, der sich vorwiegend in der Stille der Betrachtung erschließt. Ein Land, das unsagbar schön ist in seiner Unerreichbarkeit. Über Hügel und Täler, Wälder und Felder streift der Blick, erfasst dann den leichten Schleier Morgendunstes. Etwas Geheimnisvolles bemächtigt sich der Seele. Ein gutes, erhebendes Gefühl’, hallte es da. ‘Tiefreichende Wurzeln.’ Der Sprecher ist als Landschaftsengel noch eine ganze Weile unterwegs!
Dann ein Ruck! Irgendwie wird es mir mysteriös zumute! Es überkommt mich schier ungeheuer visionär: Blitzartig wäre da alles verwandelt. Die Grenze weg. Die große Wunde urplötzlich verheilt. So schnell wie sonst nur im Traum. Ein Wunder! Es fielen die Zäune und die Mauer würde zerbersten. Die Wachtürme verwaisten und keine Gewehrläufe wären mehr auf Menschen gerichtet. Die Leute zu beiden Seiten liefen, jubelnd die Arme erhoben, aufeinander zu, umschlängen einander. Tränen genässte und vor Freude strahlende Antlitze erschienen. Prozessionen des Erstaunens. Die träge Geschichte einen Freudensprung machen fühlen. Die ganze Berauschtheit schwappte über die Ufer des Alltäglichen, ersäufte das Gewöhnliche, fest Gefügte. Wir machten das Brandenburger Tor durchlässig und betrieben den Abriss der Mauer. Dabei würden wir Würstchen essen und Sekt dazu aus Pappbechern schlürfen. Alle Nachrichten begännen mit Impressionen von der Grenze, die dann bald nur noch ein Streifen Geschichte wäre. Auf dem sich allerlei Pflanzen und Getier ansiedelten. Und wir träten der Würde vielleicht auch ein wenig ins Gesäß, damit sie sich schneller voranmachte, um die entwürdigten Provinzen im Menschen und seinem Drumherum zu beseelen.
Wir gingen mit unserm dicken Geldsack und kauften den ganzen Laden dort drüben auf.
Die Eingeweihten würden wissen wollen, dass die Brüder und Schwestern zu den Gemeindeämtern rennten, um sich dort ein Begrüßungsgeld zu holen, womit sie dann die Läden ausräumen gingen.
Und alle sprächen von Freiheit, von Freiheit – der bunt schillernden, die allerdings immer auch ein wenig schlecht zu erklären ist.
Du träumst ja, Menschenskind! Und was für einen Traum? Schluss jetzt, Piscator!
Erschöpft abgeschaltet. Jeder muss auf sich selber sehen, um mit der eigenen Geschichte klarzukommen.
Immerhin ist bereits beschlossen, um sprachliche Ganzheit zu ringen. Wenigstens am Rande der Existenz. Unter Umständen auch rückblickend. Gewesenes vielleicht aufschreiben? So etwas wie Tagebuch. Damit ich die Vergangenheit und die Sprache nicht ganz verliere.
Und was sollte ich nicht noch alles!“
„Ich bedanke mich für ihr freundliches Schreiben von neulich, Frank!“, begrüßte Gandauer seinen Gast.
„Ehrlich, es hat mich ein wenig Überwindung gekostet.“
„Mich hat ihr Brief gefreut. Interessant zu erfahren war für mich, dass sie in der frischbraunen Runde angekommen zu sein scheinen.“
„Mit einer gehörigen Gänsehaut ging ich zu diesen Scheuchen. Ich schrieb ihnen ja, Herr Gandauer, wie es sich angelassen hatte. Auch das mit der Sprache hat mich weiter verfolgt. Ich erhielt da eine Privatlektion von meiner Mentorin, die mich auf die in ihren Kreisen erforderliche Schlichtheit des Ausdrucks, nebst natürlich auch Verhaltensweisen hinwies. Das werde ich denen auch bedienen. Ich beteuerte, dass es mich freue, zu ihrem Thing kommen zu dürfen. Als sie stutzten, erklärte ich das alte Wort. Doch bemerkte ich, dass ihnen meine Lektion bald lästig zu werden begann. So schloss ich damit, dass ich sie nicht etwa uzen wollte. Ich setzte freilich sofort hinzu, dass dieses Wort für das Veralbern noch gelegentlich im Alemannischen zu hören sei.“
„Die Sprache hier in der Stadt ist schwäbisch-bairisch geprägt? Eine Mischung?“, fragte Gandauer.
„Die mit diesem Dialekt sind demnach Mischlinge“, scherzte Frank. Gleich nahm er seinen Faden wieder auf und wollte von Gandauer wissen, wie das damals mit diesem Bruchrechnen für die Abstammung eines Menschen war. „Halbjuden“, erinnerte er. Das mussten die Leute zu seiner Zeit doch auch irgendwie als überdreht empfunden haben. Wenigstens der normale Teil der sogenannten Volksgenossen. Ohne dass Gandauer noch darauf eingehen konnte, fügte Frank hinzu, dass sie herausgefunden haben wollen, Johann Strauß sei Achteljude gewesen. Das habe er natürlich nicht bleiben dürfen, da er zu den Lieblingsmusikern des Führers zählte. Da sollen sie ihn abstammungsmäßig rassisch – Frank machte mit den Fingern Gänsefüßchen in der Luft – sauber gemacht haben. Frank blieb noch bei den Umtrieben um die irrsinnige arische Reinheit. Das dauerte etwas. Das war Gandauer ganz recht, denn es enthob ihn wenigstens für den Augenblick des Kommentars.
Jetzt fing sich Frank wieder. Beinahe ruckartig wandte er sich Gandauer zu und forschte: „Haben sie da auch mitgemacht?“ Er entschuldigte sich sofort für diese Direktheit. Doch Gandauer antwortete ihm ganz gelassen, dass er auch Ahnenforschung betrieben habe. Weil ohne einen Ariernachweis nun mal nichts voranging in einer beruflichen Laufbahn.
„Sie hatten sicher auch zu tun mit diesem Unfug und ...“, Frank stockte.
Gandauer ging nicht darauf ein, sondern fragte ganz unvermittelt, ob Frank einen gewissen Herrn Sterzinger kenne.
Zwar etwas ratlos, doch bereitwillig antwortete der, dass dieser Herr doch hiesigen Orts ein bekannter Anwalt sei. „Ein liebenswürdiger Mensch!“, ergänzte er. Er versicherte noch, er habe nicht etwa je etwas mit der Justiz zu tun gehabt und einen Anwalt benötigt.
„Ich hatte bis jetzt auch nichts mit der Justiz zu tun. Wenigstens nicht, was Strafsachen betrifft!“ Gandauer blickte auf die Uhr. „Wir müssen jetzt leider Schluss machen für heute. Es hat mich sehr gefreut, dass sie bei mir waren. Ich möchte sie ermutigen ...“
„Ganz gewiss“, unterbrach ihn Frank, „ich werde bei ihnen wieder auftauchen. Und wenn es nur in Form von Gedanken in einem Brief ist!“
Auf dem Weg zum Haftraum suchte Gandauer ein ganzes Bündel Fragen heim. Ob der Junge denn seinen Sterzinger mehr als nur flüchtig kenne? Ob dieser ihn vielleicht angestiftet habe, mehr aus ihm, seinem Klienten, herauszubringen, ihn richtiggehend auszukundschaften? Ob der Junge nur deshalb den Kontakt suchte, weil Sterzinger weiteres oder ergänzendes Prozessmaterial zu benötigen glaubte. Das allerdings schränkte Gandauer auch gleich wieder ein, denn Sterzinger habe ja den Brief mit dem Nachruf als wenigstens einen Teil Auskunft – und er wird noch etliche erhalten.
Um sich abzulenken, machte sich Gandauer ans Schreiben.
Guten Tag Peters!
Diese Stadt meines Vortrags Ihnen gegenüber (die im Übrigen zu unseren Zeiten den Ehrentitel „Stadt der Jugend“ trug) ist heute noch umgeben von Hinterlassenschaften der Zeugnisse schändlichster Auswüchse unserer Bewegung.
Ich müsste Sie eigentlich fragen, verehrter Peters, ob Sie denn Ihrer immer wieder mittels griechischer und lateinischer Zitate vorgeführten humanistischen Bildung (von der immerhin behauptet wird, dass sie auch eine Charakterbildung verkörpere) nicht hätten in der Lage gewesen sein müssen, die Inhumanität des von uns ordinären Nazis gesetzten Zeitgeistes auszumachen. Ich will Sie allerdings nicht etwa mit solchen Fragen traktieren. Sie befinden sich nämlich mit Ihrer damaligen geistigen Sehschwäche in bester Gesellschaft. Denke ich nur an den jesuitisch erzogenen, theologisch und philosophisch hochgebildeten Martin Heidegger. Der war dreiunddreißig in die Partei eingetreten und hatte seinen Studenten zugerufen: „Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz!“ Dieser gescheite Mensch! Was waren wir damals stolz, dass sich solche Köpfe auf unsere Seite geschlagen hatten! Und was hat uns das doch in unserem Denken und Tun bestärkt!
Ich kontaktiere Sie jedoch nicht, hierauf mein Wort, um Ihnen irgendwelche Vorhaltungen zu machen. Ich werde die Verbindung zu Ihnen unter den Umständen, die sicher bald eintreten werden, sehr nötig haben und will Ihnen dann sehr dankbar sein, wenn Sie mir ein wenig in einer allerdings heiklen Angelegenheit zu Diensten sein könnten.
Auch pflege ich die Ansicht, wir sollten in unser beider fortgeschrittenen Zeit geschichtliche Betrachtung, wenn überhaupt, dann nur mit harmloseren Themen betreiben. So wie es diese alte Stadt hier handhabt, von welcher Ihnen zu berichten ich mich angeschickt habe. Die Leute machen es richtig, sie ziehen sich immer die alten, bequem ausgetretenen Schuhe an und kommen damit ohne wunde Stellen durch die Zeit.
Dialektforscher haben den Alteingesessenen hier zu beiden Seiten des Flusses, und zwar vom Rande der Alpen bis zu seiner Mündung in die Donau, ein eigenes Idiom zugeschrieben. Sie beklagen allerdings das Schwinden aller Eigenheiten der Regionen von Flensburg bis Berchtesgaden und überhaupt überall auf der Welt.
(Wussten Sie überhaupt, dass Martin Heideggers philosophischer Lehrer, der geniale Edmund Husserl, ein Jude war?)
Erschreckend die Vorstellung vom Einheitsmenschen dank Telekommunikation – gerne erführe ich, wie Sie als humanistisch gebildeter Mensch darüber urteilen!
Wie gefällt Ihnen die sogenannte Sauhaufentheorie für die Stammesbildung in Bayern? Wie Sie sicher auch wissen, gehen Forscher davon aus, dass nicht ein einzelner Stamm in der Völkerwanderung hier zugezogen sei, sondern sich aus den Resten keltoromanischer Bevölkerung und allen möglichen germanischen Herumtreibern, allmählich etwas formte, das sich schließlich als bajuwarischer Stamm bezeichnete.
Mich freut diese Darstellung, weil sie so versöhnlich menschlich ist.
(Ach, was halten Sie davon? Irgendwann las ich, dass der Münchner Oberhirte, Kardinal Faulhaber, noch gegen Ende der Dreißiger seinen Schäfchen versicherte, es sei die Reichsregierung „... für uns gottgesetzte Autorität, rechtmäßige Obrigkeit, der wir im Gewissen, Ehrfurcht und Gehorsam schulden ...“).
Gandauer hatte gerade die Klammer am Ende seines Briefes geschlossen, da trat Bergner ein. Die Notiz samt Kugelschreiber war wieder mit einem Wisch von Gandauers rechtem Arm in der mit der Linken geöffneten Schublade verschwunden.
Bergner hatte zwar die hastige Bewegung wahrgenommen, schien ihr aber keine Bedeutung beizumessen. Er mochte ein Anliegen haben. Auch die flüchtige Frage nach Gandauers Wohlbefinden konnte das nicht verbergen. „Sie lesen doch auch die Tageszeitung?“, fragte Bergner. „Haben sie heute gelesen, was der Herr von Ditfurth da rausgelassen hatte? Sie wissen doch, der durchs Fernsehen so bekannt gewordene Von Ditfurth. Ich habe es mir gemerkt! Der habe nämlich gesagt, stellen sie sich das nur vor: Die Nazis, das waren wir alle, und zwar in verschiedenen Graden der Verdünnung!“ Bergner war stolz auf seine Gedächtnisleistung, jedenfalls schaute er so drein.
„Haben sie die zum Zitat gehörende Verdummung vergessen?“, feixte Gandauer. Bergner machte große Augen, als Gandauer zitierte: „Wir waren alle Nazis, aber in verschiedenen Graden der Verdummung.“
„Nein!“, rief Bergner: „Verdünnung hat es geheißen und nicht Verdummung!“, schnaubte er. „Mensch, sie sollten sich eine neue Brille anmessen lassen! Damit sie die Zeitung gerade in so wichtigen Dingen richtig lesen können!“ Er wollte dann noch wissen, ob Gandauer jetzt endlich die Festschrift der Anstalt gelesen habe. Als Gandauer verneinte, wendete er sich ab, um den Raum zu verlassen. Er versäumte allerdings nicht, noch einmal auf die Bedeutung der von ihm in der Schrift markierten Stelle zu verweisen. Eine Lektüre würde sich lohnen, behauptete er. Weil dort alles unerhört geschönt ausgedrückt sei, „wie es nämlich überhaupt nicht in der Wirklichkeit war“.
Denke ich nur an dich. Erscheinst du mir also auch nur in Gedanken. Da erfasst du mich, als wärst du mir mit deinem ganzen Sein gegenwärtig. Die strahlende Sonne deiner Blicke nämlich, Hilda, sie sticht mir bei jedem Gedanken an dich wohltuend schmerzlich ins Herz. Dieser Anflug von beseligender Gewalt entreißt dieses Fühlen jedem Anflug von Verdacht, mir nichtige Süßlichkeit vorzugaukeln. Es muss der Knabe sein, von dem der Mythos kündet, dass er das menschliche Dasein befruchte, Amor!
Frank überflog diese Zeilen. Und er hatte dabei das Gefühl zu erröten. Jedenfalls durchfuhr es ihn ziemlich warm. Er klappte das Notizbuch, dem er dieses Geheimste anvertraut hatte, selbstverschämt sofort zu.
„Nun ja, jeder muss sich auch so etwas Schmalziges gönnen! Selbst dann noch, wenn es davon nur gerade so trieft. Doch wenigstens vorerst genug damit!“, befahl er sich. „Es musste einfach raus, wenn ich schon mit Hilda nicht oder noch nicht oder überhaupt nicht darüber sprechen kann“, überlegte er. „Irgendwie befreiend ist so etwas immerhin. Es ist jedoch zu den Befreiungsakten zu rechnen, die geheim bleiben müssen. Warum auch immer. Am besten wäre es, geheim vor einem selber. Diesen Irrsinn muss ich zulassen“, beteuerte er sich.
„Wie sage ich es bloß der Mutter?“, kühlte ihn wieder ganz ab. „Sie sieht mich vermutlich bereits im Priesterseminar. Darf ich ihr wehtun? Darf ich ihrer Hoffnung auf diesem Weg davonlaufen, der angesichts meines eben mir selber geoffenbarten Zustandes vielleicht sogar ein Irrweg ist?“ Frank war ergriffen, pendelte gleichsam zwischen zwei Frauen. Er erschrak gehörig, als ihm aufging, in welchem Abstand der beiden Ebenen er sich da bewegte: hier die ahnungslose Begehrte, dort die Sorgende und Planende. Frank wollte sich wenigstens von einer Seite etwas lösen: „Ich werde ihr vielleicht die Vorstellung rauben müssen, ihre Mama-Rolle mit mir in einem Pfarrhaus fortzusetzen?“ Er atmete tief durch.
Frank wusste sich allerdings weiterhin diesen Problemen ausgeliefert, die ihm seine Gemütsbewegung beschert hatte. Es überkam ihn plötzlich, die Flucht nach vorne anzutreten: Dabei sollte ihm eine Melodie, die in seiner Erinnerung auftauchte, behilflich sein. Musik entspannte ihn schon immer. Er summte diese Weise vor sich hin und sann nach dem Text dazu. „Ja freilich, das steht im Gesangbuch: ‘Ich will dich lieben ...’“ Überflüssig fand er, es zu erörtern, wen es da zu lieben galt. Denn die Richtung dieses Gefühlseinsatzes über das Gesangbuch für den Gottesdienst war von vornherein klar. Er wollte dennoch nachsehen. Er summte dabei diese inbrünstige Tonfolge weiter vor sich hin. Es tat ihm eine ganze Weile gut – bis ihn etwas aus seiner wohltuenden Wallung riss. „Dass dem vatikanisch orientierten Gottesmann jedenfalls etwas ganz Bestimmtes dringend angeraten sei. Er habe nämlich sein natürliches Liebesbedürfnis, das ihm im Grunde niemand absprechen könne und wolle, aus den Niederungen des Irdischen in Richtung des Himmels zu überhöhen“, ging Frank schaudernd auf. „Da es allerdings diesseitig verhaftet bleiben will“, wollte sich Frank herausargumentieren, „müsste ich wenigstens versuchen, es in Richtung Menschheit auszuweiten. Es, um Gottes willen, nicht nur auf eine Einzelperson zu richten. Weil da der geschlechtliche Part des Körpers immer wieder seine Rolle einzubringen begehrte“, erschütterte ihn richtig.
„Oh heiliger Alfred Kinsey!“, rutschte Frank nach einer Weile laut heraus. „Dass du Enthaltsamkeit, Zölibat und späte Eheschließung als die einzigen Fehler im Umgang mit der Sexualität bezeichnet hattest.“ Er bekreuzigte sich, wenn auch nur flüchtig, und bereute seinen Ausrutscher – zumindest diese unbillige Heiligsprechung einer sehr umstrittenen amerikanischen Person in der Pionierrolle der Sexualforschung.
Gandauer war gerade vom Mittagessen gekommen. Jetzt stand er am Fenster. Mit Brotkrumen fütterte er seine Spatzen. Er freute sich über den Appetit seiner kleinen Besucher. Die hüpften da auf seinem Fenstersims herum, pickten Krümel auf oder jagten sie den Kumpanen ab. Besonders wenn größere Brocken schon in einem Schnabel waren, fiel Gandauer auf, aktivierte es die Diebeslust der anderen. Er testete diese Beobachtung, indem er sorgsam zielend Stückchen unterschiedlicher Größe hinwarf. Das ging dann eine Weile so.
Er musste aber immer wieder an etwas anderes denken. „Dieser gorillahafte Trottel“, schimpfte er vor sich hin, „der mich nicht in Ruhe lassen will. Wofür soll ich nun auch noch etwas leisten?“, fragte er sich. „Das hat sich so nach einem Bezahlen angehört, was er dahergebracht hatte.“
Er schaute wieder seinen Spatzen zu und meinte, dass das hier so ein richtiger Tierpark sei, mit allerlei Viehzeug, „wobei ihr Spatzen ja auch zu uns Zweibeinern zählt wie eben mein Gorilla“.
„Cziflic war hier gewesen, liebes Federvieh“, teilte Gandauer seinen Freunden mit. „Wenn ich euch besser zu unterscheiden gelernt habe, werde ich jedem von euch einen Namen geben. Wenn so einer wie dieser Cziflic einen Namen hat, seid ihr es mir ebenfalls wert. Euer Getschiepse ist nun zwar auch nicht gerade was fürs musikalische Feingefühl, doch man kann sich dessen eher entledigen. Ein Wächter gegen Entgelt. Es war schon oft davon zu hören gewesen, Mafia und Schutzgeld. Doch da denkt keiner, dass es einem selber begegnen könnte. Cziflic eine Kreatur Zeltniks. Und der Zeltnik so was wie ein Mafioso. Wer hätte das gedacht?“
„Immer wieder kommt der Cziflic mit der gleichen, anscheinend ungestillten Neugier daher, etwas über mich zu erfahren – oder etwas über meine Zeit, wie er es mir vormacht“, ging es bei Gandauer weiter. „Wer ihm so etwas eingeblasen hat? Das ist doch nicht auf seinem Mist gewachsen. Wer wohl? Der Zeltnik natürlich. Er ist auf dich angesetzt. Spitzeldienste.
Solche hatte man sich allerdings auch gehalten, seinerzeit. Gerade die etwas Beschränkteren, die waren doch mitunter die Tauglicheren dafür. Wenigstens für das Zutragen. Da war das immer so. Denn die bringen dir die Brocken ganz unverdaut. Die Blöden sind die besten Zuträger, klar. Denn was der Gescheite herausfiltert in seinem Irrtum, einen Überblick zu haben, das lässt dir der Dumme im Zusammenhang. Der bringt dir dann alles, wie er es aufgeklaubt hat. Da ergeben sich dann die brauchbaren Bilder im Zusammenschnitt mit den vielen anderen Dingen, die die vielen Idioten anschleppen. Du hast selber so gearbeitet. Mit diesem ganzen Unrat.
Der Cziflic und meine Biografie! Politgeschichten von damals. So einer und geschichtliches Interesse. Können sie doch derzeit in allen Zeitungen lesen, schon wegen der Jubeljahre von unserem Staat und dem der Brüder und Schwestern drüben. Oder im Fernsehen kommt es. Abende lang.
Und das ist ja sowieso grotesk! Dieses Fernsehen da! Das spult dazu ein von Göbbels gesegnetes Sahnehäubchen nach dem anderen ab. Spielfilme. Diese Zelluloid-Epen aus unseren Tagen, zur Einlullung der Massen erzeugt. Kriegsangstberuhigungsschnulzen. Diese Mogelpackungen von damals – die jeder so genossen hatte. Es ist doch sonderbar. Auf den Kanälen drumherum, da wird x-mal der Untergang des Nazireiches verbraten. Die Alliierten landen immer wieder und schlagen sich heldenhaft durch. Auf der anderen Seite geistern ein paar aufgeblasene Offizierstypen mit abgerissenen Landsern herum.“
Gandauer setzte sich. Diese Abrechnung hatte ihm ein wenig wohlgetan. Dann ging er doch wieder zum Fenster. Nur noch zwei seiner Gäste waren anwesend und pickten an den Mauerritzen zu beiden Seiten des Simses. „Es ist sonderbar“, klagte Gandauer, dass er den im Grunde unangenehmen Kerl auch wieder brauche, und zwar zwecks Abwechslung. Denn er dürfe seinen Kontaktbereich nicht zu eng begrenzen. Was ihm seine Spatzen ja belegten, obwohl ihre Art zwar als zänkisch, hinwiederum auch als ausgesprochen gesellig gilt. Zum anderen diene dieser Cziflic immer wieder der Information, geradezu einem Informationsfluss – in beide Richtungen unter Umständen. „Ich erfahre, gute Vögel, eine Menge aus dem Betrieb hier, was notwendig ist. Das muss anerkannt werden. Will einer wie ich an so einem Ort einigermaßen friedlich überleben.“
Gandauer verabschiedete sich zufrieden mit einer heftigeren Handbewegung, dass die Spatzen davonflogen. Dann holte er sein Schreibzeug aus der Schublade. „Es ist auch so“, versicherte er sich, „so einen Vogel wie diesen Cziflic hast du im Altersheim nicht gehabt. Und was war das fade dort – ungemein ordentlich und ebenso öde! Wer wäre denn da dauernd zu dir gekommen, hätte dich besucht und angequatscht?“
Peters, begann er zu schreiben, ich habe da einen ungebetenen, einigermaßen lästigen Besucher von den letzten Tagen unseres geliebten Breslau erzählt. Ihnen, der Sie ja nicht mehr alles miterleben konnten – oder dank meiner Hilfe auch nicht mussten –, traue ich hingegen selbstverständlich zu, sich die ganze Tragik und Dramatik der Ereignisse hinreichend ausmalen zu können. Ich hatte allerdings in meiner Darstellung diesem Subjekt gegenüber einer Mode Rechnung getragen, die dem Publikum in Verfilmungen immer aufgeblähtere Abstrusitäten bietet. Die Macht des Irrationalen ist zur Genüge bekannt (und wir müssen zugeben, uns sich ihrer reichlich bedient zu haben).
Angesichts des Lärms, den all diese Auswüchse der Fantasie erzeugen, sollte einer in die gute alte Bücherstube fliehen können, in deren Refugium Silentium herrschte!
Da kommt mir unsere grandiose heimatliche Sammlung in den Sinn!
Haben Sie sich kundig gemacht, wie es um die Bibliothek unserer geliebten Vaterstadt Breslau stand? Ich komme auf diese Frage, weil ich erinnere, dass Sie als engagierter Bildungsbürger häufig den unschätzbaren kulturellen Köstlichkeiten dieser Sammlung höchstes Lob gezollt und nie zu erwähnen versäumt hatten, dass dieser Ort als intellektuelles Herzstück der Heimat nahezu als Ihre geistige Behausung fungiere.
Stellen Sie sich vor, etwa Mitte März fünfundvierzig sollte auf Anweisung höchster NS-Dienststellen der gesamte Trakt der Bibliothek geräumt werden. Eine halbe Million Bände waren von etwa zwei- oder dreihundert Leuten zu evakuieren gewesen, und zwar in die gegenüberliegende alt-katholische Annenkirche. Allerdings war das auch nicht so ohne weiteres möglich gewesen. Sie sollen wissen, dass ursprünglich geplant war, das ganze Gebäude samt des Inhalts zu sprengen. Stellen Sie sich nur vor, eine solch ungeheure Barbarei. Und das nur, um Material für die Schutzdecke der Festungskommandantur auf der Sandinsel zu gewinnen!
Vermutlich aus Mangel an Sprengstoff sollte dann das Gebäude niedergebrannt werden. Doch das musste auch wieder fallen gelassen werden, weil die Gefahr einer Ausweitung des Brandes zu groß gewesen und damit praktisch eine Fackel, ein Leucht- und Leitfeuer, für erneute infernalische Angriffe der Belagerer geliefert worden wäre. Darauf wollten sie einen Teil der Bücher in die Oder werfen, um sich ihrer zu entledigen. Doch diese Büchermassen hätten womöglich zu einer Verstopfung der Wehre und Lahmlegung der Mühlenwerke geführt, die zur Versorgung der eingeschlossenen Stadt unentbehrlich waren.
Einen großen Teil der Bücher verbrachten sie am Ende in die Annenkirche. Und denken Sie nur: Ein paar Tage nach der Kapitulation brannte, von den Feuersbrünsten der geschundenen, zerschlagenen Stadt erfasst, die Annenkirche samt ihrem unersetzlichen Inhalt völlig nieder.
Haben wir, verehrter Peters, unsere Zeit nur mit ...
Gandauer hörte Schritte auf seine Zelle zusteuern. Und gleich füllte Cziflic den Raum. Was er nicht durch Körpermasse ausmachte, das besetzte der Essensmief seiner Klamotten und der Qualm seiner Zigarette.
„Da is mir grade noch was eingefalln“, hob er in gewohnter Weise an, „weil du mir da was von eurem Kampf da in Polen erzählt hast.“
Gandauer protestierte nicht gegen Cziflics Polen für Schlesien.
„Also, da hatt’n wir ein’ immer in der Kneipe. So’n Oller. Der kommt immer Mittwoch, da konnteste die Uhr nach dem stelln. So bissl staksig. Steif vornübergebeugt.“ Und dabei machte Cziflic seine Erzählfigur ein paar Schritte nach. „Hat mich ein bissl an den erinnert, als du hier aufgekreuzt bist. Und i hab mir g’sagt, jetzt is der auch hier. Der hat immer so scharf aus ei’m Mundwinkel genuschelt. Ganz wenig und immer dasselbe. Der kann das hundertmal hersagn!“
Cziflic machte eine Pause und schaute auf Gandauer. Der wartete noch auf den Fortgang der Geschichte, der da noch hätte kommen müssen. Aber Cziflic schien ganz einfach vergessen zu haben, wie es weitergehen musste.
Gandauer fragte dann doch danach. Da sah Cziflic sein Versäumnis ein: „Der olle Knacker, Oberst g’wesn, der brachte immer was von drei Hitlerjungs, die er janz am Ende mit einer Panzerfaust losjeschickt hat. Um zu sehn, ob die gelernt haben, einen Panzer zu knacken. Und selber war er mitm Karabiner hinterm Baum gestanden, sagt der Alte. Und dann kam der Russe, so ein T 34. Riesiges Ding. Und die Jungs druff mit dem Knackding. Janz nah rangerobbt, noch kein Haar unter der Nase und schon so richtiger Held. Und dann rums. Und der Hammer saß. Und der Stahlberg war jeknackt. Steht voll in Flamme, spuckt aus allen Löchern. Und dann kommt der Iwan, eins, zwei, drei, wie die Ratten aus der Bratpfanne und sind runter und gerannt wie die Hasen und ich hinterm Baum vor hab sie aufs Korn jenomm und peng abjeknallt: peng, peng, peng. Jesprungn sind se die Schweine wie die Hasn: hopp, Salto, platt. Und die ganze Kneipe kriegt lange Ohren, sag ich dir, wenn der Alte die Russen immer wieder abknallt. Und einer nach dem ander’n. Peng. Hopp. Zack. Da lag dat Grobzeug platt auf der Nase. Diese Asiatn. Diese Schlitzaugn! Und i sag dir was, so oft wie das gekommen is von dem Alten, ick sag dir: Die ganze Bude war scharf drauf. Und wems nich gepasst hat, der is ebn stille abgehaun. Und die wo gebliebn sind, die wollten immer wieder hören und habn den angemacht und der is drauf abgefahrn und dann hat die ganze Bude auch den alten Abknaller in Verarschung gehabt: Nur mal angetippt mit: ‘Der Russe kommt!’ und der Olle fängt wieder zu ballern an und alle mit und sich einen abgelacht!“ Cziflic glühte noch vor Eifer und verharrte weiter in Schützenstellung mit seinem eingebildeten Schießprügel.
Gandauer überkam beinahe Mitleid mit der eben vorgeführten Gesellschaft – samt dem verhinderten Kriegshelden neben sich.
Cziflic beendete seine kriegerische Aufführung. Weiter in Fahrt, wollte er von Gandauer wissen, ob der auch lange Stiefel gehabt und für Recht und Ordnung gesorgt habe. Cziflic war überzeugt, dass diese Disziplin alle Menschen auch heute gut gebrauchen könnten. Und es müsse das dem Russen und Polen und der ganzen Bande im Osten gezeigt werden, dass ihnen die Lust am geklauten Land vergehe. Aber erst müsse es in der Heimat denen aus dem Orient und aus Afrika etwas vermiest werden, dass ihnen der Appetit auf das Hierbleiben vergehe. „Auf die Pfotn klopfn. Janz ordentlich. Und macht nix, wenn da dat eine oder andere Stück mit abfällt dabei. Dann verjeht denen das Grabsch’n nach unserm Geld und die Weiber!“
Gandauer hätte jetzt gerne etwas gesagt, hielt sich jedoch in der Hoffnung zurück, dass Cziflic abziehen würde, nachdem er wieder einmal seinen Müll entsorgt hatte. Der machte sich dann tatsächlich zum Hofgang davon.
Bald darauf wurde Gandauer von Bergner zur Sprechstunde geholt. Er hatte den Brief an Peters dabei.
Sterzinger nahm dann die Schreiben seines Mandanten mit einer Miene entgegen, die wohl seinen Widerwillen zum Ausdruck bringen sollte. Er kritisierte, dass er bisher eine Reihe von mitunter recht eigenartigen Betrachtungen über seine Heimatstadt erhalten habe, nicht jedoch die angekündigten Aufschlüsse in Sachen der Person Gandauers und damit seiner Verteidigung – wenn er von ein paar Anmerkungen einmal absehen wolle.
Gandauer wartete.
„Nun“, machte Sterzinger weiter, „da tauchen immerhin Bröselchen auf“, er räusperte sich, „die sie mir hinstreuen!“ Er machte eine Geste dazu. „Dass sie den Kreis Breslau aufgebaut haben, ihren Nazikreis. Davon ist in der mir zugänglichen Akte allerdings nichts vermerkt. Und dass da eine Hedwig mit zwei Kindern erscheint – ihre Frau? – Also, das ist mir auch neu.“
Gandauer reichte es nur zu einem Na-ja. Denn Sterzinger war noch nicht zu Ende gekommen: „Diese Sache da mit einem Odtke, den sie in ihrer Nähe – ihrer personalen Nähe!“, ergänzte er betont, „erwähnen und dass der tot sei, aber ... – und sehen sie, da komme ich nicht recht dahinter, was das soll!“
„Das lässt sich klären, wenn sie mir etwas Zeit gönnen!“
„Die ich mir in beliebigem Ausmaß nicht nehmen und ihnen damit auch nicht zur Verfügung stellen kann!“, ärgerte sich Sterzinger. „Ach so!“, fuhr er fort, „beinahe hätte ich es vergessen: Ihr Adressat, ihr Peters, hat doch tatsächlich Kontakt zu mir aufgenommen. Nur telefonisch. Und wie sonderbar der in das Gespräch eingestiegen ist! Er wolle hiermit nur etwas sagen, denn was einer sagen könne, das solle er nicht schreiben ... – Dabei durchfuhr es mich doch irgendwie unangenehm, Herr Gandauer! Denn ich erinnerte mich, irgendwann gehört zu haben, dass das eine Devise von eurem Führer war, diesem ganz verdammten Schlitzohr. Der Mann am anderen Ende des Telefons machte mir einen zwar frischen Eindruck! Nur kam alles wirr heraus, was er da runterhaspelte.“
Gandauer war ungeduldig.
„Ja so, freilich: Dieser Peters meinte, dass er sich irgendwie denken könne, wer hinter diesen Briefen stecke. Briefe, die er beinahe als Dunkelmännerbriefe zu bezeichnen versucht sei. Jedenfalls sei ihm fast ganz klar, auf welche Person diese abzielten. Es könne sich dabei um einen ihm wohl bekannt gewesenen Ernst Odtke handeln. Doch dieser sei tot, habe er damals trotz des Chaos’ der Endphase des Dritten Reiches und Breslaus Bedrängnis der Presse entnommen. Und das sei ihm gewiss, denn der Propagandaapparat habe bis in die letzten Zuckungen des Dritten Reichs einwandfrei und lückenlos funktioniert. Qualität habe eben Stärke und Dauer, so Peters noch. Es schien ihm direkt vom Herzen gekommen zu sein. Der Propagandaapparat habe sich patriotisch und menschenfreundlich besonders allem Ableben gewidmet, wenn es sich nur ein wenig als Heldentot habe vermitteln lassen. Und er, Peters, wolle bei diesem Dunkelmännerbriefe-Spiel vielleicht sogar ein wenig mitmachen. Nämlich bei diesen Schreiben eines Wiedergängers sozusagen. Es bereichere seinen Alltag in der Seniorenresidenz über die ihm sonst nur vorliegenden Kreuzworträtsel hinaus. Aber er werde sich, wie dargelegt nicht etwa schriftlich herbeilassen!“
Gandauer hatte zu dem Bericht immer wieder einmal verständnisvoll genickt. „So kenne ich ihn, den guten Peters!“, klagte er und meinte, dass er erst seinen Adressaten noch ein wenig einstimmen müsse. Gerade wegen dieses Odtkes: „Denn bedenken sie doch die Überraschung! Nach der langen Zeit von jemandem angeschrieben zu werden – ja, den er eigentlich für tot ...“ Er stockte. „Jetzt hast du dich verplappert, Gandauer“, klagte er bei sich. „Klar, ich bin ja für alle tot, für alle meine Bekannten und Verwandten tot, verbuddelt mit parteioffiziellem Trara! Jetzt wird Sterzinger nicht mehr lockerlassen und die ganze Geschichte endlich aufdecken wollen“, quälte sich Gandauer.
Allerdings hatte Sterzinger anscheinend nicht besonders aufgepasst: „Möglicherweise hat ihr Adressat in den letzten Wochen aus der Zeitung von ihnen, Herr Gandauer, erfahren“, vermutete Sterzinger. „Denn die Angelegenheit ging immerhin durch alle Blätter. Da wird ihr Bekannter sicher auch informiert worden sein von ihrer Vorhandenheit und ihrem Aufenthaltsort. Ich verrate ihnen, dass sie gar nicht gut weggekommen sind in den Meldungen und Kommentaren. Dass wieder einer von diesen Mördern und Menschenschindern gefasst worden sei. So etwa tönte es im Blätterwald – es war kein sanftes Waldesrauschen, sage ich ihnen!“
„Sie werden sehen, dass das fast von alleine wieder verklingt!“
Das machte Sterzinger wütend. Er setzte zur Attacke an: „Was die Zeitungen da brachten, das steht auch in der Anklageschrift – etwas ausführlicher natürlich und sachlich eiskalt formuliert!“ Er beugte sich mit großen Augen näher zu Gandauer: „Eigentlich müsste mich auch das eiskalte Grauen vor ihnen packen!“ Damit verabschiedete er sich unter der Vorgabe, noch mit einem anderen Klienten zu tun zu haben.
Der Angriff des Anwalts war bei Gandauer angekommen und saß ziemlich tief. Auf dem Weg zu seinem Raum trieb ihn das um. „Sicher“, meinte er, „was in unserem Namen alles angerichtet worden war, das ist nie mehr zu steigern. Es träfe jedoch den Einzelnen der Akteure in graduell recht unterschiedlichem Maße, war ich bis jetzt immer überzeugt“, beteuerte er sich. „Ich hätte beim Vortrag der juristischen Dame doch genauer hinhören sollen. Habe ich mir da mit der Tarnkappe Gandauer eine extrem dreckige Hülle übergestülpt?“
Er konnte sich diese Frage nicht beantworten, denn da tauchte Cziflic auf. Er erinnerte Gandauer, dass er ja so etwas wie Gandauers Bodyguard sei. Und dass er deswegen immer wieder einmal nachsehen müsse. In Gandauers Stirn furchten sich Kummerfalten. Cziflic bemerkte das und beteuerte, dass dieser Service nichts koste. Wenigstens bei ihm, Cziflic, nichts. Denn erstens mache er es aus reinem ldeali..., aus Pflicht und Schuldigkeit dem deutschen Volksge...-dingsda-...genossen gegenüber, und zweitens müsse Gandauer den Preis selber mit Zeltnik aushandeln. Mit Zeltnik diesem ganz ausgebufften Hund. Wenn es da überhaupt etwas zu handeln gebe und nicht gleich wieder Druck. Wenigstens sei da bis jetzt nie was zu machen gewesen. Weil der Zeltnik so ein mieser Typ sei, der auch vor nichts zurückschrecke und immer einen Idioten finde. Einen, der für ihn, wenn’s sein muss, auch massakriere ... „Das musst du dir mal vorstellen, da kloppt dich wer aufn Schädl, von hinten, und dann wachst du auf, und da is ein Stück von dir weg, die Haare. Und wenn du Pech hast, dann auch mehr.“
Gandauer schaute immer noch – oder schon wieder sorgenvoll drein. Cziflic legte sich ins Zeug. Beim Hofgang sei ihm was gekommen: Als Jungen hätten sie nicht mehr die Nackten vor den KZ-Baracken sehen können, sondern sie hätten nur von älteren Jungen davon gehört. Nämlich dass die Juden und die Zigeuner und die Kommunisten da immer ohne was drüber antreten mussten. Aber nach dem Krieg – das sei ihm vorhin plötzlich eingefallen, und er habe sich vorgenommen, es Gandauer zu erzählen – da sei in den Flussauen ziemlich was los gewesen, „das schiere Porno, dass die Porno, die wo man sich als Video besorjen ko, dagegen nur ein kalter Kaffee sind: Mein lieber Freund, die haben es getriebn. Das war übergeil. Und da ist man als Junge hin, zu nackerte Neger und Ami ohne nix an – und die Weiber erst, sag ich dir, deutsche Frau. Das waren Weiber, anjemalt, mit rote Nägeln und rote Lippn. Und da hin als Junge und spannen. Eine wahnsinnig gefährliche Sache, das. Konntn noch robben von die HJ, Hitlerjugend. Denn die Ami hättn einen mit Sicherheit glatt abgemurkst, umgebracht, allegemacht, ausgelöscht oder durchgehauen, dass du dich im Spiegel nicht mehr gekannt hättst!“ Und dann hätten sie zugesehen, wie sie ihre Sachen getrieben haben mit der deutschen Frau, die man alle, je nach Hautfarbe der Kerls, Negerschickse oder Amischickse geheißen habe. „Da sind überall diese Gummis rumgelegn. Schon jebraucht, klar. Die wir erst für Luftballons gehaltn habn. Mensch, bissl dreckig, dann ausgewaschn. Ans Maul und aufblasen. Kotzt mich heut noch! Hat damals aber Spaß gemacht!“ Cziflic hatte sein Gesicht in seinem Spätekel verzogen. Gleich drehte er sich eine Zigarette, zündete sie an und verbreitete wieder Qualm.
Gandauer hatte mit geschlossenen Augen dagesessen, den Kopf an die Mauer gelehnt. Cziflics Gerede schien an ihm vorübergegangen zu sein. Er war mit seinen Gedanken zu Hedwig geflohen. Er hatte sich gedacht, dass er ihr gewünscht haben würde, nach dem Krieg hier in dieser ziemlich heilen Gegend gelebt zu haben. Er befand sich gerade auf einem Spaziergang mit ihr durch die Flussauen, als sich Cziflic erhob.
Cziflic verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass er jetzt malochen gehen müsse.
Gandauer setzte seinen inneren Spaziergang erleichtert fort.
Piscator kam völlig geschafft von seinem Einkaufstrip zurück. Er schleppte eine große, unförmige Einkaufstasche. In der waren etliche mickrige Setzlinge verstaut. Er hatte ordentlich zu schleppen. Das Fahrrad war auch noch zu schieben. Er maulte dauernd etwas von einem Idioten von Verkäufer, der Wasser drübergekippt hatte, so dass das ganze Gemüse jetzt noch schwerer sei. Die Namen der Pflanzen hatte sich Piscator eine Weile selber aufgesagt. Aber diese Litanei war immer kürzer geworden. Er hatte dann aufgegeben, jedoch den Vorsatz gefasst, sich diese sonderbaren Wörter mithilfe eines Bestimmungswerkes irgendwann einmal wieder zu erarbeiten. Zwischen dem Grünzeug waren auch noch Milchtüten gepackt, deren Existenz ihm allerdings die ganze Zeit Bedenken bereitete. „Mensch“, mäkelte er, „diese blau schimmernde weiße Flüssigkeit! Du glaubst es gar nicht, dass das aus einer Kuhtitte gekommen sein soll.“ Dann auch noch die Sorge wegen des Verpackungsmaterials. Es war fast ein Leidensweg, den er heute zurücklegte.
Er spielte dann zur Abwechslung mit dem Gedanken, sich in sein geplantes grünes Paradies irgendwann auch ein Stück Vieh zu stellen. Eine Ziege vielleicht. Ziegen seien sehr genügsam, machte er sich vor. „Sie sollen einen ziemlich strengen Geruch verströmen. Doch wenn die Pflanzen groß sind, dann werden die Ausdünstungen doch auch auf die natürlichste Weise recycelt“, bildete er sich ein. „Ich habe ja sogar vor, mein persönliches Abwasser dort hineinplätschern zu lassen. Mal sehen, vielleicht lassen sich sogar die schweren Sachen in der zimmerlichen Pflanzenlandschaft unterbringen. Durchaus ernstzunehmende Leute behaupten jedenfalls, dass das alles möglich sei. Und irgendwer muss mal anfangen damit.“
Diese Vorsätze beruhigten ihn und erleichterten es ihm, sich mit dem Mangel abzufinden, der allem Vorläufigen nun einmal innewohnt.
So gelangte er vor dem Betonturm an. Das Eingeholte in der Linken, mit der Rechten hielt er das Fahrrad. Da er keine andere Möglichkeit sah, die Haustüre zu öffnen, und die paar Halbwüchsigen, die am Eingang zum Wohnblock herumlungerten, trotz hilfesuchender Blicke nur grinsend zusahen, wie er sich plagte, stieß er die Haustüre mit dem Fuß auf. Nach dem dritten, kraftvoll gesteigerten, von dem Hauruck der Typen begleiteten, endlich erfolgreichen Versuch erhielt er Beifall von den Kerlen.
„Verdammte Brut, verkommenes Gesindel, asoziales Mistpack!“, wetterte er – allerdings gerade nur so laut, dass bloß ein Geräusch seiner Unmutsäußerung zu den – wie er überzeugt war – dreckigen Ohren der Halbstarken dringen konnte. Mehr wollte er nicht riskieren. Denn er wusste aus der Zeitung und dem Fernsehen, dass diese verkommene Jugend auch mit Messern und Schlagstöcken hantierte. Er hatte gehört, dass sie einen ganz arg zurichten können und dafür dann vom Gericht nur mit ein paar Stunden „sozial nützlicher“ Arbeit bedacht würden. So etwa an vier Wochenenden in einer sozialen Einrichtung. „Ich liege einstweilen halb krepiert im Krankenhaus“, warnte er sich.
Dann war der Aufzug da. Die Tür öffnete sich. Er verstaute seine Sachen und streckte gerade die Hand aus, um das Stockwerk anzuwählen. Da zwängte sich eine nicht gerade hagere Frau, so am Beginn des dritten Lebensjahrzehnts mochte sie stehen, in den Kasten und war dann beinahe hautnah bei ihm. Piscator lief ob dieser Nähe ein angenehmer Schauder über den Rücken. Er blickte allerdings in einer Mischung aus Freundlichkeit und Vorwurf an der Frau vorbei. Sie behauptete, sorglos lächelnd: „Das schafft die Kiste locker nach oben! Da können noch ein paar rein!“ – Was sich Piscator allerdings gar nicht wünschte.
Ein missverständliches Lächeln mochte sich in seine Züge verirrt haben. Die Tür hatte sich gerade geschlossen. Als er ihr in das von Vitalität strahlende Gesicht und in die lustigen Augen blickte, errötete er. Er hätte jetzt gerne etwas gesagt, aber es fiel ihm nichts in dieser Situation Verwertbares ein. Angenehm peinlich berührt, schloss er die Augen. Als der Fahrstuhl mit dem vertrauten Ruck anfuhr, war da wieder das wohlige Gefühl in der Magengegend. In dem Augenblick wurde Piscator auch des eindringlichen, ihn auf unerklärliche Weise ungemein herausfordernden Odeurs seines weiblichen Gegenübers gewahr, das sogar den scharfen Aufzuggeruch übertönte. Lustvoll überwältigt, öffnete er wieder die Augen – und erblickte ein glühendes Strahlen. Ist ja irgendwie toll, dachte er sich, und nahm diesen Glanz für Augenblicke wieder hinter die geschlossenen Lider mit.
Aus Ratlosigkeit, was jetzt zu tun sei, streckte er dann den Arm aus, um an ihr vorbei noch mal die Stockwerktaste zu drücken. Sie musste diese Geste missverstanden oder bewusst fehlgedeutet haben. Jedenfalls sank sie Piscator mit einem tiefen Seufzer an die schmale Brust.
Piscator konnte nicht ausschließen, dass ihr in ihrem Befinden etwas Abträgliches zugestoßen sei. Klar, die Hitze, der viele Stress. So konnte er gar nicht anders, als sie in einer Aufwallung karitativen Fühlens zu umschlingen und festzuhalten.
Seine Last war allerdings voll bei Sinnen und quicklebendig, das fühlte er ganz deutlich. Wieder überkam ihn dieses ungemein angenehme Schaudern. Er hielt sie weiter umschlungen.
Sich in ihrer umfangenen Lage sanktioniert fühlend, begann die Frau damit, etwas zu erzählen.
Piscator war über das Mitteilungsbedürfnis zwar erstaunt, bereute seinen Handlungsirrtum von vorhin jedoch keineswegs. Er fühlte das fremde weiche Fleisch an seinem Körper unter den verbalen Lebensäußerungen angenehm beben. Ja, ihre weiblichen Konturen arbeiteten sich tief in Piscators Bewusstsein und lösten eine ihm schier unbekannte Wallung aus.
Und das alles in wenigen Momenten. Es ist ein Wunder, war er überzeugt.
Sie mussten gleich auf Höhe des dritten Stockwerkes sein. Diese Eva redete immer noch. Eine Etage weiter schien das Stenogramm ihrer Lebensgeschichte abgespult. Piscator hatte jedoch nur etwas von vier bis fünf größeren Hieben des Schicksals mitbekommen, die sich ihr meist in Gestalt von Mistkerlen mitgeteilt hatten. Auf jeden Fall wusste er nun, was für ein gebeuteltes, schutzbedürftiges Wesen er da in seinen Armen hielt. Das richtige Leben also, kein Spuk – und immer noch reichlich angenehm, ungemein prickelnd.
Piscator befiel es, dieses Leben halten zu wollen. Sich also etwas einfallen lassen zu müssen, wie das stetig nach oben strebende Gefährt zu stoppen sei. Allerdings hätte ein Eingehen auf die ihm immer noch vorgetragene Biografie eine Denkleistung in zwei Schichten erforderlich gemacht, mit allen Gefahren der Fehlleistung. „In dieser so wichtigen Phase deiner Existenz darf dir kein Schnitzer unterlaufen!“, ermahnte er sich.
Als der Zielruck, der die Eingeweide ebenfalls immer so angenehm bewegte, erfolgt war, drückte Piscator einfach die Taste fürs Erdgeschoss. Seine Leibdame kicherte, griff nach hinten. Sie brachte mit einer gewissen Tastenkombination den Fahrstuhl noch vor Erreichen eines Stockwerkes zum Stehen.
Piscator hatte bis jetzt noch kein Wort gesprochen. Was nun ablief, machte das auch weiterhin überflüssig. Hatte er je gehört, dass eine Frauensperson viel Zeit und Mühen aufzuwenden habe, um sich anzukleiden, so erhielt er jetzt und in diesem engen Raum den Beweis, dass der umgekehrte Vorgang keinesfalls des gleichen Aufwandes bedarf. Sicher, es war ein sehr warmer Tag, niemand hatte sich mit viel behängt. Es war dennoch bemerkenswert, was da äußerst behände ablief.
Alles erschien ihm jetzt märchenhaft unkompliziert. Abgesehen davon, dass sie ihm in einer gewissen Zuordnung behilflich sein musste, weil er da anatomisch nicht so bewandert war, lief alles beinahe wie von selber. Jedenfalls war alles befreiend, vor allem unkompliziert.
Piscator glaubte am Ende nicht mehr, dass er bis vor kurzem noch anderer Meinung gewesen war. Nämlich dass alles, insbesondere alles mit dem anderen Geschlecht, sehr verwickelt sei. Er war, noch im Aufzug, davon angetan, ab heute alle Leute, die es sich so einfach machen und das Leben überhaupt auf die leichte Schulter nehmen, ganz und gar zu verstehen, ja einer von ihnen zu sein.
Der Aufzug musste wieder in Fahrt gebracht werden, bevor sich ein Menschenauflauf bilden oder gar der Hausmeister anrücken würde. Sie fuhren zur Tarnung einen Stock weiter und begaben sich dann über die Treppe nach unten. Das war umständlich genug mit dem Fahrrad und dem Einkauf. Doch auch hier zeigte sich das zupackende Talent von Piscators Begleiterin. Vor dem Eingang zu seiner Wohnung strengte er sich an, doch noch ein Wort herauszubringen: „Kommen sie – du-sie mich besuchen? Doch einmal“, stotterte er. Sie hatte ihn erschrocken angestarrt, als er den Kopf bei seinen Worten angestrengt nach vorne geschoben und irgendwie idiotisch geglotzt hatte. Gleich war jedoch wieder dieses Piscator total durchdringende Lächeln in ihren Zügen. Freudige Zustimmung. Ein flüchtiges Küsschen. Dann tippelte sie davon.
Mit geschlossenen Augen lauschte Piscator den sich entfernenden Schritten nach. „Ein Wunder ist dir widerfahren!“, kam ihn noch einmal an. „So ein Gefühl, bei dem es sich um nichts Geringeres als um Seligkeit handeln musste. Sie hat wohl nicht weit“, kalkulierte er und schloss die Tür. „Gleiche Etage. Nur etwas weiter hinten. Die habe ich doch schon gehört. Das ist die mit diesem tänzlenden Gang. Selbstverständlich. Habe ich richtig eingeschätzt: eminent erotisch. Jetzt mit dir. Du Ferkel, Piscator!“, betitelte er sich voll Wonne und lachte laut.
Durch die Umstände gefestigt, packte er beschwingt seinen Einkauf aus, platzierte das Grünzeug als Ergänzung seiner bereits bestehenden Pflanzung. Schließlich begoss er sein Stückchen spärliche Natur mit dem ziemlich jauchig riechenden Badewasser und beteuerte sich: „Wo es stinkt, da ist auch das Leben wie das Wachstum!“
Einen Ranken Brot in der Hand, setzte er sich aufs Bett und sinnierte etwas dem Tagesablauf nach. Er verspürte heute allerdings nicht viel Lust, den Dingen allzu tief auf den Grund zu gehen. Auch sein Problem, wie ein Loch in die Dachrinne zu bohren sei, bewegte ihn jetzt überhaupt nicht. Er und sank rücklings aufs Bett.
Er mochte ein wenig eingenickt gewesen sein. Als er sich wieder erhob, fiel ihm sein Plan ein, mit dem Tagebuchschreiben zu beginnen. „Mensch, lass die Finger davon!“, sofort sein Einwand. „Aufarbeitungsnutzen! Wozu denn das? Um die Sprache nicht zu verlieren? Du hast es ja gesehen, dass bei den wichtigsten Dingen des Lebens die Sprache gar keine Rolle spielt!“
„Wie bist du geworden, was du geworden bist? Ob das was bringt?
Ob nicht weniger Sprache mehr Leben bringt? Dann die Sprechsprache, die keine Schreibsprache ist. Bloß nicht heute. Nein, bloß nicht! Vielleicht auch morgen noch nicht. Irgendwann einmal! Vielleicht.
Was willst du denn überhaupt? Das damals, wo sie vor der Wahl deinen schönen, teuren Plakatständer ruiniert hatten. Nämlich die von der Gegenseite. So ein tolles Märchen aus der Politik. Im Dorf. Wie war das? – Lasse es doch! – Dennoch! Da hatte der Hupfauf von den Schwarzen in der Sitzung gefragt, wie das mit der Plakatierung zum Wahlkampf gehandhabt zu werden habe. Wo man denn Plakatständer aufstellen dürfe, nachdem es immer wieder Ärger wegen Beschädigungen gegeben habe. Im konkreten Fall gehe es nämlich darum, dass der Bürgermeister dem Zorn Sepp gesagt habe, er solle ein Plakat wegräumen, das direkt vor dem Wahllokal aufgestellt worden war ...
Die verdammte Politik, die ärgert dich doch nur! Und die schöne Laune vom Fahrstuhl heute ist dann ganz futsch!
... Wobei ja äußerst verwirrend war“, konnte es Piscator doch nicht lassen, „dass unser roter Bürgermeister dem schwarzen Zorn den Auftrag gegeben haben sollte, ein Plakat von immerhin seinen eigenen Roten zu beseitigen. Was der schwarze Zorn sicher umgehend gehorsam und mit Wonne vollzogen und das Ding dabei auch, vermutlich ebenso mit Lust, in Brüche hatte gehen lassen. Und dass am Ende, wie gesagt, der schwarze Hupfauf seinen Parteifreund Zorn sozusagen indirekt als Sachbeschädiger geradezu, wenn auch vielleicht gar nicht mit Absicht verpetzt hatte ...
Lass doch solche Verrücktheiten von damals, da bist du doch drüber weg!
... Das Verwirrspiel immer in der bescheuerten Politik, weil jeder immer die anderen an der Nase rumführen will. Um auf den anderen, auch denen aus den eigenen Reihen, rumzutrampeln, um besser rauszukommen. Ach, Mist, jetzt wird mir was klar: Dieser Bastard von rotem Parteifreund hatte einem Schwarzen den Auftrag erteilt ein Plakat von uns Roten wegzuräumen, um damit zu demonstrieren, wie weit er über der Parteilichkeit stehe! Wahlwerbung auf Art eines Verräters!
Du hast da reingehauen: Jetzt wissen wir endlich, wer das war! Der Plakathalter ist nämlich zerstört worden! Jetzt haben wir endlich einen erwischt von denen, die unfairen Wahlkampf mit Vernichtung von Plakaten der Gegenseite betreiben. Klar, du hast doch immer reinhauen müssen.
Mein Gott, dieser alte Käse!
... Und was hast du getan? Klar, dem sehr geehrten Herrn Zorn eine Rechnung über den Wert des zerstörten Plakatständers geschickt – und dir damit den ganzen Volkszorn zugezogen.
... So was habe es noch nie gegeben! Von wegen eine Rechnung für so ein bissl was! Im Ort sei schon viel zerlegt worden. Aber Rechnung habe es nie gegeben. Nicht einmal nach einer Wirtshauskeilerei, wo nicht nur Einrichtung, sondern durchaus auch Knochen in die Brüche gegangen seien!
Ein paar Tage darauf der Anruf vom Zorn ...
Mensch, du steigst jetzt doch voll ein in die alte Klamotte!
... Müsse die Rechnung und die Behauptung, er habe was sachbeschädigt, augenblicklich zurücknehmen! Weil sonst Anzeige wegen Verleumdung. Du hattest ihm gesagt, er solle sich bei seinem Parteispezi Hupfauf beschweren, der die Sache ins Rollen gebracht habe.
Ha! Idiot, du wühlst im alten Mist? Jetzt, an dem Tag, wo du richtig entspannt sein könntest.
... Und das ging noch eine Weile hin und her. Das war es doch. Weißt du noch? Was hast du denn überhaupt bei der ganzen Sache empfunden? – Immer wieder dieser Bürgermeister, mit dem ja die Rechnungstellung verabredet war. Bevor du sie gestellt hattest!“
„Wecken zehn vor sechs. Aufschluss zehn nach sechs. Frühstück fünf vor halb sieben ... Du kennst das inzwischen. Elf Uhr Hofgang ...“ Gandauer unterbrach die Lektüre des Heftchens ‘Wegweiser Hofgang‘. „Auch wieder so ein Wort!“ Er stellte sich dabei einen von hohen Mauern umschlossenen Raum unter freiem Himmel vor. „Kümmerliche, abgerissene Häftlingsgestalten marschierten da in Reihe und dauernd im Kreis und von bewaffneten Wärtern beaufsichtigt. Scharf ermahnt, wenn sie miteinander zu sprechen versuchten. Alles Kino!“, beruhigte er sich. „Oder doch Wirklichkeit? Vergangene. Von mir mitgestaltete Wirklichkeit, damals.“ Dieser Vorwurf setzte sich bei ihm fest. Er wehrte sich dagegen, er habe doch nicht direkt bei diesen Vollzugsangelegenheiten mitgewirkt. Er sei nicht einmal entfernt damit befasst gewesen. Er ging in den Hof. Er jammerte sich noch vor, dass einer so oft Sklave seiner Vorstellungen sei. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und begann im Kreis zu trotten. Immer wieder tauchte jedoch die Frage auf, ob er nicht doch ... Er begann, in der Erinnerung zu kramen, schließlich richtig zu graben: „Selbstverständlich, diese Sachen alle, die damals bereits als Schweinereien bezeichnet worden waren. Hinter der vorgehaltenen Hand! Wer offen davon sprach, war weg vom Fenster. Da hatte einer nicht vergessen dürfen, ausnahmslos alle Maßnahmen des Vollzugs als führergegeben und damit auch als unbedingt erforderlich zu bezeichnen!“ Gandauer wollte weg davon. Dabei half ihm endlich der Bericht Sterzingers. Der hatte ihm mitgeteilt, dass eine Antwort von Peters eingegangen sei. Peters habe ihn erneut angerufen. Peters habe dabei etwas dahergebracht. Wieder ziemlich durcheinander. Bis er sich gefangen zu haben schien. Nämlich als er von einem Odtke direkt zu schwärmen begonnen habe. Jenem Odtke, der in dem Nachruf erwähnt worden war. Ein wunderbarer Mensch sei der gewesen. Und ach, dieser Peters habe sich gleich gar nicht mehr gekriegt. So dass er, Sterzinger, nun doch den Brief von neulich ganz gelesen habe. Den er natürlich vor Weitergabe habe kopieren lassen. Die Kopie befinde sich jetzt sogar in seiner Akte Gandauer, und zwar nebst den Ablichtungen der anderen Briefe.
„Peters hat sich Odtkes erinnert – erinnert bekommen!“, freute sich Gandauer. „Wieder oder immer noch seine aufgeregte Zuneigung. Ich kenne dich doch, Peters: Je zugeneigter du dich gibst, desto deutlicher verrätst du, dass du dich selber überreden musstest, dich einer Widerwärtigkeit zu widmen. Das bringt mich jetzt darauf, dass du uns von der Bewegung im Grunde ablehnend gegenübergestanden warst. Eine späte Erkenntnis, lieber Peters. Vielleicht so eine Figur wie Brechts Keuner: ‘Liebst du mich?’, fragte der Okkupant und warf sich in Keuners Bett. Keuner sagte nichts und bediente den Eindringling weiter. Als der Eindringling verendet war, reinigte Keuner das Bett und den Raum. Dann antwortete er: ‘Nein’.
Peters, ein Mann des heimlichen Widerstandes – und all ihr anderen abständlich freundlichen, angewidert dienstbereiten Menschen zu jener Zeit!“
Mit diesem Einfall hatte sich Gandauer schier in Trab gesetzt. Dann musste er stehen bleiben, um Luft zu holen. Mit den Gedanken war er aber noch beim Bericht Sterzingers: Peters habe noch geäußert, er erinnere sich wohl an einen Gandauer, nicht jedoch daran, dass dieser ihm in irgendeiner Weise nahegestanden hätte. Eher im Gegenteil, denn dieser Gandauer habe zu den Zeitgenossen gehört, denen man besser aus dem Weg gegangen sei. Auch wenn es sich jetzt um einen anderen Gandauer handle, könne er sich nicht veranlasst fühlen, mit ihm in einen Briefwechsel zu treten.
„Natürlich, diese Verrenkung“, mäkelte Gandauer vor sich hin. „Du schleimiges Fossil!“, ärgerte er sich: „Es ist klar, dass sie in deinen gehobenen Kreisen auf Distanz als eines Betriebsstoffes der Höflichkeit geachtet haben“. Gandauer setzte seine Runden fort.
Da hörte er ein Lachen.
Gandauer schaute in die Richtung, aus der das gekommen war. Er sah zwei Männer. Sie machten ihm den Vogel. Gandauer nickte den beiden trotzdem freundlich zu. Als die zurückfeixten, grüßte Gandauer, indem er mit der Hand lässig winkte. Dann ging er weiter und war gleich wieder bei Peters: „Die heilige oder himmlische Hedwig sei ja die Schutzpatronin Schlesiens. Jedoch fiele es dir heute schwer, behauptest du, Peters, dich einer besonders erwähnenswerten irdischen Hedwig zu erinnern.“
Gandauer war über einen etwas herausstehenden Pflasterstein gestolpert. Er strauchelte ein paar Schritte. Da war das Lachen wieder. Sein Herz hämmerte, und er wäre am liebsten in seine Zelle gegangen. Er setzte jedoch seine Runden fort.
„Wie hast du Hedwig den Hof gemacht, Peters“, redete er vor sich hin und ging zur Hauswand, um sich anzulehnen und etwas auszuruhen. „Was war Hedwig doch für dich die hochverehrte gnädige Frau in deinen lächerlichen Kavaliersszenen. Die du hinter deinen überdimensionalen Blumensträußen hervor gespielt hast. Du feister Harlekin!“
Er war dann in seine Zelle gegangen, saß nun mit leichtem Schwindelgefühl am Tisch und starrte eine Weile mit verschwommenem Blick an die kahle Wand.
„Da müsste ein Bild hängen“, meinte er. „Ich habe gar kein Bild von ihr. Hedwig. Hedwig, meine kleine Vorstadtprinzessin“, klagte er. „Ich besitze kein Bild von dir. Und das in meinem Herzen. – Im Herzen, oh! – Und das in meinem Herzen ist ganz verblasst. Nein, übermalt, retuschiert. Zur schieren Unkenntlichkeit verkommen. – Verkommen? In meinem Herzen übermalt und mir fast abhandengekommen. Ein Abgrund von Erkenntnis, Gandauer! Und das auch noch: Auch ich selber bin übertüncht. Sie würde gar nicht wissen, wer hinter der Oberfläche Gandauer steckt!
Meine Wände waren immer kahl. Das ist so ein Akt der Treue gewesen, solltest du gerne zu wissen bekommen, liebe Hedwig, du verblasste Herzensdame. Ob du überhaupt noch lebst?
Aber was bedeuten die Bilder im Herzen, egal welcher Qualität sie sind?
Ob einer seine eigenen Vorstellungen renovieren kann?
Wie haben wir dieses Treiben unseres Hofnarren Peters genossen, dieses vor Unterwürfigkeit verschrobenen Pillendrehers. O ja, meine Prinzessin, damit warst du verführbar! Hofhaltung!
Was haben wir auch Hof gehalten.
Hat uns das nicht etwa zugestanden?
Herrgott, die Zeit! Voll Genuss! Wir haben nicht viel benötigt, wir kleinen Handelsgehilfen im Glück. Ein Häuschen im Grünen – das allerdings ein richtiges Haus geworden ist: Walmdach und Klinkerelemente und wuchtige eichene Haustür. Und redlich erworben, redlich abbezahlt!
Und Kinder dazu.
Ab und zu ein wenig Öffentlichkeit, ein wenig im Mittelpunkt stehen. Man war wer – geworden.
Ich, der Ladenschwengel, du, die kleine Schuhverkäuferin. Wir waren zu arbeiten gewohnt und haben im Grunde nicht viel erwartet. Wie es eben in unseren Kreisen üblich war.
Ein wenig Anerkennung. Dafür haben wir alles gegeben, was wir hervorbringen konnten.
Ein Fehler vielleicht, diese Verausgabung?“
Gandauer blieb noch eine Weile in seiner Bilderwelt und versuchte, die quirligen Szenen zu ordnen.
„Solche Leute wie dich, guter Peters“, bestätigte er sich schließlich stolz, „haben wir uns natürlich mit boshafter Wonne geleistet. Wir kleinen Aufsteiger sind nun mal so. Und jetzt sollst du wieder von mir hören!“:
Auf dringendes Anraten meines Bekannten hier, verehrter Herr, muss ich mit meinem Rätsel zum Ende kommen. Es sei Ihnen beteuert, dass dieses alles in allem liebenswürdige Gemeinwesen meiner Betrachtungen niemandes schlechte Laune verdient hat.
Ja, ich liebe mittlerweile diese Stadt als Muster der Unversehrtheit (welche ich auch unserem Breslau so sehr gegönnt haben würde). Bezüglich des Publikums hier bin ich allerdings nach wie vor in Verlegenheit. Ich hatte Ihnen bereits angedeutet, weshalb dem so ist. Meine Quellen sind eben dürftig. Hinzu kommt noch, dass mein einziger Gewährsmann, dessen Bericht wegen der Ortskundigkeit seines Urhebers ein gewisser Grad an Authentizität zuzubilligen war, bald für einige Zeit nicht mehr erreichbar sein wird, ohne dass er einen nennenswerten Fundus an Mitteilungen hinterlassen hätte. Da erinnere ich mich nur kleinerer, wenn auch nicht gerade harmloser Darstellungen, zum Teil Schnurren, eher zum Zeitvertreib dienlich als zur kritischen Sichtung.
Das ist es allerdings! Im Grunde kommen wir mit unserem Allerlei von Weltbild aus lauter kleinen Geschichten, die nie zu Ende erzählt werden können, ganz gut zurecht.
Doch ich sehe schon, wohin das abermals führte. Ich will es deshalb für heute wieder sein Bewenden haben lassen und mir ein anderes Mal erlauben, Sie erneut anzusprechen.
Gandauer legte das Schreibzeug aus der Hand und ging in seiner Zelle umher. Er wollte damit die Zeit bis zum Eintreffen des Anwalts überbrücken. Diese Wanderung befriedigte nur kurze Zeit, auch waren seine Beine noch müde vom Hofgang. Er plante, etwas zu lesen. „Nach Möglichkeit eine Erzählung, denn irgendwelche geschichtliche Sachen regten nur auf“, meinte er. „Herrgott, es ist wirklich zum Erschrecken: Da liest du über deine Zeit und findest dich dort nirgends und glaubst am Ende, deine ganzen Tage verschlafen zu haben. Schließlich schämst du dich wegen deiner Erinnerungslücken. Informationsdefizite, wie sie heute sagen. Doch tröste dich, Gandauer, die heutige Informationsgesellschaft wird trotz ihrer geradezu überbordenden Mitteilungsfülle am Ende auch nicht gescheiter sein.“
Als Gandauer sich nach einem Geräusch umdrehte, erblickte er wieder Cziflic in seiner Zelle. Gandauer holte tief Luft und trat die Flucht nach vorne an: „Cziflic, ich verrate ihnen: Ich war dabei. Ja, sie haben richtig gehört: Ich war dabei!“
Cziflic machte wieder sein erstauntes Gesicht mit dem offenen Mund und stand sprachlos da.
„Also los! Setzen! Geschichte hören! Denn ich war dabei. Genau wie euer toller Schönhuber Franz seinerzeit. Der jetzt die REP-Partei gemacht und das Buch geschrieben hat. Über das alle reden!“
Cziflic gehorchte aufs Wort. „Schönhuber, Franz, jawoll!“, knarrte er soldatisch und setzte sich.
„Schönhuber Franz, das Buch von dem!“, erinnerte er sich noch. „Nich jelesen, aber von gehört. Und der war auch dabei. Wie er sagt. Und einen auf Partei macht. Ne neue. Wo den anderen schlappen Schwänzen einheizt. Dass se Muffensausen kriegen. Wenn das Bierzelt wieder wackelt. Wenn der Rede hält!“
„Also, Cziflic, das kennen sie schon, und sie lieben es: Weltuntergang. So ‘n richtig satter Weltuntergang. Unsere schöne Welt von damals davor, die ging in Brüche, anno fünfundvierzig. Und wir lagen im Dreck – will sagen in Breslau. Diese geliebte Heimat, wenn sie wissen, was Heimatliebe ist, die jetzt die Polen geklaut haben. Man muss sich vorstellen, gleich ein ganzes Land! In den Sack gesteckt und weg ist es! Sozusagen. Aber jetzt weiter mit Weltuntergang: alles Schutt und wenig zum Fressen. Und von oben der Bombenterror vom Iwan, jeden Tag, den der liebe Gott noch werden ließ. War allerdings doch eher ‘ne gottlose Sache, das. Nicht genug damit: auch jede Nacht. Und, Zwischenbemerkung, Cziflic, das muss ich ihnen sagen: Wir Deutsche haben neununddreißig bereits, als nämlich der verfluchte Krieg erst ein paar Wochen alt war, müssen sie wissen, in weiser Voraussicht – des Führers natürlich! Stellen sie sich vor: Wir Deutsche haben eine Erfassungsstelle für die Kriegsverbrechen unserer Feinde, nämlich, eingerichtet gehabt. Und das dürfen sie voll glauben: Diese tüchtigen Leute von der Erfassungsstelle des feindlichen Terrors, die haben dann in Breslau alle Hände voll zu tun gehabt mit dem feindlichen Terror und ihren Strichellisten und haben jede Bombe und so weiter registriert. Aber der verlauste Iwan hat sich nichts drum geschert und war frech geworden und unsere Luftabwehr war schwach geworden. Jetzt ham se sich getraut, die feigen Lergen. – Sie kennen den Ausdruck Lerge? Das ist ein räudiger Hund. – Die kamen mehrmals am Tage – und bei Nacht sowieso, aber lieber bei Tage, da ham se besser gesehen, die verdammten Äster! Obwohl die Nacht auch beinahe Tag war mit dem Lichterloh der Stadt. Das hat zum Teufel gebrannt wie in der Hölle und war heiß und die Leute saßen in ihren Luftschutzlöchern und haben vor Angst und Kälte gezittert, dass es ihnen warm geworden ist, aber auf verdammt unfreundliche Weise. Mit diesen langsamen Dingern ist der Iwan geflogen. Wir ham se Nähmaschinen genannt, die Dinger. Die waren mit Segeltuch bespannt auf den Tragflächen, haben gesehen, wenn wir mal einen runtergeholt hatten. Und das ging immer. Und wir immer zurück, mit allem, was wir noch hatten. Und wir hatten nicht mehr viel. Also noch genauer gezielt als sowieso schon. Und rundrum schon fast: vom Osten, Norden, Süden, der Kanonendonner von diesen asiatischen Horden. Die haben alles gehabt. Alles: zu fressen, warme Klamotten, Waffen, Munition, Sprit. Eben alles, wo wir nicht hatten! Und die Generäle von denen, die hatten auch genug Leute aus ihren Steppen, die sie feige verheizen konnten. Die haben nur aus Schiss vor dem deutschen Landser nicht gleich voll angegriffen. Obwohl sie alles hatten, vom Amerikaner gekriegt. Und die haben den deutschen Mann erst mürbe schießen wollen. Richtig zuscheißen mit ihren Bomben und Granaten und Teufelszeug wollten die uns. Aber denen haben wir’s gezeigt. Und mir könn’n se’s glauben: Ich war dabei. Und die immer zurück. Satte Salven, Stalinorgel und so! Rumms, peng und so weiter, Tag und Nacht. – Bis hier kenn’ se die Geschichte schon fast, was? Und jetzt bissl weiter: Ich krank, zwar bloß mit ein wenig Fieber und einer Rotznase und solche Sachen. Hatte auch was abgekriegt, aber es ging noch. Oder schon wieder. Aber immerhin reichlich unpässlich gewesen, so auch in Seele. Wegen der Versengung von der ganzen Pracht. Wir sind da mit unserem Opel-Blitz, gute Maschine, durch Trecks von Menschen gefahren. Vertriebene. Man kennt das: Alte und Kinder und Frauen in einer Elendskolonne. Wie die Enten hintereinander, sage ich ihnen, Cziflic. Man konnte gar nicht hinsehen. Wer aus der Reihe aus dem Tritt kam, der war erledigt. Und von oben immer die Flieger! Runter! Rrrr. Und immer rein in die Leute! Rrr, MG-Feuer! Gemäht mit ihren Salven. Da hielt Freund Hein reichlich Ernte. Du hast dir da den Sensenmann in Aktion gut vorstellen können und wie die Leute früher auf so was gekommen sind! Die armen Schweine in die Gräben rein, wo welche waren. Und gleich wieder auf, raus und weiter. Das zu Klump Geschossene liegen gelassen. Die Toten und so weiter gar nicht mehr weggeräumt. Und einfach liegen gelassen. Und wir mitten durch oder im Zickzack und auch mal drüber. Und der Fahrer, ein eiskalter Bursche sonst: mit Tränen jetzt auf beiden Backen. Rotz und Wasser! Nicht weg von der Hupe und durch. Mensch, wir waren in Russland gewesen, in die Erde eingebuddelt und unter Kanonenfeuer, tagelang, nächtelang. Aber so beschissen war uns nie zumute wie da! Und ich hinten auf der Pritsche und krank, und kranker noch von dem ganzen Elend da unten zu Fuß! Da drinnen, schau’n sie her, Cziflic, da drinnen, im Herzen! Ich lehne an der warmen Wand von unserem Holzgaser und muss mit anseh’n, wie die da draußen frieren und furchtbar elend dran sind und sich dahinschleppen mit letzter Kraft. Ich schlage mir meinen Ranken Kommissbrot rein, mit von die Tränen nass und so leichter zum Runterzuwürgen. Und wie ich so kaue, muss ich sehen, wie die da draußen hungrig, hohlwangig, ausgezehrt dahinwanken. Nur noch eine hauchdünne Schicht Leben um die Seele rum. So ein Elend! Und bei dem Anblick von der ganzen Krepiererei ein anständiger Mensch bleiben, das soll uns erst wer nachmachen! Dann Straßensperre. Ein Kettenhund schreit: ‘Absteigen. Aufstellung!’ Schreit weiter: ‘Der Russe ist mit Panzern durchgebrochen! Los ab. Zu den Hitlerjungen und dem Volkssturm!’ Und der Bulle fuchtelt mit seiner MP rum. Ich los, noch das Maul voll Kommissbrot, das ich vergesse habe vor Angst und mit meinen Kopfschmerzen, war doch klar. Ich greif mir eine Panzerfaust und in die andere Hand noch eine. Ich rein in ein Loch mit meinen Kopfschmerzen, schluck das Brot runter. Und dann ging’s auch schon los: Kanonendonner, Granatenschlag und immer rinn in die hart gefrorene, gequälte deutsche Erde, dass die Eisbrocken fliegen. Ein Hagel eisiger Lehmbrocken geht auf mich nieder und schlägt geißelnd auf meine Uniformfetzen. Und ich denk mir, wenn es mich zumacht, dann bin ich wenigstens halbwegs begraben wie ein anständiger Christenmensch und mir reißt kein Raubzeug das Fleisch von der Arschbacke und der Iwan die Uhr nicht vom Handgelenk. Und ich, mit so’ne Gedanken im Kopf und der Kopfschmerz plötzlich weg und die Nase trocken. Immer Augen voraus und gewartet. Da war’s dann: das schreckliche Herandrohen der dumpfen Motorengeräusche! Mir fährt’s durch die Knochen: Feindberührung! Mir ist’s wie eine klamme Hand an der Gurgel! Ich sag mir noch: So ‘ne Herde von den stählernen Ungetümen! Auf mich zu! Scheiße! So eine große Rotte! Menschenskind! Stück um Stück aus dem Dunst am Horizont aufgetaucht! Wie riesengroße und böse Elefanten auf mich zu. Immer näher. Immer. Das wird ja allmählich wie ein wanderndes Gebirge von lauter krachend Feuer spuckenden Bergen auf mich zu! Noch einer und noch einer! Das hab ich ja den ganzen Krieg noch nie packen müssen! Wo kommen denn die ganzen Monster her, direkt aus der Hölle? Frage ich mich. Ist’s nur ein Spuk und bin ich schon irre vor Schiss? Weil, so was gibt’s doch nicht! Haben die alle zusammengeholt, um sie auf mich da in meinem Loch loszulassen – nur auf mich! Wo ist Kamerad? Dann höre ich auch bereits das quietschende Mahlen der Ketten! Mir geht’s ganz blödsinnig um in der Birne! Mir erscheinen plötzlich die vielen zerquetschten Läuse aus mei’m Hemd. Wenn man abends so dasaß irgendwo. Dieser irre Gedanke packt mich! Diese zerquetschten Läuse. Und die großen Dinger ranbrummen, bedrohlich mit dem dumpfen Mordsgeräusch. Und wie das immer aussah mit dem Blut aus den Läusen. Das immer mein Blut war. Und mein Herz hämmert immer höher und hämmert schon am Hals. Da wird mir der Kragen zu eng. Ich reiße ihn auf. Jetzt wächst es in mir. Es kommt wieder: immer die Wacht! Geradeaus geschaut! Die Pflicht! Das Vaterland! ‘Du bist ein deutscher Mann!’, brülle ich mich an und gegen den Lärm! Und der Führer erwartet deinen letzten Einsatz für den Führer, der auch den letzten Einsatz bringt fürs Volk und sich selber, dass er uns erhalten bleibt für den Endsieg. Angelegt! Da sehe ich auch meinen Kameraden. Dort vor mir im Loch. Wie er seine Panzerfaust hochreißt. Wie er anschlägt. Feuert. Und Sekunde. Wumm. Das saß! Aus dem T 34 schlagen Flammen. Das Ungetüm brennt augenblicklich lichterloh. Aus allen Löchern schlagen die Flammen. Aber gleich sehe ich zwei von den Ungeheuern aus der Herde brechen und auf das Loch von dem Kameraden zu. Und jetzt ich! Das ist mein Kamerad! Ich hab’ einen Kameraden ...! Ich halte auf eines von den Dingern: rumms! Auch der Hammer sitzt! Und da haut es ebenso Flammen raus. Wie vorhin bei dem andern. Der brennt. Der hat seinen Teil abgekriegt – und da ist noch der andere! Der andere ist überm Loch vom Kameraden! Und ich stiere wie gebannt hin. Und der Mordstahl immer hin und her und hin und her! Die zerquetschen den wie die Laus, brennt es mir durch die Birne! Zermalmen ihn! Machen ihn alle! Ich greife mir Panzerfaust – zähle jetzt bloß nicht, wie viel Faust ich hab! – halte drauf: peng! Eine Ordentliche hingeblättert! – Ich hatt’ einen Kameraden ...! Und die Reste von dem Jungen da unten sind gerächt. Friede seinem Fleisch, sage ich mir. Und auf Wiedersehen bei den Vätern! Aber eh’ ich mich umdrehe, da sehe ich einen von den verfluchten Tanks auf mein Loch zuhalten! Mensch! Raus aus dem Loch, blitzt es durchs Hirn! Mensch hau ab! Und grade noch gelingt’s. Und weg, und ich fühl hinter mir auch schon einen über meinem Loch mahlen, aus dem ich wie ein Wiesel bin, ich höre die Geräusche, das geht immer hin und her und ich haue ab, als ob ich eine Rakete im Arsch habe, weg, weg und da ist ein leeres Loch, und ich rein – und Scheiße schon ist ein anderer über mir, ich bin kaum drinnen und da ist der da, nein, das darf nicht wahr sein! Und ich mache mich klein, mache mich winzig, rolle mich zusammen und zittere und beiße mir vor Angst in den Daumen, ein Gebet, ich erschrecke jetzt auch noch darüber, dass ich bete ...“, Gandauer ging die Puste aus.
„Und?“, wollte Cziflic wissen. „Und was dann? Hast du dem feigen Iwan auch so ‘n scharfes Ding verpasst? Mensch, so ‘n starker Hammer. Ich denke da immer, ihr seid richtige Kämpfer jewesn. Lach’ jetzt bloß nicht, sag ich dir, lach’ bloß nicht, wenn ich dir jetzt was verrate, das ist verdammt ernst: Die Nazi war’n wie in Mickymaus, kommt’s mir immer. Da ist immer so ein tolles Vieh bei Mickymaus, das geht durch alle Wände: Flutsch, so dass du die Umrisse von dem Vieh noch nachher in der Mauer siehst. Aber es ist durch, so wie mein Nazi. Und wenn das Vieh doch mal platt ist, dann steht es gleich wieder auf, glotzt rundum und macht weiter!“
Gandauer beherrschte sich und verzog keine Miene. „Als die Russen dann wieder weg waren ... Ich weiß gar nicht warum. Jedenfalls lag ich, jetzt wieder aufgerollt in dem Loch, sah zum Himmel, fühlte mich wie eben auf die Welt gekommen. Dann habe ich mich angesehen. Meine Kopfschmerzen waren weg, die Rotznase trocken. Aber da roch es so sonderbar aus meiner Hose, guter Cziflic, und es fühlte sich auch so an, wie es roch!“
„Das ist ein ganz saumäßig lausiger Schluss von der poppigen Geschichte, Gandauer!“, ärgerte sich Cziflic. „Ich glaube glatt, du willst mich aufn Arm nehm!“
„Gut aufgepasst, Herr Cziflic! Aber das mit der vollen Hose, das passiert den tollsten Helden schon wirklich auch mal!“
Cziflic verabschiedete sich frustriert. Er werde hier weggeschubt, berichtete er noch und machte ein trauriges Gesicht. „Hab bei eim ein bissl zu fest hingelangt“, jammerte er, „bloß, wie’s der Zeltnik mir angeschafft hat wegen die Kohle ging’s da. Wo der Zeltnik jefordert hat. Und der Ratte passiert nix! Den kauf ich mir auch mal, wenn er mir dann in die Finger kommt!“
„Na, gehaben sie sich wohl!“ Gandauer reichte ihm die Hand.
Nach einer Weile überkam es Gandauer, dass ihm dieser Kerl vielleicht sogar einmal fehlen werde. Jetzt, da er entdeckt hatte, dass es einem Spaß bereiten könnte, sich mit verrückten Geschichten an der Geschichte zu rächen.
Beim Eintreten von Hussl schreckte er dann fast zusammen. Er wurde aber nur zum Anwalt geleitet.
Sterzinger begrüßte Gandauer. „Wissen sie, was in ihrer launigen Briefserie noch fehlt“, eröffnete er mürrisch das Gespräch, „was sie ihrem, wie sie behaupten, Bekannten unbedingt noch mitteilen sollten?“
Gandauer wartete.
„Nun, sie haben in ihrem Brief vom militärischen Gürtel um unsere Stadt gesprochen. Im Übrigen in einer Weise, das muss ich ihnen als Kind dieses Gemeinwesens sagen, die ich nicht ganz akzeptieren kann. Weil in ihren Ausführungen ungerechtfertigte Kritik verpackt ist!“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Meine Heimatstadt hat eine alte Militärtradition. Das belebte die Gemeinde, Handwerk und Handel ... Allerdings bin ich nicht zum Historisieren hier!“, ärgerte sich Sterzinger über sich selber.
„Natürlich haben sie recht“, wollte ihm Gandauer beispringen. „Von den Bürgern wurde immer als Teil ihres Bürgersinns auch die Wehrhaftigkeit gefordert. Staatsbejahung ist eben immer auch mit handfestem Einsatz fürs Gemeinwesen verbunden gewesen.“
„Was soll’s?“, warf Sterzinger ein, immer noch verärgert, dass er das Thema angeschnitten hatte. „Ich wollte ihnen etwas anderes vorschlagen. Wenn sie nämlich den Wehrgürtel um meine Heimatstadt angesprochen haben, böte sich jetzt an, dass sie auch noch auf das eingehen, was am Ende des Hitlerstaates der Stadt noch angehängt wurde.“
„Sie machen mich neugierig!“
„Ich bereue es bereits, ihnen überhaupt auf den geschichtlichen Leim gegangen zu sein. Mit Leuten ihrer Generation darf einer eben nicht herumhistorisieren, das ist bei ihresgleichen – sie verzeihen! – alles so festgefressen!“ Er schüttelte den Kopf. Nachdem er sich einen Zigarillo angesteckt hatte, fuhr er fort: „Damit das hier sein Ende hat: Ich meine die Sache da mit der Dynamitfabrik und der geplanten Flugzeugfabrik in der Nähe der Stadt.“
„Ich bin ein wenig informiert.“
„Ich lasse mich von ihnen eigentlich gar nicht ohne Absicht in Gespräche verwickeln“, verriet Sterzinger. „Anders kann ich von ihnen nichts erfahren. Sie sind offensichtlich nicht bereit, auf direktem Weg mehr von sich preiszugeben. Ich resümiere: Die Anklagepunkte kenne ich aus der entsprechenden Schrift; von ihnen weiß ich – jetzt auf dem Umweg ihrer sonderbaren Briefe – etwas davon, dass ihre Frau Hedwig hieß und sie auch zwei Kinder haben. Schließlich weiß ich, dass sie Nazi-Aktivist waren.“
„Wenn das nicht reicht!“, kommentierte Gandauer.
„Das genügte für eine unqualifiziert lasche Verteidigung!“, schimpfte Sterzinger. „Doch dafür bin ich mir zu schade! Noch dazu in ihrem Fall unter den Augen der Medien.“
Gandauer entschuldigte sich und begann zu berichten, dass ihm die Familie in diesem Chaos der Flucht richtiggehend abhandengekommen sei. Er gebe auch zu, den Posten eines Kreisleiters innegehabt zu haben.
„Aha!“, horchte Sterzinger auf: „Und die Anklagepunkte?“, bohrte Sterzinger und blickte Gandauer streng an.
„Dazu habe ich eigentlich nicht mehr zu sagen, als da vermutlich in der Akte steht.“
„Mord verjährt nicht!“, fuhr Sterzinger Gandauer erregt an. „Und bei diesen zum Vortrag stehenden Tötungen sollten wir versuchen zu erreichen, dass nicht auf Mord erkannt wird! Sie sollten sich darum bemühen, dass da nicht etliche niedere Beweggründe in die Waagschale geworfen werden könnten von der Anklage!“
Gandauer zuckte die Achsel: „Ich weiß zwar einigermaßen, was in der Akte steht. Doch seien sie mir jetzt nicht böse, ich meine es, weiß Gott, nicht etwa spöttisch: Mir ist, als hätte das alles ein anderer angestellt. Ich kann nicht glauben, dass ich zu so etwas fähig gewesen sei – handwerklich, sozusagen, wenn ich das so ausdrücken darf. Wenn ich auch einräume, dass ich darüber hätte reden, meinetwegen auch dazu hätte anstiften können. Aber ausführen? Nein!“
Sterzinger konnte nur den Kopf schütteln – und er tat das eine ganze Weile.
Beim Verlassen des Raumes blieb Sterzinger noch einmal stehen: „Das mit dem Kreisleiter, Herr Gandauer, steht nicht in ihrer offiziellen Akte!“
Gandauer war erschrocken.
„Ihren Kreisleiter weiß ich jetzt auch nur, weil sie es vorhin gestanden hatten!“, triumphierte Sterzinger. „Haben sie sich etwa verplappert?“ Er ließ Gandauer erst gar nicht zu Wort kommen: „Ganz ehrlich: Das regt mich nicht etwa auf, sondern regt mich ausgesprochen an!“, freute er sich. „Ich ahne, dass sich da endlich etwas auftun lässt. So ein Hinterstübchen in der Existenz Gandauer!“
Eigentlich gut gelaunt das Feld räumend, ließ er den verdatterten Gandauer stehen.
„Wenn es mich so gepackt hat!“, suchte es Frank heim. „Da müsste ich gegen mich selber einschreiten. Eigentlich. Diese Frau in den Gedanken. Das wurzelt richtig auch ein Stockwerk tiefer. Doch nicht etwa? Lasse es doch lieber nur bis zum Herzen kommen! Hilda!
Du lieber Gott, wo soll das hinführen? Herrgott, ein Stoßgebet vielleicht?
Wie kann ich mir nur den ganzen Schwulst aus dem Hirn ätzen? Wenn ich versuche, diese holde Maid mit dem Dreck zu bewerfen. Nämlich des Bodens unter ihren Füßen, auf dem sie immerhin steht. Und das auch noch, wie es scheint, mit ganzer Überzeugung, mit ganzem Herzen? – Ach ja, schon mal die Einsicht, dass sie da für mich gar keine Liebe übrig hat, wenn ihr Herz bereits besetzt ist! Prima, das kühlt bereits ein wenig ab! Nun noch eines drauf: Mich jetzt über Gandauer, meine Klagemauer, noch weiter weghetzen!“:
Lieber Herr Gandauer,
so viel weiß ich nun schon über diese Leute, dass ich Ihnen einen bunten, arg abgelatschten Flickenteppich der Begriffe vorlegen kann:
National befreite Zone, Teleskopstock, Wehrsport, saubere Jugend, heimat- und volksbewusst, Wehrwolfshof, Heil Dir, wehrhaftes Mannestum, Zwille und Stahlkugel, schwarz-weiß-rotes Tuch, Mut- und Messerprobe, morgendlicher Fanfarenstoß, Orientierungsmarsch, Heldengedenken, Fahnenappell, Heranreifen zur völkischen Lebensgemeinschaft, Fahneneid und so weiter.
Die Reihe wäre fortzusetzen, worauf ich jedoch verzichten kann, da Ihnen diese Blütenlese – seien Sie mir bitte nicht böse! – wohl gar nicht so unbekannt vorgekommen sein mochte. Ich bin mir allerdings sicher, dass Sie diesen schäbigen (um beim Bild zu bleiben) Flickenteppich gar nicht (mehr) betreten wollen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch bitte mit einer geradewegs kabarettreifen Nummer fortfahren: Das aufgeführte Heil Dir hatten sie in „meiner“ Bande eher als Heil Hier zu formen. Bei geschickter Aussprache sei nämlich das D zu verschluckt, so dass das vorweg behauchte, also mit vorgeschobenem H dekorierte I klanglich angehoben wird. Wenn sie dann auch noch das abschließende R rollen ließen, könne annähernd die berüchtigte, gesetzlich verbotene Lautfolge ausgestoßen werden. Jene des sogenannten Deutschen Grußes. Das wurde von der Führung ausführlich erklärt, mit Beifall bedacht und anschließend geübt. Dass dabei die rechte Hand ausgestreckt hochgefahren wurde, erklärt sich hier beinahe von selber. Allerdings durften nur Daumen und Zeigefinger gestreckt erscheinen. Hierdurch sollte das gesetzliche Verbot umgangen werden.
Ein makabrer Spaß, den ich, seiner Tollheit wegen allerdings auch ein wenig genossen hatte. Wenn Sie sich nur vorstellen wollten, was da los war, wie sie herumbrüllten, sich ihre klanglichen Schöpfungen vorführten, sich gegenseitig korrigierten und am Ende die Mädchen zur Erledigung weiblicher Tätigkeiten wegschickten, um sich ohne sie unter dem Abgrölen von liedähnlichem Krach volllaufen lassen zu können.
Wenn Sie gestatten, werde ich wieder bei Ihnen vorbeischauen, wenn es Ihr Besucherbudget von diesen zwei Mal pro Monat zulässt und sie nicht vielleicht andere Personen bevorzugen.
Mit freundlichen Grüßen, Ihr
Frank Soller
„Da war es wieder!“ Gandauer presste die Hände über der Magengegend an die Brust. „Dieses Reißen da hinter den Rippen. Was war es? Ein Stechen wie mit Nadeln. Es steigerte sich, wurde schier unerträglich. Ich könnte aufschreien. Es wird von Mal zu Mal stärker. Dann ein Anflug von Schwindelgefühlen.“
Gandauer hatte damit seit einigen Tagen zu ringen. Es legte sich allerdings immer wieder. Er begann bald, direkt darauf zu warten. In einer Mischung aus Bange davor – und Spannung, zu was es noch führen werde.
Gelegentlich überfiel es ihn: „Einmal ist es eben aus!“
Er verscheuchte diesen Gedanken sofort.
Gleich war er allerdings wieder da – wie ein lästiges Insekt: „Den Kratzfuß machen! Blicke auf dein Alter!“ Es hatte sich eingeschlichen: „Du wirst den Löffel abgeben müssen, das ist klar!“ Es wuchs sich aus und war bald dauernder Begleiter: „Über den Jordan gehen!“ Gandauer nahm es schließlich an: „Freund Hein ist hier, was soll’s? Das ist der Lauf der Dinge, werde ich mir eingestehen müssen. Da gibt’s keinen Widerspruch. Doch es kann nicht einfach so zu Ende sein mit mir! – Und ob es das kann! – Doch nicht so, wegen dieses bisschen Stechens da – und seiner Ursache. Das will einer nicht einfach so glauben. Obwohl jeder darum weiß. Da zeigt es sich wieder: die Sache um das Glauben und das Wissen! Es gibt nichts, was so unwiderlegbar wäre wie das mit dem Ende. Da gäbe es doch nur eine Möglichkeit! Nämlich die, den Modus des Abgangs selber zu wählen. Freilich. Indem ich es selber erledige. So als eine Abrechnung mit mir selber. Pistole. Ich bin ein Pistolentyp, dessen war ich mir immer sicher. Da gab es allerdings schon eine Reihe anderer Umstände, über die ich ohne diese Endbestimmung hinweggekommen war. Jetzt das hier, was aus meiner Generation alles auf mich fällt, was ich jetzt alles tragen und ertragen soll. Aber Freund Hein ruft einer nicht. Der kommt von alleine. Zu seinem Altbekannten, seinem Gehilfen. Nämlich dem mit seinen vielen Reden über die Reinerhaltung der Rasse und mit dem mörderischen Auslesegeheiß. Darin träfe eben die Anklage gegen euch Kumpane zu, Gandauer, einschließlich Odtkes! Vom Rednerpult aus, vom Schreibtisch aus geschah es durch mich. Der andere war Werkzeug. Das auf jeden Fall. Und ganz am Anfang im Hirn bereits, in Reih und Glied, im Tritt mit einer potenziellen Mörderbande. Oder auch mit seiner bloßen Existenz in der Zeit. Jeder frage sich gefälligst, ob er nicht allein mit dieser Tätergeneration, der er angehörte, ohne dagegen mit aller Kraft anzugehen, schon ein Täterindividuum sei. Ein Unmensch, der seiner Strafe nicht entkommen darf.“
Er hatte sich auf sein Bett gelegt und mit den Fingerspitzen der linken Hand den Brustkorb abgetastet, indem er mit der rechten Hand den Druck verstärkte. „Haut und Knochen“, stellte er fest, als ob er sich selber neu wäre. „Vielleicht ist es dieses Magersein, dass es sticht. Da fehlt vielleicht nur das Fett, das polstern würde. – Du bist kindisch! Das ist das Alter, deine Krankheit. Oder überhaupt der Lauf der Dinge.
Der Lauf der Dinge, diese namenlose Straße! Eine poetisierte Umstandsbeschreibung“, urteilte er und wiederholte sich: „Der Lauf der Dinge, diese namenlose Straße. Jeder ist auf diesem Wege. Und das Ziel kann nur in einem selber liegen. Das Letzte ist auch das Höchste: Jeder legt am Ende das Bewusstsein ab. Das Bewusstsein, diese offene Wunde.
O Junge, was ist dir da wieder eingefallen!“
Das Stechen wurde deutlicher, es nahm an Heftigkeit etwas zu und breitete sich aus.
„Mensch, sei doch nicht bescheuert!“, hatte ihn Cziflic neulich aufgefordert. Alle gingen hier im Bau und überall auf der Welt gleich zum Doktor. Wenn’s nur mal ein bissl kneift. Sie ließen sich krankschreiben. Oft brauche der Mensch einfach bloß etwas Ruhe auf Krankenschein. Um wieder ganz zu werden. Denn manchmal sei die Müdigkeit schon eine Krankheit, wenn sie nicht alle werden will. Damit hatte sich Cziflic in überraschende Höhen von Kopfarbeit geschwungen: „Die Müdigkeit, aus der leicht so’ne radikale Müdigkeit mit dem Leben werden kann. Ich werde dir mal was sagen“, hatte es bei ihm geklungen: „Der Mensch ist immer irgendwie krank!“, kam dann auch noch von ihm. Cziflic hatte weiter etwas über ihn als einem knorrigen Altdeutschen mit dieser tollen Vergangenheit dahergebracht. Hier gehe jeder zum Arzt, wenn es nicht mehr klappt. Das sei sein Recht. „Und Recht hat einer nun einmal. Jedenfalls aufm Papier.“
Gandauer war von dieser Abschiedsbotschaft sehr beeindruckt gewesen. Cziflic war ja verschubt worden, weil er wieder einmal seine Faustwaffen im Dienste Zeltniks eingesetzt hatte.
Gandauer hatte sich schließlich tatsächlich zum Arztbesuch gemeldet – und damit sofort eine geradezu hektische Betriebsamkeit um seine Person ausgelöst. Der Stellvertreter des Anstaltsleiters war sogar kurz bei ihm gewesen. Die Wärter sahen in regelmäßigen Abständen nach ihm.
Gandauer war ob der Betulichkeit ein wenig gerührt und fühlte sich in den Händen von Menschen, denen er Liebenswürdigkeit attestierte.
Bergner begleitete ihn dann wieder einmal. Sie befanden sich auf dem Weg in den Sanitätsbereich und Bergner meinte: „Wenn einer im Gefängnis das Zeitliche segnet, wie es so schön altdeutsch heißt, dann ist für unsereinen der Teufel los, verrate ich ihnen. Da macht sich der Laie keine Vorstellungen. Du siehst in den Protokollen und im ganzen Kram nach! Ob da auch alles sauber ist. Ob da nichts fehlt und so. Ob sich da nicht auch noch ein Verstoß, gegen was auch immer, eingeschlichen hat. Und alles rotiert und macht einen auf Umtriebigkeit in der Sache. Sie machen sich keine Vorstellung, Gandauer, wie der Betrieb auf Touren kommt, wenn hier einer abgekratzt ist! Dann geht’s auch schon los: Gutachten, Stellungnahmen, Untersuchungen. Wenn wir dann auch noch die Presse auf den Hals kriegen! Na, danke! Die sind doch ganz scharf auf so etwas. Sind gleich da und wittern immer gleich Verrat an den geheiligten Menschenrechten und dem ganzen Gutmenschenkram.
Bloß keinem von den staubigen Brüdern hier ein Haar krümmen. Egal, wie viele Haare die ausgerissen haben. Sie entschuldigen schon! Oder wenn’s gar ein Türke ist oder so ‘ner von ganz woanders her. Sakra, da rückt uns womöglich noch Amnesty auf die Pelle. Dann werden wir international durch den Kakao gezogen!“ Bergner schien zunächst zu Ende gekommen zu sein, fügte jedoch noch an: „Also, es wäre ja schade um sie, Meister! Sie sind ja so etwas wie ein Lichtblick in dieser finsteren Gesellschaft hier. Tun sie uns bitte den Gefallen! Verrichten sie ihre letzte Unausweichlichkeit bitte außerhalb unserer Mauern!“
Gandauer gab mit einem fast kreischend klingenden Räuspern einen Laut von sich, der für Bergner möglichst alles bedeuten sollte. Der reagierte auch prompt und drehte sich zur Kontrolle ruckartig um, hatte reflexartig seine Hände zur Hilfe ausgestreckt. Da er aber Gandauer nichts Aufregendes ansah, fühlte er sich wohl genötigt, seiner Rede von vorhin noch ein paar klärende Worte anzufügen: „Also, ich bitte sie! Das mit der Verrichtung ihrer Unausweichlichkeiten außerhalb und so. Das habe ich nicht gesagt! Einverstanden? Und wenn ich es doch gesagt haben sollte, dann haben sie es nicht gehört! Klar?“
„O ja, Herr Bergner, ich verstehe sie gut. Sie haben es ganz einfach nicht gesagt, was sie gesagt haben, würden sie sagen. Sie würden selbstredend und ohne mit der Wimper zu zucken jeden Eid auf diese ihre gewissermaßen Nicht-Aussage schwören.“
„Na sehen sie, Herr Gandauer, sie sind ein Mann von Welt, und wir verstehen uns immer besser. Am Ende würden wir alle es als einen richtigen Verlust empfinden, wenn ihnen etwas Ernsthaftes zustieße oder mit ihrem Stechen da was wäre, woran sie dann – na, sie wissen schon!“
Bergner ging immer noch voraus. „Mal ehrlich!“, fing Bergner wieder an. „Ist ihnen wirklich was? Sie können es mir anvertraun, ich verrate es nicht! Sie kennen mittlerweile meine Verschwiegenheit. Ich meine, eine Hand wäscht die andere: Wenn sie den Mund halten, habe ich auch keinen Anlass, den meinen aufzutun!“
Gandauer verlangsamte seine Schritte: „O ja, das mit den Händen, die sich da gegenseitig waschen! Was glauben sie? Ich habe mit diesen von ihnen zitierten Handreichungen mehrfach in meinem Leben Erfahrung gemacht! Meistens war’s kein reines Wasser, mit dem wir uns da gewaschen hatten ...“ Gandauer drehte es sich vor den Augen, er war stehen geblieben und hatte sich an der Wand gestützt. Bergner war einen Schritt in Helferpose auf Gandauer zugegangen: „Volles Verständnis, Herr Gandauer! Manchmal ist es eben kein sauberes Wasser, in das einer seine Hände taucht!“ Er wartete und spielte gelangweilt mit irgendeinem Gegenstand in seiner Hosentasche. Als Gandauer sich dann weiterbewegte, trottete Bergner hinter ihm her.
„Der Stellvertreter des Führers, unser Rudolf Heß, ist auch im Gefängnis gestorben“, kam es Gandauer jetzt von hinten. „Gestorben! Verstehen sie? Dass ich nicht lache! Er soll sich selber umgebracht haben! Was hat Heß denn eigentlich verbrochen, ha? Nun gut, sie brauchen dazu nichts zu sagen, Herr Gandauer, sie waren ja im selben Boot gesessen wie der Heß!“
Gandauer war wieder stehen geblieben. „Ich sitze noch nicht im gleichen Boot mit dem toten Heß!“, rang er sich lachend ab und hielt sich am Geländer fest. Er ergänzte: „Wenn sie das Nämliche meinen – sie wissen, jenes, das einen über den Jordan bringt – oder wie heißt bei den alten Griechen dieses mythische Gewässer gleich wieder?“
Er schaute Bergner auffordernd an. Der wich aus: „Jetzt will der gute Gandauer nicht mehr über den Jordan!“, tönte er und schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel, „Jordan! Ach nein, Jordan, das ist so eine Geografie, zu der einer hierzulande doch kein Verhältnis hat! Ein richtiger Deutscher geht nicht über den Jordan! Zu den Ahnen versammelt er sich! Das klingt doch irgendwie ...“
„... bescheuert!“, rief Gandauer und hustete dem hinterher.
„Mensch, bleiben sie uns trotzdem noch lange erhalten!“, wand sich Bergner heraus. „Sie gutes altdeutsches Pracht- und Paradestück, also ehrlich!“
Gandauer musste tief Luft holen.
Es sei vermutlich nichts, was zu Besorgnis Anlass gebe, hatte der Doktor nach Abhorchen und Beklopfen festgestellt. Gandauer solle jedoch bei nächster Gelegenheit zum Durchleuchten gebracht werden.
Vorerst würden ein paar Pillen genügen, um den Druck zu mildern.
Nun befand sich Gandauer wieder mit einem jetzt schweigenden Begleiter auf dem Weg zu seiner Zelle. „Ein sonderbarer Heiliger, dieser Bergner“, dachte er sich.
„Aufpassen musst du. Wie käme denn dein Ausspruch vom Engel gleich zu Beginn in diesen Hallen an dieses Publikum hier, dass sie dich jetzt damit aufziehen? Aufpassen musst du! Auch als Engelchen muss einer aufpassen. Die nennen dich so! Der Bergner macht sich mit diesem Pack gemein. Er versucht offenbar, dir eine Rolle zu verpassen, in seiner zusammengeschusterten Politkomödie. Diese Kerle, die im Unrat der Geschichte schürfen, um sich ihre Bockshirsche und Wolpertinger zusammenzubasteln. An was aus deiner Zeit erinnert dich das? Wir haben auch im Abfall gewühlt. Bis wir den Gestank an uns hatten. Du firmierst für etliche hier als ein Fossil politischer Natur. Aber es ist verführerisch. Vielleicht befördern die dich vom ja namenlosen Engel zum benannten Heiligen. Die Vergangenheit holt uns alle immer wieder ein! Mit ihrer ganzen Widersprüchlichkeit, die offenbar der Lebensgeist der Vergangenheit ist.“
Bergner ging kaum hörbar hinter ihm, und Gandauer überkam der Gedanke, „dieser Kerl wird seinen Kindern und Enkeln berichten, er habe noch einen von denen – von denen! – eskortiert. Von denen? Vielleicht wird er die – mich da! – als Helden bezeichnen oder mit sonst einem Kitsch bekleckern wollen.“
Um davon loszukommen, versuchte Gandauer ein Gespräch: „Verschubt. Heißt das, sie werden mich zum Röntgen verschuben?“
„Ach, schön, sie können wieder sprechen!“, tat Bergner erfreut. „Nein, wo denken sie hin? Unter einer Verschubung ist das Verbringen von Häftlingen in eine andere Anstalt zu verstehen. Findet jeden Donnerstag statt. Da fährt ein Justizbus unsere Anstalt an.“
Gandauer war es im Grunde gleichgültig, was der hinter ihm da an Vollzugsdeutsch dolmetschte.
Dann war er froh, wieder allein zu sein, ließ sich auf seiner Pritsche nieder, packte die Decke und verkroch sich in die Ecke, aus der er den ganzen Raum überblicken konnte. Er verscheuchte alle Gedanken – und wartete auf Suiter.
Zur vereinbarten Besuchszeit erhob er sich, strich die Bettdecke glatt und kämmte sich.
Da trat der junge Pfarrer auch schon ein: „Grüß Gott, Herr Gandauer, ich höre, sie haben Beschwerden!“
„Nicht der Rede wert, Herr Suiter. Der Rede wert wäre unter Umständen, warum hier jeder alles hört. Dass eine Mitteilung mit ungeheurer Geschwindigkeit sich verbreitet, jede Telekommunikation – oder wie die moderne Krankheit heißt – an Geschwindigkeit schlagend. – Aber schön, dass sie hier sind!“
„Solche Häuser sind hellhörig. Man gewinnt den Eindruck, dass hier gewisse Sinne zur Höchstform auflaufen. – Ich bin neulich etwas abrupt weggegangen, Herr Gandauer?“
„Unser Gespräch war ganz abwechslungsreich für mich. Ich meine, eine Abwechslung so vom Trott. Sie verstehen? Ich muss ihnen bekennen, dass ich es sehr rücksichtsvoll fand, dass sie mich alten Mann nicht mit Glaubensdingen traktiert haben.“
„Würden sie sich davor gefürchtet haben?“
„Das nicht gerade. Warum auch? Sie wissen doch, irgendwo in der Psyche geistert bei jedem ein Glaubensbedürfnis herum. Jeder befriedigt es anders. Bedürfnisse müssen eben befriedigt werden. Allerdings darüber reden? Also, darauf sind die wenigsten eingestellt.“
„Woher mag es rühren, Herr Gandauer? Das habe ich mich oft gefragt. Vielleicht hat da mein Berufsstand so seinen Anteil. Glaubensgespräche sind in der Kirche halt meist nur Monologe der Herrschaften im Ornat. Ja, vielleicht rührt es daher, dass die Christen dadurch ganz allmählich zu Glaubensschweigern werden.“
„Zu meiner Zeit wurde schon auch mal über Glauben geredet.“
„Na, freilich!“, rutschte es Suiter heraus, „über das Glauben an den Führer.“ Es war ihm sichtlich peinlich. Er entschuldigte sich sofort.
„Sie haben gar nicht so unrecht! Ich denke jedoch diesbezüglich an meine Frau. Sie war eine eifrige Verehrerin der guten Mathilde Ludendorff. Sie wissen sicher, dass das jene Dame ist, die es mit der Deutsch-Gottgläubigkeit hatte: Gottdurchwurzelt das Weltall, aber frei von persönlichen Göttern und Teufeln!“
„Das Deutsch-Gottgläubige war selbstverständlich mal Thema im Seminar! Interessant war uns die Vermutung, dass diese Frau Doktor Ludendorff womöglich Anleihe bei der zu dieser Zeit geäußerten These vom Urknall genommen hatte. Ganz aufregend dabei für uns, dass diese Idee von einem jesuitischen Weltraumforscher entwickelt worden war ...“
„Das ist mir neu!“, unterbrach ihn Gandauer begeistert.
„Tatsächlich!“, fuhr Suiter fort. „Wenn sich das All ausgeweitet hat, dann muss dieser Prozess von einem Punkt ausgegangen sein. Da allerdings nichts aus einem Nichts kommen kann, muss eine Ursache für diese Vorgänge existieren. Und es ist doch ganz klar, wo wir diese zu suchen haben!“
„Da sind sie zunächst immer noch auf der gleichen Welle wie die gute deutsch-gottgläubige Mathilde!“, amüsierte sich Gandauer.
„Gottbewahre!“, konterte Suiter. „Allerdings, warum auch nicht? Wenigstens bis zu einem gewissen Punkt, über den wir von meiner Zunft“, erklärte Suiter, „viel weiter hinausgehen, nämlich in Richtung Ursache, wie eben erwähnt. Jedoch muss ich ihnen das als vermutlich doch christgläubigem Menschen nicht weiter erklären.“
„... vermutlich ...“, wiederholte Gandauer nachdenklich.
„Für uns damals ein Randthema!“, kam Suiter auf sein Seminar zurück. „Zu ihrer Zeit, Herr Gandauer, war jedoch womöglich alles erfüllt von dieser Ludendorffsache. Madame Ludendorffs unsterbliches Volk. Die Arier natürlich. Und lauter Gerede dieser Art!“
„Herr Pfarrer, selbst für uns war das Deutsch-Gottgläubige etwas zu sektiererisch. Ich hatte gehört, der Führer habe das eher für eine Spielart von germanisiertem Buddhismus gehalten.“
„Ich muss sagen, dass wir uns als junge Studenten doch auch Gedanken über die ganze Zeit damals gemacht hatten. Ein übler brauner Abklatsch davon ist leider immer wieder gegenwärtig und fordert erneut zum Nachdenken, vielleicht sogar zum Handeln heraus.“
„Herr Pfarrer, ich wollte sie nicht etwa in eine neue Nachdenklichkeit gestürzt haben!“
„Also, wissen sie! Eine solche Attacke!“
„Jetzt sagen sie nur noch, dass ich mich in meinem Alter in Anbetracht ... – na ja, sie wissen schon ... zurückhalten sollte.“
„Ich sage gar nichts. Als eben dies, dass sie zwar fortgeschrittenen Alters sind, sich jedoch ihre Denkfähigkeit erhalten haben!“
„Kann ich nur mit einem bayrischen Vergelt’s-Gott quittieren, dass sie mir den Verstand nicht absprechen!“ Gandauer wunderte sich über das Zeugnis intakter Denkfähigkeit. Es könnte jedoch als Aussage darüber gewertet werden, dass er seiner geistigen Kräfte im vollen Umfang mächtig sei. Wonach bei Gericht gerade das vielleicht als taktisches Mittel erforderliche Instrument der Gedächtnislücken nicht mehr glaubhaft zu machen sei, war er besorgt. Er wollte sich gleich davon abwenden: „Darf ich mit diesem attestierten Verstand einen Sprung wagen?“
„Ich will sie nicht daran hindern!“
„Es wird ihnen, Herr Pfarrer, als Provokation erscheinen ...“
„Wie denn?“
„Nun gut: Ist Gott ein Katholik?“
Zunächst kam von Suiter nur ein verblüfftes „Ha?“ Dann stieg er jedoch erstaunlich begeistert ein: „Die Ursache allen Seins ist weder katholisch noch evangelisch oder muslimisch oder sonst wie festgelegt. Diese Urkraft ist sie selber und trägt, entgegen allem Entstandenen, seine Ursache in sich. Sie ist von niemandes Verstand auch nur annähernd begreifbar zu umreißen. Daraus sich dennoch eine Vorstellung von einer Gottesperson zu gestalten, das ist zwar philosophisch unsinnig, theologisch allerdings unentbehrlich.“
Suiter hatte sich damit auch bereits freundlich verabschiedet, sichtlich zufrieden darüber, dass er das hatte absetzen können. Er ließ Gandauer allerdings verwundert zurück. Den trieb dann vor allem die Frage um, ob sich ein Kleriker überhaupt so ausdrücken dürfe. „Und das mit der theologisch erforderlichen Vorstellung von einer Gottesperson! Ob da nicht selbst der alte Abraham vor Jahrtausenden weiter war mit der Befolgung des Gebotes, sich kein Bild von der Göttlichkeit zu machen?“
„Heute bereits Grünzeug gewässert. Wachstum kontrolliert. Der Philodendron im Wassereimer treibt Wurzeln. Es ist ein Wunder, wie das Zeug da kommt. Ganz deutlich einige Verdickungen und Wurzelfäden. Stummel zunächst nur, aber immerhin. Habe überhaupt im Sinn, Pflanzen Namen zu geben. Verhältnis zu den grünen Hausgenossen vertiefen. Womit Rückwirkung auf eigenes Innenleben angestrebt. Empfehlung an gesamte Menschheit. So im Hause Erde zu verfahren: Was jemand kennt, kann er dulden. Dann achten. Vielleicht sogar lieben lernen. Man bringt sich jedenfalls nicht so einfach um. So leicht geht Frieden.
Damit immerhin wieder einer alten Leidenschaft verfallen: Auf die Leute, alle, Einfluss zu nehmen, die Verhältnisse zu bereinigen, ein Besseres schaffen zu wollen. Politik. Damit flugs beim Vorsatz angelangt, Aufzeichnung anzufertigen. Über all das aus bestimmten Gründen immer Vertagte.
Hier gezupft und dort was reingeben. Lockerungen vorgenommen.
Wozu aber die Erinnerung bewahren?
Sicher nur einige Kapitel aufzeichnenswert. Was schleppt einer in seinem Schädel nicht alles an Abfall mit!
Und meine Sprache?
Zerfall allenthalben. Durch Gebrauch nur zu kitten.
Wässern. Nicht etwa ertränken. Aufgebunden. Ans Licht gestellt.
Wozu allerdings die eigene Sprache retten? Wo doch das Wort häufig als Handlungsersatz zu entlarven ist. Im Zeitalter Sprache als Tarnung der Absichten: Verkäufergeschwätz allerorten. Dir selber gegenüber. Jeder so ein Verkäufer seiner selbst. Sich anderen anzudienen, link anzudrehen? Sich zu verschachern.
Fernsehen auch im Wortteil nicht mehr benützt. Es radiert allen Sinn aus. Das Geflimmere. Indem es Sinn vorgibt.
Eins von dem Grünzeug krepiert ganz allmählich. Leider. Das Ding wird immer blasser. Lässt die Blätter hängen. Bloß nicht gleich wieder Schlüsse daraus ziehen! So etwa auf dich.
Im Augenblick nur Sehnsucht nach still sprechenden Bildern.
Ein Rückfall in die Stummfilmzeit – im Herzen.“
Nach seinem Herzgedanken mochte Piscator in seiner Meditation nicht fortfahren. „Nein“, betonte er, „über das Herz darfst du nicht hinausgehen.“ Piscator war um etwa neun ohnedies bereits erschöpft. Jetzt hatte ihn der Vorsatz, dessen er dank seines letzten Gedankens teilhaftig geworden war, einnicken lassen.
Er mochte da im Korbstuhl vor seinem zage beginnenden Urwald noch im Dämmer des Halbschlafes sein. Ein Läuten an der Wohnungstür riss Piscator äußerst unsanft aus diesem. Er schreckte auf. Die Besucher waren offensichtlich ungeduldig. Das schrille Geräusch! Immer wieder!
„Besucher?“
Piscator war erschrocken und augenblicklich hellwach. „Wer soll mich besuchen? Wer weiß von mir?“ Er fühlte, wie ein Schauder im erneuten, gar nicht mehr enden wollenden Geläute aus seiner Brust kalt zu den äußersten Zonen seiner Extremitäten, zu den Zehen, zu den Fingern, kroch: „Die Polizei! Sie haben mich aufgespürt! Zum Abschuss frei! Aus!“
Ein Trommeln an die Tür. Scharren. Kinderstimmen.
Piscator war dadurch etwas aus seiner Schreckensstarre befreit, fiel allerdings in einen nicht weniger beklemmenden Zustand, als er spekulierte, da draußen hämmerten die Lümmel an seine Tür. Die von vor dem Haus. Die Schläger. Die Diebe und Kokshändler!
„Jetzt bin ich dran. Jetzt wollen sie mich terrorisieren. Mich, einen Wehrlosen. Die Wehrlosen sind doch das liebste Spielzeug dieser feigen Brut. Alle in schwarzer Lederkluft und bewaffnet. Wie soll ich mich wehren? Wen könnte ich um Hilfe rufen? Die Polente etwa?“ Sein Gedankengang stockte. „Nein“, trotzte er und fasste Mut, „ich werde der Gefahr ins Auge blicken!“
Schicksalsergeben schritt er zur Tür, plante noch für einen Augenblick, sich mit einem Küchenmesser zu bewaffnen. Er ließ es jedoch sein, öffnete, seinem Schicksal ergeben, unbeholfen – und erblickte die dralle Gefährtin aus dem Aufzug. Was ihm einen weiteren, wenn auch ganz anders gearteten Schock versetzte und ihm reichlich Eu-Stress bereitete. Hinter ihr saßen zwei kleinere Jungen auf Koffern. Noch etwas weiter hinten standen weitere Koffer neben einigen Bündeln, von einem zotteligen Hund bewacht.
Ihm ahnte etwas!
Besuch. Dem Gepäck nach zu urteilen, einer, der plante, nicht so bald wieder abzuziehen.
Piscator war sprachlos. Er gab nur ein für ihn selber undefinierbares Geräusch von sich und vergaß den Mund wieder zu schließen.
Die Frau tat einen Schritt auf Piscator zu, hauchte ihm ein Küsschen auf die Wange und brachte den Zug in Bewegung.
Sie drängten sich mit ihrer Habe an dem erstarrten, zunächst jedenfalls noch unfreiwilligen Gastgeber vorbei.
„Wacker, ein halbes Dutzend Galerien“, lobte Gandauer. „Kunst in dieser ländlichen Gegend“, hatte er in der Zeitung gelesen. „Kunst, ohne dass sie verordnet wäre wie seinerzeit. Arno Brekers und Co von damals eingedenk. Saubere deutsche Kunst. Breker, dieser Meister der künstlerischen Gestaltung des gesunden arischen Menschen lebt vermutlich noch. Mein Gott, den Wahn in Stein gehauen. Riesengröße. Und Brekers gepriesene Könnerschaft. Das war alles tipp top. Die Leute haben immer gleich erkannt, was es ist. Keine von uns sogenannte entartete Kunst, der vorgeworfen wurde, dass sie alles entstelle und der Betrachter die Aussage immer erst entziffern müsse. Brekers Kundschaft, nämlich Hitler und Speer. Im Danach der gute alte Adenauer. Glück muss einer haben!“
Gandauer blätterte im Landsberger Tagblatt weiter. Er hatte Leserbriefe entdeckt. Da gab es in einer heiklen Angelegenheit einen Konflikt in der Stadt. Er wurde auch über die Zeitung ausgetragen. Einer war unter den Akteuren, der eine besonders spitze Feder führte:
„Die Anzahl der beim Rüstungsprojekt Ringeltaube in der Nachbarschaft unserer Stadt eingesetzten jüdischen Konzentrationslager-Häftlinge beläuft sich nach den Ermittlungen der Zentralstelle der Landesjustizverwaltung in Ludwigsburg auf ca. zehntausend Personen. Nicht, wie in Ihrem Artikel angegeben, auf dreißigtausend Menschen. In diesem Zusammenhang wurde in etwa zwanzig Fällen wegen gewaltsamer Tötungshandlungen in den Kauferinger Außenlagern ermittelt. Etwa sechstausend Häftlinge, so die Zentralstelle und der Suchdienst Arolsen, fanden den Tod. Viele davon durch Unterernährung und Typhus. Etwa tausend dieser Häftlinge wurden Opfer von alliierten Bombenangriffen. Was die These von der sogenannten Vernichtung durch Arbeit betrifft, so stellte dazu Martin Boszart vom Institut für Zeitgeschichte in München fest, dass dieser Begriff allenfalls eingeschränkt auf die Zustände in Mauthausen anzuwenden sei.“
Gandauer legte die Zeitung weg. „Aha, heute hat unser Freund wieder die Wahrheit aus dem aufgewärmten Suppenteller dampfen sehen wollen. Dieser Fressnapf, der noch voll ist von unserem Eingebrockten, das unsere Kinder noch auszulöffeln haben.“ Er erhob sich, um sich Tee zu kochen.
Er füllte das Töpfchen mit Wasser und steckte seinen Tauchsieder hinein. Das Wasser sprudelte, Gandauer goss es in die hohe Tasse aus Steingut und hängte einen Teebeutel hinein. Während er wartete, betrachtete er das naive Blumenmotiv an seinem Trinkgefäß: eine rote Rose auf ockerfarbenem Grund. Er nippte ganz vorsichtig am heißen Rand.
„Neulich hat doch einer im Parlament vorgerechnet ... – wie hat der doch geheißen? So einer aus dem Hinterland – das ja im Kopf anscheinend überall ist. Der hat dem Landtag vorgerechnet, dass bereits achtzig Milliarden an Wiedergutmachung gezahlt worden seien. Einer von den jetzt offenbar immer zahlreicher werdenden Buchhaltertypen der jüngeren Geschichte.“
Gandauer nahm einen kräftigeren Schluck – und es brannte auf der Zunge, dass er fast ausgespuckt hätte.
„Doch zum Teufel! Wenn mein Wahrheitsapostel in seinem Leserbrief recht hatte. Auch wenn das nur ein Drittel der meist jüdischen Sklaven war! Die Ungeheuerlichkeit der Arbeitsqualen lässt sich immerhin nicht wegdiskutieren. Die Zeugnisse davon existieren noch zum Teil. Diese gigantischen Betonburgen in der Umgebung der Stadt. Und die gewaltigen Löcher im Lechfeld klaffen noch, aus denen die Elenden den Kies schippen mussten. Die Gruben sind immer noch nicht verfüllt, trotz der riesigen Mengen Wohlstandsmülls heute. Wenn diese ganze verfluchte Arbeit von einem Drittel der bisher angenommenen Zahl Versklavter geleistet worden war, dann war die Zumutung ja noch furchtbarer. Dann war das ja gegenüber diesen Wenigeren eben eine noch viel größere Niedertracht! Unsere Bosheit!“, war er aufgebracht.
Dann blies er in seine Tasse und wagte wieder einen Schluck.
„Was waren das eigentlich für Leute? Zu denen du dich gefälligst rechnen musst, Gandauer. Hast du dein Reden und Schreiben gar nicht gedanklich verfolgt, nämlich über die bloße Ordnung der Worte und den Gleichklang mit dem Tongeber, diesem Führer, hinaus? Hättest du dir die Wirkung all dessen nicht ausmalen können, ja, müssen?“
Er saß eine Weile nur da und hielt die Tasse. Die Hitze strömte jetzt sehr unangenehm in beide Hände. Es tat richtig weh. Er wollte schon abstellen, um sich davon zu befreien. Aber da wurde er sich der eigenartigen Wirkung bewusst, die von diesem Schmerz der beiden fest ans heiße Steingut gepressten Hände ausging. Dieses Brennen, meinte er, sich antun zu müssen.
„Dass das Unmenschen waren, die das betrieben hatten? Entartete Wesen? Oder der Teufel selber. Den wir in die deutsche Uniform gesteckt hatten? Und der handeln musste! Der es in unserem Namen zu vollziehen hatte. Durch unserer Ideologie geschminktes Herumgephrase gedeckt, gerechtfertigt, dazu auf- und herausgefordert!
Also wir selber waren da. Im Geiste. Allerdings ist jeder eben da zuerst. Ich. Wir sind eben alle die Bürgen dafür? Wir Verstrickten von damals. Und den Bürgen wird man würgen, heißt es.
Ich müsste es herausschreien.
Doch das Schreien ist das letzte Recht der Opfer.
Wenn man nicht auch Opfer – seiner selbst ist. Oder man könnte es herausschreiben!
Mein Gott! Wir aus einem der vielen Gruselkabinette der Geschichte: Mörder, Ahnungslose, Nutznießer. Diese groteske Gesellschaft. So ein Sammelsurium mit solchen Gestalten wie der Ärztin da, von welcher der Zeitzeuge Von Salomon berichtet. Die für ein NS-Bauvorhaben Häftlinge auszusuchen hatte. Die nicht mal geahnt haben wollte, dass die von ihr als nicht gesund Bezeichneten getötet werden würden. Dann der nachmalige Bundeskanzler, welcher Feindnachrichten abzuhören und darüber seinen Vorgesetzten zu berichten hatte. Er habe diese Meldungen über Massenvernichtungen weggelassen, weil er sie für unglaubwürdig gehalten haben wollte. Dann auch du selber. Der du es für ganz normal und obendrein für begrüßenswert gehalten hattest, als dein Vorgänger in der Kreisleitung den Bezirk für ‘judenfrei’ erklärt und nach oben gemeldet hatte und viertens und so weiter.“
Gandauer gab zum letzten Schluck Tee noch etwas Zucker und schwenkte die Neige eine Weile. „Du warst dem Parteigenossen neidisch. Denn den Orden, den er für seine Judenfreimacherei kassiert hatte, den hättest du dir gerne an die Brust geheftet. Aus Eitelkeit und der Verzierung wegen.“
Gandauer nahm einen Schluck von seinem jetzt lauen braunen Zuckerwasser.
„Du hattest sogar getrödelt bei dieser unsäglichen Freimacherei. Erinnere dich gefälligst – und nenne dich tunlichst einen dreckigen Schuft! Dass du da von Aaron Bleifisch gewusst hattest. Der mit seiner Hulda im Keller von diesem Gewerkschaftssozi Mühlberger gesteckt hatte. Dass du den Denunzianten, diesen Baumann, hingehalten hattest. Dieser Mensch hatte doch das Textilgeschäft von den Bleifischs in unserer Arisierungswelle für ‘nen Appl und ‘n Ei an sich gebracht. Wollte dann die Bestohlenen weggeräumt wissen. Und gib es dir ruhig zu, Gandauer – oder wer du wirklich bist! Dass du die Bleifischs zunächst geschont hattest. Dein mieses Motiv: Damit da noch ein paar wären, die du samt dem Verberger hättest präsentieren können. Nachdem der Alte seine Meldung vom Judenfreisein abgesetzt hatte. Dass da aber noch welche waren. Und dass der Ordenverzierte ordentlich eins abgekriegt hätte. Und du in den Startlöchern. Du jämmerliche arische Ratte!
Eigentlich müsste ich ausspucken – vor mir selber!
Sie haben dann die armen klapprigen Gestelle doch auch ohne dich aus dem Keller geholt und den Mühlberger gleich mitgenommen. Und ab. Für diesen Doppelerfolg, diese Juden- und Sozireinigungsaktion hat sich dann der Blätschki feiern lassen.
Darauf hätte es dich beinahe erwischt, wenn du nicht wieder das mit den Schiebergeschäften um das schwarz geschlachtete Fleisch gegen den Baumann in der Hand gehabt hättest. Dass der die Schnauze gehalten hat.
Nach dem Krieg wären eigentlich die Bleifischs zu benützen gewesen für einen Persilschein, wie man die Bürgschaften für gute Taten nannte. Du warst in ihrem Keller gewesen und hattest dich ihnen gezeigt in all deiner braunen Pracht. Hattest ihnen in ihrem Elend Schutz vorgegaukelt.
Sie haben nicht überlebt!
Ich müsste wirklich ausspucken vor mir selber.“
Gandauer nahm den letzten Schluck, der jetzt richtig eklig schmeckte. „Woher kommt auf einmal dieser faulige Geschmack“, fragte er sich und prüfte die Tasse.
„Allerdings waren wir alle Gefangene. Niemand von uns war frei, damals! Wir waren Gefangene immer irgendwelcher Umstände – in unserem Kopf. Und jetzt sind wir Gefangene der eigenen Erinnerung. So ist das eben.
Lass’ ab, du alter Sack, und sei wieder freundlich zu dir!“
Gandauer stellte die Tasse weg und befolgte seinen Rat. Er erhob sich und ging zum Fenster. Ein den gegebenen Verhältnissen nach entsprechend kurzer Weg. Er schaute ins Freie. „Ob diese Spaßgesellschaft von heute freier ist, als wir es damals zu Beginn unseres deutschen Abenteuers waren? Wir, die wir nicht so viel Mittel und Freiraum hatten. Bis auf die viele freie Zeit in der vielen Arbeitslosigkeit in den Zwanzigern. Die – oder die Angst davor. Das hat uns so verletzlich gemacht. Und so bestechlich und so gemein. – Ich muss auch wieder Mitleid haben mit mir! – Mein Gott, damals, du als junger Spund. Als Stift und dann als Kommis. Ich und die ‘Allgemeine Textil-Fabrikations- und Handels-G.m.b.H. von C.& A. Brenninkmeyer zu Breslau’. Meinem Breslau. In der Ohlauer Straße war meine Ausbildungsstätte zum Kaufmannsgehilfen. In meiner Verwegenheit bin ich im achtundzwanziger Jahr ausgeschieden. Auf eigenen Wunsch. – Aber was war es denn? Ha? Die Partei seit fünfundzwanzig! Brenninkmeyer ein jüdischer Betrieb? – Nein, nein, das war’s nicht. Nämlich seit Mitte der Zwanziger ging doch alles wieder etwas bergauf, Menschenskind. Ja, es gab Geld, auch vom Staat. Auf Pump, versteht sich. Man war modern, investierte, machte alles modern, importierte, exportierte. Nahm alles mit. Kunst und Wissenschaft, alles im Fluss. Und die Politik erfüllte immer, machte so herum ... paktierte ... verflixt. Ja, dort haben wir angesetzt. Der Young-Plan mit den Reparationen für den Ersten Weltkrieg. Mensch, es ist ja irrsinnig: Bis voriges Jahr, bis sage und schreibe 1988, hätten wir, das Deutsche Reich, gut hundert Milliarden bezahlen sollen. Man muss sich das einmal vorstellen! Das haben sie Politik genannt. Diese Schandverträge! Da konnte einer gar nicht anders, als da politisch reinzuhauen. Dieses System musste zerschlagen werden! Wer eben richtig deutsch gedacht hat und vaterländisch. Was soll’s? Ich muss ehrlich sein, jetzt wenigstens – oder spätestens. Ich habe ja achtundzwanzig von Brenninkmeyer meinen Abschied genommen. Die Mitgliedschaft in der Partei, in der ich schon was war und geleistet hatte! Die Rasse des Arbeitgebers passte da überhaupt nicht dazu. Denke nur, wie primitiv das heute anmutet, so ein Grund! Um mit diesem Walter Eifler in der Gabitzstraße eine Koffer- und Taschenfabrikation zu errichten. Mit vom Vater geborgten zweitausend Mark. Ich verrückter Hund. Zu errichten, zu gründen. – Um zwei Monate später wieder aufzugeben, nein, nein, auszuscheiden. – Das war dieser Koffer. Den ich erfunden hatte. In den einer seinen Anzug legen konnte, ohne ihn zusammenzufalten. Viel Beifall gekriegt. Aber keine Kunden. Allerdings fehlten überhaupt die Käufer in dieser Zeit, die eine solch geniale Neuheit nachgefragt hätten. Neunundzwanzig dann dieses Knistern in diesem morschen Gebälk dieses aufgeblähten Erfüllungsstaates. Das brach doch alles in Inflation und Arbeitslosigkeit in sich zusammen. Mein Ausstieg aus dieser Kofferfabrikation. Mit einem wertlosen Wechsel in der Hand. Der Eifler bankrottiert. Alle verschuldet, damals. Überschuldet. Exodus. Arbeitslose. Das war der Stoff, aus dem unser Aufstieg gedieh. In die Vollen gegangen und nur noch Parteibeamter. Und was für einer! Bewegung, die sich nicht Partei nennen wollte. Weil wir nicht mit den vielen überflüssigen Redevereinen und Interessenklüngeln in einen Topf geschmissen werden wollten. – Wir haben später alle in unseren Topf gestopft! – Man hatte seinen Stolz. Und bald hatten wir auch jene so weit, die weder arbeitslos noch in Geldnot waren! Der Parteiapparat brauchte Geld. Diese Maschinerie musste geschmiert werden. Und sie wurde gut geschmiert. Da waren die Herren des großen Geldes! Da hat sich nichts geändert. Ich brauche nicht nur eine große Idee, um Wahlen zu gewinnen. Ich brauche auch das große Geld dazu. – An unsere goldenen Dreißiger müsste ich mich erinnern! Die nationalsozialistische Bewegung, mein Netz und doppelter Boden nach meinem Kofferunfall, lieber Gandauer – oder wie ich mich zu diesem Zeitpunkt nennen sollte. Odtke. Ich bin sozusagen ohne Koffer ganz zur Partei gestoßen. Was ja irrsinnig sinnbildlich ist, herrje! Nur mit dem leichten Marschgepäck der Ideologie. Diesem elenden Windbeutel. Herrgott, das geht bis ins Mark! Ja, die Bruchstücke von ehedem. Diese Zeiten. Verflucht!“
Gandauer wanderte wieder auf seinen paar Quadratmetern umher.
„Ich muss verschnaufen! Dieses Suchen im Müll. Verstehe die alten Leute nicht, die das Fernsehen brauchen. Vielleicht auch nur, um sich nicht dauernd selber zu begegnen. Vielleicht kannst du dir auf einem anderen Weg ausweichen? Warum hast du eigentlich zu malen aufgehört?
Das war immerhin bereits ganz ordentlich gediehen. Hat dir auch Peters mit seiner vielen Bildung bescheinigt. Wir saßen im Herrenzimmer. Du hattest dir in deinem Haus ein Herrenzimmer eingerichtet. Das Familienwappen dort überm wuchtigen Schreibtisch. Dein Entwurf! Das Wappen. Das Haus. So etwas wie Landsitz. Viele haben doch tatsächlich davon geträumt, im eroberten Osten ihr Landgut zu bekommen. Mit slawischen Untermenschen, zu welchen wir die Eingeborenen dort erklärt hatten. Als so etwas wie Arbeitssklaven. Blut- und Bodentraum von Herrenmenschen. Mein Aufschwung in diese Etage dieser sonderbaren Bürgerlichkeit! Das Wappen: ein schwarzer Pflug, zwei weiße Ährengarben über Kreuz dahinter, alles auf rotem Grund. Von Bauernadel wurde gesprochen, aus dem man zu stammen wähnte. Ha! Schwarz-weiß-rot, unsere Grundfarben. Gegen Schwarz-Rot-Gold. Das Gold darin haben wir als Senf bezeichnet: Schwarz-Rot-Senf, hieß es gehässig. Da kribbelt es einen heute noch – peinlich.
Jetzt sitze ich hier auf einer Pritsche – bis ich auf der Bahre liege!
Diese meine Zeit! – Schön? Ich hatte mich wie die anderen auf die Suche nach den eigenen arischen Vorfahren zu begeben. Ich hatte bei der Wanderung durch die Taufregister der Umgegend Kaufleute und Bauern im Stammbaum entdeckt. Sie wurden posthum zu Kaufherren und Gutsbesitzern befördert. Bauern- und Kaufherrenadel, wie es hieß. – Diese Zettel, die man sich bei den Pfarrämtern besorgte: ‘Regenwalde am neunundzwanzigsten October tausendachthundert siebenzigundfünf Vormittags achteinhalb Uhr.’ Ich habe es so oft angesehen, bis es auswendig da war: ‘Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschienen heute als Verlobte. 1) Der Jungmann Carl Friedrich Odtke der Persönlichkeit nach bekannt, evangelischer Religion, siebenundzwanzig Jahre alt, geboren zu Tonnebuhr wohnhaft zu Labuhn, Sohn des Bauern Friedrich Odtke.’ – Ein paar dieser Texte sogar auswendig gelernt zum Zitieren, wo es nur immer ging. Tradition.“
Gandauer griff nach der Zeitung. Er kritzelte mit dem Kugelschreiber auf den Rand – sein Wappen von ehedem in Kugelschreiberblau.
„Im Herrenzimmer hatte ich meine ersten Entwürfe in Kohle zu Papier gebracht. Nach dem Überschreiten der Mitte der Dreißiger. Diese Jahre der Muße. Es sah alles wie nach getaner Arbeit aus. Gute Stimmung landauf, landab. – Und Hedwig, mein Modell. Wie sie sich zierte. Aber ich habe das Malen eigentlich in der Hand gehabt. Eine ziemlich gute Mal-Hand. Vielleicht Naturtalent. Alles mit Natur, mit Angeborensein geschwängert. Gute Rasse, hieß das. Nur keine Verbildung, das mochte der Führer nicht, die Entarteten waren hinweggefegt. Da war die Plattform für ... – ja, für wen?
Der Strich war immer sicherer geworden.
Das mit dem Akt. Sie hat sich geziert. Ich war Filou, habe ihr mein Anliegen zu einem eminent öffentlichen hochstilisiert. Die üppige Schönheit der nackten Arierin. Diese Bildnisse.
Und offizielle, sprich staatliche Anerkennung des Stils. Ich habe ihr wenigstens ein Aktfoto abringen können. Mit der Versicherung, es selber zu entwickeln und unter Verschluss aufzubewahren. Das Dienstmädchen durfte selbstverständlich nichts davon erfahren. – Das war ja damals noch die kleine Deutsche. Wie hieß sie denn? Ein namenloses Geschöpf. Später die intelligente Tschechin, Jovanka, oder so ähnlich, dann diese fromme Polin.
Aber lass’ es gut sein, alter Junge! – In den Hof, ein bisschen ausgelüftet – dann den Peters wieder kontaktieren. Oder nachher in den Hof. Ich muss zum Ende kommen.“
Gandauer setzte sich doch erst zum Schreiben hin:
Heute, Peters, ein Thema, mit dem mein Monolog im Grunde abzuschließen wäre.
Ich bin Ihnen nämlich des Rätsels Lösung schuldig. Selbst wenn Sie mit einiger Sicherheit bereits auf den Namen der Stadt gestoßen sein werden.
War das letzte Mal die Rede von dem militärischen Ring, der die Stadt umgibt, soll heute von einer anderen Einrichtung gesellschaftlicher Erfordernis berichtet werden. Es handelt sich um ein Institut, ehemals am Rande der Stadt angesiedelt. Es ist zu ihm zu gelangen auf einer seit jeher stark befahrenen Straße, die von Augsburg in den Süden führt. Jeder erkennt es an seinem beinahe romantisch zu nennenden, von zwei dicken Türmen, efeuumrankt, bewehrtem Eingangsbau. Dieser ist von der Straße etwas zurückgesetzt, so dass davor noch ein kleiner Park angelegt werden konnte.
Hitler saß hier für wenige Monate ein. Nachdem er versucht hatte, in München einen Staatsstreich zu inszenieren. Sein Aufenthalt in dieser Stätte hatte ihn hinwiederum in die Lage versetzt, in Ruhe sein Pamphlet „Mein Kampf“ niederzuschreiben.
Bis zum Beginn der Fünfzigerjahre war hier auch die Menschenbeute der siegreichen Amerikaner.
Etwa dreihundert als Kriegsverbrecher verurteilte wurden hingerichtet. Auch Szenen der Menschlichkeit werden aus dieser Zeit berichtet: Zum Tode verurteilte dreiundvierzig Mann der SS-Leibstandarte wurden nicht exekutiert, weil die Urteile unhaltbar gewesen seien.
Wo waren wir zu jener Zeit, Peters?
Haben wir je so eine Humanität besessen, welche ein gnädiges Empfinden in die Tat umsetzt, und zwar in dem Bewusstsein, wieder Recht zu schaffen in einem rechtsversehrten Raum?
Oder sind wir immer diese Analneurotiker gewesen, die über dem verrückten Ordnungssinn alles vergessen, was einem das Menschsein als wesentlich aufträgt?
Ach ja, Peters. Unseres derzeitigen Herrn Bundespräsidenten Von Weizsäckers Vater, ein im Dritten Reich hoher Diplomat, saß auch hier ein!
Mir geraten die Zeiten durcheinander: Da taucht mir dieser Pontius Pilatus plötzlich auf. Jener, den die Christen nicht aus dem Text ihres Glaubensbekenntnisses entlassen wollen. Sie wissen, jener mit dem Bemühen, seine Unschuld, laut Bibel, durch Waschen seiner Hände zu bezeugen. Daneben erscheint mir im Augenblick dieser Diplomat Von Weizsäcker. Er habe unter das Dokument zur Bewilligung der Verschleppung jüdischer Menschen nur „ohne Einspruch“ geschrieben. Die übliche Floskel „ohne Bedenken“ habe er so auf listige Weise verweigert, dass es niemandem aufgefallen war. Allerdings wird dieser Streich mit der Waffe der Sprache den von Weizsäcker zum Abtransport freigegebenen Juden viel weniger als ihm selber geholfen haben. Wie eben das Händewaschen des alten Römers deren frühen Stammesbruder, Jesus, auch nicht vom Kreuzestod bewahrt hatte.
Wem müssten Vorhaltungen gemacht werden? Nicht mal die Kirchen als Spezialbetriebe in Sachen Entsühnung haben die Kraft besessen, sich grundlegend zu reinigen und ihre Schuld über die Lippen zu bringen. Die evangelische begreift es allmählich (lese ich in meiner Zeitung).
Gandauer saß noch eine Weile vor seinem Schreiben. Er blickte nur an die Wand. Nach einiger Zeit gab er sich einen Ruck und räumte alles in die Schublade. Bergner war eingetreten und hatte gleich zu klagen begonnen: „Diese Leute, besonders die Farbigen! Da pariert ja mein Schäferhund besser!“
„Guten Tag. – Aha, sie sind Hundehalter!“
„Schäferhund!“, betonte Bergner. Gandauer nickte ihm freundlich zu.
„Zu Zeltnik sollten sie doch wieder einmal kommen!“, bemerkte Bergner und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„Ein Stinkstiefel!“, schimpfte ihm Gandauer leise hinterher. „Und dieses ganze Publikum!“ Er eilte zum Hofgang.
Als Erinnerungsprotokoll wollte es Frank erst einmal niederschreiben. Er ließ es offen, es Gandauer vorzulegen. Es sollte ihm zunächst wieder zu so etwas wie einer Selbstrechenschaft dienen. Schließlich war er sich bewusst, dass er riskiert hatte, sich auf Abwege zu begeben. „Um einer guten Sache willen“, entschuldigte er sich sofort:
Der Bus war da. „Aufgesessen, Leute“, schlug die Stimme des Kommos’, wie der Leithammel zu nennen war, ans Ohr. Der richtige Ton, wurde mir erklärt, sei entscheidend für die Befolgung eines Befehls. Es dürfe nicht als sanfter Aufruf rüberkommen. Womöglich sogar noch durch ein Bitte geschmiert. Dann ging es ab zur Verlegung ins etwa 30 km entfernte Zeltlager. Ein Entgegenkommen, diese Strecke transportiert zu werden, sie nicht in Marschkolonne ableisten zu müssen. Auch Kräftesparen gehöre zur Taktik des erfolgreichen Ablaufs einer Aktion. Obwohl schließlich immer an die Grenzen zu gehen sei. Es soll alles seinen Sinn und Zweck erfüllen. Vor allem jedoch erfülle der Transport den Zweck der Tarnung. Denn der Feind treibe überall sein Unwesen. Niemand wisse doch, ob nicht wieder die Presse rumschnüffle, um ihre Lügen verbreiten zu können. Es müsse erst alles aufgebaut werden. Wozu auch gehöre, dass entsprechende Infiltration erfolge. Um rechtzeitig Warnung durchgestochen zu bekommen. – Dann sind wir da mit voller Wucht, tönte es ins Motorenbrummen.
Zeltlager im Walde, irgendwo im fernen Osten des Freistaates. Nach Benennung dieser Geografie durch den Kommos von ihm so seine Art inneren Ausspuckens. Er nahm mich später zur Seite, während die Jungs ihre Liegestützen runterstöhnten, und er erinnerte mich, welchen Ursprungs der Begriff ‘Freistaat’ für Bayern sei: Dass dieser Urheber Eisner doch ein semitischer Bolschewist gewesen war, wobei ihm der berlinische Preuße nachgesehen, aber die Kugel, die ihn niederstreckte, von Herzen gegönnt werden könne. Zum Staunen brachte ich diesen Kerl damit, dass ich nach seinem trockenen Lachbellen ergänzte, dass der Eisner-Mörder, dieser Ex-Leutnant Von Arco, ebenfalls etwas Semitisches im Blute führte, allerdings nur zur Hälfte. Große Augen. Dann wieder diese Lachstöße und die Anmerkung, dass diese rassisch Fremden in ihrer arteigenen Minderwertigkeit gut daran täten, sich gegenseitig selber umzubringen.
Später war der Kommos wieder bei mir. Es erfolgte eine Art Rechtfertigung von Aktionen dieser und ähnlicher Art. Allerdings nur mir gegenüber, betonte er, was von mir gerne als ein Privileg betrachtet werden könne und die große Ausnahme sei. Weil ich („noch“ fühlte ich dazwischen) zu viel auf Verstand setzte. Denn Aktionen würden grundsätzlich angeordnet und nicht etwa begründet. Wo man da hinkäme, womöglich noch in eine Diskussion über Zweck und Ziel. Im Ganzen also sei das für die Jungs die beste Vorbereitung auf das, was beim Dienen in der Bundeswehr, in diesem im Grunde laschen, sich auch noch Militär nennenden staatlich unterhaltenen Haufen, auf sie zukomme. Wer durch unsere Hände gegangen ist, der wird da konditionell an der Spitze marschieren. So solle und müsse es sein! Verstanden?
Meinen inneren Kommentar dazu will ich hier nicht aufzeigen.
Die Mädchen waren in diesem Camp mit von der Partie. Sie hatten die traditionell, von ihrem Geschlecht her bestimmten usw., von der Frau zu erledigenden Versorgungstätigkeiten zu leisten. Natürlich böte es sich an dieser Stelle an, das mit einer einen gehörigen Abstand erzeugenden Bemerkung zu untermalen. Doch Hildas Anwesenheit damals hindert mich jetzt noch daran. Ich gebe es mir ohne Umschweife zu. War ich ihr doch, für ein paar Augenblicke nur, aber immerhin in die Nähe gekommen. Nur wenig Worte, doch eben Nähe. Es bestärkt mich – um doch wieder etwas Abstand zu gewinnen – in meinem ursprünglichen Vorsatz. Nämlich positiven Einfluss zu nehmen auf die ganze Ansammlung Tagesgespenster. Hilda ist es mir wert! Diesen Einfluss in Richtung Rückführung in die normale bürgerliche Gesellschaft auszubauen.
„Beim Überfliegen meiner Notiz jetzt wandelt es mich wieder einmal peinlich an“, bekannte er sich. „Ich pariere diese meine Gespinste mit dem Eigenspott, bestimmt ein wenig närrisch zu sein. Versuche, dieses Gefühl meinem Alter Ego in die Schuhe zu schieben, Frank, um es damit zu einem Fremdschämen umzuformen.“
„Der Anwalt erwartet sie“, sagte Bergner, „folgen sie mir, Herr Gandauer!“
Gandauer war an seinem Tisch gesessen und hatte in der Knastzeitschrift geblättert. Nun blickte er auf den Beamten – erst nur flüchtig. „Da war doch etwas anders!“ Dann schaute er noch einmal hin. „Richtig, da fehlt doch etwas. Bergner muss beim Friseur gewesen sein.“ Als sich der geschorene Bergner abgewendet hatte, um den Haftraum der Routine nach mit ein paar Blicken zu kontrollieren, schaute Gandauer noch einmal auf die neue Frisur über der Uniform. Die dunkelblonden, sonst bis zum Kragen reichenden Haare waren zu einem Bürstenschnitt zurückgestutzt.
„Ist was?“, fuhr Bergner Gandauer an, als er ihn bei seiner Musterung ertappt hatte.
„Was soll sein?“, fragte Gandauer zurück, ohne den Blick von ihm zu lassen.
Bergner schien das unangenehm zu sein, er machte einen Schritt zur Seite und fing an, in Gandauers Wandkalender zu blättern.
„Das haben wir doch auch gewusst, dass ein kurzer Haarschnitt erstens praktischer ist als langes Haar in einer Kasernengesellschaft und zweitens auch der Persönlichkeit so etwas wie eine harte Note verleiht. Ein Mittel psychologischer Kriegsführung, vielleicht, im Umgang mit den Anderen. Aber das kann mir egal sein.“
„Herr Cziflic ist ja nicht mehr da“, bemerkte Gandauer, als sie schon unterwegs waren.
„Verschubt zur Zeugenaussage“, bekam er zunächst nur zur Antwort. „Faust-Aktivist, dieser Cziflic. Sonst nichts“, stieg Bergner dann ein, „nützliche Bulldogge. Auch als Zuträger nützlich. Aber er haut immer gleich drauf.“
Gandauer begnügte sich mit einem „Soso“.
„Mieses Menschenmaterial, das“, konnte es Bergner nicht lassen, „nicht vorzeigbar und politisch eigentlich nicht existent! Das sind die Kerle, an denen einen der Gegner immer packen kann. Auf solche Leute fliegt die Presse, wenn sie uns an den Karren will.“
„Menschenmaterial!“, zitierte ihn Gandauer nachdenklich.
„Was glauben sie denn, Gandauer, was der hier Leute zugerichtet hat. Etwa wegen ihnen!“, wetterte Bergner. „Der hat sie hoch eingeschätzt, Gandauer, sollten sie doch wissen. Diese bescheuerten Typen haben manchmal sogar den richtigen Blick. Das ist das Tier im Idioten, das so etwas wittert. Der Gandauer war für ihn ein Vorbild. Es laufen so viele Politiker rum, hat er gesagt. Aber keiner sitzt im Knast. Wo sie eigentlich alle hingehörten.“
„Ein danach sehr berüchtigter Politiker war tatsächlich hier eingesessen!“, merkte Gandauer an. Er wartete darauf, dass Bergner reagieren würde, doch der schien es überhört zu haben.
„Die Politiker von heute, die machen gar keine richtige Politik mehr. Ihr damals habt eben richtig hingelangt. Das hat der Cziflic gesagt, wohlgemerkt! Die kriechen dem Ausland hinten rein heute, hat der Cziflic gesagt. Und bezahlen denen auch noch die Schulden mit unserem Geld. Verschenken unser schönes Land an die Polen, die wo noch nie richtig arbeiten wollten. Und lauter solche Sachen hat der Cziflic draufgehabt. Haben wir gelacht, wenn er das brachte in seiner komischen Sprache und dem Rumgetanze mit geballten Fäusten. Allerdings so unrecht hat er immerhin damit auch wieder nicht gehabt, glauben wenigstens viele Leute.“
„Kinder und Narren sagen die Wahrheit, heißt es. Der passt doch prima zu euch!“, provozierte Gandauer. „Ich weiß gar nicht, warum ihr den nicht haben wollt.“ Er hörte Bergner schnauben. Es musste Wut sein. Gandauer brauchte jedoch den Ausbruch nicht mehr zu fürchten, sie waren am Sprechzimmer angelangt.
„Sie haben“, eröffnete Sterzinger nach kurzem Gruß die heutige Sitzung, „ihrem von ihnen so bezeichneten Bekannten Peters den Namen Petrwich verliehen. Ich finde das sonderbar. Ich meine, dumme Schuljungen hänseln sich, indem sie Namen verfremden und Spitznamen erfinden!“
„Der Mann hieß so“, rechtfertigte sich Gandauer, „er war vom Klapperstorch bei einer Familie Petrwich abgeliefert worden. Alte Breslauer, aus dem etwas polnischen eingefärbten Oberschlesien vielleicht zugewandert. Hochintelligente Apotheker in der zweiten Generation. Er hat seinen Namen geändert, wie es damals viele getan haben, um ihrem arischen Dasein auch den richtigen Klang zu verleihen. Einer hatte drei Ariergenerationen nachzuweisen. Wenn das bei uns an der Grenze geklappt hat, dann war jeder zufrieden und hat die Suche eingestellt. Aus Sorge, dass da nicht doch noch irgendwo fremdes Blut auftauche.“
„Schon eigenartig, worauf sie sich eingelassen hatten. Reine Rasse. Die schiere Viehzucht“, bemerkte Sterzinger und öffnete seinen Aktenkoffer. In den Unterlagen kramend, berichtete er, dass Peters wieder angerufen und sich für die Briefe bedankt habe. Er, Sterzinger, habe wieder Schwierigkeiten gehabt, Petes zu folgen. Doch es sei ihm allmählich aufgegangen, dass Peters richtig geschwärmt habe von diesem sozusagen Brief-Odtke. Ein über die Maßen guter Redner sei Odtke gewesen. Er zitierte dessen Kampf gegen gewerkschaftliche Umtriebe – als es sie eben noch gegeben habe, bis sie kassiert worden sind von ihrer tollen Bewegung. ‘Ihr wollt wohl alle gepolsterte Schaufelstiele ...?’. Das Zitat habe sich Sterzinger gemerkt, weil es in den Hörer gebrüllt worden sei, dass er diesen vom Ohr kurz weghalten und sozusagen entfernt weiterhören musste.
Gandauer ging, zufrieden lächelnd, darüber hinweg. „Dieser Petrwich“, kam zunächst nur von ihm, wie in Gedanken versunken. Dann schreckte er beinahe auf: „Ein, sagen wir mal braver Politiker hatte neulich über multikulturelle Gesellschaft gewettert. Ich hatte mich da zeitlich etwas zurückversetzt geglaubt“, erklärte Gandauer. „Ich meine, mich sogar zu erinnern, neulich auch etwas von der Gefahr der Verrassung gehört zu haben. Meine Erinnerung kann mir jedoch auch einen Streich gespielt und mir etwas aus der Zeit unseres Nationalsozialismus’ eingeschmuggelt haben.“
Sterzinger hatte eine Akte herausgenommen. „Das mit der Erinnerung scheint überhaupt ihr Problem zu sein!“, fuhr er Gandauer an und machte eine wegwerfende Handbewegung, um sich gleich in ein Schriftstück zu vertiefen.
„Allerdings hatte sich dieser politische Herr bei seiner Bemerkung über die Kultur auf Glatteis begeben!“, war Gandauer noch bei seinem Gedanken. „Denn ich denke doch, dass sich unsere Kultur sicher als christlich, jüdisch und was sonst noch zu verstehen hat. Also ist sie auch irgendwie ein Multikulti-Gebilde. Das hat ja auch Hitler immer großes Kopfzerbrechen bereitet, weil er an dieser Tatsache nicht gut vorbeikonnte. Ja, ich bin sogar der Überzeugung, dass er sich geradezu gezwungen sah, den vielen germanischen Granit auf die immer wieder nach oben kommende Mischkultur zu drücken. Wissen sie, wir haben uns auch immer gewundert über die manchmal geradezu wahnwitzig wirkenden Ausbrüche ins vermeintlich germanisch Altvordere. Besonders beim SS-Himmler. So dämlich waren wir nämlich nicht.“
„Stinken sie hier doch bitte nicht mit altem Käse herum!“, fuhr Sterzinger auf. „Ich lese hier für sie im Augenblick aktuellere Dinge, beispielsweise über ihr Verhältnis zum Leben anderer! Wenn sich diese Vorwürfe, ihr Verhalten in den letzten Kriegstagen betreffend, erhärten lassen, dann verbringen sie ihren Lebensabend gewiss hinter Gittern, Herr Gandauer!“, warnte Sterzinger mit erhobenem Zeigefinger, und Gandauer hatte aufgehorcht. „Sie sollten mir unbedingt Verlauf und Inhalt ihrer letzten beiden Kriegswochen darstellen!“
„Freilich! Das kann ich ihnen ohne weiteres zusagen. Und sie werden sehen, es lässt sich alles widerlegen – die Historie, meine Person betreffend!“
„Es bereitet ihnen wohl Vergnügen, Herr Gandauer, zwischen ihren allen anderen verborgenen Beeten zu spazieren, sie historischer Hobbygärtner!“
„Was für eine Formulierung!“, freute sich Gandauer. „Haben sie bitte Geduld mit mir, sie werden sehen, es lohnt sich. Sie treffen in mir immerhin ein gutes halbes Jahrhundert Erfahrung im Umgang mit dieser unheilvollen Zeit!“
„Hören sie auf zu unken!“, protestierte Sterzinger. „Ich habe ihrem Petrwich das letzte Schreiben zugesandt. Es kann mir schließlich ziemlich egal sein, wie er über seinen Namen denkt. Aber“, lachte Sterzinger hohl, „vielleicht ist es für unsere Prozesshaltung sogar gut, wenn sie jetzt schon mal mit derlei Wunderlichkeiten und einem kindisch anmutenden Verhalten beginnen. Das lässt sich dann unter Umständen zu einer Notbremse ausbauen und vertiefen. In einem Nervenkrankenhaus werden sie nämlich auch nicht schlecht versorgt.“
Gandauer ging darauf gar nicht ein. Er zog seinen letzten Brief aus der Jackentasche und schob ihn Sterzinger über den Tisch. Als dieser zu lesen begonnen hatte, fing Gandauer an, dass er einen Hrdina gekannt habe, aus dem ein Herdiner geworden war – und zwar auf sein, Gandauers, Anraten hin. Arisch zu sein, das bedeutete eben, ein besserer Mensch zu sein. Da konnte einer schließlich nicht so ohne Vokal zwischen zwei Konsonanten rumlaufen, schmunzelte er.
Sterzinger blickte nur kurz auf. Er las gleich weiter, ohne einen Kommentar abzugeben:
Ich sah neulich in der Zeitung, Petrwich, eine immer noch tiefe Grube, obwohl da schon seit Jahren Bauschutt hineingekippt worden war. Dazu hörte ich, dass dieses Loch Tausende von Sklaven unseres Dritten Reiches vor allem von Hand ausheben mussten. Es könne daraus ermessen werden, hieß es, welche Lebenserwartung diese Bedauernswerten unter den fürchterlichen Begleitumständen hatten. Bei Wassersuppe, Elendsbehausung, Typhus und der Knute ihrer Schergen.
Es ist, lieber Peters, schier unvorstellbar, dass es sich wirklich ereignet hat. Ich hoffe von Herzen, dass viele Elemente dieses Martyriums auch in der Erinnerung der überlebenden Gequälten wenigstens etwas verblasst sind. Nicht etwa durch die Gnade des natürlichen Vergessens, das es ja ob des Entsetzens und der Tiefe des Eindrucks nach nicht geben kann, sondern durch die auch für die betroffenen Menschen im Nachhinein noch schwelende Unfassbarkeit der Vorgänge. Jemand kann sich das Überstehen dieser Qualen nur vorstellen, wenn er unterstellt, dass das Martyrium die Wahrnehmung dieser Menschen auf das geringste Überlebensnotwendige beschränkte. Dass dadurch alles dieses Überschießende gnädig ausgesperrt wurde.
Mir verschließt sich jedoch eine Darstellung, von der ich gehört hatte: Die Überlebenden sollen den Begriff der Überlebensschuld geprägt haben. Finden Sie dazu einen Zugang?
Abgründe tun sich mir auf, verrate ich Ihnen, Peters. Abgründe, in die ich mich selber stürzen möchte. Nur die Robustesten hätten die Chance gehabt, ein paar Monate in diesem Reich der Finsternis zu überleben. Wobei sogar zu bezweifeln ist, dass in diesem Fall Widerstandskraft wirklich ein Segen war. Es gibt, wissen wir, Situationen, in denen das Überleben zur Last werden kann.
Düsenflugzeuge sollten in ungeheuer großen Betongewölben, die als Bunker zu tarnen gewesen wären, hergestellt werden. Aktion Ringeltaube hatten unsere Planer dieses gigantische Aufbäumen unseres in seinen letzten Zügen liegenden Wahnwitzes genannt.
Es gibt keine Worte der angemessenen Darstellung der Umstände dieser Perversion. Daher müssen alle Versuche einer Beschreibung Fragment bleiben.
Dieses Unbeschreibliche aus unseren Abgründen ist so wenig zu begreifen, dass die doch gelegentlich unternommenen Ansätze, es vollkommen aufzudecken, fortschreitend zu einem Ritual erstarren. Womit der ganze Zustand endlich in die Bedeutung von so etwas wie einer Erbsünde gerät, die dann vielleicht irgendwann wegzutaufen versucht wird.
Sie erinnern sich der von mir immer wieder dargestellten braven Denkmalpflegegesellschaft hier in dem Städtchen, die sonst jeden Ziegelbrocken aufhebt, wenn er nur irgendwie historisch wirkt? Sie haben die nun leider epochalen Erdhöhlen, die als Behausung der Arbeitssklaven gedient hatten, wo sie nur konnten, wegschieben lassen. Bis sich da eine Gruppe „Bürgervereinigung der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts“ um einen Lehrer scharte. Diese Vereinigung kämpft mit Entschlossenheit gegen den Zahn der Zeit, der hiesigen Orts und sicher auch anderswo in Form von Planierraupen ausgesprochen greifbar, allerdings auch wieder sehr begreiflich auftritt.
„Wohl nicht gerade ergiebig?“, fragte Gandauer.
Sterzinger zuckte die Achsel: „Wissen sie, ich habe ja nicht Klagemauer zu sein. Mich stört allerdings ihre Verallgemeinerung, dass alle meine Mitbürger die Beseitigung der Nazihinterlassenschaft betrieben hätte.“
„Das tut mir leid! Der Vorwurf trifft natürlich nicht restlos alle!“, nahm sich Gandauer zurück.
„Ich hoffe immerhin, wenigstens mit diesem Schreiben von ihnen etwas Material zur Verteidigung in der Hand zu haben. Ich gehe davon aus, dass alles ein Abbild ihrer nun grundsätzlichen, also veränderten, demnach geläuterten Einstellung ist. Also mal sehen, ob es sich vor Gericht verwerten lässt. Ich werde wieder eine Kopie fertigen zu lassen.“
„Selbstredend!“, entgegnete Gandauer und fuhr fort: „Ich habe nicht geglaubt, dass es so schwer sein würde, diesen Teil Geschichte, den ich schließlich miterlebt habe, darzustellen.“
„Nicht nur mit-erlebt, lieber Herr Gandauer, sondern laut Aktenlage auch auf perfideste Weise mit-gestaltet!“, korrigierte Sterzinger. „Aber ich denke, sie haben immer noch keine Kraft, Ordnung zu schaffen in ihrem Leben! Sehen sie doch das Gerichtsverfahren als eine Möglichkeit an, ihnen dabei behilflich zu sein!“
„Du sitzt da auf deiner Insel mitten im Zeitenmeer“, nuschelte Gandauer vor sich hin.
„Was soll das? Wir wollen doch nicht auch noch poetisch werden!“, ärgerte sich Sterzinger. Er hielt noch den Brief in der Hand und fächelte sich damit Luft zu. Plötzlich hielt er inne damit und blickte mit großen Augen auf die Anschrift. „Im Grunde ist alles ganz einfach“, kam er fast triumphierend heraus. „Ich wäre doch, da ich die Anschrift kenne, in der Lage, ihren mutmaßlichen Bekannten zu befragen!“ Er blickte seinen Mandanten forschend an.
„Du lieber Gott“, stöhnte Gandauer, „um meinen guten Freund Peters in Fahrt zu bringen, müsste es ihnen gelingen, ihm eine tragende Strömung aufzuzeigen, auf der er ohne Anstrengung mitschwimmen könnte. Selbst dann müssten sie ihm dauernd Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit zur Rettung bereitstehen.“
„Auch werde ich mir über dieses eigenartige Dreiecksverhältnis Gandauer-Odtke-Peters Klarheit verschaffen müssen!“ Sterzinger verabschiedete sich. „Ihr Peters ist bei mir als Zeuge vorgemerkt!“
Piscator war wegen der in seinen vier Wänden eingetretenen Enge immer noch ziemlich irritiert. Das ging nun bereits Tage so. Er hatte zeitweise das Gefühl, dass die verhältnismäßig starken Geräuschemissionen und die enorme Betriebsamkeit der bei ihm eingedrungenen Individuen seine Existenz bedrohten. Er hätte möglicherweise längst aufgegeben, wären da nicht die kleinen, gelegentlich gepflogenen Übungen mit Rebekka gewesen.
Sein Los wurde zusätzlich durch das seit Tagen herrschende Regenwetter erschwert. War er, im Stande eines Singles, in solch trüben Zeiten im Bett geblieben, so hatte er sich nun auf Rebekkas Geheiß mit den anderen im Wohnzimmer zu versammeln. Sie hockten sich dort auf der Pelle. Und der Himmel sah aus, als wollte er sich auch weiterhin ergießen. Nordstau der Alpen, war zu hören. Die zahlreichen Kurznachrichten. Musik, Musik. Den ganzen Tag plärrte und schepperte Bayern Drei. „Tatü, tatü, tatüta“, echote Piscator die Münchenmelodie „solang der alte Peter“. Die Raumgenossen ärgerte das. Diesen Ärger genoss er mit breitem Grinsen.
Nach einigen Tagen in dieser Zwangslage stellte sich die Wende ein. Piscator war aufgefallen, dass seine Zimmergenossen immer dann in eine andächtige Stille fielen, wenn der Sender nach seinem Tatü-tatü-tatüta begann, Straßenberichte abzusetzen: "Drei Kilometer Stau auf der Autobahn München-Nürnberg bei der Ausfahrt Manching; zähfließender Verkehr auf der B 12 bei Stegen am Ammersee in beiden Richtungen; auf der A 9 in Richtung Ingolstadt kommt ihnen ein Fahrzeug entgegen." Schlagartig war Ruhe in der Bude. Selbst der Hund schien das einleitende Signal zu begreifen, er spitzte die Ohren und wedelte mit dem Schwanz. Die Kinder hörten angespannt zu und hielten mitten im Satz den Mund.
Als er das begriffen hatte, stellte Piscator seine akustische Rache ein. Er beteiligte sich mit wachsendem Interesse an der Höraktion: Da ein Crash mit Kurzschilderung von Hergang und Folgen; dort wieder Stop-and-go; wohlmeinende Belehrung ... Alle hatten dann selber Ratschläge abzusetzen, und es wurde darüber diskutiert. Plötzlich war einem auch die Musik nur noch Hintergrundbeschallung. Sie konnte so laut sein, wie sie wollte.
Sein Gesicht wurde nun ebenso auf besagtes Signal hin lang. Sein Tatü ..., auf das er nun einmal festgelegt war, wurde zunehmend melodischer und vor allem ausgesprochen verhalten. Am Ende entdeckte Piscator, dass seine Fantasie bei diesem Anlass Flügel bekam. Er machte sich ohne Verzug in die vom Radio genannte Gegend auf und kam auf diese Weise in wenigen Sekunden im ganzen Land umher. Er war sofort weit weg, machte eine Blitzreise in den entferntesten Landstrich, war bei den genannten Geschehen zugegen, dachte sich in Situationen, war Held der Landstraße, Sanitäter oder auch nur Katastrophentourist.
Da kam so etwas wie Erleichterung mit einem Touch Zufriedenheit bei ihm auf.
Wegen der Bereicherung, die ihm da zuteilwurde, ließ Piscator das plärrende Ding selbst dann an, wenn sich die Besatzer in den Supermarkt abgesetzt hatten.
„So sind die Leute heutzutage“, beteuerte er sich, „das alles gehört zum Leben. Du hast es nur nicht wissen wollen.“
Trotzdem blieb es nicht aus, dass Piscator auch von weniger erfreulichen Eindrücken heimgesucht wurde. Heute überkam es ihn, dass sein Dasein alles in allem von Tristesse gezeichnet sei. Piscator überflog sein Naturparadies mit traurigen Blicken, das ganz offensichtlich in der Begründungsphase stecken geblieben war. Er blieb am schütteren Grün hängen und machte sich vor, dass die Pflanzen sehnsüchtig durch das Fenster auf das viele Nass blickten und den Wunsch hegten, sich einmal so richtig volllaufen zu lassen.
„Ich könnte mich ersatzweise selber abfüllen“, kam ihm in den Sinn. "Aufs Klo gehen und einiges in mich hineinschütten und in der Badewanne ausschlafen."
Er wollte allerdings nichts riskieren und ging nur, um Wasser für die Blumen zu holen.
Dann rang er sich durch, seinen immer wieder aufgeschobenen Plan zu verwirklichen. Er wollte sich endlich seine Vergangenheit erzählen. Er wollte sich natürlich auch gleich wieder davor drücken, als er sich klarmachte, dass das mit Arbeit zu verbinden sei. Dann auch noch über so etwas: „Dieser Bürgermeister, der mir nicht aus dem Kopf geht, mein Bürgerschreck. Vielleicht ist er abgekratzt. Er hat trotz seiner Leibesfülle immer irgendwie krank ausgesehen und hat vielleicht längst den Löffel abgegeben. Über den noch was festhalten? Reicht nicht die immer wieder auftauchende Erinnerung? Herrgott, ich und politisch! Der Kerl hatte eigentlich nichts Richtiges gelernt, war als Kantinenwirt in einer Kaserne reich an Einnahmen und Einfluss geworden. Das packt mich jetzt doch wieder! Keiner hat verstanden, dass der ein Sozi war, dort wo einer eben keiner ist, wenn einer was ist – oder auch nur dafür gehalten werden will. Doch er hat es immer wieder geschafft. Alle in den Sack zu stecken, der Kerl.“
Dann wollte es Piscator doch in Angriff nehmen. Das Schreibzeug war auch gleich hergekramt. „Vielleicht löst sich mir das Rätsel beim Erinnern das Erfolgsgeheimnis dieses taktischen Genies.“
Piscator rang nach Worten für sein Vorhaben. Zwischen den Sätzen tauchten uralte Bilder auf: Die blutroten, mit Ausdrucksleichen übersäten Schlachtfelder korrigierter Aufsätze seiner Schulzeit. Er fing an, den Kugelschreiber zu benagen. Da wurde es laut vor der Tür, es drang herein. Sein Zustrom tauchte wieder auf, okkupierte aufs Neue mit Bewegung und Geräusch den Raum und seine Nerven. Er war allerdings vor seinen Einfällen gerettet.
Da die Jungen sofort mit sich beschäftigt waren – sie hatten im Großmarkt verschiedene Sachen mitgehen lassen und verglichen nun die Beute –, gab sich Piscator einer von ihm noch vor kurzem als völlig indiskutabel weit von sich gewiesenen Betätigung hin. Er nahm sich des Hundes mit einer Lektion Pfötchengeben an. Das Vieh war noch so unerzogen.
Ein Idyll entstand auf diese Weise: zwei heftig diskutierende, sich ab und zu balgende Knaben; Hund und Herr im Bestreben, die Domestikation zu vertiefen.
So verging eine geraume Zeit. Bis Rebekka von der Kochnische her mit einem Aufschrei die Szene stoppte. Der Hund hatte sich mit einem Satz unter den Tisch in Sicherheit gebracht. Die Zweibeiner glotzten auf die entsetzte Frau. Alle suchten mit den Augen Scherben auf dem Boden, ein blutiges Messer auf dem Tisch.
Nichts.
„Mensch, verdammt, ich habe die Kartoffeln vergessen!“
Das löste die Spannung.
Alle wollten wieder ihrer Beschäftigung nachgehen.
„Los, wir müssen wieder in die Stadt!“, herrschte Rebekka die Jungen an.
Lange Gesichter. Murren: „Soll doch der mal gehen!“ Der größere Junge, Markus, zeigte mit dem Finger auf Piscator: „Der hockt doch bloß rum!“
„Folge deiner Mutter!“, ermahnte der ihn eindringlich.
Rebekka hatte die Jungen schon bei der Hand gepackt und war dabei, sie aus der Wohnung zu zerren. Etwas wie „Scheiß Penner“ wollte Piscator noch vernommen haben.
Er lauschte genussvoll den schwindenden Geräuschen nach. Als alles ruhig war, ging er, um zu sehen, was Rebekka bei ihrem ersten Gang alles heimgeschleppt hatte. Er wühlte in den noch nicht verstauten Nahrungsmitteln und stieß auf eine Zeitung, die als Verpackung gedient hatte. Bei dieser blieb er hängen, weil er sich wunderte, dass hier eine Tageszeitung aus einer Nachbarstadt auftauchte. Er überflog die Seiten, las hier und da etwas genauer und stieß auf einen Artikel im Heimatteil: „Parkendes Auto bringt Eresinger in Rage“. Beim Anlesen war er gleich gefesselt. Er folgte begierig der Berichterstattung, witterte den geballten hinterwäldlerischen Verrat an Recht und Freiheit. Und da es um so ein Dorf wie das seiner Erfahrungslast ging, war Piscator auch gleich Feuer und Flamme. Da habe nämlich einer, den die Schnellfahrerei im Ort ärgerte, sein Auto an einer Straße demonstrativ raumgreifend geparkt. Damit die Raser die Geschwindigkeit drosseln müssten. Auch die Bauern hätten mit ihren großen Fuhrwerken vorsichtiger und vor allem langsamer fahren müssen. Da hätten sie ihm in einer Nacht einfach die Reifen zerstochen. Und es sei hin und her gegangen. Am Ende sei der Mann mürbe gewesen: Er habe sich doch tatsächlich beim Bürgermeister wegen eines Erregens des Volkszornes entschuldigt. Der Bürgermeister habe nach Bekanntgabe dieser Abbitte im Gemeinderat erwähnt: Eigentlich dürfe niemand eine Selbstjustiz üben. Zudem sei Sachbeschädigung auch nicht erlaubt.
„Ja, so sind die! Genau!“, maulte Piscator eine Weile vor sich hin: „Das sumpfblüht dort auf in diesen aufeinanderhockenden Haufen: Feigheit, Verrat und Tücke!“
Im Zorn gelang Piscator der Sprung in sein Vorhaben. Die Entrüstung über die Dummschlechtigkeit der Leute trieb ihn um. Er ließ allen Rückblick über sich ergehen, der ihn gepackt hatte, formte die zunächst noch flüchtigen Gedanken, bildete bereits Sätze, bündelte sie zu Absätzen – und holte das Schreibzeug!
Erste Notiz:
Die Linken hatten der muffigen bürgerlichen Vorherrschaft in diesem Lande ein Ende setzen wollen. Noch aus vielen anderen Gründen habe ich mein Herz deutlich links schlagen fühlen. Es war eben einfach auch der Trend gewesen am Ende der Sechziger. Die Studenten meuterten und kämpften unter anderem auch dafür, dass ihrer Väter Nazivergangenheit endlich aufgearbeitet werde.
Zu der Zeit, über die ich jetzt etwas notiere, nämlich Mitte der Siebziger, regierten die Sozialdemokraten mit den noch Sozialliberalen in Bonn. Doch sie waren bereits am absteigenden Ast, im Grunde bereits reichlich verschlissen. Der frische Wind, den sie machen wollten? Mehr Demokratie, die sie – ich erinnere „wagen“ – wollten? Es hieß schließlich, sich den Sachzwängen zu fügen. Auch hatten sie erkannt, dass die wirklichen Mächte im Lande, ja sogar in der ganzen Welt, aus dem Verborgenen heraus, aus den Chefetagen der Multis zum Beispiel, werkten und wirkten.
Trotzdem bist du siebenundsiebzig der Partei beigetreten, Piscator, bourgeoise Prägung verlassend. Es darauf ankommen lassend, wohin es führt. So etwas wie Revolution in dir.
Dann das erste Mal überhaupt bei dieser politischen Gruppe im Ort auf Versammlung gewesen. Unverdrossen eine Grundsatzerklärungen abgegeben: Die braunen Bremsspuren in der Unterhose der Gegenpartei aufzeigen, wenn da laut Vorsatz von deren Führung rechts von ihnen politisch nichts mehr stattfinden dürfe. Und solche Geladenheiten. Damit mochte ich Aufmerksamkeit erzielt haben. Nachher selber geärgert über diesen Gesinnungstrip. Nachgedacht auch, ob es sich noch klären wird, ob es der schlicht spezifische Aspekt (sich überhaupt gerne in dieser Zeit solcher Ausdrucksweisen bedient) ist, der mich auf eine (gerade diese) Partei zugehen hieß. Möglicherweise der Ruf, dort sammle sich der größere Teil der Intelligenzia, ein schmeichelndes Motiv. Vielleicht auch die Vermutung, links hause die lebens- und politiknotwendige Utopie.
Vorsitzender vom Ort weggezogen.
Bin mit neun von elf Stimmen zum Nachfolger gewählt worden.
Bin einigermaßen ratlos gewesen – und habe mich betätigt: Sammle Schriftmaterial von den Vorgängern über den Ortsverband. War bald einer Infoflut von der Parteizentrale ausgesetzt (Grundsatzerklärung nebst Gebrauchsanleitung, Dokumentation, Bericht, Stellungnahme, Aufkleber, Kalender). Es ist Wahlkampfzeit für das örtliche und das Landesparlament gewesen. Bin dann Austräger für Flugblätter und Zeitungen, klebe Plakate. Genossen eher auf Tauchstation. Lasse mich von den Wahlkämpfern der anderen Seite schief ansehen und dumm anreden.
Es wurde wieder laut im Flur. Piscator erkannte die Geräusche und ließ eilig seine Aufzeichnungen verschwinden. Er atmete befreit auf. Befriedigt lächelnd, für seine Verhältnisse ausgesprochen überschwänglich, empfing er die Ankömmlinge – was allerdings Rebekka misstrauisch machte.
„Seit dem Aufstehen ist das heute wieder da. Die eigentlich simple Frage. Was, Gandauer, können sie dir alles vorwerfen? Wir hatten damals auch eine Vorstellung von Rechtmäßigkeit. Sie sehen es heute gleichwohl in vielen Dingen ganz anders. Verkehrung vieler Werte aus dem Katalog der Menschenrechte, heißt es, sei unsere Schuld. Und wir hatten tatsächlich einiges entstellt in blinder Gefolgschaft unserer charismatischen Figur vornedran. Es hat sich jetzt Gott sei Dank alles wieder geregelt. Befindet sich in seiner richtigen, zumindest bewährten Lage. Wie stehe ich nun auf diesem Grund?
Auch der Krach heute beim Mittagessen hat mir diese Gedanken nicht verscheucht. Warum haben sich die beiden eigentlich gekeilt? Die Wärter waren gleich dazwischen. Wäre ganz interessant. Vielleicht lenkt das etwas ab. Du erfährst aber nichts. Da verrät einem niemand etwas. Noch gehörst du nicht richtig dazu.
Bei der Keilerei ist es um Geld gegangen. Bestimmt. Das bisschen Geld, das einer hier hat. Oder um Zigaretten oder um Stoff vielleicht. Ja, Drogen. Es wird gemunkelt. Und du hattest doch dieses Päckchen gesehen da bei Zeltnik, das flugs den Besitzer gewechselt hatte! Da ist auch gleich dieser Zeltnik wieder in der Erinnerung. Ein ganz leiser Gauner.
Wenn es um Rauschgift ging, kriegst du auf keinen Fall was raus, als Außenseiter. Da müsstest du einsteigen. Und dann bist du gefangen. Nein, nein, die Pfoten weg davon!
Also, du brauchst Ablenkung, Gandauer, erhebe dich! Gehe ein wenig, das führt dich vielleicht ein wenig heraus aus dem Abstellraum – deiner Gedanken.
Was sich dort alles herumrümpelt. Jeder meint, es ginge mit der Zeit viel verloren. Auch alles ums Gefühlsleben?
Dieses Spiel der Hände, damals.
Diese Situation. Mit Hedwig. Diese Fühligkeit im Parkett der Oper, die schiere Verliebtheit. Zu jener Zeit. Wann? Wohl achtunddreißig. Berlin. In Berlin bei dieser neuen Oper. Ein Stoff unserer Tage eben, aus alter, natürlich nordischer Zeit geholt. Dieser Werner Egk und sein Opernneuling. Weniger aus Musikbegeisterung sind wir hingefahren. Wo war da bei Egk die Melodie? Egk mich am Orff, hatten sie gespottet. Orff, der andere Moderne. Vermutlich aus dem Bemühen um gehobene Bürgerlichkeit sind wir hin. So mit Bildungsgetue und Gesehenwerden. Den Peters im Kreuz.
Oh doch, da ist was geblieben als Speise für ein gutes Erinnern! Bei diesem Peer Gynt, trotz dieser Vertonung. Der tolle Peer. Von daheim weg und in die Welt. Herumtreiben. Es treiben. Die ganze Welt hat er mitgenommen, der gute Peer, samt Unterwelt und ihren Ungetümen. Da lag doch etwas in der Luft, in unserer Zeit, mit der ganzen Welt. Da mochte sich der richtige Mann mit Peer Gynt identifizieren: weder Tod noch Teufel fürchtend. – Neben mir Hedwig. – Es mit Weibern und Gespenstern treiben. Höhen erklimmen. Als dann jedoch Peer Gynt in die Gosse sinkt. Wie er dann wieder heimkommt. Elend, abgerissen, verbraucht. Als er ganz am Ende ist, niedergeschmettert, abgewrackt, am Krepieren. – Neben mir Hedwig. – Da kriegt er die letzte, allerletzte Chance: Wenn die gute Solveig sagen kann, wo Peer Gynt die ganze Zeit gewesen ist, kriege Peer die Kurve, werde Peer erlöst. – Neben mir Hedwig. – Und Solveigs Antwort ... – Ich fühle Hedwig. Hedwigs Hand tastet sanft nach meiner Hand, streicht mir sanft über den Schenkel ... das verzaubert mir Solveigs Worte unsagbar und lässt sie tief ins Herz dringen – und zu tiefst bei Hedwig sein: Peer war in meinem Glauben, bekennt Solveig, Peer war in meinem Lieben, Peer war in meinem Hoffen. – Hedwig findet die gesuchte Hand in meinem Schoß, umfasst sie, und ich fühle etwas Unsagbares, so etwas von den Ausmaßen der Fühligkeit der ganzen Welt in mich strömen. Das geht ganz tief und bewegt wie nichts sonst je – und jemals wieder, kann ich mir jetzt ... Vormachen? Nein! Denn solche seltenen, ja einzigen, unvergleichlichen Augenblicke sind wirkliche Geschenke, sie sind unvergleichliche heilige Gaben!
Ob ich mir mit einem von diesen käuflichen, Glück vortäuschenden Mitteln ein wenig davon, als einen Abklatsch wenigstens, zurückholen könnte? Das Zeug gibt es überall und bestimmt auch vor Ort. Du wirst dann mit hineingezogen in so etwas wie vorhin! Wenn die Rückkunft der Gefühle möglich wäre, dann wäre allerdings der Preis vielleicht nicht gar zu hoch! Rauschmittel und Erinnerung. Erinnerung – freilich eine öde Angelegenheit in Sachen Liebe! Deine Ehejahre und die Liebe. Dreiunddreißig bis ..., bis? Ja, natürlich: Bis dass der Tod uns scheidet! Der Tod als ein Scheidungsrichter.
Hedwig, Jahrzehnte eine Erinnerungs-Hedwig. Es ist doch allemal so, dass einer für die Partnerschaft immer nur eine Strecke Weges hat – wie für alles.
Bewege dich ein wenig, Gandauer, das zerstreut. Oder sollte ich vielleicht doch mal wieder zum Schach mit Zeltnik.
Ob Hedwig ... Ob Hedwig noch am Leben ist? Was wird Hedwig jetzt tun? Die Kinder? Erwachsene, vierzig und darüber! Mein Gott, die Kinder!
Jetzt hau endlich ab, Gandauer! Das würgt dich doch wieder. Das ganze Gewirr. Du hast alles aufgegeben. Dir das Alleinsein eingetauscht. Das ist der Preis. Meine Güte, du bequatschst dich selber. Du schwafelst mit dir. Sollte eigentlich lachen können über meine Schnapsideen!
Mensch, erhebe dich von deiner verflixten Knastpritsche!
Herrgott, was bin ich runtergekommen! Landet diese Kreatur am Ende auf einer Knastpritsche!
Raffe dich auf und gib deinen Spatzen zu picken. Wenn du dabei verendest, wird es heißen, er tat seinen letzten Atemzug bei seinen Vögeln ...
Und da ist auch gleich wieder Hedwig.
Warum hast du sie denn nicht gesucht?
Antworte dir doch endlich. Du Feigling!
Du hast doch sogar gewusst, wo du sie hättest finden können. Damals in Breslau. In diesem bitteren Winter. Da hattest du ihr doch richtig befohlen, sie solle in Richtung Alpen fliehen. Nach diesem Oberstdorf etwa oder ins Kleine Walsertal. Die Propaganda hatte von einer Alpenfestung als letzte Fliehburg geraunt. In dieser Gegend wäre sie dann auch zu suchen gewesen.
Da wäre ich dann aufgekreuzt. Abgekämpft und abgerissen. Nach Flucht und Haft. Krankheit und Hunger noch im Leib. Ausgemergelt. Ohne Gesinnung und ohne ein Gramm Fett hingen da fast alle Leute in ihrer schlaffen Haut. Das ganze einst faszinierende, dralle Dafürhalten als stinkenden Dunst vor, hinter und um einen. Das hat dir dein Maul verschlossen. Dass du eigentlich heute noch nicht genau weißt, was du dir vormachen sollst. Damals mit diesem kargen Innenleben und außen verpackt in Stofffetzen. – Und du schleichst durch eine Gegend, die dein Heimatland gewesen sein könnte. Und dir begegnen Schemen, die eigentlich deine Landsleute gewesen sein müssten. Und was du in Erinnerung haben solltest, das ist dir beinahe ganz abhandengekommen. Und dann vermutest du, am Ziel zu sein. Und du klopfst an eine Tür. Klopfst an ihre Tür. Und du bleibst. Wo bleibst du? Draußen vor der Tür bleibst du. Bleibe draußen! Wer bist du eigentlich? Das hast du selber schier vergessen. Das weißt du selber nicht mehr ganz, wer du bist. Und was vielleicht noch da ist von dir, das willst du eigentlich auch gar nicht wissen. Wie sollen es andere wissen – wollen? Aber vielleicht kann dir doch jemand etwas verraten. Und du suchst. Aber alle Fragen nach dir bleiben dir offen. Da stehst du abgekämpft und abgerissen, in Auflösung begriffen. Niemand weiß, was er mit dir hätte, weil niemand wissen will, was mit dir ist. Wer soll dich also haben wollen. Du willst dich am Ende selber nicht mehr finden. Und auch das letzte bisschen Leben will aus diesem verfallenden Haus.
Und du stürzt dich in den Fluss.
Aber nicht mal der Fluss will dich haben!
Und alles so tief ergreifend. Das Stück von diesem begnadeten Wolfgang Borchert ist dein Stück geworden. Und du hast es dir angeeignet und es dir im Kopf vorgespielt. Wäre dieser Draußen-vor-der-Tür-Mann neben dir verendet, du hättest auch ihm den Pass aus der Tasche gezogen, Gandauer. Ein anderer sein. Wenn der Vergangene aufgelöst ist.
Ich möchte nicht wissen, wie viele von denen, die da in ihren gutsitzenden braunen Uniformen in den Parteikanzleien und sonst wo herumgestiefelt und auf anderen herumgetrampelt sind, die große Katastrophe dazu benützt haben, über ihre alte Existenz einen Schleier zu breiten. Wie viele, frisch gehäutet, wieder aufgetaucht sind. Es ist bekannt, wo die Pässe herkamen, vom Vatikan sogar für die Wanderschaft auf der Rattenlinie, und selbst vom amerikanischen CIA!
Lasse das. Es ist dir jetzt ohne Sinn.
Allerdings ist Leben überhaupt nur möglich, wenn einer die Sinnlosigkeit als dessen Betriebsstoff anerkennt.
Schön gedacht, alter Gandauer – oder wie du heißt. Aber jetzt raus hier!“
Der Tag war wolkenverhangen, und übermorgen war Pfingsten. „Feiertage“, war Sterzinger zufrieden und gab sich diesem guten Gefühl hin.
Er setzte Wasser auf, lief ins Bad um etwas Morgentoilette zu erledigen, eilte immer wieder zurück, um nachzusehen. Er pfiff dazu unablässig diesen Ohrenwurm von heute früh aus dem Radiowecker: „Ein Tag wie ein Freund“. Die Stoppeln waren dann weggeschabt und der Tisch gedeckt. Während er sein Frühstücksei köpfte, verspürte er plötzlich das Bedürfnis, noch vor Antritt seines „längst fälligen, wohlverdienten Urlaubs“, einen starken Anlauf zu unternehmen, um doch noch etwas mehr Einblick in den Fall Gandauer zu bekommen. Und überhaupt – er wollte sich ja nichts vormachen –, er hätte ja längst hinschmeißen müssen. Diese Sache zerrte nämlich nicht nur an den Nerven, sondern sie hatte sich längst auch zu einer erheblichen Belastung des anwaltlichen Selbstwertempfindens ausgewachsen. „Wenn dieses Gehabe mit meinem Klienten an die fachliche Öffentlichkeit dränge“, warnte er sich, „wie stünde ich dann da?“
Er biss in den Toast, streute etwas Salz aufs Ei und begann bedächtig das Häubchen auszulöffeln.
Mit seinem Ruf würde er irgendwie zurechtkommen, war er überzeugt. Hingegen die Gesundheit! „Man ist auch nicht mehr ganz der Jüngste und steht an einer Wende. Nicht mehr jung, hinwiederum noch nicht alt. Da darf einer nichts falsch machen!“ Vor allem dürfe man sich nicht übernehmen. Der ganze Ärger immer. „Herrgott!“, durchfuhr es ihn, „Ärger macht impotent, stand neulich in einem Gesundheitsblatt!“
Ein Schluck schwarzen Kaffee. Einen Bissen vom grobschrotigen Toast. „Das Ei, das Ei – und die Potenz, ha! Alter Schwerenöter!“
„Jeder muss sehen, wie er seine Gesundheit unbeschädigt in die zweite Lebenshälfte bringt. Oder ist es eigentlich nicht doch der dritte Lebensabschnitt? In einen Ruhestand, diesen Urlaub ohne Ende – bis zum Ende.“ Das Gelbe vom Ei war erreicht. „Ein wenig Salz. Der Dotter, rötlich gelb, wie schön so ein Dotter aussehen kann. Ich muss wieder mal schlemmen gehen! Aber die Pfunde!“ Ein richtiger Schock – und da war das andere nicht mehr weit, das ihn die ganze letzte Zeit umgetrieben hatte. Es graute ihn davor, im dringend benötigten Urlaub immer wieder von Gedanken an stagnierende Ermittlungen gepeinigt zu werden, auf diese Weise nicht ausreichend relaxen zu können, keine richtige Erholung zu finden und schließlich seine Geschäfte mit einer zerbrechlichen Gesundheit wieder aufnehmen zu müssen. Ströme von Adrenalin! Dessen war sich Sterzinger gewiss, dass Stress bei ihm nicht zu Gewichtsverlust führte, den er weiß Gott nötig gehabt hätte. Nein, Schlaflosigkeit und gesteigerte Fresssucht würden die Folgen sein. Und das Qualmen!
Es müsse ihm gelingen, Gandauer endlich zu einer aufschlussreicheren Äußerung zu bewegen.
Er schabte das letzte Weiß aus der Eierschale und kratzte dann, ganz in Gedanken, noch eine Weile in der leeren Schale herum.
„Ich darf es nie laut sagen“, meinte er. „Diese alten Kerle haben verdammt ihre Spuren in der Geschichte hinterlassen. Gerade diese Burschen! Spuren, deren Verfüllung uns noch eine Stange Geld kosten wird. Geschichte! Ich werde in Zukunft jedem davon abraten, einen Fall mit historischem Kontext zu übernehmen! Irgendwann ist’s genug, da muss einer eben gefälligst seinen Löffel abgeben, ansonsten wird es unerträglich!“
Er legte den Eierlöffel weg und goss sich Kaffee nach. Er kramte dann seine Zigarillos her, steckte sich einen in den Mund und dann in Brand und begann, ihn abzuglühen.
„Das ist ein Kreuz, dass die Leute immer älter werden. Wir werden allmählich zu einer richtigen Pflegeheimgesellschaft. Es wird auch immer mehr Gesinnungsgreise geben, die natürlich nicht in Vollzugsanstalten gehören. Wir sollten an Gesinnungsaltenheime denken. Da gehörte dann mein Gandauer hin. Da kämen immer welche nach. Solche, denen die Zeit auch geistig weggelaufen ist, die nicht rechtzeitig bemerkt haben, wie sich etwas verlieren oder gar in sein Gegenteil verkehren kann.“
Er räumte sein Geschirr zur Weiterbehandlung durch die Putzfrau in die Spüle. Bei dieser Arbeit fiel Sterzinger ganz plötzlich ein, dass ja auch und sogar der Nazi-Staat ein Selbstbehauptungsrecht besessen haben soll. „Diese Behauptung musste doch von einer honorigen Nachkriegsstelle gekommen sein.“ Er konnte sie nicht mehr zuordnen. Sterzinger lief in seiner Wohnung umher, um seine Krawatte zu finden. „Dieser Geschichtskram lässt mich nicht mehr so schnell los. Zumal da vielleicht etwas Verwertbares drin sein könnte. Diese Ansätze in der Adenauerzeit!“, ging ihm durch den Kopf. „Oder waren es Rücksätze? Als dann der Hammer kam, neunundfünfzig!“, fiel ihm ein. „Nämlich, als das oberste Gericht des Adenauerstaates den Nürnberger Gerichtsbeschlüssen der Alliierten gegen die Naziverbrecher jede Rechtskraft abgesprochen hatte.“
Als er eilig die Wohnung verließ, lief er eher solchen Einfällen davon.
Dann war er zur Vollzugsanstalt gefahren und hatte das Torgebäude betreten, um sich für seinen Klienten anzumelden. Das wurde sonst vom Büro aus telefonisch erledigt, natürlich von den Sekretärinnen. Heute war er in Laune und hatte auf dieses Statustüpfelchen verzichtet.
„Wilder Wein“, fiel ihm ein, als er wartend dasaß. „Das Torgebäude wird nicht von Efeu umrankt, wie Gandauer in einem seiner Briefe meinte. Es ist wilder Wein. Was soll’s? Nun, der Gandauer besaß bei seiner Einlieferung wohl nicht Muße genug, den Bewuchs richtig zu identifizieren. Wohingegen sich der Alte jetzt wohl in der vielen Zeit, die ihm zur Verfügung steht, zu verlieren scheint.
Es ist tragisch, was da war. Vielleicht nehmen diese Alten ihr Recht auf Verblödung mit recht wahr und wissen zu ihrem Eigenschutz mit recht nichts mehr von ihrem Unrecht, das sie angerichtet hatten?“, spielte er zum Zeitvertreib mit Worten.
Bergner war bei Gandauer erschienen, um ihn abzuholen. Er wusste nicht, dass sich der Anwalt bereits im Haus befand und ließ sich Zeit. „Na, mittlerweile haben sie doch sicher die Sache da mit den Amerikanern gelesen“, fing Bergner an.
„Warum muss er immer wieder damit nerven“, ärgerte sich Gandauer, schwieg jedoch. „Alle müssen immer alles aufrechnen. Für die Leute scheint Geschichte immer nur Auf- und Abrechnung zu sein.“
„Man muss mal was von dem wahren Auftreten der Amis nach dem Krieg hier in der Anstalt sagen“, machte Bergner weiter. „Da hat doch zum Beispiel der Anstaltsgeistliche, einer der Vorgänger vom Jetzigen, gesagt, dass die Amis nicht davor zurückgeschreckt seien, sich als katholische Pfarrer auszugeben. Sie hätten sich verkleidet und – stellen sie sich nur vor! – sie hätten die Beichte gehört. Ja, stellen sie sich nur vor: um Geständnisse zu kriegen!“
„Sind sie praktizierender Katholik?“
„Was soll denn diese Frage?“, maulte Bergner.
„Nur so, ich wollte das nur wissen, obwohl es mich auch wieder nicht so sehr interessiert“, antwortete Gandauer ruhig und versuchte, auf etwas anderes zu kommen: „Sagen sie, wo ist eigentlich ihr Kollege Hussl abgeblieben? Ich habe ihn gar nicht mehr zu Gesicht bekommen.“
„Tut Dienst im andern Flügel“
„Ach, da drüben bei unserem Herrn Zeltnik?“, forschte Gandauer.
„Ja, und?“, klang es aggressiv.
„Aha, der Hussl und der Zeltnik!“
„Was soll jetzt das wieder?“, wunderte sich Bergner.
„Eigentlich nichts, nur so eine Feststellung“, wich Gandauer aus.
„Feststellung, Feststellung!“, machte Bergner nach. Dann fuhr er fort, nachdem er etwas nachgedacht hatte: „Wissen sie, über den Zeltnik erfahren sie von mir nichts! Über den Hussl schon gleich gar nichts. Wenn sie über den etwas wissen wollen, dann fragen sie doch ihren Anwalt!“
„Wieso meinen Sterzinger?“, wunderte sich Gandauer.
„Nun, der ist doch vom Ort und kennt den Hussl sicher. Wen geht es aber was an?“
„Ja, sicher“, meinte Gandauer, „wen geht das etwas an, womit sich die Leute ruinieren.“
Bergner hatte geschwiegen, und sie waren bereits auf dem Weg.
Gandauer war bald außer Atem und musste zusehen, dass er Bergner hinterherkam.
Sterzinger hatte warten müssen.
„Man verliert sich stets irgendwie in der Zeit“, sinnierte er. „Vielleicht spielt einem ein zunehmendes Alter immer solche Streiche. Das Alter bedient sich der Beihilfe des Erlebnismaterials zum Behufe der Verwirrung. Und einer kann sich dann eigentlich fast nur durch das Vergessen davor schützen. Das Vergessen als ein Selbstschutz vor der Verwirrung. Auch gut.
Ich weiß nicht, was ich mir bei einem Klienten als Anwalt eher wünschen soll, das Vergessen oder die Verwirrung. Es geht auf eins hinaus, nämlich auf die Nicht-Verwertbarkeit.
Ich bin allerdings überzeugt, dass Gandauer nicht an Vergesslichkeit leidet oder damit zum Zwecke des Eigenschutzes gesegnet ist.
Das zeigen ja annähernd die Briefe, worin er Ereignisse und Örtlichkeiten überspiegelt. Warum will er aber, das ist doch beknackt, nicht wenigstens mit einem Teil davon heraus? Mit dem Nämlichen, mit dem benötigten Part seines Falles. In seiner Version! Ich weiß noch nicht einmal, ob ich ihm die zur Last gelegten Kapitalverbrechen zutrauen soll oder nicht. Das ist ja typisch. Diese Leute von damals sahen vorher wie gewöhnliche Bürger aus und danach gleich wieder und im Alter erst recht.“
Gandauer war eingetreten. Jetzt reichten sie sich die Hand und nahmen Platz.
„Ihr Peters hatte am Telefon wieder von dem Odtke geschwärmt. Dieses Mal als einem, der Disziplin ausstrahlte und ebensolche durchzusetzen wusste. Dieser Odtke steht mir immer deutlicher vor Augen, muss ich zugeben. Ich habe das Gespräch aufzeichnen lassen. Eine blasse Ahnung sagt mir, dass es nützlich sein könnte. Zumindest war es das beim Zusammenfügen des erneuten Durcheinanders aus dem Telefon. Anscheinend der Redestil ihres Bekannten“, die begrüßende Einlassung Sterzingers. „Heute“, kam er zur Sache, „werde ich ihnen ganz schlicht und einfach aus der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft vortragen. Ich würde vorschlagen, wir haken einfach Punkt für Punkt ab. Einfach so, wie es kommt.“
Freundlich lächelnd nickte Gandauer, gab zu verstehen, dass er auf das Ansinnen der Anklagebehörde aus dem Munde seines Anwaltes gespannt sei. Habe er doch schon so manche Stunde bei der Einvernahme verbracht und immer bedauert, dass er der netten Dame dort gar nicht viel habe mitteilen können. „Also, ich konnte auch nur zugeben, dass ein Gandauer dieses und jenes zum fraglichen Zeitpunkt am genannten Ort getan haben mag. Aber da wurde die durchaus sympathische Dame immer ganz aufgeregt und schoss gleich in zwei Richtungen: Sie zitierte mich dann in der Regel noch mal mit ‘ein Gandauer’, im Übrigen in einem Ton, dass ich versucht war anzunehmen, sie äffe mich nach. Und sie fragte! – Sie stellte immer so bohrende Fragen. Das sollte jemand auch als Jurist lernen, dass diese Unsitte nicht zum Ziel führt! – Und sie fragte dann immer, ob es denn noch weitere Gandauer geben könne. Meistens kam auch sofort die Frage hinterher, ohne eine Antwort abgewartet zu haben. Nämlich, ob es denn sein könne, dass ich alles vergessen habe. Sie sah mich dann meistens mit ihren schönen braunen Augen so mitleidvoll an, dass ich mich gleich um ein weiteres Jahrzehnt älter fühlte. Obgleich ich ihretwegen liebend gerne ein paar Jährchen jünger gewesen wäre. Wenn sie mir diese Bemerkung gestatten und sie vor allem für sich behalten.“
„Der alte Tropf spielt mit uns allen“, hatte sich Sterzinger geärgert. Er wollte dennoch nicht darauf eingehen, sondern bei seinem Vorsatz bleiben: „Sie waren am siebzehnten Februar fünfundvierzig ...“
Gandauer unterbrach ihn freundlich lächelnd: „Sie müssen mit der Feststellung der Personalien beginnen. Das weiß ich aus Kriminalfilmen!“
„Sind sie sicher, dass sie hier nicht Spielchen mit mir treiben?“, wetterte der Anwalt.
Gandauer entschuldigte sich und erklärte, dass er immer wieder Schwierigkeiten mit diesem Verfahren habe. Damit, dessen Sinn zu begreifen. Er beteuerte, sich gewiss zu sein, dass das an niemandem sonst als an ihm läge. Er bereue es, so viele ernsthafte junge und intelligente Fachleute aufzuhalten. Die doch etwas Wichtigeres zu tun hätten, nämlich etwas für den Schutz der gegenwärtigen Gesellschaft zu unternehmen, als sich mit so einem Überbleibsel einer missglückten Geschichte, als welches er sich sehe, abzumühen.
Sterzinger lag jetzt eine sehr unfreundliche, zoologische Bezeichnung für seinen Klienten auf der Zunge. Er verbiss es sich natürlich, sie auszusprechen, schnäuzte sich und holte aus: „Sie waren zum besagten Datum in Breslau und haben sich in einer selbst den damaligen Rechtsstand verletzenden Weise betätigt. So der Ermittlungsstand!“
Sterzinger blickte auf Gandauer und wartete auf dessen Reaktion.
„Ja, leider war ich dort! Ich war natürlich zu diesem Zeitpunkt dort, weil ich die ganze Zeit dort war. Wann genau, bitte, sagten sie?“ Gandauer ließ sich keine Regung anmerken.
„Siebzehnter Februar fünfundvierzig“, antwortete der Anwalt barsch.
„Eine furchtbare Zeit! Da waren noch ein paar Teilerfolge der deutschen Gegenwehr bei Kanth gewesen“, holte Gandauer aus. „Dann war es aus. Die Russen hatten den Kessel endgültig geschlossen. Es donnerte weiter, Tag und Nacht. Sie machen sich keine Vorstellungen! Die Stadt war von ihren Oberverteidigern, die sich wie der famose Führer in Berlin auch nur noch in Bunkern herumdrückten, zur Festung erklärt worden. Wer immer nur konnte, hatte sich verkrochen. Unter den Menschen in der Stadt herrschte eine Stimmung wie Weltuntergang! Jeder versuchte, seine Angst in irgendeiner Betulichkeit zu ersticken. Sonderbare, bisweilen tragikomische Dinge kamen dabei heraus. Die Bunkerhäuptlinge zum Beispiel bemühten die Geschichte, um Heldenhaftes zu finden. Von dem es in der Geschichte Schlesiens allerdings immer wieder etwas gab: Wie sich zum Beispiel Herzog Heinrich im Mittelalter den Mongolen entgegengeworfen hatte. Die Schlesier hätten schon einmal das Abendland gerettet, wurde jetzt bemüht. Sie wissen sicher auch, dass auch Blücher, der Retter der letzten Schlacht gegen Napoleon, ein Schlesier war ...“
Sterzinger winkte verärgert ab, doch Gandauer ließ sich nicht drausbringen: „Die Leute? Das waren ja im Nu alles arme Frontschweine. Die taten in aller Regel ihre sogenannte Pflicht. In Wirklichkeit betrieben sie eher ihre Angst. Wenn sie nicht irgendwie in eine Maschinerie eingespannt waren, dann waren sie aus dem Gleichgewicht und so gut wie verloren. Glauben sie mir, diese grausame Maschinerie der organisierten Abläufe war auch wieder Lebensrettung. Im Privaten wurstelte jeder auch irgendwie planmäßig herum. Der eine ordnete seine Sachen. Ich habe einen gesehen, der sein Haus zu streichen begonnen hatte! Jemand war einfach, aber systematisch ganz freundlich zu allen Leuten. Oder im Gegenteil: Es wurde abgerechnet, mit sich und der Welt. Immer ganz mechanisch. Wieder andere taten Dinge, die sie unter normalen Umständen selbstverständlich unterlassen hätten oder die sie ihrer Lebtag lang unterdrückt hatten. Dazu immer dieses Brüllen der Geschütze und das Brummen der Bombenflugzeuge als fürchterliche Begleitmusik. Wieder welche begannen, von überall her Sachen zusammenzutragen. Dabei wurden dann auch mal die verschlossenen Wohnungen von Leuten, die sich davongemacht hatten, nicht verschont. Die Angst immer und überall als ständiger Begleiter. Welche wollten fromme Erscheinungen gehabt haben, die Heilige Hedwig als die Patronin Schlesiens über den Wolken und mit ausgebreiteten Armen über Breslau. Viele hielten sich an der Vorstellung fest, dass der Führer Wunderwaffen einsetzen würde. Im Grunde war alles Chaos. Bevor die Stadt in Trümmer fiel, waren ihre Bürger im Innern längst vernichtet und ausgebrannt und verwüstet ...“
„O mein Gott!“, seufzte Sterzinger. Es war ihm selber nicht ganz klar, ob das der armen Stadt oder Gandauers Vortrag gegolten hatte.
Die Stirn in Falten, setzte Sterzinger die Befragung fort: „An besagtem Tag sind Standgerichte eingerichtet worden.“ Er schnauzte dieser Feststellung sofort hinterher: „Fangen sie bitte ja nicht wieder zu erzählen an! Wenn ich ihren Geschichten so geduldig folge, dann nur, weil ich mir Material für meine Arbeit vor Gericht da herausklauben zu können hoffe!“
„Na, sehen sie! Standgerichte gab es immer. Es gab immer die Gründlichkeit der deutschen Standrichter. Sie kennen das, was uns böse Zungen nachsagen. Dass wir nicht nur das Volk der Dichter und Denker seien, sondern auch jenes der Richter und Henker. Und in beidem irgendwie unerreicht.“
„Ihre schier unverhohlene Heiterkeit nimmt mich einigermaßen Wunder!“, entgegnete Sterzinger scharf.
„Ironie, bitte! Nennen sie es bitte Ironie, Herr Sterzinger. Ironie, lassen sie mich das sagen, besitzt die Eigenschaft, jemanden vom ironisierten Gegenstand zu distanzieren. Das habe ich ja auch so nötig. Während Heiterkeit damit auf gelöste Weise solidarisierte ...“
„Ich bedanke mich für diese Begriffsdeutung!“, unterbrach Sterzinger giftig. „Ich nehme immerhin zur Kenntnis, dass sie sich von dieser schmutzigen Facette der Kriegsgeschichte distanzieren wollen!“
„Ich wollte mich tatsächlich nicht ausgerechnet mit diesen unsäglichen Umständen von damals verbunden zeigen. Nein, wirklich nicht! Damit verbindet mich lediglich etwa nur die schiere Zeitgenossenschaft!“
„Also, ich halte fest: Sie behaupten, zwar zur Tatzeit anwesend, jedoch an der Tat selber nicht beteiligt gewesen zu sein! Dazu benötigte ich allerdings ihr Alibi!“ Er machte sich Notizen, während Gandauer fortfuhr: „Das war nämlich alles wirklich und wahrhaftig schrecklich. Unbeschreiblich. Keine noch so bemühte Darstellung erreicht auch nur annähernd die Apokalypse des Geschehens. Die Mächtigkeit dieses Grauens verringert auch keine Erinnerungstrübung, so lange jemandes Denkvermögen noch einigermaßen intakt ist!“
„Ich werde ihnen etwas verraten, was sie wissen dürften: Dieses ungeheure Delikt da mit den Standgerichten, das ist genau der Dreh- und Angelpunkt unserer ganzen Angelegenheit! Sie wissen das doch!“ Sterzinger versuchte wieder, eine Regung in den Zügen Gandauers auszumachen.
„Das wurde mir eröffnet“, reagierte Gandauer kühl. „Die schöne, wenn auch etwas blaustrümpfig wirkende Dame vom Amt hatte davon gesprochen.“
„Was haben sie dazu anzumerken?“, forschte Sterzinger und setzte heftig hinzu: „Und zwar jetzt endlich einmal, ohne wieder auf ihrer schönen Dame rumzureiten!“ Dem folgte ein Laut, unklar, ob Husten oder Lachen über seine etwas verunglückte Wortwahl. Ohne abzuwarten, fuhr er erregt fort: „Es wird ihnen vorgeworfen, dass von den Tausenden, die ihr Leben bei dieser äußerst anrüchigen Justiz der Standgerichte abzuliefern hatten, einige Dutzend mit Sicherheit zu ihren Lasten gehen. Dass sie als Parteibeamter in Sachen Festungsdisziplin ein besonderer Eiferer gewesen seien!“ Er holte Luft. „Herrgott, ich muss ihnen schon auch einmal sagen, dass es mir angesichts der Vorstellung, mit wem ich es mutmaßlich in ihrer Person zu tun habe, gelegentlich eiskalt über den Buckel gelaufen ist!“ An dieser Stelle unterbrach er sich und schaute Gandauer herausfordernd an. „Wenn dann bei Gericht nur auf blinder, krankhafter Fanatismus erkannt wird, für das, was sie zum Morden angetrieben hat, und nicht auf niedere Beweggründe, etwa hemmungslose Eigensucht wegen der Karriere im propagierten Endsiegswahn ...“, Sterzinger unterbrach sich und wiederholte, beinahe kreischend: „Endsieg! – nicht zu glauben, was damals am Rande des kompletten Exodus den Leuten noch alles im Hirn herumspukte!“ Er schüttelte den Kopf und griff seinen Gedanken wieder auf: „... Dann würden wir uns glücklich preisen können. Weil sie dann auch, vom Strafmaß abgesehen, ihr Gesicht einigermaßen gewahrt hätten. Glauben sie mir“, Sterzinger legte in seinen Ton etwas Beschwörendes, „tragen sie endlich wirklich zu ihrer Verteidigung bei!“
„Moment bitte!“, protestierte Gandauer. „Morden und widerwärtige Beweggründe? – Die Beweisaufnahme können sie ganz getrost abwarten! Und was dann als Interpretation herauskommt auch!“
„Erwarten sie doch ja nicht, dass all diese Schandtaten einfach so der Zeit mitgegeben werden könnten.“ Sterzinger fühlte sich durch die Selbstsicherheit seines Mandanten herausgefordert: „Husch, der Hauch eines wirren geschichtlichen Augenblicks, und dann: weg damit! So von wegen historische Wegwerfgesellschaft!“ Noch in Rage, holte er aus: „Oder kosmetisches Gras darüber wachsen lassen. Das dann zu Gedenktagen symbolisch ganz schick zu Rasen gestutzt wird! So ein kurzborstiger Rasen wie über den Kriegsgräbern der beiden Wahnsinnsepochen unseres Jahrhunderts. Ordentlich kurz gehaltener Rasen, unter dem all die Engel liegen, die ein Herr Gandauer und seinesgleichen zu solchen gemacht hatten! Sie und die anderen satanischen Engelmacher!“ Sterzinger war noch nicht fertig mit seinem Vortrag, das merkte ihm Gandauer an und schwieg. „Der Teppichrasen der Nation“, hob Sterzinger erneut an, als er wieder bei Luft war, „unkrautfrei, bitte schön! Was darunter liegt, das gibt den Humus ab, der hinwiederum das Wachstum fördert, aus dem der Anlass sprießt für den nächsten irrwitzigen Totentanz!“ Das schien rausgemusst zu haben. Sterzinger atmete schwer und sann seiner Konstruktion nach.
„Ich halte dagegen“, kam von Gandauer, der die Tonlage seines Vorredners ein wenig kopierte, „dass dieses späte Bemühen ein tragikomisches Schauspiel verkörpert. Dieses krampfhafte Bemühen, den peinlichen Mangel an Urhebern der Beseitigung von Tausenden von unschuldigen Leben nun doch noch eilig durch die Zuordnung von wenigstens ein paar Dutzend Leichen zu beheben zu versuchen. Damit kann niemandes beschädigtes Rechtsempfinden wiederhergestellt werden. Noch kann diese Aktion als für die Aufrechterhaltung des Rechtsgefüges für notwendig deklariert werden.“
Sterzinger wollte dieser Darstellung eigentlich etwas entgegenhalten, aber er hatte den Eindruck, dass das alles nur so aufgeschnappt und wie auswendig gelernt hergesagt klang. Er hielt sich also zurück.
„Übrigens habe ich Verständnis dafür, dass in einem ordentlichen Staat zu einem Mord auch ein dingfest gemachter Mörder gehört“, gab Gandauer zu.
„Ich muss mich wundern, welchen Ton sie sich in dieser ziemlich blutig ernsten Sache leisten!“, bemerkte Sterzinger. „Ich kann sie vor einem derartigen Auftritt vor Gericht nur warnen!“
„Ich kann nichts dafür, dass das deutsche Buchhaltergewissen beschädigt ist!“, verteidigte sich Gandauer. „Sie hätten sich eben in Politik und Justiz früher um die Fassung der Schurken bemühen müssen. Aber Adenauer musste ja seine Bundesrepublik mit Herrschaften sogar gehobener NS-Ränge aufbauen, deswegen wurde so vieles einfach übergangen. Anders ging es wohl nicht! Da hat er sich den Globke ins Kanzleramt geholt! Andere Juristen gab es anscheinend nicht. Dieses akademische Ungeheuer, das uns immerhin die Rechtmäßigkeit von Hitlers Rassegesetzen erklärt hatte! Wir gläubigen kleinen Leute waren doch ...“ Gandauer war überraschend aufgesprungen und hatte schier eine Rednerpose eingenommen, „... diesen Bildungsschuften ausgeliefert! Da redet ihr leicht, ihr Jungen von heute. Euch, die ihr in der Gnade der ‘späten Geburt’ seid, wurde dieser soziale Rechtsstaat mit ins Täglichbrot gebacken ...“ Gandauer brach seine Rede ab, als habe er den Faden verloren. Er ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder und schaute vor sich hin.
„Ach, wissen sie, sie versuchen zwar immer, vom Eigentlichen ganz weit wegzukommen“, erwiderte Sterzinger gelassen, „aber indem sie das Loch ihrer Information so eifrig umschreiben, wird es doch allmählich deutlich – zumindest, wo es sich befindet!“
„Ich versichere ihnen zum wiederholten Male, dass sie ganz beruhigt sein können. Die mir zur Last gelegten Handlungen haben nichts mit meiner wirklichen Person zu tun“, beteuerte Gandauer.
Auf der Stirn des Anwalts furchten sich wieder Sorgenfalten.
Gandauer ergänzte noch, dass er nicht etwa behaupten wolle, er habe zur Zeit der Vorgänge neben sich selber gestanden und etwa sein anderes Ich handeln lassen. Alles werde sich noch als etwas aus schierer Angst ums Leben Getanes herausstellen. Jedenfalls den Teil betreffend, der unter Umständen die Gesellschaft und ihre juristischen Wachhunde etwas anginge. „Die Angst!“, stieg Gandauer richtig ein: „Es ist zunächst ein Etwas oder Jemand, wovor oder vor dem wir uns fürchten. Vor so einem wie damals Hanke, dem Gauleiter, zum Beispiel. Bis wir merken, dass wir die Furcht selber sind, weil ihr Anlass in unserer Existenz begründet ist ...“
„Was immer dieses Raunen auch bedeutet“, meinte Sterzinger kühl. „Legen sie doch Fakten auf den Tisch, die ihre Angst umschreiben! – Oder benötigen wir einen Psychiater?“
„Ich habe die Angelegenheit vier Jahrzehnte nicht bewältigen können. Glauben sie bitte nicht, dass es mir nun in ein paar Wochen gelungen sein könnte. Auch mit ihrer von mir dankbar zur Kenntnis genommenen Hilfe ginge das nicht. Und den Psychiater lassen sie doch bitte aus dem Spiel.“
Sterzinger war wieder nahe daran aufzugeben. Für einen Moment hatte er gar mit dem Gedanken gespielt, sofort hinzuschmeißen. Jetzt sagte er jedoch: „Da stehen sie nicht alleine. Eine ganze Generation, befindet sich in dieser Situation. Oder doch wenigstens Teile davon. Jedenfalls begegne ich immer wieder sogar jungen Leuten, die nicht damit fertigwerden, dass man damit nicht fertigwird.“
„Was halten sie davon, mir ihre Urlaubsanschrift zu geben? Ich biete ihnen eine Darstellung der Zustände im damaligen Breslau.“
Sterzinger war aufgesprungen. „Um Himmels willen!“, durchfuhr es ihn. Er reichte Gandauer die Hand. „Der Urlaub ist mir heilig. Ich schreibe ihnen eine Karte. Was sie nicht hindern soll, an ihr Werk zu gehen, das ich mir danach ansehen werde. Auch das mit ihrem Odtke sollten sie mir gelegentlich verdeutlichen. Er soll im Übrigen laut Peters ein hervorragender Maler gewesen sein. So mit prallen arischen Körpern, wie es damals verordneter Stil war – ich hätte beinahe Kitsch gesagt!“ Sterzinger schmunzelte. „Dieser verblichene Odtke ist anscheinend in Petrs‘ und Gandauers Angedenken noch ziemlich lebendig! Auch da ahne ich was!“
Auch das muss ich mir notieren:
„Dauernd dieses Mädchen im Kopf. Ich muss mir Hilda da herausschocken. Diese Erinnerungen sind vielleicht dazu geeignet!“
Kampf in Lagerspielen. Das ist nichts weniger als ein Training der Selbstaufgabe zum Aufgehen im Kollektiv! Dieses ganze Quälen als Gruppenhandlung. Alle fallen zum Beispiel über einen her, der sich zwar schützen, nicht aber wehren darf. Es ist keine Individualschlägerei, wird stets herausgestellt. Diese sei unbedingt als zu verurteilende Eigenwilligkeit zu vermeiden. Es darf auch keine Selbstbehauptung im reaktionären bürgerlichen Sinne aufkommen, sondern nur Selbstschutz, um der Gruppe seine ganze Kraft zu erhalten. Ausschließlich Gruppendurchsetzung sei statthaft und also Unterwerfung, auch als Angreifer und Kämpfer, in deren Rahmen. Nur so fließen die Orders von der Führung richtig, nämlich ungefiltert, und die Kraft ist total gebündelt.
Das alles erscheint mir als Hordenaktivität zur Kollektivbildung und -stärkung.
Dann auch der Nacktappell der Jungen vor der gemeinsamen Dusche. Vom ebenfalls hüllenlosen Leithammel eingeleitet mit scharfem Vermerk: „Keinerlei Rumgemache untenrum! Kapiert? Auch nicht hingaffen, und zwar länger als unbedingt nötig! Wer nämlich dabei erwischt wird, dass er auf was giert, pfui Teufel, der wird seines Lebens nicht mehr froh! Kapiert? Wenigstens für eine ganze Weile!“
Also wird auch der Mensch samt seiner inneren und seiner äußeren Blöße ins Kollektiv gestellt! Begleitet von einem Abklatsch von Moral. Alle wissen voneinander bis in ihre Nacktheit hinein! Die blanke Selbstaufgabe!
Habe mich davor aus dem Staub gemacht. Es läuft mir kalt den Rücken runter. Sogar noch bei dieser Notiz.
Und dann der Komms zu diesen wiederholten Prügeleien: „Sage ja nicht Folter, sonst bist du dran!“ Es seien nervliche Bearbeitungen. Zur Stärkung! Das wolle professionell gekonnt sein. Niemand habe vor, dauerhaft körperlich zu schaden. Wenigstens bei seinesgleichen nicht. Veränderbare Stromstärke, nur bis kurz vor Verbrennungen. Alles Verunstaltende sei nämlich zu vermeiden. Auch das wolle gekonnt sein! „Nicht dass was bleibt! Nur die Nerven bearbeiten. Mal sehen, was einer aushält. Was einen dann so unüberwindlich stark macht. Im Ganzen gesehen und bei der Truppe!“ Er setzte noch drauf: „Bleib gefälligst bei den Nerven in deiner Spreche. Nicht dass du mit Psyche daherkommst, wo irgendwie immer der rassisch koschere Freud durchschielt!“
Ich wollte ihm schon „koscher“ als den jiddischen Begriff für „rein und brauchbar“ übersetzen, ließ ihn aber auf seiner Dummheit sitzen. Freilich, mit einer Portion Verachtung.
„Lieber Himmel, worauf habe ich mich da eingelassen? Diese Aberwitzigen. Die ich eigentlich bemitleiden sollte als Kranke und mit einer gefährlichen Seuche Behaftete.
Besser dein Du wieder bemühen. Versuchen, all das Widerliche deinem anderen Teil aufzubürden. Es ist so abstoßend.
Wie Hilda zu all dem steht? Du musst dir Klarheit schaffen!
Vielleicht mit ihr darüber reden. Allerdings wie und wo?“
Kaum hatte heute Piscators Besucherschar die Wohnung verlassen, kramte er seine Aufzeichnungen hervor. „Es ist sowieso alles verworren“, kritzelte er so eilig hin, als befürchte er die vorzeitige Heimkehr seiner Quälgeister und die Entdeckung seiner Schreiberei. „Gerade in diesen Kreisen bildungsferner Schichten, au! Was soll’s?“, machte er sich vor. „Gerade bei solchen Leuten macht sich einer verdächtig. Dass er etwas festhält, was eigentlich vorüber und weg sein sollte. Was geschrieben wird, das kann einem auch unter die Nase gehalten werden. Vernehmung. Protokoll und so. Da verstehe ich diese Leute auch wieder. Weil sie mit dem Aufschreiben selten gute Erfahrung gemacht haben. In der Schule schon“, billigte er schließlich den eben Herabgewürdigten etwas Mitleid zu.
„Die Zeit soll vergehen“, stieg er noch mal ein. „Möglichst so, dass ich sie vergessen kann. – Ertappt, altes Haus! In deiner typischen Verdrehtheit hältst du fest, was du loswerden willst! – Nun erst recht fortgefahren mit der Sammlung, gerade seine Verstiegenheiten muss einer ausleben, damit sie ihm vergehen“:
Hatte mich als neuer Vorsitzender dem katholischen Ortspfarrer vorgestellt. Alter Herr, von der geistigen Statur eines Dogmatikers, der besser in der Hinterstube eines bischöflichen Archivs nach der überirdischen Wahrheit gesucht haben sollte. Alles so vertrackt: Kamen nicht sehr weit im Disput. Saßen uns in einem kahlen Raum gegenüber. Alles zu der Zeit schwanger von dem Gerede um das Abtreibungsgesetz. Die Konservativen ergreifen jede Gelegenheit, um wieder aus der Oppositionsrolle herauszukommen. Und die römische Kirche leistet Schützenhilfe mit Wahlhirtenbriefen, die rot-gelbe Regierung abzuschießen. Der Pfarrer nennt Zahlen, spricht von zigtausend Abtreibungen. Sieht es als Kindermord und schlägt dann den Bogen zu der mörderischen Menschenverachtung der Nazis. Entrüste mich: „Da haben sie aber Adolf Hitler und Willy Brandt in ein Boot gesetzt!“ Gebe ihm jedoch darin recht, dass die Dunkelziffer vermutlich hoch sei. Annäherung bald wieder vertan: Er fordert Strafverfolgung für die mörderischen Kindsmütter. Ich rede der Entkriminalisierung das Wort. Er nestelt an der Tischdecke herum. Kommen uns wieder näher, als wir übereinstimmend erklären, dass die Gesellschaft das ungeborene Leben schützen müsse. Er hat in seiner Nervosität den Saum der Tischdecke auf meiner Seite schon über die Kante gezogen, so dass bei mir das blanke Holz herausschaut. Versuche Wechsel des Themas in Richtung Benachteiligung der Frau in der Kirche. Der alte Eid-Junggeselle will mir jedoch nicht folgen. Kommt wieder auf die Abtreibung, erhebt Forderung: Wer zeugt, der muss austragen. Pause. Nachdem wir uns eine Weile schweigend gegenübersaßen, taucht plötzlich die Haushälterin auf und durchquert den Raum. Als sähe ich sie im Augenblick, da ich hier vor meinem Geschreibe sitze: Dieser hagere Strich in Kittelschürze, dem sich kein Hinterteil aus dem Kreuz wölbt. Mein Gegenüber bleibt dabei, dass es der Staat überhaupt verbieten müsse. Schwingt sich auf: Im Grunde sei bereits die Empfängnisverhütung eine Verhinderung des göttlichen Willens, Leben zu schaffen, sei also gegen das Leben gerichtet.
Drücke zum Abschied die schmale, kalte Hand dieser filigranen Figur.
Tags darauf: Meinem Ortsverein Vortrag gehalten von nämlichem Kontakt. Zwischenfrage: Was es denn solle? Das habe es noch nie gegeben, dass einer von uns Sozis so ein Gespräch mit diesem knöchernen Jenseitsableger geführt habe. Geteilte Meinung. Muss – aus mir allerdings unerfindlichen Gründen – das Gespenst in Kittelschürze erwähnt haben. Gelöste Stimmung in der Runde: ein paar Witze. Dieses und jenes aus dem Ort wird vorgebracht. Man trinkt sein Bier. Packe sie später wieder mit Sachthema. Wahlkampfvorbereitung: Unser roter Bürgermeister, unser Prachtstück, soll auf unsere Wahlliste. Gespannte Ruhe. Der will der Optik halber nicht, da ja ohne Gegenkandidat von der anderen Seite. Behauptet, an alle Wähler denken zu müssen. Logik: Hat er keinen, der gegen ihn antritt, da ist er schon vor der Wahl bereits wieder als Bürgermeister gewählt. Nähme er trotzdem einen Platz auf der Parteiliste, erweckte das den Eindruck, dass er nur Stimmen für die Partei fangen wolle, was viele als unanständig einstufen könnten. Und überhaupt, er müsste tatsächlich eine überparteiliche Rolle spielen, behauptet er. So etwa wie der Bundespräsident. Das klingt edel. Er ist immerhin einer von uns. Der Stellungskampf um den Listenplatz hebt an. Keiner will dem Genossen wehtun, allerdings doch möglichst vorne hin. Lande auf drittem Platz. Platzhirschsystem: Muss den Altgedienten Vortritt lassen. Beschließen, fortan zu allen Leuten sehr freundlich zu sein ...
Piscator meinte, ein Geräusch gehört zu haben. Er lauschte einen Augenblick, bereit, seine Schreibsachen sofort verschwinden zu lassen. Da war jedoch nichts weiter. Er lehnte sich zurück.
„Du bist auch so ein seltsamer Kämpfer gewesen. Die Sache mit dem Hunderter, den du dem Sportverein in bar gespendet hattest. Bei der Hauptversammlung, dass es alle auch wirklich sehen. So aus der Westentasche, gleich nach dem Bericht des Kassiers. Dann dein Blick in die Runde. War immerhin ein, wenn auch etwas teurer Spaß!“
Er fühlte dem genussvoll nach und blickte dabei im Zimmer umher.
Dann wurde von dir eine Zeitung gegründet. Immer nur ein paar Seiten. Ein ganz kleines Blatt also. Es sollte sich rotzfrech geben und heiße Themen anpacken: Einer hatte eine alte Linde umgesägt; in der Schule waren Hakenkreuze im Klo geschmiert worden; ein Grundbesitzer verhinderte Straßenbau und so weiter. Zeichne verantwortlich für das Kampforgan. So richtig zupacken! Es der Gegenseite zeigen. Dem Grundbesitzerklub mit seinen grund-losen Mitläufern auf die Nerven gehen. Dann auch wieder über den zu kleinen Kindergarten und über die Pflicht der Hausbesitzer, die Straße sauberzumachen und dergleichen. Unser Parteifreund, der Bürgermeister, ist davon sehr angetan. Er ermuntert uns, richtig deutlich zu sein und ordentlich hinzulangen: Es der Saubande zu zeigen!
Piscator spürte eine trockene Zunge. Er ging, um nach etwas Trinkbarem zu sehen. Eine Flasche Milch stand da im Kühlschrank. Er wagte nicht, sie anzutrinken. „Da mault Rebekka wieder“, warnte er sich. „Überhaupt kriegst du da wieder so einen fauligen Geschmack auf die Zunge und riechst aus dem Hals!“ Piscator begnügte sich mit einem Schluck aus der Wasserleitung. „Diese deine-unsere Zeitung“, fiel ihm ein, als er noch unter den Wasserhahn gebeugt war, „hat eigentlich wie eine Bombe eingeschlagen. Du hast dir was eingebildet darauf. Das war, wie wenn sich der Wolf durch die Schafherde beißt“, verschaffte Piscator einen satten Spätstolz. „So etwas gab es noch nie in diesem Pferch. Da haben sie die Köpfe zusammengesteckt. Dann diese Versammlung genau deswegen, kurz vor der Wahl!“
Piscator ging zum Fenster und sinnierte beim Blick in den Hof hinunter: „Da haben die doch den Parteifreund, unseren Bürgermeister, befragt. Vor allen Leuten, versteht sich. Ein gutes Hundert. Fragt der Pfeiferl Hans den Bürgermeister: ‘Hast du von der Zeitung was gewusst, ha? Oder hast du sogar von diesem miesen Inhalt was gewusst, ha, Bürgermeister?’ Und er mäkelt noch was von Mist und Geschmier – du hörst ihn direkt noch: ‘Unfrieden ins Dorf gebracht, mit so was, was es noch nie nicht gegeben hat, hier bei uns!’
Das war Verhör vor all den Leuten. Alle haben gespannt auf die Antwort vom Bürgermeister gewartet: Ja oder Nein! Hat er gewusst, von diesem Unfriedenblatt oder nicht? Das stand ganz deutlich in den Gesichtern. Ich war mir sicher, ihn jetzt eingefangen zu haben, als einen, der zu seinen Genossen im wahren Sinne steht. Denn da hätte nur ein Ja kommen dürfen, dass er es gewusst hatte. Mein Gott, die vielen schönen Stimmkreuzchen! Die da für ihn auf dem Spiel standen. Du hast dir noch gedacht, gar kein Problem, der steht dazu, dass er es gewusst hatte. Gut, warst du gnädig, er muss nicht gleich zugeben, dass er sogar zur Schärfe geraten hatte, nämlich dass wir ganz deutlich alles auftischen sollten. Meinetwegen, das muss er den Fragern nicht gerade unter die Nase reiben. Doch keine Frage, er wird die Wahrheit sagen und zu seinem Wort stehen. Nämlich als Parteifreund und als ein richtiges Mannsbild sowieso.
Und was tut dann dein Freund, der Bürgermeister, wirklich?
‘Man hat mir die Zeitung zugestellt’, kommt von diesem Windbeutel, der dann noch ausholt: ‘Nämlich geschickt hat man sie mir wie jedem im Ort. Ich habe sie eines Tages im Briefkasten gefunden. Oder halt, meine Alte hat sie aus dem Briefkasten gebracht und noch gefragt: Was ist denn das für ein Fetzen?’
Dir bleibt die Luft weg! Heute noch, wenn du nur dran denkst!“
Piscator war richtig in Wallung geraten. Es kribbelte ihn am ganzen Körper. Er beschloss, ein Bad zu nehmen.
Dann plätscherte er in der Wanne und redete laut vor sich hin: „Mensch, klar, jeder muss seine Haut retten. Du hast fortan als Verantwortlicher immer eine Meute Gegner auf der Pelle gehabt. Und der Bürgermeister hat sie losgehabt und sein schönes Amt hat er innegehabt. Nach fettem Stimmenfang und hinter der heuchlerischen Politikermaske, für alle da zu sein und nicht für sich selber oder eine Partei!“
Piscator war gerade wieder im Begriff, sich erneut aufzuregen. Da wollte er sich doch lieber eingestehen, dass er davon immerhin auch ein wenig profitiert hatte: „Was ärgerst du dich immer so. Du hast doch dabei ordentlich Demokratie gelernt, so richtig von der Picke auf.“
Piscator rubbelte sich genussvoll ab.
Im Wohlgefühl, gereinigt zu sein, setzte er sich dann wieder zum Schreiben:
Politische Motive längst zerkrümelt.
Ein unscheinbarer Mensch, so einer von der Sorte, die man zwar sieht, doch die man eigentlich nicht richtig zur Kenntnis nimmt. Der sitzt da eines Tages im Wirtshaus neben dir und säuft dein Bier. Vergreift sich tatsächlich und nimmt einen kräftigen Schluck aus deinem Glas. Du siehst ihn heute noch frech grinsen. Und er erteilt dir, nachdem das Glas wieder auf dem Filz war, einen Rat: „Nicht gegen den Strom schwimmen, Meister!“ Du traust deinen Ohren nicht. Der redet seelenruhig weiter: „Weil, wer sich bei uns nicht anpasst, den lassen wir nicht hochkommen!“ Ich hätte ihm gerne eine reingehauen. Allerdings trat ich die Flucht nach vorne an und bestellte eine ganze Runde Schnaps. Immer auf Stimmenfang sein! Ich stoße mit allen an und bestätige meinem Ratgeber seinen Gedankenausstoß als richtig und versichere ihm, dass ich ihm das nicht zugetraut habe, so viel verdammte Intelligenz, Respekt!
Dann der Wahlsonntag. Höchste Spannung. Von allen Seiten werden uns Verluste prophezeit.
Auszählung trotzdem wieder ganz interessant: Jemand nennt mich per Wahlzettel und also ganz frei, gleich, geheim, unmittelbar und allgemein eine Sau, ein anderer Wähler will mich laut Notiz auf dem Wahlzettel vergasen, ein dritter will mich als Bürgermeister haben. Alles Einzelbekundung, leider auch letztere.
Gewinne Sitz und den Eindruck, ein neuer Mensch zu sein, nämlich ein öffentlicher. Der sich ab jetzt und bei jeder Gelegenheit den Hals nach allem verdrehen muss, was ihm Zustimmung einbringen könnte.
Feiern Wahlerfolg mit einem Fischessen. Da strömten dann geradezu Leute herein! Vereinskasse völlig geplündert. Die meisten Visagen waren bei den kämpferischen Veranstaltungen nie zu sehen gewesn – vom Zeitungsaustragen und Plakatekleben ganz zu schweigen.
Bemerkte zum Tischnachbar hin, dass die sich vermutlich für ihr bloßes Stimmengeschenk schadlos halten wollten. Leiste mir noch bissig, dass der Wähler geschmiert sein will in dieser Miesokratie.
Ich werde später eine Rede halten, nahm ich mir vor. Als Ortsvorsitzender aus gegebenem Anlass. Während ich meine Räucherforelle zerlege und nach Gräten suche, kommen mir Gedanken. Sozusagen Suche nach dem edleren Grund für Politik vielleicht. Das Thema Gewalt, nämlich Staatsgewalt. Zu der nicht enden wollenden Diskussion um Verhältnisse im Nazi-Staat und dessen Unrechthaltung. Wie war das doch gleich? Gewalt sei auch für den Staat nur als Gegenwehr akzeptabel und dort ebenfalls nur unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit der jeweils eingesetzten Mittel.
Ach ja, die Beize der Räucherei ist vortrefflich, kam mir zwischendurch, nicht zu streng und auch nicht zu lasch, eben gerade richtig. Dazu der trockene Weiße, der die Zunge immer wieder freilegt.
Und vielleicht die Sache da: Sie haben an der Berliner Mauer wieder jemanden erschossen. Auch dieses Unrecht kannst du in die vorgesehene Rede einfließen lassen. Damit nicht alles so an dörflichen Straßenbau, Vereinspenunzen, Friedhofserweiterung und dergleichen vom Wahlkampf hängen bleibt. Den Blick von diesem grünen Flecken hier in die geistige Ferne schweifen lassen.
Es scheint so, als hätten sie Forellen gezüchtet, deren Gräten leichter zu entfernen sind.
Und das Wirtschaftliche, das Geld. Die Gewalt der Wirtschaftskraft – spekuliere, das würde ankommen, sogar noch bei vollem Bauch. Das ist ja alles viel tückischer. Diese nicht erklärten Kriege. Und überhaupt: Der Kalte Krieg ist immer und überall unter Ausbeutung der eigenen, mitunter fremder Volkswirtschaften geführt worden.
Zwischen diesen Gedanken hattest du natürlich immer wieder einen Happen im Mund verschwinden lassen.
Die Strategen des Kalten Krieges tragen keine Uniformen mehr, sondern Maßgeschneidertes in vorzugsweise mittlerem Blau. Du musst dir jetzt als ländlicher Würdenträger einen Trachtenanzug schneidern lassen. Aber vielleicht tut es auch einer von der Stange.
Über dieses und jenes wolltest du reden. Deine Parteifreunde lieben diese Gedanken, die weit weg angesiedelt sind. Wie haben wir uns doch den Mund fusselig geredet – im Hinterzimmer vom Wirt – über die Militärdiktatur in Chile, wo sich etliche Altnazis niedergelassen hatten, und die Ausgrenzung der Farbigen in Südafrika, was auch mit Rassismus zu tun hat! Der Kalte Krieg wird dann zu Ende sein, wolltest du nach der Forelle sagen, wenn der US-Haushalt in Schulden ersauft und die Russen ihre vielen Völker nicht mehr ernähren und zusammenhalten können. Ach ja, und wenn die Natur, auf deren Kosten ebenfalls dieser Krieg wieder geht, ausgebeutet und mit dem Abfall unserer Überproduktion zugemüllt ist. Das müsste eigentlich bei der Wahlnachlese auch gut rüberkommen, hattest du dir eingebildet. .
Piscator ließ das Schreiben sein. „Das waren damals tatsächlich meine Gedanken“, erinnerte er sich. „Nein, ich bremste mich aus: Die sind alle – und haben es sicher auch: satt. Ich hatte den Mund gehalten, und wir hatten Spaß damit, die letzten Forellen meistbietend zu versteigern!“
„Nett von ihnen, Herr Pfarrer! Nehmen sie doch auf diesem staatlichen Sitzmöbel Platz!“
„Staatlich, jedoch weniger stattlich! – Sie werden doch bald ihr Verfahren haben? Um diese unwirtliche Einrichtung hoffentlich bald verlassen zu können.“
„Ich weiß gar nicht so genau, wann ich vor meinem Richter stehe.“
„Das weiß niemand!“
„Ach, du lieber Gott: der liebe Gott, der ja den Gläubigen als höchster Richter gilt!“
„Ja, Herr Gandauer, diesbezüglich gönne ich ihnen natürlich von ganzen Herzen Aufschub!“
„Danke sehr. Ich nehme an, mein Anwalt kennt den Gerichtstermin. Ich bin jedenfalls ständig abrufbereit.“
„Wie sich das anhört, Herr Gandauer!“
„Wissen sie, seit ich mehr weiß über die Dinge, die mir vorgeworfen werden, hege ich Zweifel.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Zweifel, ob es richtig war, mich freiwillig in die Hände der Aufarbeitungsjustiz zu begeben. Ich habe beinahe so etwas wie ein Nicht-Verhältnis zu dieser Angelegenheit. Eher ergreift mich deren Hintergrund – und der allerdings sehr tief.“
„Könnte es sein, dass sie sich unser Rechtssystem zunutze machen wollen?“
„Wie das, Herr Suiter?“
„Nun, es ist doch wohl so, dass der Ankläger ihnen die Schuld nachweisen muss. Dass nicht sie ihre Unschuld zu beweisen haben.“
„Als Priester sind sie ja doch wohl ein Praktiker der Schuldfrage, nicht wahr?“
„Unsereiner wird im Beichtstuhl ausschließlich mit Schuldbekenntnissen konfrontiert. Also mit Selbstbe- und -verurteilungen. Sie wissen, dass wir nie schuldigsprechen, sondern wir sprechen immer von Schuld los. Das ist kein Freispruch im weltlichen Sinne. Das Verfahren geht sozusagen an der Himmelspforte weiter.“
„Die Justiz will von mir die Darstellung von Abläufen meines Lebens. Teile meines Lebens, nämlich aus dem Ganzen gerissen. Auf Begreifbarkeiten der heutigen Zeit reduziert.“
„Sie wollen damit vielleicht sagen, es wäre heute gar nicht mehr zu verstehen, was sich damals ereignet hatte. Mir fällt dazu nur ein, dass Schuld kein Verfallsdatum hat. Doch sie werden dahinter, aus meinem Mund, vermutlich so etwas wie Ewigkeit und die Verantwortung dortselbst erblicken. Sie sollen das ruhig auch!“
„Jeder versucht, sein Leben als eine fortlaufende Reihung von Geschehnissen zu begreifen. In die er irgendwie eingeflochten war. Das gibt einem dann die Zeitkonserve ab, deren Inhalt mehr oder minder geordnet zu sein scheint. In der Wirklichkeit des Augenblicks war aber alles nicht sehr viel geordneter als im Traum. Wir wissen doch, dass da erst in der Rückbesinnung ein allerdings nur scheinbar verständliches Bild entsteht. Entspricht dieses Bild dann aber der Wirklichkeit?“
„Oh, Herr Gandauer, auf was lassen sie sich da ein?“
„Lieber Herr Pfarrer, niemand kann sich der alltäglichen Spaltsinnigkeit entziehen. Welcher sich einer als Bürokrat, nämlich als Bürokrat des eigenen Lebens, mehr oder minder eifrig befleißigt. Um der Sachlichkeit willen. Natürlich, diese Sachlichkeit muss die Wirklichkeit immer reduzieren. Des notwendigen Über- und Einblicks wegen. Allerdings kann die Sachlichkeit ob ihrer Kleinheit vor der Größe und Komplexität der Wirklichkeit nur zittern – könnte ich herumpoetisieren.“
„Ich bin ja beeindruckt von ihrem geistigen Temperament! Für mich sehr wichtig zu wissen, dass ich es da mit jemandem zu tun habe, der nicht aufgegeben hat. Sie kennen das. So viele ältere Menschen geben auf, lassen sich gehen. Ich sage da gerne, da ich ein begeisterter Bergsteiger bin, dass einer seine Haken in die Wand schlagen müsse. Auch wenn sie einem dann und wann herausbrechen. Er muss sie wieder hineinschlagen. Wenn er nach oben kommen will, bleibt ihm gar nichts anderes übrig.“
„Wem sagen sie das!“
„Mittlerweile so ein Lieblingsgedanke von mir, und zwar genau deshalb, weil er so einfach ist: Jeder muss wenigstens versuchen, nach oben zu kommen. Sie wissen schon wohin, wenn ich als Priester das sage! Am besten ist es, eine richtige Seilschaft zusammenzubringen. In der man möglichst viele mit nach oben nimmt. Sie verstehen. Ein Gedanke, der natürlich etwas mit meinem Job zu tun hat.“
„Schön wie sie das sagen Hochwürden. Ihr seid eigentlich immer irgendwie glücklich, wenn ihr etwas in ein biblisches Ganzes betten könnt. Vielleicht ist das bei den Juristen ähnlich. Die wollen auch die singuläre Handlung in ein juristisches Ganzes betten. Allerdings müssen sie dazu eine Handlung erst einmal als Tat identifizieren und aus dem Lebenskomplex einigermaßen herauslösen. Das bedeutet wohl in meinem Fall, sie wollen, dass ich mein Leben möglichst auszugsweise darstelle. Sie wollen jedenfalls die für ein Verfahren dienlichen Passagen herausnehmen, be- und schließlich verurteilen.“
„Also, wenn sie das nur nicht zu sehr komplizieren, Herr Gandauer!“
„Ich bilde mit meinem Fall eine Einheit. Ich bin mein Fall. Nichts im Ereignisstrom unseres Lebens – sie haben diese wertvolle Formulierung sicher als solche erkannt! – lässt sich ordnen, ohne den Tatsachen Gewalt anzutun. Ich hasse die Behauptung, dass jemand etwas ganz erfassen könne. Die meisten Menschen trösten sich mit dieser anmaßenden Behauptung über ihre Beschränktheit hinweg. Sie tun so, als verstünden sie ihr Leben vollständig.“
„Also, Herr Gandauer, das halte ich für ein wenig verstiegen!“
„Ich nehme an, sie halten mich nicht gerade für einen gläubigen Menschen.“
„Je, nun. Doch was hat das mit ihrer Darstellung und Lebenssicht zu tun?“
„Ich denke mir – und damit komme ich schließlich ihrer Aufgabe entgegen –, dass sich gläubige Menschen ihre Ganzheit mithilfe des Glaubens zusammenkitten könnten.“
„Bemerkens- und merkenswert, Herr Gandauer. Ich werde darüber nachdenken!“
„Um ihnen noch eine Ungeordnetheit meines Inneren an einem Widerspruch zu demonstrieren, Herr Pfarrer, gestehe ich ihnen, dass ich größte Bewunderung hege für die von ihrer Zunft vertretenen Verwandlungswunder.“
„Das ist ja schon mal ein Anfang! Aber erklären sie doch.“
„In ihrer Lehre dreht sich alles um die Verwandlung. Das Brot wird Fleisch und der Wein wird Blut, Gott wird Mensch und schier so fort. Es herrscht der Eindruck, als ob ihr Geschäft überhaupt nur mit der Verwandlung zu betreiben wäre. Nichts bleibt, was es im Grunde ist – oder wird erst, was es eigentlich ist, durch Verwandlung. Ach ja“, fügte er an: „Aus dem Ursprung allen Seins wird beim gläubigen Menschen Gott!“
„O ja, solche Worte kommen bei einem wie mir an, dürfen sie glauben!“
„Einer kann sich immer nur schemenhaft wahrnehmen. Jeder muss sich jedoch zu dem, was er vermutet, wirklich zu sein, durch steten Wandel hinbewegen. Das habe ich als die eigentliche Zumutung des Lebens erfahren. Einer kann nur andauernd versuchen, sich selber zu treffen. So etwa: guten Tag, lieber Freund! – Oder bist du gar nicht ich?“
„Klingt irre wahr, Herr Gandauer! Doch ich frage mich dauernd, wo die Mitmenschen bleiben in ihrem Kalkül. – Lassen wir das zunächst. Vielleicht gibt es da das nächste Mal noch eine Gelegenheit.“
„Schön, dass sie wiederkommen und ich sie mit meinen ganzen Verstiegenheiten doch nicht vergrätzt habe!“
„Ach, wissen sie, Herr Gandauer, da fällt mir gerade etwas ein. Ich habe immer einige Adressen von Leuten aus meiner Gemeinde oder einfach von Interessenten, manchmal von weiter her. Lauter nette Menschen, die mit Insassen hier Kontakt aufnehmen wollen. Wenn sie eine Kontaktperson wünschen, lassen sie es mich wissen. Oder besser noch, ich werde mir erlauben, ihren Namen an jemanden aus diesem Kreis weiterzugeben. Jetzt ist es aber Zeit! Auf Wiedersehen!“
Die Regenwoche war endlich vorbei. Allerdings hing die Feuchtigkeit noch in der Luft. Es war unangenehm kühl. Dieses Wetter war überall Thema: „Anfang August wie Herbst!“, klagten alle.
Sie hockten herum, Frau, Kinder, Hund und Mann. Man zwängte sich zwischen den anderen durch. Jeder hatte so seinen Bereich, den er hütete und durch Auslegen von Krimskrams auch nach und nach auszuweiten versuchte. Man rempelte dann schon auch einmal etwas absichtlich an. Ein Aufschrei, ein Gegenschlag brachte Bewegung in die Szene und ein bisschen Entladung. Zudem waren da die vielen Blumentöpfe, die zwar ruhig dahinmickerten, allerdings sich bei Rebekka zu einem stetig ärgerlicher werdenden Hindernis auswuchsen. Das Zeug roch auch immer merkwürdiger, je länger die Fenster geschlossen bleiben mussten. Rebekka hatte allerdings den Jungen längst nachdrücklich eingeschärft, dass alle diesen Blödsinn hinnehmen müssten. Weil jeder Mensch auch ein wenig irre sein dürfe.
Mit jedem Blick umher schien die Wohnung enger zu werden. Schließlich wollte nicht mal mehr ein richtiger Streit losbrechen, mit dem sich einer für kurze Weile hätte Luft schaffen können.
Dann kam gegen Mittag die Sonne durch. Es entwickelte sich bald eine drückende Schwüle. Die Kinder hatte Rebekka mit dem Hund hinuntergeschickt, mit dem Auftrag, ihn sein längst fälliges schweres Geschäft irgendwo außerhalb, allerdings nicht auf der Straße machen zu lassen. Damit es nicht wieder einerseits Ärger mit dem Hausmeister, oder mit Passanten oder gar der Polizei gebe. „Erziehung ist ...“, hatte Rebekka sinniert, während sie ihren beiden Jungen nachblickte, „Erziehung ist, wenn einer nicht überall aneckt. So beschissen, wie das auch ist, es ist so.“ Dann nahm sie wieder ihr Frauenjournal in Augenhöhe und tauchte in eine ferne Welt.
„Raus aus der Bude!“, schrie Piscator dann plötzlich. Rebekka war dadurch mit einem Ruck aus der Harmonie ihres Fortsetzungsromans gerissen und hatte im Reflex die Arme in Abwehrhaltung hochgerissen. Sie ärgerte sich über das Gebrüll und blickte Piscator böse an.
„Los, pack dich zusammen! Wir gehen baden!“, befahl Piscator.
„Du hast doch ‘ne Schraube locker! Das Wasser ist nach dem ewigen Regen eiskalt. Und der Boden ist saunass. Da frierst du dir einen ab. Da holst du dir was und die Kinder auch. Dann rotzt ihr hier rum. Im Sommer. Da ist das besonders fies. So ‘ne Sommergrippe!“
„Ich habe vorhin in den Spiegel gesehen: Ich setze ja schon Schimmel an!“, jammerte Piscator und ging mit dem Kopf ganz nahe zu Rebekka, um ihr eine wunde, nässende Stelle hinterm Ohr zu zeigen. Sie wich quietschend zurück. Um sie zu ärgern, folgte er ihr, bis sie ihn mit Fäusten bearbeitete. Er schrie, dass er heute voll drauf sei, und warf sich auf sie. Sie wälzten sich auf dem Boden, drückten und balgten sich – während Rebekka keuchend eine Inhaltsangabe ihres rührenden Fortsetzungsromans von sich gab, aus der sie durch Piscators Zumutung gerissen worden war: Dass da ein Geschäftsmann erkrankt gewesen sei, der seine Nichte, die im heiratsfähigen Alter und hübsch und obendrein sogar gescheit war, beauftragt habe, den Laden zu führen. Da sei aber auch eines Tages der Stiefsohn des Alten aufgetaucht und habe sich eingemischt und Mist gemacht. Lauter solche Sachen. Und das arme Mädchen habe er ganz link angeschmiert. Um ans Geld zu kommen. Und gerade, als sich die Sache zu lösen begonnen habe, vielleicht zugunsten des armen Mädchens, so ein richtig armes Schwein, wie man selber ja auch eines sei, da tauchte er, Piscator, auf und habe sie angemacht. Und jetzt wisse sie nicht, ob das Mädchen das Geschäft und Nachbars Sohn, einen feschen, jungen Arzt, gekriegt habe!
Rebekka war durch diesen Bericht unter laufender Gegenwehr gehörig aus der Puste gekommen. Piscator setzte jedoch die Balgerei unbarmherzig fort. Sein bisschen Kraft durch Hektik steigernd, walkte er Rebekka mit beiden Armen und hielt sie sozusagen in Schwebe zwischen Lust und Schmerz. Sie zeigte ihm ihr jeweiliges Empfinden mit entsprechenden Lauten an, schnurrte, quiekte, schrie auf – und dachte sich, er müsse sich ja irgendwann verausgabt haben und wieder Ruhe geben. Nichts dergleichen. Piscator zeigte so bald keine Ermüdungserscheinungen. Er begann sogar, sich nach und nach seiner Klamotten zu entledigen, ohne ganz von Rebekka zu lassen. Er machte sich schließlich auch an ihren Hüllen zu schaffen. Er gab in seiner Atemnot nur animalische Laute von sich.
Rebekka hatte dann nur noch Sorge, dass die Jungen bald zurück seien.
Als sie sich schließlich schweißtriefend erhoben und ihre Sachen im Zimmer zusammensuchten, keifte Rebekka, dass er dauernd eine Sauerei in der Badewanne mache. Wegen seinem blöden Grünzeug überall rum. Jetzt müsse sie doch mit in das Freibad. Weil alle nur einmal, noch dazu ohne Seife, in der Woche in die Wanne könnten, „in diesem beknackten Laden. Du bist ein richtiger ..., na, ich will ja gar nicht mehr verraten, in allen Sachen bist du ... du bist eben ein ganz verrückter Hund!“, schloss sie ihr Lamento.
Die Jungen streunten noch im Hof. Rebekka holte sie mit einem kräftigen Pfiff herbei. Sie hatte die Finger zu Hilfe genommen. Piscator war von ihrer Pfeifkunst begeistert und bat sie, ihm das auch beizubringen. Er habe es seit seiner Schulzeit immer wieder, doch ohne Erfolg versucht.
Die kleine Kolonne hatte dann nur ein paar Straßenzüge zu passieren, bis sie im Freibad war, einem Seitenarm des Lechs.
„Wenigstens keine Leute da!“, freute sich Piscator. Und Rebekka knurrte, dass das ja wieder typisch sei. Wenn nur keine Leute da sind, dann fühle er sich bereits wohl, da könne es auch widerlich kalt sein. Er lande doch noch in der Klapsmühle – und sie geriete immer nur an Hanswurste.
Vor Ort fröstelte es Rebekka schon beim Anblick des rasch dahinfließenden grünbraunen Wassers. Sie blieb eine Weile demonstrativ zitternd mit hochgezogenen Schultern und über der Brust verkrampften Armen stehen. Nach einer Weile konnte sie sich doch entschließen, sich wenigstens auf die Decke zu setzen. Die Jungen waren bereits im Auewäldchen verschwunden.
„Was hast du denn da für ein Zeug geschrieben?“, fing Rebekka mit einem Mal an. „Was soll denn das? So mit Politik und Wahl und Fische essen.“ Es schien eher beiläufig zu sein, denn sie starrte immer noch fröstelnd auf das Wasser.
Piscator, der entspannt neben ihr gelegen hatte, war aufgeschreckt: „Was denn, du hast wohl geschnüffelt? Ha?“
Rebekka überging die Frage. „So ein politischer Kram? Hast du mal auf Politik gemacht? Das sieht dir ja gleich. Du lässt scheinbar keine Macke aus.“
Piscator wusste nicht, was er entgegnen sollte. Sie seien bis jetzt auch ohne weitere Information über ihre Vorleben ganz gut zurechtgekommen, meinte er. Was solle es nun? Als er überlegte, fiel ihm erst jetzt so richtig auf, dass sie eigentlich kaum die Namen voneinander wussten. Ihren Vornamen freilich. Jedenfalls fiel ihm im Augenblick der Nachname von Rebekka nicht ein. Sie kannte ganz sicher seinen richtigen Familiennamen auch nicht. „Es ist genug, wenn einer da ist, einfach voll da ist“, versicherte er sich. „Warum soll sich das auf einmal ändern? Wir haben doch fast wie im Paradies gelebt! Fünfterstockparadies, du meine Fresse!“, freute er sich still.
„Warum sagst du nichts?“, fragte sie. Doch er schwieg weiter.
„Zieh mir ab, mit den Witzbolden von der Politik!“, schimpfte Rebekka.
„Kennst du Elsa?“, säuselte Piscator komisch.
„Was soll die blöde Frage?“
„Elsa, weißt du, Elsa von Brabant!“, erklärte Piscator.
Bevor Rebekka, die sich auf den Arm genommen fühlte, etwas sagen konnte, setzte Piscator seinen Vortrag fort, dass das jene Frau war, die Hilfe gebraucht habe ...
„Ha, Hilfe! Hilfe, das kennt man doch!“, rief Rebekka dazwischen.
... da sei einer gekommen, so ein Ritter in einem Boot, das ein Schwan gezogen habe ...
„Ach du meine Backe“, grollte Rebekka, „so’n Käse wie in Neuschwanstein da vom närrischen bayrischen Märchenkönig!"
... und Rebekka solle sich vorstellen, dass der Ritter zu Elsa gesagt habe: „Also Elsa, ich helfe dir und besorge dir alles. Aber nie fragen! Verstehst du? Nie fragen darfst du, und zwar wer ich bin und wie ich heiße und all die personenbezogenen Daten, ha?“ Alles sei gut gegangen. Rebekka solle sich jedoch vorstellen: Anstatt eine gepflegte Hochzeitsnacht zu machen, habe Elsa doch zu fragen begonnen. Da hat es eben keinen Spaß mehr gegeben und sie sei auf ihrer Jungfräulichkeit sitzengeblieben und der Junge sei wieder mit seinem Schwanenboot davongeschippert.
Rebekka empörte sich über solchen Quatsch, wie Piscator ihn ihr zugemutet habe. Sie nörgelte, er solle nicht etwas nur andeuten, sondern sich gleich verduften, wenn er meine, dass es aus sei mit ihnen.
Er antwortete in höchsten Tönen mit dem vagen Versuch, Bayreuth-Wagners Melodie zu treffen: „Nie sollst du mich befragen ...“ und das gleich ein paar Mal hintereinander!
Als er sein Gebrüll eingestellt hatte, knurrte sie in seine Atemnot hinein, dass er sie an den Vater von ihrem Amadeus erinnere. Nur ganz entfernt. Denn so einen Knallkopf wie ihn habe sie noch nie gehabt.
Dann war eine Weile Pause.
„Ne, musst ja nichts verraten über dein Auf-Politik-Machen!“, fuhr sie ihn etwas später richtig an. „Du ja nicht, du brauchst das Maul nicht aufmachn. Ich erzähl dir was, damit du weißt, was ich von den Politischen halte: Marki, mein Markus, is nämlich von einem solchen. Sollst du wissn. So ein ganz Feiner war es. Von ‘ner Schule. Ein Schullehrer. Der war immer da in der Schule, wo ich nach der Schule geputzt hab’. So’n Mensch ohne Anhang war das, nur mit einem Dutzend Vereinen und natürlich ‘ner Partei und mit jeder Menge Moral. Der hat immer Zeit gehabt, wenn ich da war. Warn die andern Schulemacher längst aus dem Haus, und die Stinktiere sind ja immer gleich weg. Dann war der noch da. Na ja, will noch was werdn, denk ich. Oder er is halt ein bissl blöder, nich so voll drauf wie die andern, die wo die Arbeit flotter schaffn. Bloß allmählich hab ich mitgekriegt, dass der immer da war, wo ich grade geputzt hab. Immer um mich rum. Hat geglaubt, ich merk das nicht gleich. Keiner glaubt, wie doof die Gescheiten sein können! Immer so um mich rum und erst ‘ne Frage, dann allmählich immer mehr Gequassel. Plötzlich is er gekommen. Da hat er hingelangt! Getatscht! Gegrapscht! Ich sag dir, wie ein Viehhändler, der prüft, wo das Fleisch sitzt. Ich kenn die Griffe von den Kerlen alle, das glaubst mir! Und da steckt immer so ‘n Charakter von dem Kerl dahinter, wie einer hinlangt! Weil, ich habe auch als Bedienung gearbeitet. Und dann ist’s mal passiert. In der Lehrmittelkammer hat er zugeschlagen. Donnerwetter, sag’ ich dir! So zwischen Landkarten und Schlangen in Spiritus. Auf der Tragbare für Schüler mit Unfall. Durfte natürlich keiner wissn, dass er es mit so einer trieb wie mir. Eine aus der Abstellkammer in der Abstellkammer!“ Sie fauchte hässlich dazu.
Piscator wollte es lässig nehmen: „Na und?“
„Und immer ein paar gescheite Sprüche drauf. Und scharf wie sonst was. Und rumgeschwänzelt um die, wo das Sagen haben. Katzenbuckel gemacht. Oder sich auf die Zehen gestellt. Ganz sportlich, die Type. Auf Zeitungsbildern hat der heut’ noch immer so einen ganz langen Hals – weil er immer hinten stehn muss, heute noch, aber unbedingt aufs Bild will.“ Wieder ihre sonderbaren Geräusche. „Nein, jetzt können wir uns noch nicht zeigen, Schatzerl“, äffte sie ihn nach, „erst wenn ich im Stadtrat bin, im Vorstand bin, etwas weiter bin, ganz oben bin. Was weiß ich, was der alles wenn-ich-bin wollen hat. Heut is er immer noch so ein Kriecher, weiter nix! Und geschafft hat er es nur bei ‘ner Putzfrau. Der liebe Gott ist nämlich doch auch mal ein bissl gerecht!“ Sie schien ihrer Behauptung nachzusinnen, dann musste noch etwas raus: „Und diese fetten Sprüche immer: Ein Kerl wie ein Verschnitt von Klosterbruder und Rosstäuscher ...“
„Woher hast du denn das?“, war Piscator überrascht.
Sie habe das aufgeschnappt von zweien, die im Lehrerzimmer über diesen Fuzzy hergezogen waren.
„Kollegen!“, kommentierte Piscator voll Abscheu.
„Du kannst mich ruhig für dämlich haltn und dass ich gar nicht verstehe, was ich da nachgesagt hab’!“, klang es bei ihr etwas verschnupft. „Das macht mir nichts. Das ist mir so egal, dass ich dir sogar noch was verrate: Mir sagt so ein Geschwätz gar nichts. Wenn ich nämlich einem was sagen will, was mir an ihm stinkt, dann mach’ ich das nicht so hinterfotzig. Und das mit dem Verstehn, das geht vielen so, das hab ich auch bei meinem feinen Herrn gemerkt: Da schlägt der jedes Mal das Kreuz, bevor er seine Suppe zu löffeln anfängt. Dann macht der mir ein Kind und haut ab und lässt mich sitzen. Also, ich war nach der Firmung nicht mehr in der Kirche. Nur noch zur Taufe von den Jungens. Das spür ich nämlich, dass der Kerl mit seiner ganzen Studiertheit ganz viel nicht kapiert hat.“
„Und wer hat dir den Amadeus geschenkt?“, fragte Piscator nach einer Weile.
„So kann man’s auch sagn!“, kicherte Rebekka. „Rat mal, was das für einer war! Ich geb’ dir ‚n Tipp!“
„Na, und?“
„Denk mal an den Namen!“
„Doch nicht etwa Mozart?“, stellte er sich dumm. „Mozart der Vater von Amadeus?“
„Verkackern kann ich mich selber!“, belferte Rebekka. „Das mit dem Vater von Amadeus hab ich dir g’wiss schon erzählt“, warf sie ihm vor, „das erzähle ich nämlich jedem, wenn’s sein muss.“
Nach einer Weile meinte sie „Jetzt weiß ich es. Du warst ja Politiker. Die hörn auch nie zu. Die machn ihre Geschäfte. Hauptsach, die Blechmusik spielt und die Kasse stimmt. Die tauben Säue. Was bin ich schon zu Politikern gerannt. So wegen der Wohnung. Wegen die Stütze.“
„Da hättest du auf die Ämter gehen sollen.“
„Ha, glaubst du, ich weiß das nicht und hab’s nicht getan?“, gab sie verärgert zurück. „Die sind auch still und tun nur so, wenn du deinen ganzen Alltagsschrott bringst. Und wenn du dann alles abgeladen hast und glaubst, jetzt kriegst du eine Antwort, dann drückn sie dir einen Stoß Formblätter in die Hand!“
„Keine guten Erfahrungen, ha?“
„Du glaubst ja gar nicht, wie du allein bist, wenn du allein bist in dem beknackten Sozialstaat. Oder wie die Rumpelkammer heißt, von dem die Schleimer dauernd redn!“ Eine Weile Stille, bis Rebekka ganz traurig verkündete, dass sie baden gehe – und sich auch bereits die Klamotten abschälte.
„Was machst du?“, fragte Piscator entsetzt – und musste lachen, als sie sich erhob. Er lief ihr nach.
Auf dem Weg zum Wasser verkündigte sie noch: „Der Staat sind alles Männer. Und die Weiber, die da mitmischn, sind oft schlimmer als wie die Männer. Die wolln alle nur ihr Vergnügn habn und begafft und beklatscht werden. Wenn dann mal so’ne Polithaubitze auftaucht, dann ist die auch wie die Männer. Frau muss sich als richtige Frau rächen. Frau muss alles rausholen, was drin ist an Knete!“ Dann tauchte sie vorsichtig einen Fuß ins Nass.
Auch nach dem kalten Vergnügen war Piscator von Rebekkas Auffassung von Gesellschaft noch beeindruckt, wollte alles jedoch mit Rechtsstaat und einigen Folgerungen daraus ein wenig zurechtrücken. Er kam jedoch nicht weit damit.
„Mensch, hör auf mit dem Schwachsinn aus’m Schulbuch! Den fand ich in der Berufsschule immer so öde. Da sind wir lieber aufs Klo gegangen und habn eine geraucht. Und der schlappe Pauker war froh, dass er uns loshatte. Man kann nur verzweifeln mit den vielen Sackgassen, in die man immer läuft.“ Rebekka schluchzte und brach in Tränen aus. Piscator erhielt einen heftigen Schlag mit der Faust gegen die Brust, als er sie trösten wollte.
Die Szene wurde mit Verstauen der Sachen und Herbeipfeifen der beiden Jungen beendet.
Auf dem Nachhauseweg merkte Rebekka noch an, dass es natürlich auch noch Männer gebe, nämlich einigermaßen richtige: „Die sitzen vielleicht auch mal im Knast. Oder die laufen als solche Armleuchter rum wie du!“
Piscator musste diese Aussage erst verarbeiten. Er trottete hinter der Gruppe her und hörte sich dann zur Entspannung an, was es in den Flussauen alles zu machen gebe: Kleine Frösche fangen; beglotzen, was die Leute alles weggeschmissen haben, nämlich Matratzen, Autoreifen, Unterhosen und anderes Zeug.
Zu Hause schien bei Rebekka wieder alles im Lot zu sein. Sie bewegte sich in alter Frische. Beim Essen dann fragte sie Piscator ganz überraschend, ob er denn nicht Knastbesuche machen wolle. Er nahm das nicht gleich ernst, sondern flachste, dass ihn seine Weltanschauung sowieso bald dorthin bringen werde. Man müsse nämlich diejenigen, die am Krieg oder an seiner vorgeblichen Verhinderung durch Aufrüstung verdienten, schädigen, wo man es nur immer könne. Aber das sei nun allerdings laut Gesetz auch wieder nicht erlaubt.
Sie fuhr, ohne auf sein Gerede einzugehen, munter fort: „Ich kenne da einen Pfaffen. Keinen von hier. Der vermittelt Kontakte!“
Nun ja, dachte sich Piscator: „Pfarrer, da kann eigentlich nichts schiefgehen.“ Er wollte es sich überlegen.
Sterzinger war wieder da. Ein weißes Hemd leuchtete aus der Jacke und unterstrich den braunen Teint. „Nicht mehr welk und schlaff die Haut“, fiel Gandauer auf – und er schätzte, dass Sterzinger an Gewicht zugelegt hatte.
Sterzinger hatte sich zurückgelehnt, schaute im Zimmer umher, lächelte freundlich, sobald sich seine Blicke mit Gandauers kreuzten, und schien abzuwarten.
Gandauer ergriff die Initiative: „Was glauben sie, wie gefährlich unsereiner zuweilen gelebt hat!“, begann er, ärgerte sich sofort über die, wie er meinte, eigene Plattitüde, fuhr aber deswegen umso eifriger fort: „Sie müssen wissen, uns ging es zunächst gut in Schlesien. Meine Heimat war bis fast zum Schluss vom Krieg ziemlich verschont geblieben, während weite Gebiete des Reiches mit Bombenteppichen belegt worden waren. Das reiche Land Schlesien produzierte genügend, um auch die durch Zuzug ausgebombter Berliner, Aachener und andere immer zahlreicher werdende Bevölkerung noch zu ernähren. Breslau verdoppelte in dieser Zeit seine Bevölkerungszahl, nämlich auf etwa eine Million.“
„Na, sehen sie, das hat sie doch ganz schön geschont!“, spöttelte Sterzinger. „Das hat ihnen doch gut zehn Jahre Verlängerung ihres Lebens beschert!“, machte Sterzinger weiter. „Notzeiten fehlen uns heute. Bitte, es sollen nicht unbedingt solche Notzeiten sein, wie sie ihre Zeit erzeugt hatte. Aber so ein bisschen Entbehrung würde manchem nicht gerade schaden!“
Gandauer nickte zustimmend und warf dabei ganz unverhohlen Blicke auf Sterzingers vor dem Bauch etwas aufgespreizten Hemdsaum.
„Die Ruhe war jedoch bald dahin. Gegen Ende vierundvierzig hatten sich die Massen der russischen Armee an die Grenzen des Reiches gewälzt. Brutale, verhetzte Haufen, müssen sie mir glauben, die alles niedermachten. Von den reichen Amerikanern bis an die Zähne bewaffnet waren sie. Und aus war es mit Schlesien! Die Marter brach los, kann ich ihnen versichern. Der letzte Versuch: Die Leute in Scharen zu Schanzarbeiten in Bewegung gesetzt. Ein Heer von Zivilisten. Schützengräben ausheben und Panzersperren bauen.“
„Sehen sie doch, die Feinde hatten den Spieß umgedreht!“, stieg Sterzinger unerwartet heftig ein. „Ja, ja, sie mit ihrem Vernichtungskrieg! Und dem totalen Krieg und der ganzen Ausrotterei und Plattmacherei!“ Dann hatte er sich beruhigt. „Da haben sie wohl mitgebuddelt?“, fragte er und sah Gandauer lauernd an.
„Wir haben angesichts der herannahenden Bedrohung das Jahr 1241 beschworen! Damals lagen wir Schlesier in einem aufopfernden Kampf an den Grenzen der zivilisierten Welt und schließlich für das gesamte christliche Abendland und zu dessen Erhalt und Fortbestand und ganz allein gelassen von diesem Heiligen Römischen Reich hinter uns. Da lag der Schlesier im tödlichen Ringen mit den mörderischen Banden aus den Tiefen Asiens. Und Schlesien rettete das Abendland vor der Überflutung durch die gelbe Gefahr des Ostens! Wir haben da in unseren Tagen alles an Menschenmaterial Aktivierbare auch mit Pickel und Schippe in Bewegung gesetzt.“
„Zur Rettung des Hitlerlandes, nicht des Abendlandes!“, korrigierte Sterzinger entschieden. „Na, ihr Arier seid ja ganz schön runtergekommen gewesen!“, steigerte er die Attacke: Er verglich diese abgerissenen, verängstigten Scharen mit Hacke und Schaufel mit den Elendsgestalten, wie der Film die KZ-Sklaven dieser Spät-Germanen gelegentlich nachzustellen versuchte. „Und dann noch was“, mahnte Sterzinger, „ihr Sprachgebrauch vom Menschenmaterial, der gelben Gefahr und dergleichen ist ja noch ziemlich drittreichig!“ Dabei hatte er wieder diesen lauernden Blick auf Gandauer gerichtet. Als der nicht reagierte, wiederholte er seine Frage, ob Gandauer denn auch geschanzt und das Hitlerland mit irgendeinem Handwerkszeug verteidigt habe.
„Gewissermaßen“, antwortete Gandauer in einer Mischung aus Stolz und Trotz. „Einigen wir uns auf Heimat, um unsere unterschiedliche Land-Betrachtungsweise zu neutralisieren!“, forderte er und fuhr fort: „Unsereiner, Herr Sterzinger, hatte damit zu tun, die Organisation in Gang zu halten.“
„Zu diesen eben zitierten Unsereinen gehörten selbstverständlich auch sie. Nichtwahr?“, forschte Sterzinger. Als Gandauer nur mit einem leichten Kopfnicken reagierte, wollte er es zuspitzen: „Die Zivilisten haben sie nicht etwa nur mit historischen Phrasen zusammengetrieben. Sie haben Zwangsmaßnahmen eingesetzt. Von Inhaftierung, über Verschickung an die vorderste Front, bis hin zu standrechtlichen Erschießungen und Lynchexekutionen an Laternenmasten!“
Er schien Gandauer schwer getroffen zu haben. „Januar fünfundvierzig .... der russische Großangriff ... Ostfront“, stotterte Gandauer aufgebracht vor sich hin. „... Großangriff ... gesamte Front!“, konnte Sterzinger gerade noch verstehen. Gandauer starrte mit einem leichten Nicken des Kopfes an Sterzinger vorbei ins Leere. Nach einer Weile hatte er sich wieder gefasst: „Es war erst von Ferne zu hören. Jeder wusste genau, was da auf einen hereinbrechen wird! Es kam beständig näher! Die Menschen lauschten gebannt. Sie hofften mit jedem Donnerschlag, dass der nächste doch wieder etwas weiter entfernt sein möge. Alle malten sich voll Grauen aus, was ein Näherkommen der Vernichtung bedeutete! Dann die fürchterlichen Serien der Stalinorgeln! Als bereits das dunkle Meckern der Maschinengewehre zu vernehmen war, da war es uns gewiss: Der Horror bricht herein, da wälzt sich der Untergang langsam, aber unaufhaltsam auf uns zu! Wie Vorboten und Beleg dafür strömten auch bald Scharen niedergeschlagener, ermatteter, demoralisierter Menschen aus den verlorenen Ostgebieten nach Breslau herein. Eisenbahnzüge, die bis unters Dach vollgedrängt waren: zusammengepferchte Menschen zwischen den Bündeln spärlichster Habe! – Ja, sagen sie es ruhig“, fuhr er Sterzinger plötzlich an, „genau so zusammengepfercht in Viehwaggons, wie ihr eure Judenbeute in die KZs transportiert hattet!“
Sterzinger war etwas erschrocken wegen der Attacke, doch er war auch zufrieden. Denn er wusste Gandauer ziemlich nahe an der eigentlichen Sache. Er saß entspannt da und hatte die Beine lässig überschlagen. Er wartete jetzt auf eine Fortsetzung von Gandauers Vortrag und hoffte darauf, dass Gandauer dabei der anwaltlichen Aufgabe dienlich sein würde. Besonders auf gedankliche Ausrutscher, nämlich auf an der unterstellten Verschleierungstaktik von Gandauer Vorbeigehuschtes, wollte er lauern.
„Was glauben sie denn“, hörte er Gandauer wieder, „was sich nun ereignete, als diese Flüchtlinge noch mehr Angst eingeschleppt hatten? Wie sich die Angst in diesem einst stolzen, selbstbewussten Breslau wie eine Seuche ausbreitete und auch das letzte Quäntchen Zuversicht dahinzuraffen drohte? Was glauben sie, junger Mann, wie sich diese Angst unter dem nahenden Kanonendonner in die Menschen bis in die Träume hineinfraß. Was glauben sie, wie sich dann die Albträume der Menschen zu schier realen Gräuelszenen verdichteten: Folter, Schändung, Raub, Mord. Was glauben sie ...“, Gandauer musste tief Luft holen – und Sterzinger dachte sich, dass er das alles gerne glauben wollte, dass es da allerdings jetzt nichts zu jammern gebe. Denn er hielt das, was Gandauer da schilderte, schlicht für die Retourkutsche dessen, was der stolz seinem Führer laut zujubelnde Besser-Deutsche ein paar Jährchen zuvor den Ostvölkern zugemutet hatte.
„Was glauben sie, wie diese Mordangst, immer weitergetragen wurde, immer weiterwucherte und sich ins schier Unermessliche auswuchs?“, stammelte Gandauer beinahe. „Ja, nun waren die Menschen zu Opfern der Propaganda unseres eigenen Barbarenregimes geworden. Opfer dieser Propaganda, die unablässig das Schreckgespenst vom minderwertigen raub- und mordgierigen Untermenschen des Ostens an die Wand gemalt hatte. Der Untermensch der Propaganda, der jetzt in den Vorstellungen der Menschen als Ungetüm schreckliche Gestalt annahm und ihnen Wirklichkeit wurde!“ Gandauer starrte Sterzinger an.
„Bemerkenswert, dass sie ihre Regierung wenigstens als Barbarenregime bezeichnen“, lobte Sterzinger und setzte schnell nach: „Und was haben sie in diesen Tagen veranstaltet, was hat sie ge-trieben und was haben sie be-trieben?“, wollte er wissen und fügte an: „Wie und womit und wodurch haben sie ihre Angst bekämpft?“
„Es flutete immer weiter herein.“, war Gandauer noch ganz von seiner Erinnerung gefangen: „Immer wieder diese Scharen von geschlagenen Menschen. Diese Trecks von Flüchtlingen, die auf Fuhrwerken die Grenzgebiete verlassen hatten oder die zu Fuß kamen mit lausigen Handkarren, in Eile umgebauten Kinderwagen. Äußerlich abgerissen, innerlich unbeschreiblich niedergeschlagen: Alles dahin, Heimat verloren, alles, was man für richtig und wichtig erkannt zu haben glaubte, worum man gerungen hatte, dahin im Donnern und Knallen der Kanonen, dahin unter der Geißel des Krieges – den man ja, jetzt irrwitzig und verflucht, anfangs für den Umständen angemessen gehalten und mit begonnen oder doch wenigstens geduldet hatte. Untergegangen in einem infernalischen Strudel. Herrgott, die Wellen der Geschichte waren über uns zusammengeschlagen, das fühlte damals jeder ganz deutlich – und es war unabweisbar. Das fühlte jeder in seinem Wachen. Und das flimmerte auch in aller Menschen Träume – wenn sie überhaupt noch schlafen konnten. Ein unaufhörliches Hereinströmen in diesen Kessel des Elends, der einmal ein blühendes Gemeinwesen war. Seelisch exekutiert durch den Strang der Ereignisse. Auch körperlich am Ende: Eine Elendsprozession von Frauen, Greisen, Kindern, zusammengeflickten Soldaten in der Eiseskälte dieses Winters.“
Sterzinger konnte Gandauers Ergriffenheit immer noch nicht teilen. Er dachte sich, dass es in der Geschichte hie und da eben auch eine Generation gebe, die ihre eigene Suppe auslöffeln müsse. „Wobei dieser Pott so groß ist“, malte er sich aus, „dass Generationen noch dazu verurteilt sind, diese stinkende Brühe zu sich zu nehmen!“ Er nickte mit dem Kopf, sich selber zustimmend: „So ist es“, beteuerte er sich. Da hörte er Gandauer wieder: „In der Situation wäre eine ganz neue Art psychologischer Aufrüstung gefragt gewesen. Die überhaupt erst erfunden hätte werden müssen. Jedenfalls waren die üblichen Mittel der Beeinflussung der Massen erschöpft! Da griff keine noch so geschickte Rede mehr! Diese Stunden bitterster Wahrheit sind nicht die Stunden der Rhetoren. Da griff nur noch die durch die Not erzwungene Gewalt. Eben die Pression, die sie heute auch den Naziterror nennen ...“
„Ihr Beitrag dazu, Herr Gandauer!“, beeilte sich Sterzinger. „Das ist genau der Punkt!“, rief er. Da Gandauer jedoch nicht gleich reagierte, wollte er ihm schnell noch eine Brücke bauen: Dass Gandauer immerhin von einem durch die Not erzwungenen Terror gesprochen habe, dass sich alles eben durch diesen durch die Umstände gegebenen, unausweichlichen Zwang ereignet habe, dass dieses Argument mindestens so wirksam sei wie der vor Gericht immer wieder zitierte Befehlsnotstand!
„Das ging dem Ende zu!“, war Gandauer aber noch wie in Trance. „Einem fürchterlichen Ende. Das fraß sich ein und steckte bald allen tief in den Knochen ...“
„Gehen sie doch über meine Brücke!“, mahnte Sterzinger. „Befehlsnotstand!“, rief er.
„Eine Frau ...“, stammelte Gandauer und musste schlucken. „Eine Frau wollte die Heilige Hedwig über Breslau wahrgenommen haben. Als Erscheinung. Es war offenbar ansteckend. Viele folgten ihr ins Wahnbild und hatten Erscheinungen ...“
„Nun ja, als euer brauner Messias, dieser komische Heilige da in Berlin, ausgedient hatte und nicht mehr helfen konnte, mussten eben die alten Heiligen wieder ran!“, resignierte Sterzinger und ärgerte sich, dass er Gandauer nicht hatte bewegen können, seine Hilfestellung anzunehmen.
„Der Gauleiter Hanke dann“, kam von Gandauer kaum verständlich. „Der hat mit seinem Zeitungsartikel eine Kampagne eingeleitet. Lächerlich. Die mittelalterliche Schlacht als Vergleich zur augenblicklichen Lage. Die Schlacht, in der die Schlesier alleine gegen die Mongolenhorden Baidar Khans standen ...“
„Es gehörte doch zu den Maschen ihres Systems“, spöttelte Sterzinger, zornig darüber, dass sein Mandant nicht auf ihn eingehen wollte. „Euer Hitler hat die Geschichte doch immer wieder bemüht. Und sogar die Vorsehung! Und ihr natürlich mit ihm. Überhaupt fußte ja der ganze abgestandene Germanenquark auf einen ausgesprochen hanebüchenen Historismus! Der ihm allerdings von der gesamten sogenannten Volksgenossenschaft gläubig abgenommen worden war!“
Gandauer hatte Sterzinger nur kurz angesehen: „Junger Mann, ich müsste sehr weit ausholen, wollte ich zu ihrer Bemerkung wirklich angemessen Stellung nehmen. Ich will ihnen das ersparen, nur dieses: Es ging in der ersten Hälfte des Jahrhunderts darum, einem sich aus seiner Geschichte gerissen fühlenden Volk seine Wurzeln zu zeigen und ein seiner Eigenart gemäßes, zukunftweisendes System einzurichten. Und noch eines“, fügte er mit erhobenem Zeigefinger an, „erklären sie gefälligst die Generation ihrer Eltern nicht etwa für geisteskrank!“
Zwar merklich unbeeindruckt, hingegen höflich, näselte Sterzinger seine Entschuldigung.
„Haben dafür Sorge zu tragen, dass dem Befehl, Breslau Festung, Umsetzung widerfährt“, war Gandauer wieder in seiner Welt und theaterte beinahe die Befehlserteilung: „Demnach Kinder, Mütter, Alte evakuieren! Nur wehrfähige Personen verbleiben! Komplette Räumung unumgänglich: Jedwedes Transportmittel ist zu beschlagnahmen, beladen nach Vorgabe, und zwar nur Handgepäck! Überwachung bewaffnet erforderlich! Transportkapazität vermutlich nicht ausreichend! Per Straßenlautsprecher Befehl verbreitet: Frauen und Kinder verlassen die Stadt zu Fuß in Richtung Kanth! Befehl jede Stunde wiederholen!“
Sterzinger wunderte sich und war zunächst sprachlos. Dann ging ihm ein Licht auf: „Und sie haben die Befehle wacker und vor allem rücksichtslos pflichtbewusst umgesetzt?“ Er wiederholte „rücksichtslos“ mit dem extrem rollenden R und dem klanglich hysterisch gehobenen Ü ein paar Mal, wie er es aus Filmen wusste über des Führers Art, die damals offenbar Mode geworden war. „Jetzt hast du ihn“, war er überzeugt, „das ist der Knackpunkt, jetzt kann er nicht mehr aus, an diesem Punkt nicht! Vielleicht bringt es so etwas wie einen Durchbruch! „Sie, Herr Gandauer, ein gehorsamer Vollstrecker! Ganz natürlich und selbstverständlich gezwungenermaßen in Befehlsnotstand befindlich!“, sein erneuter Versuch.
„Hunderttausende auf den Landstraßen! Den Donner der Detonationen der Sprengungen für die Schanzarbeiten und den Höllenlärm des nahen Kanonenfeuers hinter sich! Eisige Kälte, weit unter zwanzig Grad! Diese Winter da bei uns ...“, redete Gandauer wieder eher vor sich hin und fuchtelte dazu mit den Händen herum, ohne Sterzinger anzusehen.
Sterzinger war ratlos. Dass sein Mandant jetzt die Nachfrage von juristischer Verteidigung in psychiatrische Behandlung zu wechseln begänne, witzelte er sich verärgert vor.
„Dieser Erbarmen erweckende Exodus: Frauen, Kinder, Greise, Krüppel. Schlitten und Karren. Ziehen auf verwehten Straßen in den gnadenlosen Winter. Ihr Weg gesäumt von Teilen ihrer Habe. Sie mussten sich ihrer entledigen, um sich selber weiterschleppen zu können. Ihr Weg war gesäumt von Leichen von Kindern, Säuglingen zumeist, die erfroren oder verhungert waren. In Neumarkt an einem Morgen vierzig Kinderleichen!“ Er schwieg wieder und wischte sich übers Gesicht. „Da hindurch, mein Freund, immer wieder in Gedanken hindurch“, flüsterte Gandauer. „Ich darf ihnen versichern, dass bekannter Maßen die Erinnerung sich zwar im Laufe der Zeit verfärbt und in der Regel blasser wird, dass es jedoch Fetzen gibt, die beharrlich ihre Tönung beibehalten! Es sind vornehmlich solche Fetzen: das Abgerissene und das vom gewöhnlich versöhnlichen Gang Abgetrennte.“
Sterzinger richtete sich ruckartig auf. „Haben sie aus Mitleid evakuieren lassen, Herr Gandauer? Aus Bange eventuell, die Frauen und Kinder würden in der zu erwartenden Belagerung, unter den voraussehbaren Schrecken in der eingekesselten Stadt über Gebühr leiden müssen?“, schoss er mit seiner Frage heraus und hatte gleich den Stift zur Hand, um Notizen zu machen. „Oder“, Sterzinger zielte mit dem Stift auf den alten Mann und blickte ihn streng an, „war es ihre Festungsbetulichkeit: Nämlich den Platz schaffen zu wollen für den Endkampf von euch Helden? Nämlich für einen von der Banalität der Familienbande befreiten Heroismus?“ Er legte den Stift weg.
Gandauer holte tief Luft. „Wieso ich?“, fragte er dann erstaunt.
„Ihr Name steht auch in dieser Funktion, nämlich dieser Menschen-Räumaktion, in der Akte!“, betonte Sterzinger. „Aber da gibt es noch eine Variante ihrer Aufräumarbeit. Nämlich sie, Herr Gandauer, hätten da Standgerichte betrieben? Und zwar in Eigenregie!“
„Ich werde jetzt nicht darauf pochen, dass ich als Kreisleiter selbstverständlich dem Gauleiter unterstand und ...“
„Moment! Ein Gandauer als Kreisleiter?“, unterbrach Sterzinger laut, blickte sein Gegenüber forschend an und wiederholte: „Kreisleiter Gandauer? Erneut eine Offenbarung, besser die Bestätigung einer früher schon erfolgten Aussage – was ja eine das Argument festigende Wirkung zeitigt!“
„Es ist doch klar, dass Befehle dieses Kalibers nur von höchsten Chargen hätten kommen dürfen.“, beeilte sich Gandauer. „Ich will jedoch darauf gar nicht pochen, sondern ich räume ihnen ein, dass die Ausführung dieses abwegigen Befehls der Sortierung des Menschenmaterials durchaus mit einem Gandauer in Verbindung gebracht werden könnte.“
„Also, Herr Ex-Kreisleiter Gandauer, bevor sie mit diesen konjunktivischen Albernheiten ihres Versteckenspiels fortfahren“, zürnte Sterzinger und stand ruckartig auf, „werde ich mich zurückziehen.“
Gandauer wollte protestieren, Sterzinger ließ ihn jedoch nicht zu Wort kommen: „Dieses Eingeständnis, dass sie Kreisleiter waren, das ist ja ohnedies ein toller Ertrag, den ich eingefahren habe. Und zwar gemessen an dem, was sonst so bei unseren Meetings herausgekommen ist. Nicht wahr, sie haben sich da verplappert? Jetzt bin ich in einer nachgerade absurden Situation: Von einem Kreisleiter steht nichts in ihrer Akte. Ich werde aber einen Teufel tun, es dort hineinzubringen!“ Damit hielt er den betreten dreinschauenden Gandauer überlegen lächelnd die Hand zum Gruß hin.
Piscator hatte das rechte Bein vorsichtig aus dem Bett gestreckt. „Nur ein paar Badetage“, mäkelte er. „Sofort dieser Verrat an der guten Laune!“
Das blasse, dünne Ding war wieder unter die Decke gezogen worden. Oben quengelte es weiter über die verhexte Gegend hier. Dass alle da im Sommer heizen müssten. „Abhauen von hier. Weg von hier! Auf eine Insel in der Südsee. Das viele Wasser hier dauernd vom Himmel.“
„Was?“, krächzte Rebekka heiser unter der Bettdecke hervor. Das hatte bedrohlich geklungen. Piscator warf sich herum, um nach ihr zu sehen. Sie war hervorgetaucht und wiederholte ihre Frage, eigentlich gut gelaunt: „Was nörgelst du da dauernd?“ Sie ließ ihm keine Zeit, etwas zu antworten. „Was? Was ist heute für einer? Der fuffzehnte August?“ Sie hatte sich, die unwirtliche Kälte missachtend, die Decke vom nackten Körper gerissen und sich ruckartig aufgesetzt. Piscator war nicht viel Zeit gegönnt, sie sinnlich zu mustern. Sie war flugs auf den Beinen, im Bad, bald angekleidet und trieb die Jungen lautstark aus den Federn.
Piscator wusste sich keinen Rat, als sich zum Schutz und auch aus Abscheu vor der ganzen Hektik die Decke über den Kopf zu ziehen.
Jetzt ging sie mit entschlossenen Schritten auf sein Lager zu und riss ihm das Federbett vom eingeigelten Körper. Er klagte über ihre Brutalität, demonstrativ zitternd, und angelte nach seiner Zudecke. Sie schien keine Zeit zu haben, sich weiter mit ihm abzugeben, und warf ihm das Federbett hin. Als er eine Weile in der sicheren Wärme lag, konnte er sich aus einem winzigen Sehschlitz zwischen seinem Plumeau und dem Kopfkissen doch noch dem Genuss von Rebekkas Erscheinung widmen. Sie war flugs in voller Aufmachung: Ein Kostüm, das er gar nicht kannte, ausgesprochen schick. „Welch ein Kontrast zu der immer halb offenen Kittelschürze mit den knautschigen Klamotten drunter!“ Etwas Schminke, Lippenstift und Lidschatten folgten. Als Dame huschte sie umher. „Du kannst dich gar nicht erinnern, sie je so gesehen zu haben“, beteuerte er sich.
In der Begeisterung hatte er seinen Kopf freigemacht. Es blieb ihm allerdings nur Zeit, sein Wohlgefallen mit einem Pfiff auszudrücken. Sie eröffnete ihm sofort ihre Pläne für diesen Tag: „Also, hör mal: Die Jungs schmeißt du nach dem Füttern raus. Die gehn auslüften, warn gestern den ganzen Tag in der Bude. Zieh ihnen die Friesennerze an und Gummistiefel. Mit dem Hund musst du auch mal raus. Du weißt ja. Dir schadet frische Luft auch nicht. Du siehst auch schon graugrün aus wie einer aus’m U-Boot.“
„Das Boot, dieser tolle Film hat seine Spuren hinterlassen!“, jubelte Piscator. „Da siehst du mal, dass das Fernsehen eine Bildungseinrichtung ist – und der Nazikrieg einen unerschöpflichen Vorrat an spannend zu designenden Märchen birgt!“
„Ich sag dir was, du Stubenclown: Solltest mal raus hier. Solltest mal sehen, wie wieder Knete in die Kasse kommt. Sonst verkommst du. Siehst eh bereits aus wie ein Penner!“ Das saß und hatte Piscator Stimme und Stimmung verschlagen. Sie achtete nicht darauf, sondern fuhr mit ihren Informationen fort: „Ich komm erst wieder am Abend. Vorher rechn nicht mit mir! Dann darfst du auch mal was von deinem windigen Grünzeug rausschmeißn. Weil, der Hund will da dauernd rumwühln. Muss den da dauernd wegtreiben. Wenn der da einmal reingepinkelt hat, dann macht er’s immer wieder!“
„Ja, he!“, staunte Piscator, „wohin machst du denn eigentlich?“
„Gehe anschaffn. Bisschen Geld verdienen, bei die Amis. Gibt ja hier genug, brauchen auch Tröstung die Jungs!“, ärgerte sie ihn.
„Lass den Quatsch!“
„Also nicht. Ich fahr nach Landsberg in den Knast. Das hab ich dir doch gesagt, dass ich da Besuche mache. Die Jungs brauchen das, dass man sie nicht vergisst. Der Pfarrer sagt immer, das ist für die Seele wie ein großes Fenster nach draußen, wenn da wer kommt.“
„Au, Seele!“, wimmerte Piscator, „und Pfarrer und du!“
„Die Kerls haben auch Leib, sag ich dir!“, rächte sich Rebekka. „Unter zwei Anträgen für alle möglichn Sachen, kann ich dir sagen, geh ich da nicht raus. Und die werdn mir verdammt scharf zugeflüstert. Wenn sie könnten, tätn sie’s auch. Bloß, da ist immer wer dazwischen!“, grinste sie.
Piscator wollte sich auf keinen Fall eingestehen, dass das bei ihm so etwas wie Eifersucht aktiviert haben könnte. Er verwarf diese Regung als seiner unwürdig.
„Was, da gehn dir die Augen auf?“, triumphierte sie und meinte dann, dass er sich ihr anschließen könne, sie werde ihn auf jeden Fall einmal vorsorglich ankündigen.
„Und wenn ich dann auch Heiratsanträge kriege?“
Mit einem scharfen „Depp!“, knallte sie die Tür hinter sich zu.
„Gut“, sagte sich Piscator, „du kannst die Jungen in den Tierpark schicken. Da machen die Onkels vom Zoo immer ein Ferienprogramm, stand in der Zeitung. Und die Raiffeisenbank karrt Kinder aus der Provinz an. Und McDonald’s bläst Luftballons auf. Da hast du dann Ruhe vor den Gören. Kannst wieder aufarbeiten.“
Dann machte er sich an die Verwirklichung seiner Pläne und kam sich dabei vor wie ehedem, als er noch unter den Normalen ... „Ja, was denn? Was ist denn normal? Die Normalmenschen sind doch nur jene statistisch ... Oder wo sich alle am häufigsten gegenseitig auf die Zehen treten, da ist normal.
Ist ja alles zum Kotzen, diese peinliche Existenz!
Mensch, in der Früh schon Existenz!“
Er holte seinen Papierkram hervor. Bevor er jedoch anfing, jagte er die Jungen hinaus.
Hatte sich im Betrieb rumgesprochen, notierte er dann in seinen Aufzeichnungen. Das mit deinem Parteieintritt. Ist nicht üblich gewesen, dass sich dort einer politisch äußerte. In unseren Rängen nicht. Vielleicht mal einer von den Arbeitern. Doch keiner von denen mit weißem Kragen. Geschweige denn, dass sich einer politisch offen betätigte. Dann auch noch so! Chef machte gelegentlich kurze, sehr deutliche Bemerkung wg. sozialistischer Politik im Bund. Reichlich abfällig. So dass niemand auf die Idee kam, in dieser Kritik auch noch herumzuturnen. Beklagte hohe Belastung der Wirtschaft, weil diese sozialistische Regierung die soziale Hängematte auf Kosten der Wirtschaft über Gebühr ausbaue. Wollte Unterstützung der bürgerlichen, unternehmerfreundlichen Opposition verstärken. Könne nicht so weitergehen: Arbeitsmoral sinke fortwährend und unaufhaltsam. Die Leute bekämen totales Anspruchsdenken: Wollten immer weniger arbeiten und hielten nur noch die Hand auf. Gegen Mitte der Siebziger.
Dachte mir: Sind alle zu feige, ihre politische Überzeugung zu zeigen, die Kollegen. Wusste darum, dass etliche Rot wählen, aber auf Tauchstation waren. Nach Eintritt Politkurs in Kochel – an der Akademie, die nach dem bayerischen Vorzeigsozialisten, Georg von Vollmar, benannt worden war. Kam theoretisch aufgeladen heim.
Stand jetzt über den Dingen. Hatte meinem Parteifreund, dem Bürgermeister, seine feige Lüge im Wahlkampf fast vergeben. Wollte ihm helfen, sich auch weiterhin gegen die eigentlich gegnerische Mehrheit durchzuschlagen. Bereitete erste Sitzung des Gemeinderates vor: alter Konservativer – Auslaufmodell – unserer Meinung nach der zweckdienlichste Zweite Bürgermeister. Gegenpartei mit fast doppelt so vielen Mandaten wollte einen neuen Zweiten aufbauen. Um einen eigenen Mann als Ersten bei der nächsten Wahl anbieten zu können, und zwar gegen den jetzigen Bürgermeister aus unseren Reihen. Wir durchschauten das sofort.
Versicherte alten Mann unserer Stimmen. Er war sichtlich angetan.
Erste Sitzung: Amtseid abgelegt. Der Zweite wurde mit unserer Hilfe gewählt.
Dann weiter: Genehmigung von einigen Bauplänen ohne Diskussion. Ein Zugereister wollte sich in einem alten Anwesen am Ortsrand ansiedeln. Er wolle Schafe halten. Stimmen wurden laut: Man müsse erst wissen, was das für einer ist, wolle Erkundigung einholen – der könnte ja sonst wen herziehen, ein Sozialfall werden oder für seine Schafe den einheimischen Bauern Grundstücke wegpachten, wo sie doch jeden Quadratmeter für die Kühe benötigten.
Einer wollte Kneipe aufmachen. Problem Parkplatzfrage und zu erwartender Lärm. Moralische Bedenken wurden laut – Jugend im Ort sehr trinkfreudig – verkniff mir anzufügen: nach Vätersitte und überkommenem Männlichkeitsritual. Ermahnung, keine Rowdys herzulassen. Genehmigung.
Bürgermeister fragte an, ob er eine Familie ins Gemeindehaus einziehen lassen dürfe. Dreißig Minuten kontroverse Diskussion über Gemeindevermögen im Allgemeinen und Würdigkeit der Anwärter – der Mann wechsle ständig den Arbeitsplatz und die Frau rauche und huste den ganzen Tag. Dann erinnerte sich einer, die Leute schon umziehen gesehen zu haben. Skandal. Unverschämtheit. Ein richtiger „Präsenz“-Fall, schrie einer. Ich warf mich ins Zeug für den Parteifreund, den Bürgermeister. Schließlich Duldung des Übergriffs nach Versiegen der Aufwallungen.
Piscator warf den Bleistift auf den Tisch. Der Hund war unruhig geworden. Das war für Piscator das Signal, mit ihm zur Entleerung zu gehen.
„Diese Rückblenden!“, klagte er sich im Aufzug abwärts. „Alles zerrt an dir: das Vieh hier an der Leine, deine Gedanken an den Nerven. Hattest immerhin alles hingehauen und bist getürmt. Und jetzt holst du dir wieder alles zurück?“
Er wollte heute weiter weg und ins Stadtinnere. Er musste unter Leute.
Ab und zu stehen bleiben und den Hund an etwas schnuppern lassen. Warten, als er einen Buckel machte, um etwas abzuschlagen. Während das Vieh sich abmühte, trat ein Mütterchen hinzu, beobachtete den Vorgang und beurteilte schließlich das Häufchen, das zum Vorschein gekommen war. War gar nicht zufrieden damit. Beanstandete das mangelhafte Ergebnis. Nörgelte, hart an der Grenze zur Beschimpfung der angeblich gewissenlosen Hundehalter. Die es heute massenweise gebe. Erteilte den dringenden Rat, endlich die einzig empfehlenswerte Futtermischung anzusetzen: Pansen und noch mal Pansen und etliche andere Zutaten! Piscator würgte es. Der Hund war noch nicht fertig und mühte sich weiter. „Es gibt noch Bescheuertere als dich!“, beruhigte sich Piscator. Dann hatte der Hund auch sein Verscharrungsritual beendet. Jetzt ging es weiter, sehr lange für seine Gewohnheit. Endlich die Altstadt. Das Ulrichsviertel, an dem sie herumrenovierten. Er dachte an die Türken und Kleinverdiener. Wo die dann landen, wenn die renovierten Altbauten an zahlungskräftige Zeitgenossen verscherbelt wurden. „Nicht wieder deine Sozialmacke!“, hielt er sich zurück. Es ging etwas bergauf. Er kam an der großen Kirche mit den hohen gotischen Fenstern vorbei. Nach rechts bog er jetzt ein in diese breite Straße, die zum Zentrum führt. Der Hund zerrte wieder an der Leine. Dann begegneten sie einem seiner frei herumlaufenden Artgenossen. Die Biester knurrten sich eine Weile an. Piscator hatte jedoch keine Angst, denn sein Tier war etwas größer als der Streuner. Nach kurzem Beschnuppern und einigen Versuchen, sich gegenseitig zu bespringen, konnte Piscator den Marsch in Richtung Merkurbrunnen fortsetzen. Der fremde Vierbeiner folgte in einem respektvollen Abstand.
„Müde Beine und trockene Kehle bekommen“, bedauerte er sich und ließ sich irgendwo bei Bewirtung nieder. Ein Bier zu sich nehmen. Leuten zuschauen: „Alles so beschwingt. Glauben alle, was zu tun zu haben, auch dann noch, wenn sie nichts zu tun haben. Es bei der Annahme jedoch belassen. Vielleicht auf Lebensprinzip erkannt. Einzig Gangbares. Doch schnell weg vom Prinzip!“
Ein Bier wurde ihm hingestellt.
„Das Rathaus vom Elias Holl betrachtet. Die Wucht solcher Fertigheiten. Du selber als Fertigheit – ganz entgegengesetzter Art! Wie du immer daran herumknobelst. Und doch immer wieder umbauen musst. Wer kann in seiner Konstruktionen schon auf Dauer hausen? Nicht mal in so was wie in einem psychischen Hundertwasser’schen Schmäh. Da haue ich doch lieber ab!“
Piscator leerte sein Glas. Die schale Neige. Er hätte sie am liebsten ausgespuckt. Doch er bildete sich ein, bereits beobachtet zu werden. Da brach er auf. Machte sich beinahe fluchtartig auf den Weg nach Hause.
Frank hatte einige Zeit geradezu darauf gelauert, Hilda wieder zu treffen. Natürlich trug diese Dauerbeschäftigung mit ihr nicht gerade dazu bei, den inneren Abstand zu ihr zu vergrößern. Schließlich saßen sie dann wieder in diesem Café ihrer ersten Begegnung und sogar etwas abseits, den Blicken der Allgemeinheit fast entzogen. In dieser äußeren Nähe mochte auch die innere zumindest etwas aufblühen. Plaudern über dieses und jenes. Scherzen und sich – trotz zumindest der bei ihm geradezu drängenden Anspannung – locker geben. Sich näherkommen, bis hin zum Streicheln ihrer Hand, kurz vor einem Küsschen vielleicht sogar.
Dann musste es bei ihm allerdings heraus – ganz behutsam, wenigstens zunächst: Wie sie das sehe, die Sache da um dieses abstoßende Getue um Kollektivierung – „Verzeihung!“, von ihm schnell nachgesetzt und übersetzt: „Horden-Power durch Selbstaufgabe ...“
Frank konnte gar nicht weiter ausholen. Die bei ihm eigentlich dazugehörende Formel von „Indoktrinierter Vermassung zugunsten der Gewinnung besagter Horden-Wucht“, musste er für sich behalten. Denn Hilda stieg sofort richtig engagiert ein. Sie übergoss Frank mit einem Redeschwall von Plädoyer für das alles, was da betrieben werde als Kern ihrer Denk- und Handlungsweise. Es sei erforderlich und unumgänglich und unverzichtbar, um das Volksganze, gefälligst nur den reinen Teil davon, zu befruchten, zu erhalten und zu fördern. Dabei hatte Hilda wieder dieses Funkeln der Augen in ihren von Eifer erröteten Zügen, das Frank aufs Neu so entzündete – und gewissermaßen über den Wust ihrer Ausschüttung hinwegsehen ließ. Ihre Rede gipfelte schließlich in einem Bekenntnis zu den seit Generationen bewährten Tugenden – sie vermied Rasse und beschränkte sich auf „Menschen des Herzens dieses Kontinents mit den tiefen Wurzeln in der Väter Art, von denen die ganze Welt eine Menge lernen kann“. Frank war noch mit seinem Erstaunen über diese Formulierung beschäftigt, da erhielt er auch bereits die Auskunft, dass sie, Hilda, fest entschlossen sei, als saubere Jungfrau in die Ehe zu gehen. Um, selber rein, der gereinigten Volksgemeinschaft auch erbmäßig saubere Kinder zu schenken.
Frank war absolut verdattert. Er blieb es noch eine ganze Weile. So war auch der Abschied ein wenig sonderbar: Sie als stolze, selbstbewusste und was sonst noch junge Frau und er als irgendwie verwirrter Konfusian.
Frank nahm, dann solo, wieder Platz, seine Blicke verloren sich im Irgendwo. Er grübelte vor sich hin. Gerade die von ihr zuletzt vorgetragene Erklärung hatte ihn völlig eingenommen. Sie begründete jetzt in ihm ein tiefes Gefühl von Hochachtung, wobei er ihr alles sonst nachsehen wollte von dem, was an Verquerem doch so tief in ihr zu stecken schien. Er bemäntelte mit dieser Hochachtung für ihr quasi Gelübte der Jungfräulichkeit seine bis jetzt mühsam als bloße Zuneigung getarnte, aber doch längst voll aufgeblühte Leidenschaft. Nun wagte er sich endlich, diese zu erhöhen und in den Stand der Liebe zu befördern. Ja, er wollte sich fortan gestatteten, nämliche angemessen zu genießen, da sie ja vor allem körperlich ins Bemühen um besagte Reinheit zu hüllen wäre.
Gandauer stand am offenen Fenster und warf seinen Spatzen kleine Bröckchen vor. „Endlich wieder ein Sommertag“, flüsterte er vor sich hin, „die Wärme noch zu dieser Stunde“. Er zog die Jacke aus. „Damals im Januar. Wie komme ich jetzt auf diesen Monat? Diese Eiseskälte. Als wir das zivile Breslau aufgegeben hatten. Zur Festung erklärt. Die Universität floh nach Dresden. Sonderbarer Gedanke, das jetzt. Der ganze Komplex lag dann verwaist. Leere Staatsgebäude. Das Regierungsgebäude am Lessingplatz und, und. Wie komme ich jetzt auf das? Diese Verwaltungsfabriken, ihre Ausgehöhltheit. Dann die Ruinenfelder. Die schöne Stadt. Heimat. Dieses gute Stück Deutschland. Manche Leute hatten ihre Türen abgeschlossen und wollten bald wiederkommen. Hinter den eingebildeten Panzerdivisionen, die der Führer von Böhmen aus in Richtung Breslau bereits in Marsch gesetzt haben wollte. Dieser Glaube immer noch, bis zum Ende. Die Gerüchte, die da kursierten. Die brünstige Propaganda schlief immer noch den Seelen bei und betrieb ihre Hoffnungsschwängerung. Pfui, Gandauer, Haltung! Immer war der Führer gegenwärtig im Denken und Reden und Tun. Und unterlief einem ein Fehler, konnte er es durchaus seufzen hören: ‘Wenn das der Führer wüsste!‘
Warum kann ich das nicht vergessen?
Dagegen euer leichtes Leben, ihr Vögel! Da nehmt!
Das ist kein Wunder, das mit diesen Gedanken. Wo sich doch gerade jetzt die ganze Medienlandschaft in Rückschau übt. Dieser fünfzigste Jahrestag des Kriegsausbruchs. September neununddreißig. Man kommt auf lauter solche Sachen. Vor den verlassenen Gebäuden damals die Aschehaufen der verbrannten Akten. Mein Volk, ein Volk von Archivaren – hatte seine Seele verbrannt. Dann auch noch diese jämmerlichen Kolonnen, die ich Sterzinger neulich zugemutet hatte. Abzug der russischen Kriegsgefangenen in Richtung Cottbus. Die mussten wir loswerden. Wie die Akten. Die KZ-Häftlinge aus Groß-Rosen. Die in den Fabriken eingesetzt waren. Die mussten wir auch loswerden. Alles noch Ende Januar. Wie viele sind auf der Strecke geblieben?
Warum erzähle ich das meinen Spatzen? Die bekanntlich ein Spatzenhirn haben. Gelegentlich wünsche ich mir allerdings, auch nur so ein bisschen im Schädel zu haben. Dass sich da nicht so viel ansammelt, weiß Gott.
Da habt ihr vorerst den Rest von meinem Brot! Ich empfinde reichlich Sympathie für euch. Mal sehen, ob ich die andere Schnitte auch noch opfere. Wenn ich gehe, wie auch immer, will ich wenigstens fette Spatzen zurücklassen.
Solche Endzeiten. Einer muss viel Fantasie aufbringen, um darin auch noch seine Rolle ordentlich spielen zu können. Da ist gar nicht so sehr die Logik gefragt, wenn es ums Fürchterliche geht mit seinem Eigenleben. Wenn es um Grausamkeiten geht. Da haben auch Schwachköpfe ihre kreative Chance. Als Urheber sogar und Betreiber. Das gibt dem Inferno immer eine ganz besondere Note. In solchen Endzeiten. Alles nur immer Denkbare kann immer noch ein bisschen überboten werden. Denn diese Schattenwelten sind potent, wie jeder weiß. Dem Menschen bleibt durch den Menschen nichts erspart. Warum nur haben wir den Teufel erfunden? Wir haben doch uns!
Die Russen sind nicht mehr aufzuhalten. Das habe ich doch dieser Gauleiterbestie Hanke ins Gesicht geschleudert. Siegen oder Untergehen, hat er gebrüllt. Seinen mörderischen Kitsch. Der hätte mich doch sofort an die Wand stellen können. Doch vielleicht wollte er es sich aufheben, irgendwie mit größerer Öffentlichkeit zelebrieren, als es im Augenblick möglich war?“
Gandauer wandte sich wieder seinen Spatzen zu und wollte sie aus seinem Handteller picken lassen. Er hatte jedoch keine Zeit, diesen Dressurakt zu Ende zu bringen, denn bald hörte er hinter sich ein Geräusch. Als er sich umdrehte, stand da einer im Raum. Gandauer war erst erschrocken, musterte dann die Gestalt: Ein großer Kerl stand da breitbeinig, fast unbeweglich. Ein Protz, die Muskelpakete spannten das eng anliegende Trägerhemd wie eine Wursthaut. „Das ist ja der vom Nachbartisch gestern“, fiel Gandauer ein, als er begann, die Tätowierung auszulesen.
„Darf bei dir eintreten, Engelchen?“, hörte Gandauer. Er ärgerte sich – und bot dennoch einen Platz an.
Der Eindringling nahm grinsend an, schwang den Stuhl zwischen seine Beine, setzte sich rittlings darauf und stützte seine Unterarme auf die Lehne.
„Was verschafft mir die Ehre?“, fragte Gandauer so, dass der ungebetene Gast den Frust raushören würde – und war überzeugt, dass das wieder so einer von Zeltniks Truppe und möglicherweise sein neuer Beschützer sein könnte.
„Pfeife auf die Ehre!“, wehrte der Protz ab. „Bloß mal so vorbeigeschaut“, gab er zunächst nur von sich. Dann leuchtete er jedoch richtig auf: „Hast mit die Vögl am Fenster rumgequatscht, ha?“
„Was sprechen sie eigentlich für einen Dialekt – und wie heißen sie eigentlich?“, wollte Gandauer wissen.
„Heiße Alex“, gab der zurück und fragte, ob Gandauer ihn nicht verstehe, so wie er „schwätzt“.
„Ein Tierfreund, wenn er nach den Spatzen fragt“, beruhigte sich Gandauer, „das sind meist friedliche Menschen“. Es entwickelte sich dann sogar ein wenig Plauderei: Dass die Knastspatzen mit Sicherheit die verwöhntesten seien. Nun ja, fast ausschließlich Brot. Allerdings dürfe es sich bei ihnen um die bestinformierten Vögel handeln, bei dem, was die alles erzählt bekommen.
„Ich habe den Spatzen gerade verraten, dass ich eigentlich längst erschossen sein müsste“, prahlte Gandauer – zur eigenen Überraschung. Alex staunte und erzählte, dass er auch einen gekannt habe, so einen Opa: „Mochte sechzig g‘wesen sein oder ein bissl drüber, und der war ein ganz scharfer Typ. Schon mal mit der Spritze Geld her oder da sind ein paar Löcher in der Garderobe. Bis sie ihn selber umgenietet haben. Die Bull‘n, natürlich.“
„Sie müssen bei mir immer sehr viel Zeit zurückrechnen!“, betonte Gandauer. „Das ist etwa fuffzig Jahre her, verstehen sie? Ein halbes Jahrhundert lebe ich immerhin bereits über mein eigentliches Verfallsdatum!“
„Ach so, ganz früher“, erkannte Alex, „ich hab mir schon denkt ...“
Bergner war plötzlich da und holte Alex zu irgendeiner amtlichen Verrichtung ab, die der offenbar verschwitzt hatte.
Gandauer war es ganz recht, dass er diesen Besuch los war. Er hatte sich mit seinem Verfallsdatum selber das Stichwort gegeben: „Eigentlich war da gelegentlich so ein geheimer Wunsch nach dem persönlichen Ende. Ich wollte ja eigentlich selber ... Wie so viele. In der Situation damals. Irgendwas Billigendes war da irgendwo im Bewusstsein. Der Wunsch, mit einer Kugel verabschiedet zu werden. Hanke hat mir den Gefallen nicht getan. Dieser Politkiller. Der hat mich tatsächlich verschont – oder vergessen oder übersehen, dass er dich auch an einer Laterne hätte aufknüpfen können, wie es beinahe üblich war zu der Zeit. Mit einem Schild umgehängt mit einem idiotischen Spruch drauf!
Wo habe ich nur das Brot hingetan? Man verblödet, das beginnt mit der Vergangenheit, die alles besetzt, dass vielleicht nichts mehr Platz hat.“
Gandauer versuchte abzuschalten. Als er dann nach seinem Taschentuch suchte, entdeckte er das Brot in seiner Jacke. Er ging gleich wieder zum Fenster, um die Spatzen anzulocken. Es dauerte eine Weile, bis einer angeflogen kam. Bald erschienen die anderen fünf. Gandauer warf ihnen mal ein größeres Stückchen, mal ein kleineres vor. Die emsigen Federknäuel vollführten Kunststücke, wenn es darum ging, einen besonders großen Brocken an sich zu bringen. „Ist nicht nur alles Kampf ums bloße Überleben, sondern auch ums Überlegensein. Aber wir haben diesen Kampf absolut entmenschlicht! – Hier friss!“
Seine Bewegung war etwas zu heftig gewesen. Der ganze Schwarm stob davon.
„Der Brachialglaube unserer Zeit. Wir besaßen große Hoffnung, uns aus unseren Misslichkeiten zu erlösen. Immer das Volksganze. Der Einzelne kam im Katechismus unseres Glaubens nur als Rädchen im Uhrwerk vor. Es war so. Ich habe es überall in meinen Reden so vertreten: Der Einzelne habe sich ins Volksganze mit Leistung und Nachwuchs einzubringen!
Die Viecher sind weg. Dann friss eben selber.
Ich konnte es wirklich schön formulieren. Diese Sache da. Sie haben mich damit im ganzen Gau herumgeschickt. – Wie gut trockenes Brot schmecken kann! – Überall, wo die Unvermeidbarkeit der Tausendjährigkeit des Dritten Reiches wieder mal beschworen werden musste. Und es musste dauernd, denn auch ein fester Glaube will regelmäßig gefüttert sein. Was war ich über diese Rolle des Parteifaktotums im Behufe der Langlebigkeit der Bewegung stolz. Nur möglichst keine weitere Verantwortung – womöglich all das den Volksgenossen in die Ohren Geblasene tatkräftig umsetzen? Sich die Hände schmutzig machen?
Herrgott. Ich bin rumgereist. In dieser braunen Uniform, ich Goldfasan, blauäugig wie Hans Albers, die blonde Hedwig zur Seite, Beifall und Zustimmung. Überzeugt, die Zukunft im Gepäck zu haben bei meiner Dauerreise zu den Volksgenossen. Und, verdammt, mein Wort-Gepäck war gar nicht so schwer.
Weil da im Koffer nur Wind war!“, bremste er sich schließlich selber aus.
Gandauer setzte sich wieder auf die Bettkante und wollte sich mit der Zeitung etwas ablenken. Kaum hatte er das Blatt aufgeschlagen, stand Alex wieder im Raum. Der berichtete, zwar noch etwas außer Puste, aber ohne Umschweife, dass da noch etwas angestanden sei von seiner Hausbesetzung in Berlin. „Diese Raffkes von Hauseigentümer hab‘n dauernd von Sachbeschädigung und solche Lügen gequasselt, wo doch die jungen Kund‘n alles in Ordnung gebracht hab‘n, wenigstens so, wie‘s für sie glangt hat, aber die Hauseigentümer wollten‘s kaputtgehen lassen, das weiß doch jeder. Denn so bescheuert is keiner. Dass sie‘s der Bank und der Versicherung verscherbeln können. Die wo das wegschieben können und dann so ein‘ stinkfeinen Palast draufsetzen und die armen Schweine wieder unter die Brücke und lauter so‘ne Verrat in dem Drecksstaat. Wo du Schlange stehen musst und Formblätter. Um an die Knete zu komm‘. Da is es gleich besser und zu versteh‘n. Wenn die Leute mit einer Spritze auf die Bank zum Einholen gehn oder irgendwas in die Luft jagen.“
„Das ist ziemlich harmlos, mein Junge“, kommentierte Gandauer. „Wir haben da ganz anders hingelangt. Vom Anfang bis zum Schluss. Warten sie, ich fange von hinten an und erzähle ihnen von einem, der mich fast an die Wand gestellt hatte. Der Gauleiter. Ein hohes Parteivieh. Das verrückte Aas ließ ganze Straßenzüge wegsprengen, um günstige Kampfräume zu schaffen. Wie der gelernte Müller feldherrlich behauptete. Er hat mich zur Sprengung der Häuser geschickt. Ich habe zwar bloß aufgeschrieben zum Merken. Aber das ist so gut, wie wenn ich es gemacht habe. Wenn man es genau nimmt, Alex, habe ich also ganze Häuserreihen niedergelegt, einen ganzen Stadtteil. Ich war zuerst ein bekannter Redner, müssen sie wissen. Und ich habe den Leuten diesen stinkenden Politkadaver als Frischfleisch angedreht. Aber das ist so gut, wie wenn ich selber so gestunken hätte. Einer macht sich eben gemein mit dem, was er vertritt.“
„Ha?“ Alex kannte sich nicht mehr aus. „Eine ganze Stadt kaputtmachen. Einfach so? Und selber so gestunken?“
„Glaubenssache, das!“, betonte Gandauer. „Der Hanke hat nur auf die nächste Bemerkung von diesem Odtke gewartet. – Sie müssen wissen, Alex, das war so ein Typ, dieser Odtke, der schlappgemacht hatte und aussteigen wollte. Aber steige mal aus einem Gefängnis aus! Da hat er sich dann einfach umgetauft, dieser Odtke.“
„So wie ‘n Auto klaun und neue Schilder dranmach‘n!“, leuchtete Alex ein „Farbe draufspritzen außen is‘ auch gut. Bloß die Nummern, wo innen eingestanzt sind. Die kriegste nicht so los!“
„Gut aufgepasst, Alex!“, lobte Gandauer und berichtete weiter: „Dieser Bonze wollte dem Odtke eine Bemerkung rauskitzeln, um ihn doch noch an die Wand stellen zu können. Um ihm für immer das Maul zu stopfen. Weil der Odtke so bescheuert war, das Maul aufzureißen, trotz Schlappmacherei – oder gerade deswegen. Dann hat sich der Hanke zum Ersatz den Bürgermeister Spielhagen gegriffen. Der hatte nämlich gegen das Ausradieren ganzer Stadtteile protestiert gehabt. Was der ganze Wahnsinn noch für einen Sinn habe bei der aussichtslosen Lage an der Front, hatte der Doktor Spielhagen gefragt. Der Spielhagen hatte von Odtkes Zoff mit Hanke gehört gehabt und wohl geglaubt, unter dem Odtke seinem Schutz sozusagen auch seinen Protest absetzen zu können. Weil der Odtke als auch einer mit Power bekannt war, von früher. Der Spielhagen hatte sich aber gründlich getäuscht. Denn bei dem Odtke war längst die Luft raus. Der war längst sozusagen gerupft und hat keine Fittiche mehr gehabt, unter die der jemand hätte nehmen können. Der Mörder fasste die Gelegenheit beim Schopf: Exekution vom Spielhagen Ende Januar am Denkmal vom Alten Fritz.“
Alex zog wortlos ab.
Gandauer war froh, wieder allein zu sein. Er lief im Raum umher. Dann setzte er sich. „Vielleicht muss es sein. Vielleicht musst du endlich vor eine andere Instanz. Und das alles wieder hersagen – auf Papier. Vielleicht sogar für Peters. Zum letzten Mal. Diesen Halunken Hanke immer im Hinterkopf.“
Gandauer notierte:
In Erwartung erster Angriffe von Osten her, die Vororte dort geräumt. Riesige Menschenmenge mit kleinem Gepäck unterwegs. Immer noch strömen Flüchtlinge herein. Mitte Februar Ring um Festung geschlossen. Russen greifen von Süden, dann von Westen her an. Heftige Kämpfe. Rückzug. Neuerlich Sprengung von Straßenzügen zum Zwecke der Kampfraumgewinnung, von Hanke angeordnet. Leute wieder in die zuerst geräumten östlichen Vororte zurück.
(Ich war bereits im Untergrund. Ein Odtke feierlich beigesetzt. Ein Gandauer als Fahnenflüchtigen in Abwesenheit zum Tode verurteilt.)
Geschützfeuer stundenlang. Bombenangriffe deutsche Luftabwehr matt, deutsche Luftwaffe nicht vorhanden. Russen suchen sich ihre Ziele ungestört aus: Häuser und Artilleriestellungen. In den Feuerpausen Lautsprecherbrüllen: Aufforderung zur Kapitulation. Und dann knallt es gleich wieder los.
Stimmung der Bevölkerung am Tiefpunkt. Tatsächlich doch Attentate auf Parteizentralen nach Muster zwanzigster Juli. Ich hellhörig. Denke über Kontaktaufnahme nach, vielleicht sogar Anschluss.
Lebensmittelmagazine werden geöffnet. Leute betäuben sich in ihren Kellern mit wüstem Leben. Stopfen ihre Keller mit Sachen voll, die sie aus verlassenen Wohnungen zusammengetragen haben. Es wird gar nicht mehr von Raub geredet. Nur ab und zu so jemand an die Wand. Standgerichte arbeiten unablässig. Klientel: Wehrverweigerer, Überläufer, Kapitulationsforderer, Verächtlichmacher, Wehrkraftzersetzer.
Ersatz für Flugplatz Gandau Anfang März erforderlich. Friesenwiese bei Scheitnig nach wochenlanger Schanzarbeit zu klein für Versorgungsflugzeuge. Sprengung der Wohnviertel östlich der Kaiserbrücke für größere Anlage. Arbeitskräfte durch Dienstpflicht für Knaben ab zehn, Mädchen ab zwölf Jahren. Todesstrafe bei Verweigerung. Täglich abzustempelnde Arbeitskarte. Arbeitende Menschenmassen Zielscheibe für russischen Beschuss.
Vergrößerung der Probleme mit der Bevölkerung. Hinrichtungsstätte Kletschkau. Verbrennungsöfen der Universitätsanatomie genügen großem Anfall nicht mehr. Erdbestattung. Wenn nicht möglich, mit Trümmerschutt überdeckt.
Ostermontag pausenloses Bombardement. Berge von Toten.
Verschüttete. Stadt in Flammen!.
Lage der Stadt hoffnungslos: Wie eine einsame Insel liegt Breslau, die einzige Festung Schlesiens nur noch, nachdem Glogau Anfang April gefallen war, inmitten der über dem Land zusammenschlagenden Russenflut. Das scharfe Edikt des Oberkommandos der Wehrmacht vom zwölften April, das, von Himmler und Bormann unterzeichnet, die in den Städten eingesetzten Kampfkommandanten bei vorzeitiger Kapitulation mit dem Tode bedrohte. Das Exempel an General Lasch, der wegen der Übergabe der Festung Königsberg zum Tode verurteilt worden war, ließ eine Übergabe Breslaus in ungewisse Ferne rücken.
Zwanzigster April: Führers Geburtstag gefeiert. Stadtkommandant verteilt Schokolade an Frauen und Kinder.
Vierzehn entsetzlich zermürbende Tage und Nächte.
Fünfter Mai: Waffenruhe für die deutsche Front, mit Ausnahme der Ostfront. Gefährliche Stimmung unter den Leuten. Meuterei droht.
Kommandantur Waffen gegen eigene Bevölkerung gerichtet!
Gauleiter Hanke per Flugzeug getürmt!
„Nein!“ Gandauer warf den Stift auf den Tisch.
Er hatte plötzlich Brandgeruch in der Nase. Als er sich umdrehte, sah er Cziflic mit einer Selbstgedrehten.
Gandauer staunte, war jedoch ganz froh, jetzt aus seinen Albträumen gerissen zu sein. Er forderte Cziflic auf, Platz zu nehmen. Cziflic erzählte, dass er zunächst verschubt worden war, aber sich bereits länger wieder im Hause befinde. Bloß hatte er eine Aufschlusssperre abzubrummen gehabt, weil er sich wieder einen Kollegen ordentlich ins Gebet genommen hatte.
Gandauer hörte zu, hatte allerdings noch einmal zum Stift gegriffen und notierte jetzt seinen letzten Satz: „Gandauer ist tot. Er ist mit seinem Breslau gestorben.“
Cziflic hatte mitgelesen. Er fragte grinsend: „Sag mal, bist du sicher, dass du nicht doch ‘n bissl spinnst?“
„Wer kann sich da je sicher sein?“
Die beiden Jungen waren voll in Aktion. Sie arbeiteten mit einiger Lautstärke schon früh am Morgen ihre Erlebnisse vom Zoo auf. Piscator erhob sich stöhnend.
Die Zebras wie Pferde mit lauter Weiß und Schwarz, so Streifen, eigentlich schrill! Piscator wollte sich vom Badezimmer her in den Lärm einbringen: „Pferd in Schlafanzug!“ Als darauf nicht mal ein Kichern zu hören war, begann er zu erklären, dass die Männer früher auch gestreifte Schlafanzüge hatten. Er merkte jedoch, dass seine Kommentare eher als Einmischung wirkten. Er wollte jedoch am Ball bleiben. Als er dann verriet, dass er so ein gestreiftes Ding lange im Schrank hatte, kam der Kommentar, dass mackige Typen so was Klamottiges im Bett anhaben. Auch dass es möglich sei, dass er einfach etwas daherlüge, um sich wichtig zu machen.
Piscator ärgerte sich etwas. „Verulken kannst du dich selber genug, wenn du dich nur im Spiegel ansiehst. Jetzt, wo du nicht mehr den bürgerlichen Uniformschutz von Anzug und Krawatte und von dem ganzen Pipapo hast. Die glatte Rasur, den spießigen Fassonschnitt. Alles weggelassen. Jetzt bist du du selber. Hier nackt vor dir. Wer hätte je über einen Witz von dir gelacht. Da hast du dich schon selber als Witz einbringen müssen. Auf dem Dorf hatten sie auch immer andere Witze. Über die du meist auch nur aus Freundlichkeit das Gesicht etwas verzogen hattest. Es gibt so sehr unterschiedliche Vorstellungen von Lustigkeit. Vielleicht gibt es sogar Menschen, die witzbehindert sind. Das ist so ein stilles, leicht zu versteckendes Gebrechen. Dein Gaudium war auch meist ein anderes. Wenn sie im Gemeinderat darüber Diskussion hielten, ob ein Kanaldeckel mit seiner Perforation in Fahrtrichtung der Straße oder quer dazu eingebaut werden müsse. Da war dann einer draufgekommen: Man möge Radfahrer fragen nach ihrer Erfahrung, wenn sie mit einer schmalen Bereifung mal in einen solchen Schlitz vom Deckel, den sie in Richtung Fahrbahn eingebaut hatten, geraten waren. – Sich über eine solche Diskussion boshaft freuen können: Das war ich. Das musste ja schiefgehen mit mir bei denen!“
Von riesigen Elefanten war draußen wieder zu hören: „... viel größer als die im Fernsehen“. – „Au, Scheiße!“ – „He, Markus, sag nich immer Scheiße!“ – „Nee, schön die Elefanten.“ – „Nein, so dreckig. Die im Fernseher sind immer sauber, und im Bilderbuch! Im Bilderbuch ist immer alles sauber!“ – „Bei den Steinböcken – Rebekka sagt immer, sie ist auch ein Steinbock, blöd, da liegen lauter kleine Schusser rum.“ – „Du Dödel, das ist doch die Scheiße von denen!“ – „Und die stehen auch immer da und glotzen nur. Auf was die warten?“ – „Die Enten sind dort nicht so schlau wie Donald Duck, trotzdem ziemlich nett, wenn sie so loswatscheln.“
„Mensch, der ist bescheuert!“, schrie Markus. „Hörst du, Rebekka? Wenn der so doofes Zeug redet, nehmen sie ihn wieder nicht in der richtigen Schule! Dann kommt er in die Hilfsschule!“
Amadeus begann zu heulen. Rebekka zischte von der Küche her nur das Wort Schule. Der Petzer plauderte aber ungeniert weiter: Von Seehunden, die einen ungeheuren Zahn drauf hatten beim Schwimmen; von Füchsen, bei denen es irrsinnig stank – fast so wie aus dem Kanal oder in der Schule in der Türkenklasse ...
„Waaas?“, klang es bedrohlich aus der Küche.
„Das heißt so bei uns unter die Boys“, kam die etwas kleinlaute Antwort. Da war dann auch Amadeus wieder mit von der Partie: „Und die Affen, wie die rumturnen, und die vielen Leute ...“
„Geh in den Zoo, und du siehst dich selber“, stellte Piscator am Frühstückstisch betont weise fest.
„Ich weiß was für Hund und Kinder – und dich!“
„Habe ich ein Glück, dass ich nicht an erster Stelle genannt bin!“
„Heute ist es schön draußen. Sonne. Geht doch spazieren! Weißt du, Schule ist jetzt keine, da können die vom Amt keinen auf Schulzwang machen!“
Erstaunt fragte Piscator, was dieses scheußliche Wort vom Zwang bedeute.
Die Jungen grinsten wissend.
„Die Kinder werden beim Wegbleiben ohne Wisch fürs Kranksein von jemand vom Amt mit immer einem Bullen aus der Wohnung gezerrt und in die Schule getrieben“, erklärte Rebekka leidend, fuhr aber gleich munter fort: „Jetzt ist ja keine Schule, und da können die den Markus nicht wegschleppen.“
„Was es alles gibt“, wunderte sich Piscator, während bei ihm das Bedürfnis aufkam, dem armen Kind, dem noch unbedrohten gleich mit, seinen besonderen Schutz angedeihen zu lassen. Er erhob sich, um Rebekkas Wunsch zu erfüllen.
Die Bengel nörgelten zwar, als ihnen das Vorhaben eröffnet wurde, waren dann jedoch unter der Bedingung bereit, wieder in den Tierpark zu dürfen. Das hätte sich bei Piscator dann beinahe auf die Stimmung geschlagen, weil er es mit Viehzeug, wie er zugab, nicht so gut konnte. Die Existenz dieses zotteligen Vierbeiners in seinen vier Wänden forderte bereits seine Geduld voll und ganz. Seine Laune brachte er dadurch ins Lot, dass er erinnerte, dass neben dem Gelände für das Vieh der Botanische Garten war, wo er sich – für seine noch arg in der Entwicklung steckenden Urwaldfreuden daheim – entschädigen wollte.
Auf ging’s, mit den beiden Jungen und dem Hund.
„Mensch, pass doch auf!“ Er hatte den Kleinen am Kragen gepackt und von der Straße zurückgerissen.
„Was meint ihr, was ich für einen Anpfiff krieg von Rebekka, wenn ich euch zerquetscht wieder nach Hause bringe? Platt wie zermatschte Tomaten!“
Die Jungen meinten nichts.
„Ah, kennt ihr den? Da gehen zwei Tomaten über die Straße. Kommt ein Auto. Flutsch! Matsch! Eine is völlig platt. Sagt die andere: ‘Come on, Catchup!’“. Er freute sich zwar selber vernehmlich über seine olle Kamelle. Doch die Jungen wollten sich keinen entsprechenden Laut abringen. Piscator war enttäuscht.
Er hatte einen Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite geworfen. Eher flüchtig, doch da fuhr ihm ein Schrecken in die Knochen. Mensch, der Kerl da drüben! Den kennst du doch! Schlimmer, wenn er dich erkannt hat! Wenn der das war!
Fluchend machte er sich davon und zerrte seinen Anhang mit sich. Mensch, der Schertle vom Konstruktionsbüro! Der Schertle, einer von denen, die die hervorragenden Pläne für das berühmte Kanonenzubehör machten. Oder wie das Zeug heißt. Dieser auf der ganzen Welt nachgefragte Vernichtungsschrott, dieser unmoralische. Und dieser Konstruktionstischtäter da drüben.
Die Jungen maulten. Warum er denn mit seinen langen Haxen so renne?
Er machte kürzere Schritte. Dass die bedauernswerten Friedensgewinnler nur unter Risiken mit ihrem kriegstauglichen Friedenserhaltungsschund handeln könnten, spottete er in sich hinein. „Ach, keiner gönnt ihnen ihr Gerafftes. Dass sie klammheimlich geschröpft werden. Von Gutmenschen meines Schlages. Ja, sie haben’s nicht leicht. Überall zur Kasse gebeten. Dass sie sich selber tief in die Tasche greifen müssen. Für die Schmierung des Apparates, der Lobbyisten und des ganzen Geschmeiß’, das sich die Hände hinwischt!“ Piscator hatte seine Schritte wieder beschleunigt, um ans Ziel zu gelangen. Auch spürte er das Bedürfnis, sich irgendwie unter Leute zu verkriechen.
Er hatte sich dann mit guten Ratschlägen von den Jungen getrennt, um sich Botanischer Garten, Kaffee und Zeitungslektüre zu gönnen.
Am späten Nachmittag waren sie dann hungrig und seitens der Jungen voll Erzählfreude heimgekehrt. Piscator war etwas niedergeschlagen. In Anbetracht der pflanzlichen Pracht im botanischen Garten, der Vielfalt, des üppigen Wuchses – der Illusion von Weite und Ferne auch, der er sich hingegeben hatte –, wagte er gar nicht, zu seinen Kümmerlingen in den Töpfen hinzusehen. Was zu üppigem Bewuchs, wenn auch nur Abbild von Urwald gedeihen sollte, mickerte in Töpfen, die meistens noch größer waren als ihr grüner Inhalt.
Beim Essen wurde er von seinem Kummer etwas abgelenkt. Rebekka schwärmte von der Ruhe, die sie beim Fernsehen genossen habe und servierte das mit einigen Geschichten davon. Sie gab gleich die Order, es morgen wieder so zu halten wie heute. Und Piscator dachte sofort darüber nach, welches Programm jenseits von geballter Natur er da bieten könnte.
Da kam ihm der Gedanke, dass es in dieser wohl zweitausend Jahre alten Stadt viel altes Zeug zu sehen geben müsse. „Mensch“, sagte er sich, „davon kannst du ein wenig erzählen. Geschichtliche Sprüche klopfen und so. Wo die Geschichte ist, da gibt es dann auch Geschichten“, bestärkte er sich und spann sich gleich etwas zurecht: „Sankt Ulrich, freilich, der Stadtpatron. Der das letzte Brot in der Stadt über die Mauer aus der Stadt geworfen hätte. Um diese mordlustigen Ungarn zu bluffen, die der Stadt zugesetzt hatten und sie aushungern wollten. Etwas nach neunhundert war das“, kramte er sich aus der Schulzeit her. „So dass diese Luder annehmen mussten, sie hätten sich noch ein wenig länger da vor den Mauern rumzutreiben. Doch dann kam ja Otto, der gute König. Der schlug das heidnische Pack ordentlich aufs Haupt. Dass es wieder nach Ungarn abgehauen und katholisch geworden ist. – Ob die Kinder so was hören wollen? – Probieren! Und erst einmal mit der Afra-Story beginnen!“ Er wandte sich den beiden zu: „He, Jungs, hört mal her! Morgen gleich zeige ich euch was in der Stadt! Da gehn wir zu Ulrich und der Afra. Und zwar in einen tiefen Keller, wo Kerzen brennen und wo die Leute rumfrömmeln und nur flüstern. Da steht ein Sarkophag!“
Was ein Sarkophag sei?
„Das ist ein großer steinerner Trog. Sieht aus wie eine Badewanne. Mit einem großen steinernen Deckel drauf. Drinnen liegen Knochen meistens nur noch von einem Menschen oder gar nichts mehr.“
Ob die denn kein Grab geschaufelt haben früher? Ob ein Sarkophag auch so stinke wie die Badewanne hier im Bad? Immer mit dem Dreckwasser?
„Das riecht da nach Kerzen. So wie immer Weihnachtsbaum. Das war damals so. Und besonders Heilige und Bischöfe haben sie so eingemacht.“
„Das weiß ich, was das für ein Typ ist“, informierte Markus seinen jüngeren Bruder, „der läuft immer so ‘rum wie der Nikolaus!“
„Ja, und in einer solchen Wanne liegt die Afra. Mit der war das so: Die war aus Afrika und die hat als Mädchen das mit den Jungens nicht so genau genommen. Sagen die Leute. Die allerdings nicht dabei waren. Dann ist Afra auch katholisch geworden und richtig gut wie alle, die fest katholisch sind. Genau das hat ihre alten Freunde, die nichtsnutzige Heiden waren, fürchterlich geärgert. Die Afra ist jetzt immer in die Kirche gegangen und die Heiden hatten keinen Spaß mehr mit ihr. Dann ist sie einfach umgebracht worden. Drauf ist sie heilig geworden. Und die gehn wir uns morgen ansehen!“
„Bei der Afra, die ich aus der Religionsstunde kenne“, erinnerte sich Rebekka, „beginnt das Märchen immer erst mit der Taufe und dass die drauf gleich heilig war. Nicht Verdacht mit Ferkelei.“
„Jeder hat so seinen Blickwinkel“, erklärte Piscator nur. Er wollte jetzt Rebekka nicht auch noch seine Auffassung von den vielen Gesichtern der Zeiten antun. „Wenn Mutter Geschichte nicht beleidigt ist, dass sie immer wieder mal angeschmiert wird, dann spinnt sie morgen noch ihr Garn“, sagte er nur. „Bleiben wir bei der Krypta. Keller ist für Jungen doch immer aufregend. Besonders, wenn es da irgendwie gespenstisch ist.“
Rebekka war zum Fernseher gegangen, um den Kampf der Jungen zu schlichten, der dort entstanden war. Bevor sie dann irgendeinen amerikanischen Kinderzoff für sich und die beiden auf der Mattscheibe hatte, waren Nachrichten. Nur ein paar Fetzen davon, und gleich weiter gezappt. Die DDR sei nun auch vierzig Jahre alt und hat das gehörig gefeiert. Da rumort es allerorten, hatte Piscator noch mitgekriegt. Während sich die anderen am bunten Mattscheibendurcheiander vergnügten, fiel ihm wieder ein Spruch ein, den er heute irgendwo aufgeschnappt hatte: „Ein Land teilt man nicht. Denn ein Berg gehört zu seinem Tal.“ Er fühlte so etwas wie Romantik. Er musste wieder an diesen Film von der Grenzvermessung denken und auch daran, dass er daraufhin, wie er grinsend meinte, herumvisioniert hatte. „Allerdings jetzt in der Wirklichkeit bleiben“, bestimmte sich Piscator, und ging Richtung Schlafzimmer.
„Du bist doch ein Politischer!“, begann Rebekka, als sie im Bett waren.
Erstaunt fragte Piscator, wie und warum sie jetzt darauf komme.
„Einfach so. Nur so.“
„Das hat doch einen Grund!“, regte er sich auf. „Ich weiß gar nicht, was dich daran interessiert. Das liegt im Übrigen lange hinter mir!“
„Da schau her!“, triumphierte sie und war zu einem Geständnis bereit: „Ich hab dein Geschreibsel da aus der Schublade gelesen. Mensch, wenn ich denk, du warst mal einer von denen da, die überall drin sind, wo’s was zum Holen gibt. Und die ihre Finger überall drin habn. Die in jeden Scheiß langen und sich dann ihre schmierigen Pfoten an den Leuten abwischn. So ein Feiner. Einer von obn drauf. Hast du auch so abgesahnt, ha? Und auf’m Bauerndorf ...“
„Was du so daherredest!“
„Schreibst du weiter?“, wollte sie wissen.
„Das muss raus, ist so, wie wenn du aufs Klo musst“, bemühte er sich um Abstand.
„Wenn ich dir erzähln tät’, was bei mir alles ...“
„Da gibt es eigentlich auch nichts mehr“, unterbrach sie Piscator wieder.
„In Landsberg sitzt auch ein Politischer“, sagte sie nach einer Weile. „Ein feiner alter Onkel. Solln Dutzend Menschn auf’m Gewissen habn. So wie die von damals alle ihren Dreck am Stecken haben. Schaut aber ganz anständig aus. So’n richtig lieber Opa, wie ich mir’n für die Kinder wünschen tät.“
„Sie sind der Herr Fischer, wurde mir gesagt. Es freut mich außerordentlich, Herr Fischer, dass sie sich die Mühe machen. Ich heiße Gandauer“, stellte er sich gut gelaunt vor. „Sie sehen an meinem Aufenthalt hier, dass ich es weitergebracht habe als sie vielleicht. Denn mich hält sogar der Staat im Futter und ist interessiert an meiner Vita.“
Piscator hatte im Raum umhergeschaut, die Leute beobachtet, die Einrichtung gemustert, dabei nicht so sehr auf Gandauers Worte geachtet. Der hatte das bemerkt und es als typisch zwischen Jung und Alt hingenommen. „Bis von so weit her, alle Wetter!“, fuhr er in seiner Begrüßung fort. Er reichte seinem Gast die Hand: „Sie kommen doch von Augsburg? Setzen wir uns doch!“
Piscator gelang fürs Erste nur ein kurzer Gruß. Die Umgebung hier ließ ihn nicht los. „Es ist gar nicht Knast wie einer ihn sich vielleicht vorstellt“, überlegte er, „nicht so karg wie ein ausgefegter Viehstall.“
„Ich war früher ab und zu in Augsburg“, verriet Gandauer seinem Besucher.
„Interessant“, kam von dem nur. „Es ist hier eher bemüht zivilisiert“, war er noch in Gedanken. „Aber Knast bleibt Knast.“
„Eigentlich eine Weltstadt. Was halt davon noch vorhanden ist.“
„Ja, eher polierte Provinz. Die Geschichte schreitet mit riesigen Schritten voran, die unsere ...“, brach Piscator im Satz ab und wunderte sich über die eigenen Worte.
„Doch sie haben sich, Herr Fischer, dankenswerterweise aufgemacht, in dieser sonderbaren Einrichtung einen Altdeutschen zu besuchen!“ Piscator blickte Gandauer an und nickte freundlich. Die Erscheinung seines Gegenübers verwirrte Piscator ein wenig. „Knast ist wie Kaserne.“ Ihm vermischte sich das. Dabei glitt ihm Gandauer im Nu in die Schablone von einer drahtigen Offiziersfigur. „Nicht der Rede wert, mein Herr!“, haspelte Piscator beinahe militärisch stramm herunter: „Ist mir ein Bedürfnis, dergleichen zu tun! Unterstelle mithin, einige Bereicherung daraus zu gewinnen. Gewinn aus der Begegnung zu erzielen.“
„Aha, Gewinn!“, amüsierte sich Gandauer. „Sagen sie doch bitte, betreiben sie irgendeinen Handel?“
Piscator hatte den Hintersinn dieser Bemerkung nicht gleich erfasst und fragte, ob ihm sein eigentlicher Beruf denn immer noch so sehr anzusehen sei. „Nicht wahr, jeder ist, wodurch er geworden ist!“, schloss er und gab sich Mühe, bedeutungsvoll dreinzuschauen.
„O ja, das gefällt mir gut! Man ist, wodurch man ist! Also, wer zum Beispiel durch Betrug etwas geworden ist, der ist und bleibt Betrüger!“, sinnierte Gandauer – und hatte gar nicht bemerkt, wie seinen Besucher diese Worte sichtlich peinlich waren. „Das werde ich mir merken“, meinte Gandauer und schüttelte den Kopf. „Wozu eigentlich?“, fragte er sich und fuhr dann zu seinem Gast gewandt fort: „Also sie sind ein Kaufmann, wodurch auch immer.“ Er beeilte sich zu beteuern, dass er Piscator mit seiner Einlassung da um das Gewinnstreben nicht etwa habe zu nahe treten wollen.
Erst jetzt begriff Piscator. Er kam sich etwas dumm vor. „Lassen wir doch das Eröffnungsgeplänkel.“
„Ja, ich habe mir in meinem Leben eine Menge unverbindliches Geschwätz anhören müssen“, bekannte Gandauer, „vermutlich habe ich auch selber viel Geräusch dieser Qualität produziert. Wenn sie einem alten Mann gestatten, ein wenig zu resümieren. Wenn sich einer mal an den hohlen Klang von Worten gewöhnt hat, ist er nicht mehr weit davon entfernt, ihn für angemessen zu halten. Es belässt alles dabei so schön ruhig im Unverbindlichen.“
„Es ist möglicherweise so.“ Piscator schaute wieder umher.
„Was allerdings niemanden daran hindert, seine Gemeinheiten eben im Verborgenen zu platzieren, sozusagen im Klangschatten, vielleicht sogar diplomatisch verpackt. Was die Gemeinheit vielleicht auch noch wirkungsvoller macht. Aber genug damit!“
„Nein, nein, das hat mir gut gefallen!“, beteuerte Piscator. „Damit sie sehen, dass ich ihnen darin beipflichte, erlaube ich mir zu ergänzen: Diese Art Auffassung von Anstand hat die Menschen nicht gebessert, sondern im Gegenteil gefährlicher, nämlich heimtückischer werden lassen.“
„Wobei allerdings die Frage zu stellen wäre, ob es die Funktion des Anstandes ist, die Menschheit zu bessern.“ Sie freuten sich über ihre Versuche.
„Darf ich sie um eines bitten, Herr Gandauer, nennen sie mich doch Piscator, einfach so.“ Als Piscator bei diesen Worten etwas an Gandauer vorbei wieder im Raum umherschaute, entdeckte er ein paar Tische weiter Rebekka. Sie saß da und plauderte angeregt mit einem jungen Mann. Piscator musterte diese Gestalt im eng anliegenden achselfreien Dress, er schaute auf die stramm gewölbten Fleischmassen, die aus dem Hemdchen quollen und tätowiert waren.
Gandauer bemerkte Piscators Abwesenheit und verfolgte seine Blicke. Der Mensch mit den Bildern auf der Haut war ihm gleich beim Eintreten aufgefallen. Gandauer versuchte, das Gespräch fortzuführen: „Darf ich rätseln, warum sie diesen Namen Piscator wünschen?“, fragte er. „Das reizt mich natürlich, denn da gibt es eine Reihe von Einstiegmöglichkeiten.“ Er pochte wie ein Schulmeister auf die Tischplatte, so dass Piscator ihn ansah. „Aber ich werde nicht unsere wertvolle Zeit hier mit Mutmaßungen vertun.“ Piscator bedankte sich flüchtig, schielte aber schon wieder zu dem Tisch hinüber. „Ich werde im Alleingang darüber reflektieren und bei Erfolg demnächst Vortrag halten. Das ist ja gleich ein Vorschlag für unsere nächste Sitzung! – Sie kommen doch wieder? Es würde mich jedenfalls freuen!“ Er nickte Piscator, der ihn etwas erstaunt ansah, zu und fuhr dann fort, einem plötzlichen Einfall folgend: „Es gibt so viele Menschen, die mit ihrem richtigen Namen nicht zurechtkommen!“
Piscator wendete sich ruckartig zu Gandauer. „Ich komme gerne wieder“, beteuerte er, „es macht ehrlich Spaß, sich mit ihnen zu unterhalten. – Ich komme, so oft und so lange es eben noch geht.“ Dann war er gleich wieder bei Rebekka und diesem Muskelgemälde. Es machte ihn nervös, wie die beiden plauderten und ungeniert scherzten, dass auch bereits die Leute im Raum hinsahen.
„... so lange es eben noch geht“, wiederholte Gandauer. „Dieses Noch gibt mir ein Rätsel auf“, versuchte er, seinen Gesprächspartner wieder zu gewinnen. „Sie müssen wissen, Herr Piscator, ich bin ein begeisterter Rätselfreund: Kreuzworträtsel, Kriminalromane und solche Sachen. Damit habe ich meine langen, einsamen Abende verbracht. Und dort, wo ich bis vor kurzem noch meine Zeit verbracht hatte, nämlich in einem Dorf im Bayerischen Wald“, berichtete er. „Dort, dürfen sie mir glauben, hat ein alleinstehender Mensch die Einsamkeit als ständigen Begleiter.“
„Ach, aus dem Bayrischen Wald sind sie“, kam es von Piscator, ohne dass der die dort drüben aus den Augen gelassen hätte. „Der Bayrische Wald, das Ende der Welt. Wenigstens der unseren!“ Er bemühte sich gleich, wenigstens einige Gesprächsfetzen aus Rebekkas Unterhaltung aufzuschnappen.
Gandauer zupfte Piscator am Ärmel: „Verzeihung, haben sie etwa für sich Veränderungen zu erwarten?“, fragte Gandauer besorgt. „Denn sie deuteten da etwas an, als sie sagten: So lange es noch geht.“ Piscator reagierte nicht gleich. „Ist da etwas Einschneidendes bei ihnen in Gang, was sie irgendwann daran hindern könnte, frei zu entscheiden, wohin sie sich begeben?“, forschte Gandauer.
Erst jetzt ging Piscator auf, was er vorhin so dahergeredet hatte. Er haspelte verlegen etwas herunter von einer ziemlich sonderbaren Lage, in der er sich zurzeit befinde, von einer Übergangssituation, von einer Wartestellung. Dann fing er sich jedoch und bekannte: „Kurzum, es kann jeden Augenblick geschehen, dass sie mich abholen!“
„Ach so!“, fiel Gandauer zunächst nur ein. Es trat eine kurze Pause ein, während der jeder nur so vor sich hinsah. Plötzlich legte Gandauer die Hand auf Piscators Arm: „Das kenne ich gut, mein Freund. Wie sie begreifen und letztlich durch meinen augenblicklichen Aufenthaltsort bestätigt finden.“ Er schaute Piscator kopfnickend an. „Das kenne ich aus eigener Anschauung“, lachte Gandauer trocken und fügte gespielt leidend hinzu: „Ein halbes Leben lang habe ich das durchgemacht. Beim Stallausmisten, fünfundvierzig, gleich nach Ladenschluss, wie wir sagten, hat mich das verfolgt; dann in der Zeit der Internierung, bis ich entnazifiziert war; später hat es mich bei der Fabrikarbeit verfolgt, als ich Stahlhelme in Kochtöpfe umprägte; am Ende sogar noch beim Aktenwälzen im Amt. Von Kronach bis Freyung. Da half der Wisch von der Entnazifizierung auch nichts. Denn nicht, was irgendwo notiert ist, sondern nur das, was in einem selber fixiert ist, das gilt wirklich.“
Piscator schwieg, und Gandauer wusste gar nicht, ob er überhaupt zugehört hatte.
„Ich kann ihnen eines verraten“, machte Gandauer weiter. „Es ist ganz ernst gemeint, auch wenn es etwas zynisch klingen sollte: Wenn es dann vorbei ist, ich meine, wenn die – wie soll ich sagen? – Häscher – ein altes, heute fast lächerlich klingendes Wort – nun, das macht nichts ... Wenn die Häscher also ihre Arbeit getan haben, dann ist das wie eine Erlösung. Sonderbar: Es ist eine innere Befreiung, auch wenn es äußerlich in die Unfreiheit führt.“ Gandauer nickte Piscator freundlich zu, als wolle er ihm Mut machen.
„... so ein Quatsch, mit Waffengewalt – mit Waffengewalt, heißt das beim Staatsanwalt ...“, war auf einmal von Rebekkas Tisch her zu hören. Der Aufsichtsbeamte war von seinem Stuhl aufgesprungen und stand zum Eingreifen bereit da. Es war für einen Moment ganz still im Raum. Alle sahen hinüber und warteten auf die Fortsetzung. Rebekka aber nahm den aufgebrachten Mann bei der Hand. Das schien ihn zu beruhigen.
Piscator hatte genau zugesehen. Seine Hände zitterten. „Ich habe meine Existenz in die Luft gesprengt“, bekannte er, kaum vernehmbar, „doch das Echo von dem Knall hat mich bis jetzt noch nicht ganz erreicht!“
Gandauer war überrascht. Er wusste nicht, ob er darauf reagieren sollte.
Piscator aber hatte keinen Blick von der Szene gelassen. Jetzt wurde er unruhig, blickte auf Rebekka, dann auf den Kerl ihr gegenüber, warf immer wieder den Kopf herum und sah auch Gandauer kurz an. „Ihr Alten, ihr von damals! Ihr habt Krieg gemacht! Und so viele Existenzen in die Luft gesprengt!“, fuhr es dann Piscator mit einem Mal heraus. „Unsereiner, auch der Idiot da drüben, wir ... – Was geht mich der Knallkopf da drüben an? – Ich dagegen habe nur mit einer Kleinigkeit, einer winzig kleinen Quichotterie gegen einen von den verdammten Gewinnlern des Kalten Krieges gekämpft. Der immerhin die Nachgeburt von eurem Weltkriegsdebakel ist.“ Piscator holte tief Luft und stierte verlegen auf die Tischplatte. Es war ihm peinlich. „Jetzt haben sie so eine Art Geständnis von mir und wissen Bescheid über meinen vorhin angedeuteten Wartestand. Und dass ich vermutlich auch verloren habe, nämlich meinen Krieg.“ Dann ging ein Ruck durch seinen ganzen Körper: „Aber ich habe eben nur ein wenig von meiner eigene Stellung verloren und nicht etwa so viel, wie ihr aufs Spiel gesetzt und verschwendet hattet!“
Gandauer war überrascht. Er dachte sich, dass es immer ist wie bei den Kindern, wenn die was angestellt haben, suchen sie gerne nach dem Schlimmeren bei den anderen. Er schwieg. Piscator war allerdings auch bereits wieder bei der Szene an diesem Tisch drüben.
Gandauer ärgerte sich nun doch ein wenig. „Nun gut, sie stellen dar, was wir Alten verbrochen haben ...“ Er sprach zunächst nicht weiter, so als habe er es sich doch anders überlegt. „Nun gut. Was tut ihr denn heute?“, fuhr er dann doch fort. „Frage mich immer, warum ihr mit einer kindischen Beharrlichkeit den deutlichen Ausdruck von Erfolg des derzeitigen Politsystems überseht. Ihr Heutigen. Ich glaube es ihnen anzusehen, dass sie doch auch zu diesen Neinsagern gehören. Was wollen sie denn eigentlich? Wir finden heute eine Demokratie vor, in der es sich gut leben lässt, zumal wir daran arbeiten können – wenn wir nur wollten!“ Dann wurde er sogar lauter: „Ich sage ihnen, wir damals hatten kaum eine Möglichkeit, den ersten Demokratieversuch in den Zwanzigerjahren zu akzeptieren. Dieses lächerliche Theater ...“
„Darf hier geraucht werden?“, unterbrach Piscator nervös und kramte auch gleich in seiner Jackentasche. Ohne abzuwarten, fing er an, sich eine Zigarette zu drehen.
„Nun, entschuldigen sie“, wollte Gandauer zu Ende kommen. „Was mich betrifft, so können sie sicher sein, dass ich da keine Anklage gegen sie oder gar ihre ganze Generation formuliert haben wollte.“
„Anklage?“, kam nur von Piscator.
„Selbstverständlich nicht gleich gegen eine ganze Generation. Wenn sie noch gestatten: Ihr habt es doch gut heute ...“ Er brach ab und sah Piscator zu, wie der sich mühte, den Tabak in das Blättchen zu bekommen. „Er zittert“, bemerkte Gandauer und schwieg. „Dauernd beobachtet er die beiden am Tisch dort drüben.“
„Wir waren obrigkeitshörig erzogen“, mühte sich Gandauer, und es war ihm jetzt eigentlich egal, ob Piscator richtig zuhörte, „dressiert waren wir! Wir wussten nichts sonst, als dauernd auf die Stimmen von oben zu lauschen. Die vom Kaiser. Auch auf die vom lieben Gott – gedolmetscht vom Pfarrer.“ Er schmunzelte. „Stellen sie sich vor, ich habe tatsächlich noch einen Zipfel von der Kaiserzeit mitgekriegt!“ Doch Piscator stellte sich nichts dergleichen vor, er war gerade mit dem Verkleben des Zigarettenpapiers beschäftigt. Zudem schienen die am anderen Tisch den Stress bewältigt zu haben. Rebekka hatte die Hände von diesem Kerl losgelassen.
„Ihr heute ignoriert die sichtbaren Erfolge eures Staates“, versuchte es Gandauer erneut. „Und ihr seid überhaupt ganz anders erzogen worden als wir damals! Wenn ihr nicht gerade ignoriert, dann räsoniert ihr herum. Und dann die vielen Aussteiger bei euch!“
Endlich war Piscator so weit mit seiner Zigarette. Gandauer sah zu, wie das unförmige Ding, das da aus Piscators Mund ragte, angezündet wurde. Zunächst loderte eine Flamme auf und verzehrte das leere Ende, dann begann es zu qualmen. Piscator schaute nach ein paar tiefen Zügen befriedigt drein und gab Gandauer mit einem Blick zu verstehen, dass er fortfahren könne.
„Die ganz Überdrehten unter euch, die sprengen Menschen in die Luft oder sie zünden Kaufhäuser an. Um gegen den Zug der Zeit zu protestieren, auf dessen Trittbrett sie ungeniert mitfahren!“
„Ist aber jetzt gar nicht mehr in! Kaufhaus ist lange nicht mehr abgefackelt worden!“, wandte Piscator ein und blies den Rauch in die Luft. „Zurzeit ist eigentlich gar nichts mehr so richtig in. Jeder sieht nur auf sich. Und alle machen eben mit sich selber einen spaßig drauf.“
An den Tischen hatten sie sich bereits erhoben, und der Aufsichtsbeamte stand schlüsselklappernd da. Sie verabschiedeten sich.
Zum Ärger Piscators war Rebekka mit einem Bündel Fragen aus ihrem intensiven Gespräch an einem Beamten hängen geblieben. Er hatte allein das Gebäude verlassen und musste noch eine ganze Weile auf sie warten. Nachdem er wieder einigermaßen bei Laune war, schritt er gemächlich vor dem Torbau auf und ab. Er betrachtete Bauwerk und Grünanlage, schaute den auf der Bundesstraße vorbeifahrenden Autos nach und entdeckte auf der Seite gegenüber ein fast an der Straße gelegenes, eigentlich stattliches, doch etwas heruntergekommenes Haus. Trotz des zum Teil schon ausgebrochenen Putzes war der verschnörkelte Zierrat noch deutlich. „Jugendstil“, wollte er erkennen. „Freilich, aus der Zeit des Altbaus vom Knast“, stellte er fest.
Zwei Männer waren vor das Tor getreten und standen da, vermutlich ebenfalls wartend, allmählich in eine Unterhaltung vertieft. Piscator gelangte bei seinem Hin und Her immer wieder in ihre Nähe, so dass er Gesprächsfetzen aufschnappte. Nach und nach setzte er sich die Fragmente zusammen. Es machte Spaß, zumal er darin in dem Maße fortschreitend erfolgreich war, wie die beiden Diskutanten immer heftiger und damit immer lauter wurden.
Als dann Rebekka kam, konnte er ihr berichten, dass das alte Haus dort drüben bei den Leuten in der Stadt Khomeini-Villa genannt wurde. Nach dem jüngst verblichenen iranischen Oberheiligen mit seinem Gottesstaat, der den Schah verjagt hatte. Grund dafür sei, dass dort lauter Asylanten untergebracht worden seien. Wegen des Verkehrslärms, nämlich direkt an der sehr stark befahrenen Bundesstraße gelegen, wollte vermutlich kein Einheimischer mehr dort wohnen. Piscator wusste aus seiner nur mehr oder minder unfreiwilligen Lauschaktion auch zu berichten, dass es sich in den Augen der Leute bei den jetzigen Insassen vermutlich um etliche Kriminelle, Drogenhändler und solches Volk handle. Viele würden auch in dieser Gegend bleiben. Allerdings erst nach gerichtlich erzwungenem und wieder mit Steuermitteln finanziertem Umzug zur gegenüberliegenden staatlichen Adresse.
Die Aussprache im Café hatte Frank sich seine Liebe zu Hilda bekennen und in Hochachtung hüllen lassen. Das schien ihm in dieser Ummantelung sogar in seiner zwar immer noch offenen Entscheidung, sich vielleicht zum vatikanischen Seelenhirten ausbilden zu lassen, durchaus annehmbar und sogar praktikabel. Pfarrhaushalt, war ihm aufgeblitzt – was er allerdings lauthals weggelacht hatte.
Sein Versuch jedoch, auf diese ihm allmählich als wirklich abschreckend bewusst gewordene Gruppe Einfluss zu nehmen, musste er überdenken. Eine neue Strategie sei zu entwickeln, war ihm klar. „Du musst den völlig Gleichgeschalteten spielen!“, beauftragte er wieder einmal in innerer Distanz den Du-Teil von sich. Diesem Gedanken begrinste er: „Auf diese Weise wirst du dir vielleicht einmal erklären können, dass dein Eigentliches, nämlich dein wirkliches Ich, quasi in innerer Emigration war. Das ist auf alle Fälle die historisch verbürgte Übung von Teilen der Generation, von deren Wahnsinn deine fraglichen Freunde leider wieder total erfasst sind.“ In dieser Stimmung genehmigte er sich sogar den Einfall, dass er mit diesem Strategiewechsel auch Hilda geistig näher käme – „natürlich nur“, setzte er sich schnell nach, „um sie später von ihren Irrtümern erlösen zu können“.
„Ich werde aus dieser natürlich nur zum Schein angepassten Rolle heraus diesen Verirrten etwas Grundsätzliches empfehlen“, nahm er sich vor: „Weg vom Fiese-Kerle-Image, denn Bürgerschreck lockt nur Außenseiter der primitivsten Sorte an. Ich werde das hetzrednerische, mit Grölen flankierte Kämpferische als ungeeignet darstellen für das anzustrebende In-der-und-für-die-Gesellschaft-Sein. Ich werde ihnen die ihrer Ideologie zugrundeliegende Kollektive nicht in Abrede stellen. Aber, um sie davon abzuschrecken, nicht zu erwähnen vergessen, dass sich auch die Bolschewisten ihrer bedienten. Ich werde empfehlen, stattdessen den Ausdruck Team zu gebrauchen. Dieses Wort finde sich bereits im Altenglischen, also immerhin Nordischen, und gehe sprachgeschichtlich sogar in Richtung Zaum, sei demnach durchaus auch irgendwie mit mannhafter Gewalt zu verbinden, gegebenenfalls sogar sich selber gegenüber. Mit Kandare anlegen! Weiterhin solle auch nicht von völkisch Ganzem geredet werden, um nicht in Verdacht zu geraten, historische Anknüpfung an eine doch mehr oder minder von der heutigen Gesellschaft abgelehnte rassistische Vergangenheit heraufzubeschwören. Und dass Fremdenfeindlichkeit nicht offenbar werden dürfe, hingegen klar zum Ausdruck kommen könne, dass durchaus Bereitschaft zur Hilfe in schwierigen, problembeladenen fremden Heimaten bestehe. Sie dürften sich dabei ruhig denken, sogar vorsichtig äußern: Diese Außenhilfe könne dazu beitragen, diese Menschen in ihren eigenen Ländern zu halten.“ Frank musste nach diesem planerischen Gewaltakt gleichsam geistig Luft holen und sich in Gedanken jenseits davon etwas verschnaufen.
"Fieslinge mit Grölkonzerten ...“, fiel es Frank dann doch richtig an. „Eine Kopfgeburt, dein Vorschlags für besagten Strategiewechsel!“, sah er ein. „Sie würden mir diesen Plan als überspannt und mit ihrer Art von Nachdruck womöglich tätlich um die Ohren hauen!“, ging ihm auf. „Ich muss ihnen Krawatte und weißes Hemd empfehlen. Oder nein! Besser, sie nicht gleich wieder ins andere Extrem zu schicken versuchen mit so einer Verkleidung! Nur ganz normale Alltagsklamotten. Vielleicht einen Deut ordentlicher! Im öffentlichen Leben, wie es so schön heißt, sollen sie ganz normal auftreten. Friedliches soziales Engagement in Hilfseinrichtungen. Dann möglichst Eigenangebote: Die Mädchen bieten Kinderbetreuung an, möglichst in Gebieten sozialer Brennpunkte, wie ja Elendsviertel bezeichnet werden.
Mit
Hilda darüber reden! Ist ja noch mal so eine Möglichkeit, in ihrer Nähe zu
sein. Du Verführer – deiner selbst!“
Plötzlich stand Alex da.
„Potz Blitz!“, Gandauers Gruß.
Alex grinste, grüßte und schwang sich in bekannter Weise den Stuhl unter. Er hatte sich noch nicht ganz niedergelassen, da begann er gleich, das Gespräch auf den Besuchstag neulich zu bringen. Was das für einer gewesen sei, dieser schwindsüchtige Kerl. Gandauer verteidigte Piscator, indem er ihn als guten Mensch darstellte, was man bereits aus der Tatsache schließen könne, dass er Knastbesuche mache.
Alex äußerte den Verdacht, dass die beiden etwas miteinander hätten, und pries Rebekka als tolles Weib, das für diesen Kerl viel zu schade sei.
Diese Vermutung störte Gandauer. Er fabelte daher etwas, ohne sich weitere Gedanken zu machen, von einer Zufallsbekanntschaft Rebekkas mit Piscator auf dem Weg hierher zum Knastbesuch. Alex verabschiedete sich zufrieden, berichtete noch, dass er hier bald rauskomme, weil er seine Strafe wegen der Sache mit der Kinderpistole in der Bank fast abgebrummt habe. Gandauer war froh, dass er dieses Exemplar Furchterregung bald los sein würde.
Dann war es wieder Zeit. Im Besucherraum waren bereits die meisten Tische besetzt, es herrschte eine eigenartig gedämpfte Atmosphäre. Die Leute flüsterten beinahe nur miteinander. Gandauer schaute umher und konnte Piscator ausmachen.
„Ich bin auch politisch aktiv gewesen, Herr Gandauer! Das sollen sie wissen“, begann Piscator gleich. „Guten Tag!“
„Ach, sieh mal an. Das ist ja interessant. Warum sagen sie ‘auch’?“
„Also, es wird behauptet ...“ antwortete Piscator etwas verlegen, „man sagt, sie seien ebenfalls politisch tätig gewesen. Ich habe das so aufgeschnappt.“
„Scheint verbreitetes Gesprächsthema zu sein. Es ist mir im Grunde gleichgültig“, sagte Gandauer zunächst etwas abweisend, er ließ sich dann jedoch auf das Thema ein: „Das ist lange her. Das ist, wie man so daherredet, gar nicht mehr wahr, so lange ist das her, dass ich ein politischer Mensch war.“
„Das ist so ein Ausdruck“, freute sich Piscator: „Es ist so lange her, dass es ... Das haben die Leute in meinem Dorf gerne gesagt. wenn sie mit etwas nicht mehr angemacht werden wollten! Ich meine die Leute mit ihrem gesunden Menschenverstand. Wenn sie wissen, was dieser für eine Allzweckwaffe ist ...“
„Das klang etwas bissig!“, unterbrach Gandauer.
„Der gesunde Menschenverstand ist ein äußerst praktisches Mittel, er dient als Beweis. Dass sich einer nur auf den gesunden Menschenverstand zu berufen braucht ...“
„Sie charakterisieren den Stammtisch!“, vermutete Gandauer.
Piscator war noch am Ball: „Es ist eine Art absoluter Unverdrossenheit.“
Während sich Piscator mühte, war Gandauer die Unterhaltung mit Alex eingefallen. Das baldige Ende seiner Strafe und seine Verehrung dieser Rebekka da drüben. Gandauer machte sich Sorgen.
„Ich habe ihnen das letzte Mal ein wenig gebeichtet“, wechselte Piscator das Thema, „wissen sie noch? Ich hatte wenigstens etwas von meinen Konflikten angedeutet ...“
„Also, das ist mir noch geläufig, dass einer beim Beichten nicht nur andeuten darf, wenn es eine Wirkung haben soll mit der Vergebung!“, unterbrach Gandauer freundlich.
„Ich habe mich politisch betätigt“, berichtete Piscator, „und zwar dort, wo Politik eigentlich beginnen sollte: direkt vor der Haustür, in einem kleinen Dorf. Eben dort, wo die Leute mit dem besagten gesunden Menschenverstand zuhause sind.“
„Respekt, Herr Kollege“, zollte Gandauer Beifall. „Ich war nämlich Stadtrat in Breslau, also auch Kommunalpolitiker!“
„Donnerwetter, in einer Großstadt! Das war dann auch kein solcher Feierabendjob wie der meine.“
Sie nickten sich anerkennend zu.
„Ich gestehe ihnen gleich eines, Herr Gandauer: Ich bin gescheitert, um das sofort zu offenbaren ...“ Piscator stockte etwas. „Ich bin gescheitert wie sie, wie ihre ganze Generation, wenn sie gestatten und mir das nicht übelnehmen. Muss natürlich hinzufügen – wie letzthin schon erwähnt –, dass mein Scheitern geringere Ausmaße hatte, unvergleichbar harmloser war und nicht gleich Weltgeschichte!“
„Gut, wenn wir so viele Gemeinsamkeiten haben, wenn auch auf gewiss sehr unterschiedlicher Ebene, Herr Piscator!“, stimmte Gandauer zu. „Ach ja, Piscator! Ich habe im Lexikon nachgesehen. Nennen sie sich nach dem Humanisten des sechzehnten Jahrhunderts oder nach dem Regisseur aus unserem Jahrhundert?“
Piscator war erleichtert, dass Gandauer das Thema gewechselt hatte. „Ich habe natürlich auch nachgesehen und herausgefunden, dass mein großer Namensvetter Erwin Piscator als Kommunist bezeichnet wurde.“
„Kommunismus. Ich weiß nicht, wo sie politisch stehen. Wir haben gegen diesen bis aufs Blut gekämpft. Das ist eine Ideologie, der ich aus ganz natürlichen Gründen nicht nahestehen konnte. Überhaupt, wer leistet sich heute noch eine Ideologie, wo sich doch eine stets wandelbare Gebrauchsmoral ... – Also, den Begriff habe ich erst irgendwo aufgeschnappt. Der ist doch prima! Eine Gebrauchsmoral ist viel zweckmäßiger und handlicher als so etwas Starres und Unbequemes wie eine Ideologie.“
„Ich werde mir Gebrauchsmoral merken.“
„Was hat sie denn bewogen, sich mit Politik zu beschäftigen?“, wollte Gandauer wissen.
„Der allgemeine Trend zu Beginn der Siebziger“, erklärte Piscator. „Einfach das Gerede von Demokratie und der erforderlichen, ja, wie behauptet wurde, lebensnotwendigen Aktivität der Demokraten ...“ Er überdachte seine Formulierung – und Gandauer genoss es, Piscator sich damit plagen zu wissen.
„Sie kommen mit dem Ding Demokratie nicht ganz zurecht!“, behauptete Gandauer dann.
„Was war denn eigentlich mein Motiv, mich politisch zu betätigen?“ Gandauer bekam den Eindruck, als führte Piscator ein Selbstgespräch. „Ich habe kürzlich versucht, darüber etwas zu schreiben.“ Er überlegte. „Aber das Motiv für dieses Schreiben? – Ja, ich wollte einfach auf Papier sprechen. – Wenn das nicht gleich etwas seltsam klingt!“
„Wenn sie damit so große Schwierigkeiten haben, werde ich ihnen verraten, Herr Piscator, was mich damals in die Politik trieb: Es war das Bedürfnis, etwas zu tun, nicht nur zuzusehen und leeres Gerede anzuhören. Dieses Durcheinander in den Quasselbuden, wie wir damals die Parlamente nannten. Im Übrigen war in dem Viertel in Breslau, in dem meine Eltern ein Gasthaus besaßen, von den Arbeitern her ein ziemlich scharfer linker Ton an der Tagesordnung. Sie werden begreifen, in welche politische Richtung ich als Sohn bürgerlicher Eltern eigentlich nur gehen konnte. Das nationale Element lag bei uns in Schlesien als Grenzland sowieso nahe.“ Er dachte kurz nach: „Ha! Mein Vater hat 1921 mit der Jagdflinte in der Faust am Annaberg gegen die Polen gekämpft!“, kam ihm plötzlich in Erinnerung. „Dieser Betrug als Auslöser: Die Mehrheit hatte sich nämlich für den Verbleib beim Reich entschieden gehabt. Der Völkerbund hatte trotzdem einen Teil Schlesiens Polen zugeschlagen!“ Gandauer hatte zur Bekräftigung seiner Worte mit der Rechten herumgefuchtelt, bei seinem Gast allerdings kaum Interesse erwecken können. Er saß wieder ruhig da. Die Unterhaltung war ins Stocken geraten. Von dem gestiegenen Geräuschpegel im Raum umschwappt, hingen beide noch ein wenig ihren Gedanken nach.
Piscator kramte dann aus seiner Tasche sein Tabakpäckchen und fing wieder zu wuzeln an. Gandauer schaute Piscator zu und wartete. Piscator wollte es heute nicht gelingen, und das Zusehen machte Gandauer nervös. Da fiel ihm Alex wieder ein. Er dachte an eine durchaus mögliche Begegnung der beiden. Piscator tat ihm leid. Der war inzwischen doch fertig geworden. Als das unförmige Ding qualmte, schaute er zufrieden im Raum umher. Er konnte Rebekka nicht entdecken. An Gandauer vorbeiblickend, suchte er sie in einer der anderen Gesprächsgruppen.
„Ein buntes Publikum“, stellte Piscator fest. „Da sind offenbar auch feine Leute darunter. Alle meinen immer, dass im Knast nur abgerissenes Lumpenpack einsitze!“ Er blies ein Wölkchen in die Luft und erhob sich, hielt Gandauer die Hand hin und bedankte sich nach seinem Abschiedsgruß für den Begriff der Gebrauchsmoral, den er immer noch so toll fand.
Sie verließen den Raum.
„Ich werde mich an die Atmosphäre in einem solchen Schuppen gewöhnen müssen“, sagte sich Piscator beim Hinausgehen.
Jetzt tauchte Sterzinger wieder auf, warf in gewohnter Weise das abgeschabte Köfferchen auf den Tisch und begann hinter dem hochgeklappten Deckel in seinen Akten zu blättern. „Wo habe ich denn nur dieses vermaledeite Schreiben?“ Er wurde zunehmend hektischer. „Ach“, er schlug den Koffer zu, „sie können das genaue Datum selber aus der ihnen beigeschlossenen Kopie ersehen!“
„Werde ich da in Handschellen vorgeführt?“
„Ganz sicher nicht“, entgegnete Sterzinger. „Der äußere Rahmen ist allerdings nicht mein Problem. Mein Problem kennen sie ziemlich gut, Herr Gandauer! Wir sind unter Zeitdruck geraten!“ Er kramte wieder, die besorgten Blicke in seinen Aktenkoffer gesenkt.
„Wenn ich nur wüsste, wie ich ihnen und der Justiz helfen könnte, als im Sinne der Anklage ...“
„Aha, da haben wir es!“, rief Sterzinger so laut, dass Gandauer fast erschrak – und hielt die Akte in die Höhe. Dann warf er das Geheft auf den Tisch. „So, sie wissen nicht, wie sie mir helfen könnten!“, kam er zur Sache. Er richtete einen stechenden Blick auf Gandauer: „Um das einmal ganz klar herauszustellen: Ich vertrete als Anwalt nicht die Justiz, sondern meinen Klienten! In diesem mich über Gebühr nervlich strapazierenden Fall nämlich sie, mein Herr. Vielleicht besitzen sie die Güte, es mir allmählich zu ermöglichen, ihre Rechte gegenüber der Anklage angemessen zu vertreten. Und zwar dadurch, dass sie mir die erforderlichen Informationen über Hintergründe, nämlich die ganze Verwurzelung der Fakten, die sozusagen zwischen den Zeilen der Anklageschrift zu erblicken sein könnten, zuteilwerden lassen!“ Er war noch in Rage. Ohne dass er Gandauers Reaktion abwartete, setzte er im Stil einer Einvernahme an: „Gandauer und so weiter und so weiter, das hatten wir ja doch bereits bestätigt bekommen ...“
„In meinem Pass steht das so!“, bekräftigte Gandauer.
Sterzinger blickte ihn verärgert an. „Sie sind Akademiker, nämlich Landwirt?“
„Ich habe nie davon Gebrauch gemacht“, beeilte sich Gandauer. „Ich meine, was eine dienstliche Laufbahn anbelangt, auch nicht im Privaten! Das ist einfach so in meinen Papieren mitgewandert“, fügte er beinahe entschuldigend an.
„Diplomlandwirt“, wiederholte Sterzinger.
„SS-Himmler war diplomierter Landwirt!“, bemerkte Gandauer.
„Was soll das?“, regte sich Sterzinger auf.
„Ich berichte ihnen weiter aus der Biografie des Gandauer ...“
„Welch ein Glück!“, kam es von Sterzinger grimmig.
„... soweit ich davon eben überhaupt weiß. Denn sie werden über die Tätigkeit besagten Gandauers im Dritten Reich auch etwas wissen wollen.“
„Ein Rest von Respekt verbietet mir natürlich, dieses ihr Neben-sich-Stehen meschugge zu nennen!“, fuhr es Sterzinger heraus. „Aber angedeutet möchte ich es wenigstens einmal haben!“
„Ich war vor dreiunddreißig arbeitslos. Schulden bis zum Hals nach einem Misserfolg mit einer Kofferfabrikation. Gründung einer Fabrikation zur Auswertung meines zweiten Patents: Karbidlampe für Fahrräder. Eine gute Sache! – Sie lachen? Soll ich ihnen das Prinzip erklären? Nicht? Also nicht! – Nun gut, die Leute damals wollten auch nichts davon wissen, geschweige denn es kaufen. Pleite. Mein Gott, wie so viele auch. Parteieintritt. Schließlich mittlerer Parteibeamter ...“
„Na, sehen sie, das scheint allmählich normal zu werden mit ihnen!“
„Dieses Subjekt Gandauer erhielt seine Chance – wie jeder Mensch, der im Leben lange genug auf eine Gelegenheit warten kann. Man muss es sich vor Augen halten: In der freien Wirtschaft gescheitert, hatte er in dieser politischen Position schließlich seine Erfüllung gefunden. Mit Gandauer kann also auch ein beliebtes Klischee bestens bedient werden. Also, dieses Subjekt gerät in den letzten Tagen unseres geliebten Breslau, nämlich erst Ende April fünfundvierzig, in das Blickfeld und damit in die Klauen dieses Parteibonzen Hanke – und nicht, wie von der Staatsanwaltschaft fälschlich behauptet wird, bereits am siebzehnten Februar im Zusammenhang mit den zu diesem Zeitpunkt eingeführten Standgerichten! So lange, wie offenbar behauptet wird, hat Gandauer gar nicht ... So lange konnte Gandauer gar nicht seine eigene, möglicherweise recht überbordende Vorstellung von Recht und Ordnung in die Tat umsetzen. Gegen die Behauptung, er habe eine anhaltend kriminelle Energie entwickelt, muss ich den Gandauer wirklich in Schutz nehmen ...“
„Vielleicht schlüpfen sie doch wieder ganz in ihre Person! Es hört sich nämlich ziemlich sonderbar an, wie sie daherreden: über sich, und zwar aus einem Jenseits von sich! Allerdings ist es mir momentan wurscht. Ich habe mittlerweile Übung im Umgang mit ihnen“, warf Sterzinger ein. „Wichtiger sind mir Beweise für das von ihnen Vorgetragene!“
„Am Anfang leitete nämlich die standrechtliche Vollstreckung so ein willfähriges Subjekt, das allerdings auch sehr bald irgendwie selber ums Leben gekommen ist. Mir ist der Name entfallen. Wissen sie, die Leute starben ja wie die Fliegen, so wie zu Zeiten der Pest – in dieser Kriegspest. Alle waren vom gewaltsamen Tod bedroht. Auch die Henker. Dieser Hanke witterte wohl bei Gandauer etwas. Was ein richtiger Geier ist, der hat eben diese Nase für das Aas. Dann nahm vermutlich alles seinen Lauf: Eine kleine graue Maus wurde zum Raubtier!“
„Klingt ja wie ein Geständnis des Gandauer, Herr Gandauer!“, merkte Sterzinger bissig an.
„Schnelles Handeln war Hankes Stärke. Zubeißen wie eine Giftschlange. Aber aus der Sicht der Betreiber des Terrors auch wieder erforderlich bei dem steten Ansteigen der Zahl von Todeskandidaten aus der immer unruhiger werdenden Bevölkerung, die trotz der immer drakonischeren Anordnungen bald nicht mehr zu bändigen war. Die guten Leute, die sich ein gutes Jahrzehnt gut dressiert gegeben hatten, wollten zum Teil nicht mehr – als alles kaputt war. Dass in dieser Lage die Ordnungsorgane immer härter zupacken mussten, ist irgendwo verständlich. Aktion und Reaktion hatten sich gegenseitig hochgeschaukelt. Dass dieser Gandauer wie alle Leute in einer solchen Rolle damals nach Rechtsmaßstäben friedlicher Zeiten nicht zu beurteilen ist, leuchtet wohl auch ein.“
„Glauben sie ja nicht, dass ich mir jetzt den Luxus erlauben werde, mit ihnen eine rechtsphilosophische Diskussion über Extremsituationen und Menschenrechte vom Zaune zu brechen!“, ärgerte sich Sterzinger. „Ich denke, die Justiz muss sich heute nicht gerade den Vorwurf gefallen lassen, die Täter von damals über die Maßen hart angepackt zu haben. Und zwar in Anbetracht der Tatsache, dass bei heutiger Rechtsfindung in Fällen, die den Zeitraum des Dritten Reiches betreffen, die zu jener Zeit gültige Rechtslage gebührend – manche behaupten allerdings übergebührlich – gewürdigt wurde und auch noch wird.“
Gandauer hatte mit unbewegter Miene zugehört. „Selbst wenn sie schlecht waren, die Leute. Wissen sie, in guten Zeiten kann einer leicht gut sein! Es sind die schlechten Verhältnisse gewesen. Die haben auch die Leute schlechtgemacht! Es wird nicht umsonst über den Krieg gesagt, dass er die Menschen verdirbt, körperlich sowieso, aber auch seelisch. Sie wandeln sich zum Negativen, um überleben zu können. Dieser Gandauer wurde möglicherweise aus eigener Lebensangst zum Täter!“
„Das ist hier ja ganz interessant“, nuschelte Sterzinger, ein Blatt aus der Akte überfliegend. Er blickte auf: „Doch tun sie mir und sich selber den Gefallen, die Rolle eines würdigen, geläuterten alten Herren anzunehmen. – Es ist ihnen doch bekannt, was gegen sie zur Anklage gebracht werden wird?“ Er blickte nur kurz zu Gandauer, als er wieder nach dem vorhin auf den Tisch geschmetterten Bündel griff. Er blätterte eine Seite her, las und kommentierte: „Die Liquidierung – eine doch eher in unserem Sprachgebrauch unübliche Umschreibung für Mord – der jüdisch versippten – das ist Nazisprachgebrauch, das werde ich rügen müssen – Anna Volkhoven. Und zwar am achtundzwanzigsten April fünfundvierzig unter Berufung auf das Standrecht in der damaligen Festung Breslau. Es existiert noch eine Zeugin, die auch zu der Gruppe der zum Erschießen Vorgesehenen gehört hatte!“ Er wiegte nachdenklich den Kopf. „Weiter heißt es hier: Der Gewaltakt musste nach der ersten Exekution, nämlich besagter Anna Volkhoven, wegen einsetzenden feindlichen Artilleriebeschusses eingestellt werden. Es wird Gandauer vorgeworfen, ohne direkten Auftrag, ohne den Vollzug eines rechtskräftigen Urteils nämlich, sondern in Eigenmächtigkeit gehandelt zu haben! Und genau das ist es, mein sehr verehrter Herr, wozu ich ihre Darstellung so dringend benötigt hätte! Waren sie ein Eiferer, ein Übereiferer, sogar einer mit einem Bedürfnis zur vorauseilenden Willkür?“ Er legte das Blatt wieder auf den Tisch. Dann blickte er seinen Klienten an.
Gandauer schien diese Eröffnung ergriffen zu haben. Er war nicht im Stande, etwas darauf zu erwidern. Und Sterzinger konnte sich eine gewisse Genugtuung nicht versagen. Er wartete und konnte sich nicht ganz verkneifen, diesen Gandauer, der ihm doch bis jetzt viel Zeit und Nerven gekostet hatte, noch ein wenig schmoren zu lassen. „Ja, mein lieber Herr“, setzte er wieder an, „was die Angelegenheit verschlimmert: Eine alte Dame, besagte Zeugin, will sich an sie als einen besonders sadistischen Schergen – Originalton! – erinnern können!“ Sterzinger hielt wieder einen Augenblick inne, ehe er noch vorbrachte: „Wissen sie, Rechtslage von damals hin oder her. Hier riecht es, nein, stinkt es gewaltig nach Verletzung von Menschenrechten. Und da gibt es ihrerseits eigentlich nicht viel herumzudeuteln! Bloß bin ich in der nicht gerade angenehmen Pflicht, sie verteidigen zu müssen! – Um das auch einmal etwas herb darzustellen.“
Gandauer, der bisher regungslos zur Seite geblickt hatte, wendete sich ruckartig Sterzinger zu: „An Gandauer glaubt sich ihre alte Dame zu erinnern? An einen gewissen Gandauer!“, korrigierte er und wiederholte das noch einmal.
Sterzinger begriff die Bedeutung des Einwandes nicht und zuckte die Achsel. Er fragte dann, was Gandauer nach dem Krieg gearbeitet habe und wie zu verstehen sei, dass er womöglich gar nicht in Gefangenschaft geraten war.
Gandauer schien durch diesen Schwenk erleichtert zu sein: „Da gab es in Breslau immer noch Wege nach draußen. Zwar nahm ich nicht einen so luxuriösen wie der Kriegsheld Hanke, der per Flugzeug am fünften Mai, kurz vor der Übergabe, abgehauen war. Doch es gelang mir, in Zivilkleidung, erst unter- und dann wegzutauchen. Die Sieger konnten nicht alles erfassen, sie mussten ihren Herrschaftsapparat nebst Bespitzelungsmaschinerie erst aufbauen. Auch das Territorium hatten sie lange nicht voll im Griff. Da haben sich zum Beispiel die mit der deutschen Armee kämpfenden Kosaken in dem Gebirge der Sudeten noch bis zum Oktober fünfundvierzig gehalten. Ich habe mich in Richtung Thüringen durchgeschlagen. Ich habe die Verbrüderungsphase der amerikanischen und russischen Sieger dazu genutzt, in den amerikanischen Bereich zu entwischen. Bauernknecht bei Kronach in Franken, wo sie dann die Sektorengrenze zu den Russen gezogen haben. Kurze Zeit in Haft. Nachdem ich entnazifiziert war, wie das so schön hieß, konnte ich mir wieder eine ordentliche Arbeit suchen. Ich war dann in der Metallbranche tätig. Kriegsresteverwertung. Schlicht und einfach: Wir haben Schrott zusammengeklaut und verhökert. Später gelang mir der Sprung in das Landratsamt, da hatte ich mich allerdings zuvor nach Freyung in den Bayerischen Wald abgesetzt. Ich erlangte einen Posten als Angestellter im Lastenausgleichsamt. Ich registrierte dort Jahrzehnte lang die Eingänge der Verlustmeldungen und der daraus resultierenden Ersatzansprüche der Flüchtlinge. Ich war den Antragstellern beim Ausfüllen der vielen Formblätter, bei der Beibringung von Bestätigungen, Zeugenschaften und derlei behilflich. Endlich versandte ich die Bescheide und verwaltete das Archiv. Kurzum, ein stilles, bescheidenes, dennoch wirkungsvolles Handeln zum Wohle der Allgemeinheit und vor allem zur Förderung des Wiederaufbaues unseres geschundenen Vaterlandes. Bis ich schließlich in den wohlverdienten Ruhestand entlassen wurde.“
„... wohlverdient ...“, spottete Sterzinger. „Von den Ausschmückungen abgesehen, geht das alles aus ihrer Akte hervor.“
„Um allen Vermutungen, dass das eine stupide Arbeit gewesen sein könnte, entgegenzutreten, sei darauf verwiesen, dass es sich bei meiner Arbeit im Lastenausgleichsamt um eine interessante und eine Tätigkeit volkswirtschaftlicher Dimension gehandelt hatte. Ich erlangte ja Einblick, wie wohlhabend alle Flüchtlinge in der alten Heimat gewesen waren.“
„Schon gut“, grinste Sterzinger. Er eröffnete Gandauer dann, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren auf den einen Fall vom achtundzwanzigsten April fünfundvierzig konzentrieren würde, weil hier die Beweislage gegen Gandauer am aussichtsreichsten sei.
„Sprechen sie es ruhig aus, Herr Anwalt, dass die Herrschaften kalkuliert haben. Eine Verurteilung, selbst nur zu ein paar Jährchen, bedeute für mich doch de facto eine lebenslange Haft. Wie viel Lebenserwartung räumt mir die Justiz wohl ein?“
„Ich verstehe die Frage mehr rhetorisch“, antwortete Sterzinger betont kühl. „Jedenfalls kann ich mich dabei nicht aufhalten. Sie entschuldigen! Noch etwas anderes: Ist ihnen eigentlich aufgegangen, dass wir gar keine Zeugen haben? Für Aussagen zu ihrer Person, zum Beispiel. An Alibizeugen wage ich gar nicht zu denken.“
„Sie kennen das Problem der biologischen Verderblichkeit des Gutes Mensch.“
„Was ist überhaupt mit diesem Peters?“, fiel Sterzinger ein.
„Freilich!“, kam von Gandauer nur.
„Was ist das überhaupt für ein Mensch, dieser Peters? Ich erinnere mich, sie haben Andeutungen gemacht. Die haben nicht gerade von Hochachtung gezeugt. Ich habe ihn doch fernmündlich kennengelernt. Allerdings eher ... – na, sagen wir mal: Er ist vielleicht nicht ganz ernst zu nehmen.“
„Peters wieder treffen? Und noch dazu an so einem Ort?“, fragte sich Gandauer, kaum vernehmbar. „Peters, alias Petrwich. Der Gedanke ist abenteuerlich“, kam es dann laut von ihm, „ein Wiedersehen vor den Schranken des Gerichts und nach der langen Zeit! – Warum jedoch nicht? – Also, hören sie: ein Schulfreund. Was hat er unter seinem slawisch klingenden Namen zu leiden gehabt, der Arme. War er etwas schlampig gekleidet, was ja bei Jungen vorkommen soll, so nannte man ihn einen liederlichen Polacken; arbeitete er einmal weniger, so war er gleich ein fauler Polacke. Das Negative war in unserer Heimat lange vor Hitler im Wesentlichen polnisch besetzt. Heimat, da begegnet jeder eben auch einer Sammlung von Vorurteilen.“
„Bitte, zu diesem Peters!“, mahnte Sterzinger.
„Verzeihung. Ein Jugendfreund. Ich weiß nicht, was der hatte. Er hing immer an meinen Fersen. Er hat es zum Apotheker gebracht. Er hatte meinen Werdegang mit lebhafter Anteilnahme verfolgt und die Höhepunkte an meiner Seite mitgenossen. In guten Zeiten war er ein steter Begleiter, dem ich sogar einmal das Leben retten musste, als beim Sport unser Boot gekentert war. Er war nämlich ein mäßiger Sportsmann, klein und zur körperlichen Fülle neigend und ein miserabler Schwimmer. Ich denke doch auch, dass nun die Reihe an ihm ist, auch einmal etwas für mich zu leisten. Ob er aber den Gandauer erkennt?“
Sterzinger verstand die Frage nicht, er nickte nur. Er stand auf und verabschiedete sich. Auf dem Weg zur Tür erwähnte er noch, dass es sein könne, dass an eine Verlegung in eine Anstalt in der Nähe des Gerichtes gedacht wird. Er sei hier sowieso nur auf Abruf hergelegt worden. „Im Württembergischen“, fiel ihm ein, „ich glaube in Singen, haben sie eine Haftanstalt für Senioren, Mindestalter sechzig Jahre. Aber das steht erst zur Debatte, wenn das Verfahren abgeschlossen ist und wir es nicht geschafft haben – na, sie wissen schon!“
Als er das Zimmer bereits verlassen hatte, erinnerte sich Sterzinger, etwas vergessen zu haben. Er kehrte eilig zurück. „Ich hätte beinahe übersehen, ihnen einen Brief ihres Peters auszuhändigen!“ Er bat Gandauer, den Aktenkoffer zu halten, dass er den Deckel öffnen konnte.
Gandauer war von der Mitteilung, dass er an einen anderen Ort sollte, noch so sehr eingenommen, dass er den Umschlag dann nur wortlos entgegennahm und ganz mechanisch in die Jackentasche steckte.
„Wieder von vorne anfangen an so einem Ort“, klagte er sich auf dem Weg in die Zelle. „Immer wieder. Wie könnte ich es verhindern? Ich sollte mich vielleicht doch richtig anstrengen, wieder rauszukommen. Oder vielleicht doch versuchen, zu diesen Leuten da Kontakt aufzunehmen. Leute, die dem Auschwitz-Weise geholfen hatten, dass er türmen konnte. Möglich, dass das dieselben sind, die mir im Altenheim die Mitteilung haben zukommen lassen, dass gegen mich was läuft. Die werden allerdings verschnupft sein, dass ich mich gestellt habe!“
Dann fiel ihm auch noch ein, dass er gar nicht genau wusste, was sie ihm von diesem Gandauer vielleicht noch alles zur Last legen könnten. „Ich müsste tatsächlich versuchen, diesen Gandauer wieder loszuwerden. Ich weiß gar nicht, was ich da mit dem Namen alles aufgehalst habe. Was Sterzinger heute präzisiert hatte, war mir stets nur vage gegenwärtig gewesen. Ich habe es der schrecklichen Untergangszeit zugerechnet. So irrsinnig ist es: Je größer die Summe, desto weniger bedeutend das einzelne Element. Aus den kurzen Kontakten mit dem wirklichen Gandauer – meinem Namensgeber, Mist! – habe ich eigentlich gewusst von diesen, wie es heute heißt: zeittypischen Handlungen ... So ein platter Begriff! Vorgänge waren es, die sich so häufig zu schwersten Straftaten auswuchsen. Doch nur aus heutiger Sicht? Hatten wir zur Tatzeit kein Auge dafür? Was kann die Verhandlung noch alles ans Licht bringen? Was habe ich mir da auf den Hals geladen? Jetzt erfahre ich, dass ich seit Jahren mit einer Reihe Leichen im Keller gehaust habe! Die Justiz schiebt mir vielleicht noch ein paar davon unter. Sie hat doch so viele noch auf Vorrat, den immerhin wir aufgefüllt hatten. Ich kann mich gar nicht wehren. Mensch, die Justiz wird an mich ihre Skelette los. Und ich? Mich holt dieser verfluchte achtundzwanzigste Vierte ein!“
Zeltnik hatte anscheinend auf Gandauer gewartet. Jedenfalls war er gleich zur Stelle, als Gandauer seine Zelle betrat. Ob eine Partie Schach gefällig sei, wollte Zeltnik wissen. Gandauer, noch in seinem Diskurs mit sich verwickelt, reagierte nicht sofort, sondern schaute Zeltnik nur fragend an, während er sich setzte. Zeltnik wiederholte sein Angebot nicht. Er fragte, ob es beim Anwalt Schwierigkeiten gegeben habe, erhielt aber keine Antwort. Zeltnik meinte, während er auch Platz nahm, dass es immer dienlich sei, die Schuld an irgendwas nicht nur bei sich zu suchen. Er verzog das Gesicht, dass so etwas wie ein nachsichtiges Lächeln dabei herauskam und kramte ein weißes Päckchen aus der Tasche. Gandauer starrte darauf. Er hatte gleich gesehen, dass es so eines war, wie er es aus dieser zufälligen Beobachtung damals in Zeltniks Raum zu Augen bekommen hatte.
„Wissen sie, ich habe da was“, dienerte Zeltnik und hielt es Gandauer hin. „Wenn sie so sehr in Schwierigkeiten sind, dann ist das die beste Medizin. Es macht alles leichter. Keine Frage, ob sie Kredit bei mir haben. Das können wir alles später mal abrechnen. Am besten, wenn sie wieder draußen sind.“
Gandauer fixierte immer noch das Zeug, das ihm da hingehalten wurde. Er schlug plötzlich nach Zeltniks Hand, dass das Ding wegflog. „Verfluchtes Dreckzeug!“, wetterte er.
Zeltnik klaubte sein Päckchen auf und machte sich davon.
Gandauer setzte sich schwer atmend auf sein Bett. Es dauerte.
Nachdem er sich beruhigt hatte, wollte er die Sache mit Peters zu einem Abschluss bringen. Bereit, ihm gegenüber die Karten aufzudecken. „Ich werde ihn einsetzen müssen, um rauszukommen“, murmelte er, während er das Schreibzeug hervorholte. „Er muss mir helfen ...“
Erinnern Sie sich noch, lieber Peters, an unsere behäbig dahinfließende Oder. Erinnern Sie unsere Badevergnügen mit unseren Freunden? Erinnern Sie sich daran, wie wir unsere Oder an den schweren Lastkähnen vorbei mit unseren flinken Faltbooten durchquerten?
Herrgott, waren das Sommer in der geliebten Heimat!
Die Sommer und unsere Badevergnügen. Seien Sie mir nicht böse, alter Freund, wenn ich Ihnen nun verrate, dass ich mich noch sehr gut auch Ihrer schwachen Schwimmkünste erinnere. Lassen Sie mich zur Sache kommen, wie Sie am dritten Juli ... Wann genau? Sicher: siebenundzwanzig. Wie sie da um fünfzehn Uhr dreißig in erhebliche Schwierigkeiten geraten waren. Erinnern Sie sich noch?
Nach dem Kentern Ihres Bootes wurden Sie in einer dramatischen Aktion errettet.
Mein Herr, Ihr Blick fällt hier auf die von Ihrem Retter verfassten Zeilen!
Jener ist es, der zu seiner Identifikation als sogenanntes unveränderliches Zeichen die Einstichnarbe an der linken Schulter sich zu erwähnen erlaubt. Und ferner gestattet sich Ihr Retter, die Entstehungsursache dieses Mals zu erinnern, nämlich die Abwehr eines Angriffes, anlässlich einer Saalschlacht mit einer kommunistischen Horde.
Und erinnern Sie sich auch der zwölf Wundmale, wie Sie die Vernarbungen zu nennen beliebten, welche sich Ihr Retter im späteren Russlandfeldzug zugezogen hatte?
Wissen Sie auch noch, dass Sie in Anbetracht dieser Wundmale, vermutlich in einer Anwandlung von Ehrfurcht, von einem deutschen Märtyrer sprachen?
Wofür ...
Er hörte auf. „Wofür, alter Narr! Weißt du doch, wie das ist? Wer nach dem Wofür im Leben fragt, macht sich vor sich selber lächerlich“. Jetzt fiel ihm dieser Brief in seiner Jackentasche wieder ein. Richtig, Peters hatte ja reagiert gehabt, sogar schriftlich und nicht nur mit telefonischem Herumgestottere! Aufgeregt öffnete er das Kuvert:
Sehr geehrter Herr Gandauer!
Ich habe mich, entgegen meines ursprünglichen Vorsatzes, nun doch ermannt, Ihnen eine kurze Mitteilung bezüglich einer von Ihnen an mich gerichteten Frage zukommen zu lassen.
Sie geruhten unlängst, in einem Ihrer mir hinsichtlich Ihres Motivs, sich gerade an mich zu wenden, immer noch rätselhaften Schreibens die Frage nach einer Dame des Namens Hedwig zu stellen. Ich hatte zwar damals Ihrem Expeditor bereits, einem Herrn Rechtsanwalt Sterzinger, eine mir entsprechend Ihrer allgemeinen Problemstellung ausreichend erscheinende Antwort zukommen lassen.
Nun hatte es sich jedoch im Kreise älterer Bekannten ergeben, dass man auf die geliebte schlesische Heimat zu sprechen gekommen war, auf Schicksale auch aus der gewiss tragischsten Phase deutscher Historie.
Ich bin nun in der Lage, Ihnen heute, natürlich bedauerlicher Weise nur aufs Geratewohl, von einer gewissen Hedwig Odtke zu berichten. Es handelt sich bei dieser Dame um eine Kriegerwitwe, die ihren Mann, wie aus Ermittlungen des Roten Kreuzes hervorging, verloren hatte. In nichts weniger denn in Pflichterfüllung an Führer und Vaterland hatte dieser sein Leben gelassen.
Über diese Kriegerwitwe war meinen Bekannten erinnerlich, dass sie sich nach dem Zusammenbruch und ihrer Vertreibung mit den aus der Ehe mit dem in einem feindlichen Terrorangriff ums Leben gekommenen Ernst Odtke hervorgegangenen beiden Kindern in einer kleinen Stadt in der Nähe von München, in Freising nämlich, Zuflucht gefunden hatte. Dort musste sie sich in harter Mühsal und großer Entbehrung durchschlagen.
Sie habe sich Jahre später, wurde Unterfertigtem berichtet, wieder verehelicht. Mit einem Amerikaner, einem weißen, nota bene.
Sie sei mit ihren beiden Kindern und diesem Mann in die Vereinigten Staaten von Amerika gegangen. Ihre Spuren hätten sich verloren.
Lassen Sie mich einem Zeitgenossen gegenüber mit der Frage zum Ende kommen, wer jemals die Unsumme des vom deutschen Volke ertragenen Leides, die tiefen Demütigungen und die unübersehbaren Selbstverletzungen, mit denen ich die neufamiliäre Handlungsweise dieser Frau jedoch keinesfalls in Zusammenhang zu bringen beabsichtige, zu würdigen Willens und in der Lage sein wird?
Mit vorzüglicher Hochachtung und der Bitte, mich fürderhin mit Ihrem skribentischem Eifer verschonen zu wollen, verbleibe ich ...
„Hedwig. Du lebst! Du bist – du und die Kinder?
Und ich schleppe mich jetzt durch meine restlichen Tage, nun jedoch erleichtert durch das Wissen um euer reales Dasein. Dass du in der anderen, nämlich über die bloße Vorstellung hinausragenden Gestalt existierst, ist mir schier ein Erschaffungsakt, dank Schicksals. Es ist mir selber, wie in einer anderen Gestalt wiedergeboren zu sein.
So einer wohlig-wehen Erschütterung begegnet einer am einfachsten, angemessensten und so weiter mit nassen Augen. Herrgott, wie lange ist da bei mir nicht mehr das Wasser der Rührung geflossen?“
Gandauer ließ sich in diesem Sinne in seine Ergriffenheit fallen und verweilte dort eine ganze Zeit.
Dann wollte er sich aus diesem Gefühlsstrom herausarbeiten, ja, herausgiften. Im fiel als Instrument dazu der Perters’sche Briefes ein. Das kam ihm ganz gelegen, und er hetzte sofort los. „Diese immer noch gepflegt ausufernden Langsätze eines gebildeten Subjekts. Ach deshalb!“ Gandauer kicherte trocken vor sich hin – und wischte sich die letzten Tränen ab. „Deshalb kannst du alter Bildungsphilister am Telefon und sicher im richtigen Leben keinen vernünftigen Satz absetzen! Und eierst herum.“
Diese von grimmiger Heiterkeit untermalte Bosheit hatte Gandauer nur wenig Erleichterung verschafft. Er wurde erneute heimgesucht. „Schwimme doch durch dein verfluchtes Tränenmeer. Versuche, endlich ein Ufer zu gewinnen!“, wollte er den Gefühlsstrom hinter sich lassen. „Hedwig! Ach du liebe Güte! Meinen Erinnerungen blühten Tagträume aus. Meine Vorstellungen. Ohne Scham von etwa dem Kaliber: Armes Mädchen durchdringt Gesellschaftsschichten. Und landet bei mir, dem Jedermannsprinzen. Und wir erklimmen dann Höhen. So wie in einem richtig seifigen Roman. Aber jetzt courthsmahlere nicht weiter herum, alter Trottel! An dieser Stelle auch noch die gedankliche Begegnung mit dieser Hedwig Courths Mahler, einer von den Heiligen der süßlichen Schreibkunst! Noch eine Hedwig! Neben meiner amerikanischen Hedwig. Der Fee meiner Träume. Die Jahre werden mir immer kürzer wie die lichten Stunden im Herbst! – Ich tue mir jetzt nicht schon wieder so einen Flitter an! Wie soll ich mir jetzt meine nun amerikanische Hedwig denken? Mensch, ich liege ein Menschenleben lang allein in meinem stinkenden und dreckigen und braunen Bett. Ha, braun! Und ich friere! – Weg davon! Ob dieser Piscator wieder kommt? Das war doch das letzte Mal fast etwas knatschig“, versuchte er, sich loszureißen. Doch vergeblich, er kam davon nicht los, Hedwig, mit Peters im Gefolge, schlich sich immer wieder ein: „Ich werde alles wegzugraulen versuchen!“, nahm er sich vor: „Meine amerikanische Hedwig. Schlohweißes Haar vielleicht, mit Lockenwicklern zum Shopping. Und ich friere hier. Werde hier immer weniger und schrumpfe zusammen. Klappere immer lauter vor Frost und Frust. Nehme mich zurück auf Geräusch und Bewegung. Und, verdammt, da kommt dieser Petrwich. Der zieht mir mit dem Ruck seiner paar Zeilen die Fetzen von meinem kümmerlichen Rest. Mensch, das muss ich dieser Lerge lassen, das war ein Volltreffer! Wenn es noch Sinn machte, dann müsste ich mein Bild von Peters retuschieren. Mit diesen paar trockenen Zeilen schafft der das! Da schlägt er diesen Tränenstrom aus dem alten, kalten Herzen. Dieses Nass, das mir den Blick auf die ganzen schönen, selbstgemalten Erinnerungsbilder verwäscht. Diese Gefühlslawine mit ein paar Tropfen Tinte losgetreten! Diese gut geschulte Kanaille, diese vollakademische! Das ist der Petrwich, das Original. Letztlich habe ich einzugestehen, dass ich ihn unterschätzt habe. Aber gekonnt ist gekonnt! Verflucht, warum haben damals so viele von diesen hochgebildeten Könnern ihren Verstand bei uns billigen Handlungsgehilfen abgeliefert? – Ha, das funktioniert ein wenig! Diese Bissigkeit ist Medizin und verschafft mir Entlastung! – Meine Amerikanerin klemmt sich gerade einen Kaugummi zwischen das Gebiss. Hatte eigentlich nie gute Zähne, die Liebe. Los, her noch mal mit dem Brief von Peters. Darf nicht wahr sein, das alles. Weg damit. Von oben nach unten gerissen. In Streifen. Dann die Streifen aufeinandergelegt und quer gerissen. Es ist nämlich gar nicht so unangenehm. Wenn du dir eingestehst, alles falsch gemacht zu haben. Da bist du ganz unten. Ich kann jedoch nicht mehr weiter absacken. Wie gut das tut, mich in dieser letzten Sicherheit zu wissen. Nichts führt mich mehr weiter nach unten ...“
Gandauer war es tatsächlich leichter geworden durch seine Attacken. „Heute ist Besuchstag“, entfernte er sich noch weiter von seiner Last mit Blick in eine andere Richtung. „Ein wenig Abwechslung. Wenn der Kerl kommt, aus dem ich auch nicht ganz schlau werde.
Weg jetzt, hau ab hier, mache dich in den Besucherraum.“
„Wir sind ja das letzte Mal etwas bei Politik hängen geblieben, Herr Piscator!“
„Guten Tag. – Ich musste noch lange darüber nachdenken.“
Der Raum war heute fast menschenleer.
Gandauer meinte, dass sie etwas Gemeinsames darin hätten, die politische Aktivität hinter sich gelassen zu haben.
„Ich habe mich oft gefragt, was es mir damals ratsam erscheinen hat lassen, mehr Engagement als der gewöhnliche Wahlbürger zu zeigen, mich überhaupt einer Partei anzuschließen“, sinnierte Piscator. „Wo einer damit seine Gesinnung aufgedeckt. Die in einer Gesellschaft von so vielen Schnüfflern und Zuträgern besser verdeckt bliebe.“
„Zu welchem Ergebnis sind sie bei ihrem Nachdenken über ihren Grund gekommen?“, wollte Gandauer wissen.
„Ganz einfach: Während zum Beispiel ein Beamter im Wesentlichen Pflichterfüllung, also Vollzug im Kopf hat ...“, dabei warf er einen Blick auf den Wärter, der anscheinend teilnahmslos etwas entfernt saß und mit dem Stuhl schaukelte, „... während also der Beamte nur den Vollzug im Kopf hat, trägt der politisch Handelnde den Gestaltungsdrang im Herzen.“
Gandauer klatschte Beifall. Piscator wunderte sich – und der Beamte hatte mit einem Ruck zu schaukeln aufgehört und auf Gandauer gesehen. „Bravo, das haben sie schön formuliert, das mit dem Kopf und dem Herzen!“, rief Gandauer. „Doch das war, nehmen sie es mir nicht übel, Ausdruck genau des romantischen Irrtums, der so vielen, die mit bestem Willen in die Politik gegangen sind, so viel Kummer bereitet. Und der dann auch zum Bruch mit ihrem Engagement führt.“
Piscator bekannte etwas kleinlaut, dass er sich wohl diesen Schuh anziehen müsse, und Gandauer stimmte ein, dass das im Grunde auch auf ihn zutreffe. „Fragen sie jetzt bitte nicht, was dann für mich Politik ist!“
„Es ist fast beängstigend, wie viele Gemeinsamkeiten sich vor uns auftun.“ Piscator hatte das in einem Anflug von Begeisterung etwas lauter gesprochen. Der Beamte, der offenbar am Einnicken war, schrak auf. Piscator grinste Gandauer an.
„Halt!“, rief Gandauer, „da haben sie ja etwas Verdrehtes produziert!“
„Bitte?“
„Ja, sie haben gesagt: Gemeinsamkeiten tun sich auf. Es heißt aber doch: Abgründe tun sich auf! Wenn jedoch Gemeinsamkeiten in den Seelen der Menschen zu Abgründen werden, Menschenskind, da können sie gleich zum Psychiater gehen!“
Piscator wunderte sich über den Ton, den Gandauer angeschlagen hatte. Er revanchierte sich mit gleicher Lautstärke: „Nein, nein, zwischen uns tun sich keine Abgründe auf! Wenn es allerdings bei dem Wort bleiben soll, dann lassen sie mich neben ihnen am Abgrund stehen. Der sich meinetwegen dann vor uns beiden auftut!“ Noch während er sprach, hatte er begriffen. Er deutete mit dem Daumen zum Aufpasser hinüber und machte ein Gesicht. „Wenn man allerdings“, fuhr er jetzt wieder ruhiger fort, „ihre politische Laufbahn betrachtet – ach, Verzeihung! Ich wollte ihnen nicht zu nahe treten. Es betrifft ja eine ganze Generation, sie stehen da nicht alleine da!“
„Aber, aber keine Ursache!“, beruhigte ihn Gandauer. „Den Ball kann ich gut zurückspielen: Sehen sie doch die vielen politischen Krüppel von heute. Meine politische Illusion endete in einer Katastrophe, die in der Geschichte sicher ihresgleichen nicht findet. Eure endet vermutlich schleichend. Sie verseucht. Zunehmende Korruption auf der einen Seite, von der sonderbarerweise behauptet wird, sie sei auch ein Betriebsmittel einer Demokratie, und ständig anwachsende Verdrossenheit!“
Der Beamte schaute etwas ratlos drein.
„Sie beschämen mich, und ich weiß jetzt nicht, ob sie mich damit treffen wollen“, klagte Piscator. Er warf einen Blick auf Gandauer und sah den mit zufriedener Miene dasitzen. So schwang er sich auf zu erklären, dass er ehedem Politik eigentlich immer ziemlich kurzweilig gefunden habe: „Da kämpfte jeder, um seinen Erfolg, möglichst sogar an den eigenen Genossen vorbei einzufahren.“ Er erzählte von dem Knatsch mit seinem Bürgermeister. Davon, dass der als Sozi gegen die schwarze Mehrheit regieren hätte sollen. Der allerdings begriffen habe, dass das nur mit dieser Mehrheit auf der anderen Seite funktioniere und nicht gegen sie. Der äußerst geschickt paktiert habe und daher mitunter auch sehr moderat mit der Wahrheit umgegangen sei. Er könne sich das als Kunststück vorstellen, als politische Artistik. Und dieser Mensch sei dabei vermutlich seelisch unbeschädigt geblieben. Doch habe er, Piscator, diesem Hund alles vergeben und sei es zufrieden, sogar ein wenig Bewunderung aufzubringen in der Lage zu sein. Er wolle diesen von ihm verwendeten Ausdruck Hund nun durchaus als eine Respektbekundung verstanden wissen.
Der Beamte hatte sich erhoben und auf seine Uhr gesehen. Dann schritt er langsam an ihnen vorbei auf die Tür zu und machte dort auf den Hacken kehrt. Dann war zu den beiden gegangen und hatte auf die Uhr gewiesen. Er erinnerte, dass nun Essenszeit sei.
Gandauer erhob sich und reichte Piscator die Hand: „Sie entschuldigen! Wenn sie erlauben, werde ich ihnen den Fortgang vielleicht schreiben.“
„Spatz, her da. Komm, picke dir wieder was auf. Ich bin alt und darf deshalb auch ein wenig kindisch sein. Nicht zu sehr, denn die anderen schämen sich zu leicht für einen, wenn sie nicht gerade gleich spotten. Das Läppische gehört auch zu den wenigen Freuden des Alters. – Ich muss dir was erzählen. Da habe ich nämlich wieder etwas entdeckt in mir. Wir Menschen haben ja Innenleben, Sperling. Das euch abgesprochen wird. Was nicht heißt, dass ihr euch uns nicht dienlich machen könntet, kommt ihr doch in Geschichten vor und sogar als Botschafter. Ich glaube allerdings, der Vogel, der da im Volkslied mit einem Zettel im Schnabel geflogen kommt, der gehört doch nicht direkt zu euch. Meine augenblickliche Träumerei gilt einer Amerikanerin, sollt ihr wissen. Liebesgrüße sind eher etwas für Tauben, nicht wahr? Überhaupt Botschaften. Ich glaube jetzt doch, dass es höchste Zeit ist, meinen Gandauer loszuwerden! Wie sollte ich Hedwig als ein solcher gegenübertreten? Und überhaupt, ihr Sperlinge, ihr steht doch für die Leichtigkeit im Leben. Es ist das immer eine Frage, wie schwer das Selbst in einem wiegt und einen schließlich auf den Boden drück – nämlichen auf jenen Boden der Tatsachen und das gleich mit beiden Beinen, wie es heißt. Dieses Institut in uns, wisst ihr, das ist so kompliziert gebaut. Dass für manche Teile ein ganzes Leben nicht ausreicht, um alles zu erfahren davon. Nun schön, ich muss das hier alles zu Ende bringen. Denn so geht es nicht weiter. Wenn es sich einrichten lässt, dann natürlich zu einem anständigen Ende.
Schluss machen!
Sie sollen es wissen. Ich sitze inmitten dieser meiner Umstände und suche das eine Ende des Fadens, der mir irgendwann gerissen ist. Ich denke, es war sehr bald, ich denke Ende der Dreißiger. Ich muss wohl meinen Weg zurückgehen, um weiterzukommen. Der Bruch war möglicherweise bereits nach dem Polenfeldzug. Ich hatte mit Generaloberst Blaskowitz, der Oberbefehlshaber der deutschen Armee gewesen war, gesprochen. Es hatte sich ganz zufällig ergeben. Wie war das gleich? Egal. Hitler hatte Blaskowitz abgesetzt, weil der es gewagt hatte, gegen das willkürliche Töten zu protestieren. Diese Abschlachtungen da in Polen, dieses Wüten gegen die Bevölkerung. Auf Führerbefehl hin sollte die Intelligenzia Polens ausgemerzt werden. Unsere Rassenthese vom Slawen als Untermensch! Und die Juden!
Dein von dir wohlübersehener Bruch, alter Junge. Hast immer darüber hinweggesehen über die Abgründe vor dir. Als ob dieses Im-hohen-Bogen-Darüber- Hinwegsehen schon als tragfähige, gangbare Brücke ans Ufer der Gerechtigkeit genügen hätte können. Das fällt dir jetzt endlich schwer aufs Gewissen. Endlich?
Jetzt auch noch diese gewesene als neue Hedwig im Kopf! Hätte ich je an eine solche Begegnung gedacht? An diesem Ort und in dieser Weise? Treffe ich Hedwig hier – und weitere Last gelangt mir doch auf mein ohnedies bleischweres Gewissen!
Es ist doch Zeit, alter Junge, dass du dir endlich überlegst, was du eigentlich willst! Raus hier, ha?
Zunächst einmal die Sache mit dem Peters festzurren. Denn der Odtke muss endlich diesen Gandauer loswerden.
Unter den alten Vorzeichen diese Amerikanerin suchen, ha? Du musst allerdings erst dich selber erst wiederfinden und in Besitz nehmen!“
Lieber Peters!
Heute vielleicht eine kleine Überraschung, wenn Sie doch noch gestatten. Ich bin etwas in Eile, denn ein Termin naht. Darum bitte ich um Nachsicht, wenn ich gegen diese alte Kaufmannsregel verstoße und sozusagen mit der Türe ins Haus falle!
Erinnern Sie sich bitte, lieber Freund, folgender vor langer Zeit anlässlich einer Feierstunde, bei der auch Sie zugegen waren, gesprochenen Worte:
‘Der Hauptbereichsleiter in der Parteizentrale, Ernst Odtke, wurde am ersten April neunzehnhundertfünf als einziger Sohn des Gastwirtes Max Odtke in Breslau geboren. Nachdem er sich nach seiner Schulentlassung zunächst dem kaufmännischen Beruf gewidmet hatte, stieß er 1925 auf die nationalsozialistische Bewegung, die ihn immer mehr anzog, und er marschierte zunächst als begeisterter SA-Mann mit seinen Kameraden vom Ohlauer Tor und später als politischer Leiter und vor allem als Redner der Bewegung. Im November neunzehnhundertdreißig erhielt er den Auftrag, den Kreis Breslau-Land aufzubauen und zu organisieren und ging mit wahrem Fanatismus an diese Arbeit. Mit nur wenigen Gleichgesinnten führte er ohne Zögern diesen Auftrag aus, widmete sich daneben aber noch Versammlungen und der Schulung seiner Redner in weltanschaulicher Hinsicht, wozu er ganz besonders berufen zu sein schien.
Am ersten Oktober 1933 wurde er deshalb zum Gauschulleiter und später zum Gauschulungsleiter ernannt. Auf diesem Posten entwickelte er sich zu einem Fackelträger der Bewegung in Schlesien und hervorragenden Pädagogen der nationalsozialistischen Weltanschauung. Wegen seines geraden, aufrichtigen Charakters erfreute er sich allseitiger Achtung, und bis ins Tiefste begeistert, kehrten die Parteigenossen von der Gauschulungsburg, die er leitete, zur Front zurück. Nach dem Heldentod des Kreisleiters von Breslau-Land, Hamfler, leitete er neben seiner sonstigen Tätigkeit auch diesen Kreis.’
Diese Elogen waren in der Schlesischen Tageszeitung erschienen. Und hier zitierendes Individuum schätzte den Text als so bedeutungsvoll ein, dass es ihn des Einprägens für wert erachtete. (Wenn Sie gestatten, an dieser Stelle noch eine Einfügung: Der Text mag Ihnen aus meiner neulich zugeleiteten Mitteilung noch in Erinnerung sein. Ich zitierte da die Trauerrede für Ernst Odtke. Die Duplikation des Inhaltes erklärt sich daraus, dass die Parteizentrale über jeden Genossen ein Dossier geführt hatte, um wie in diesem Falle durch Wiederholung eine Vertiefung zu bewirken, nebst einer Erleichterung bei der Bewältigung von Aufgaben.)
Wenn Ihnen allerdings der Anlass für den Vortrag nicht sofort gegenwärtig sein sollte, erlaube ich mir, Ihnen einige Impulse zu geben: Man hatte sich damals zusammengefunden, Damen und Herren und uniformierte Parteigenossen. Bei dem oben Dargestellten handelt es sich um die Rede des Gemeindevorstehers, eines Herrn Kleist, anlässlich der Feier zur Benennung einer Straße nach Ihrem Freund (und, Sie gestatten, Lebensretter) Ernst Odtke.
Um Ihnen weitere Detailkenntnisse zu unterbreiten: Erinnern Sie sich der uniformierten Person, neben der sie Platz genommen hatten. Die, eine kleine Unterbrechung durch ein Räuspern des Redners nutzend, Ihnen ‘Leichenrede’ zuflüsterte? Bei der es sich um die eben geehrte Hauptperson gehandelt hatte, und in deren Nähe Sie sich häufig aufgehalten hatten.
Ich wäre Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie Ihr Gedächtnis bemühen wollten!
Der so Geehrte schritt alsdann zum Rednerpult und stimmte einen Hymnus auf die Bewegung unter besonderer Berücksichtigung der bis dahin geleisteten und auch durch die feigste Reaktion nicht mehr zu verwischende Aufbauarbeit an Volksganzem und Reich an. Er erkühnte sich der Prophetie in Bezug auf eine tausendjährige Fortschreibung der gesamten Unternehmung und versicherte schließlich, dass er, Odtke, nur willens sei, jedwede Ehrung stellvertretend für jenen Teil der Volksgenossenschaft zu empfangen, dessen Opferungsbereitschaft er, Odtke, als nur ein kleiner Teil des Ganzen diese Leistungen letztendlich verdanke.
Mit tiefster Hochachtung, Ihr Ihnen bestens Bekannter.
Gandauer war es jetzt wieder besser zumute. Er plante, sein Schreiben eiligst abzusenden. „Das muss auch ohne Sterzinger gehen, jetzt ist es ja so weit“, plante er. „Mal in der Zugangszeitung dieses vergitterten Kurhotels hier nachsehen, wie man das macht: ‘Der Briefverkehr des Strafgefangenen wird in den Paragrafen 28 ...’“ Er war gleich an der für ihn wichtigen Stelle: ‘Ausgehende Schreiben sind im Briefkasten einzuwerfen, der sich auf dem O Stock im Rondell befindet ...’ „ O Stock was ist das? Mal sehen – oder fragen ..." Er machte sich mit seinem Schreiben auf den Weg.
Während er die Gänge passierte, versuchte er, sich immer wieder vorzustellen, wie Peters reagieren würde. Er war überzeugt, dass ihn Peters spätestens mit diesen Zeilen erkennen müsste. Er malte sich aus, wie einer sich fühle, dem so ein Erlebnis von Qualität einer richtigen Wiederauferstehung eines Menschen widerfährt.
Auf halbem Weg zum Briefkasten musste er innehalten. Es war ihm schwindelig. Er hielt sich am Geländer fest. Er wartete ab. Da durchfuhr es ihn: „So nicht!“, sagte er laut. Er ging in seine Zelle zurück. „Den Brief lässt du nicht an Sterzinger vorbeilaufen. Jetzt deckst du auch ihm gegenüber die Karten auf. Das bist du ihm und dir selber schuldig. Es ist ja doch eine Zumutung gewesen, was du mit ihm angestellt hast bisher.“
Gandauer war fest entschlossen. Es war ihm, als hätte er sich selber eine Neuigkeit zu unterbreiten:
Sehr geehrter Herr Sterzinger!
Nachstehend einige Zeilen an Sie gerichtet, die ich Ihnen längst schuldig bin. Ich unterstelle, Sie haben es längst geahnt, was ich Ihnen nun endgültig eröffnen werde:
Ich, Ernst Odtke, kannte den Gandauer, dessen Namen ich übernommen hatte, nur aus gelegentlichen dienstlichen Begegnungen. Ich hatte von diesem Gandauer lediglich ab und zu gehört. Jener Gandauer schien zunächst zu den stillen, immerhin treuen, aber anscheinend unbedarft kämpferischen, endlich fanatischen Parteigenossen gehört zu haben.
Ende April fünfundvierzig kamen dieser Gandauer und ich während eines Luftangriffs im Keller zufällig nebeneinander zu sitzen. Er war mir schon auf der Treppe begegnet. „Ach, Odtke!“ Er erkannte mich natürlich, obwohl ich auch in Uniform steckte. Meine Position war gewissermaßen exponiert. „Odtke, passen sie auf sich auf!“, warnte er. Ich erwiderte, er möge unter diesen endzeitlichen Umständen dasselbe tun. Er setzte noch nach, dass er das eher als Warnung gemeint habe, und zwar für das Wiederauftauchen nach diesem Zwischenspiel im Luftschutzloch, und ich möge dieses Aufpassen hauptsächlich auf meine Zunge beziehen. Ich aber dachte nur, dass er sich anbiedern wollte und schwieg. Auch hatte der Zauber, wie wir im Landserdeutsch sagten, bereits begonnen. Alles schwieg. Alle hatten längst gelernt, die Einschläge nach ihrer Wucht und Entfernung zu taxieren. Nur ein paar Anweisungen des Luftschutzwartes noch. Routine alles. Schon längst jeden Tag. Und seit einigen Wochen mehrmals am Tag. Man saß in der Regel neben irgendwem. Man lernte keine Leute, sondern Schreckenslaute und allmählich alle Varianten des Geruches von Angstschweiß kennen. Wie immer diese Bergwerksstimmung. Die Decken mit kräftigen Hölzern abgestützt. Der Modergeruch, mit menschlichen Ausdünstungen allmählich geschwängert. Das Dicht-bei-Dicht der mit ihren Bündeln Dasitzenden. Dieses Zittern, das jeder zu verbergen suchte und es dadurch natürlich steigerte. Dieser wabbelige Angstschweißpudding, den jeder längst kannte, weil er ein Teil davon war. Und dann ging es gleich richtig los. Das zunächst ferne Brummen der Motoren kam immer näher. Das matte Husten des Abwehrfeuers. Fernes Donnern. Die ersten Einschläge – noch weiter weg. Doch schon wie arges Gewitter. Es grollt heran. Donnernde Serien bereits. Und immer noch mal. Es kommt doch näher. Lauschen. Man zählt irgendwie mit, weiß gar nicht warum. Weiß plötzlich überhaupt nichts Bestimmtes mehr. Weiß nur noch sich selber. Ist sich dessen aber auch nicht ganz gewiss, nicht gewiss jedenfalls, ob das von Dauer sein wird. Fürs Erste aber fühlt einer sich noch und sein Leben im Brustkorb hämmern. Atmen bald im Takt der Einschläge. Bei jedem Schlag beginnt jetzt sogar der Boden zu beben. Mein Gott, nicht uns! Ein Hauch von Hoffnung, wenn Einschläge auch nur Zehntelsekunden ausbleiben. Sofort von Angst abgewürgt. Wieder. Noch näher. Es rollt heran. Krachende Serien allmählich. Unsere Häuserzeile heute! Du lieber Gott! Heute tatsächlich wir! Die Furcht verkrampft einen, als hätte einer nur als ein solches Bündel verklumpter Existenz eine Chance. Es kommt über uns, funkt es einem durchs Bewusstsein. Warum wir und uns das alles? Es ist über uns! Du lieber Himmel! Man möchte schreien und traut sich nicht aus Furcht, auch hier könnte das Chaos des Schreckens ausbrechen, von dem man weiß. Auch diese Last frisst jeder in sich hinein. Der Donner jetzt, der immer eindringlicher in helles Krachen übergeht. Begleitet vom Geräusch des Berstens von Mauerwerk. Untermalt von Knirschen und Zischen. Immer wieder dieses fürchterliche Dröhnen. Ein helles, hysterisches Aufbrüllen der Explosion. Der Aufschrei dazu bleibt den Menschen in der Kehle stecken. Und dann bebt der Grund geradezu in Wellen der Erschütterung nach diesem Knallen der Detonationen. Alles kommt immer näher. Alles wird immer stärker. Ein immer noch spürbarer werdendes Erzittern des Bodens, der Wände, der Decke. Alle sind erstarrt und jeder weiß sich vom fürchterlichen Schwingen mitgerissen. Das drohende Motorengebrumm mit dem sich entladenden Getöse steigert sich einem noch. Du lieber Himmel, die wollen nicht weiter. Die stehen ja direkt über uns! Oder es sind so viele. Und es kommen immer welche nach! Mit frischer Todeslast. Mit neuem Verderben. Der Atem stockt einem. Man ist aufs Selbst geworfen. Die Panik isoliert einen völlig. Auch wenn man sich an jemanden zu klammern vermag. Da beginnt jeder zu hoffen auf irgendeinen menschlichen Laut, ein Stöhnen, ein Husten vielleicht nur. Um sich wenigstens menschlich umgeben zu wissen. Dann ist da doch endlich ein Wimmern, ganz zaghaft zunächst. Ein Knall dazwischen. Jetzt ein Stöhnen da und dort, das sich beim nächsten Donnerschlag letztlich doch in Schreien zu befreien sucht. Und immer wieder diese furchtbaren Schläge. Und augenblicklich wie in einem vorgegebenen Rhythmus jetzt gequälte Laute der Menschen. Die Erdstöße mit den Einschlägen nehmen an Gewalt zu. Und es bebt alles noch intensiver. Und das Gebälk ächzt. Und alles mündet immer wieder in unserem Aufschrei, der sich nun doch aus der Kehle löst. Dann ist da plötzlich auch dieser Brandgeruch. Oder Gas? „Um Gottes willen!“, ringt es sich einer Frau gellend aus der Verzweiflung! Gedanken an Gott werden Schreie nach Gott! Gas! „Wo ist Gott in dieser Hölle?“, krächzt es sich einer Frau heraus. Dahinter tauchen einem für einen Augenblick die Schreie der Verschütteten von gestern auf, der Brandgeruch, versengtes, zerfetztes Fleisch. Als wäre es eben. Diesmal doch nicht ich! Dieser Gedanke springt über. Dann ein entsetzlicher Schlag. Ein scharfes Knallen. Alles schwingt und schwankt und in Sekundenfolge: Über einem kracht es ohrenbetäubend. Man denkt noch: Mauer und Gebälk. Ein Poltern. Wieder dieses Beben. Sand rieselt bereits aus der Decke. Ein Blick hinauf. Da ist noch ein Funken Licht. Wenigstens noch Licht. Und gleich strömt es richtig durch die Klaffen der berstenden Decke. Alles starr vor Schrecken. Auch kein Laut mehr von draußen. Die hölzernen Stützen knirschen unter der Last, die sich auf sie geworfen hat. Ein Kreischen erstickt sofort wieder wie abgewürgt. Der matte Schimmer einer Taschenlampe. Ganz langsam spalten Säulen der Länge nach auf, eine Faser nach der anderen. Und knicken dann wie Streichhölzer. Wer die Augen noch öffnen kann, nimmt es entsetzt wahr. Das Licht ist plötzlich weg. Man fühlt den Tod als Genossen hier im Horror. Wieder ein Aufschrei. Der Lichtkegel einer Taschenlampe. Er durchdringt matt den aufgewirbelten Staub, tastet umher, tastet die letzten Stützen ab. Zwei, drei. Du lieber Himmel! Es splittert weiter. Jeder hört es ganz deutlich. Jeder beginnt unwillkürlich mitzuzählen. Aussichtslos! Aus! Da ist wieder dieses letzte Licht, fällt für Sekunden in die zu Larven erstarrten Gesichter der Leute. So vielleicht als ein letzter Gruß. Man hat sich jetzt das erste Mal richtig angesehen, mit aufgerissenen Augen in aufgerissene Augen gestarrt. Keiner schämt sich mehr seiner Verzweiflung. Krächzende Laute quälen sich aus der Brust. Dann ist das Licht weg. In einem krachenden Bersten verloschen. Die Decke! Aus! Doch wieder fahles Licht. Jemand ist aufgesprungen. Die eben noch starre Masse kommt in Bewegung. Menschen stolpern, fallen übereinander. Hinaus. Wo hinaus? Kreischen. Klagen. Stöhnen. Ein Tumult in Schutt und Staub und Fleisch. Und dann ein ungeheurer Schlag. Wieder eine Explosion ganz dicht neben mir. Völlige Dunkelheit – und nichts mehr.
Ich fand mich irgendwann wieder. Irgendwann. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war. Jedenfalls fand ich mich in einer gespenstischen Lautlosigkeit wieder. Stille. Leblosigkeit. Etwas Endgültiges, wie es schien.
Verwirrung. Hole tief Luft. Muss husten.
Dann sehe ich seitlich einen winzigen Lichtstrahl hereinbrechen. Ein Funken Tag. Beginne, mich zu regen. Ganz vorsichtig. Die Finger erst. Dann den Arm. Ich wage, den Kopf zu bewegen. Ich bemerke, dass dicht über mir etwas ist. Stelle fest, dass ich unter etwas liege. Etwa wie unter einer schützenden Hand. Da ist unversehens der liebe Gott da in meinem Fühlen.
Ein ganz irdischer Eisenträger lag da quer über mir. Durch einen Ruinenspalt fiel etwas Tageslicht herein. Ich schaute umher. Ich konnte den Kopf bewegen und umhersehen! Ich konnte ausmachen, dass es Wirklichkeit war! Ich erkannte, dass der Eisenträger von einem Mauervorsprung aufgefangen worden war. Ich begriff meine Rettung – und entließ mein Gottesmirakel von vorhin aus meinem Empfinden. Ich wischte mir übers Gesicht, bewegte ganz vorsichtig noch einmal ein Bein, das andere, die Arme. Kein Schmerz. Ich holte wieder tief Luft.
Dann erblickte ich neben mir, ganz dicht neben mir, eine Masse. Rot unter Schutt und Steinen und Stahl. Was zu erkennen war, fast breiig zerquetscht. Unter einem Träger – ohne rettende Auflage. Ich wagte zunächst nur, seitlich einen kurzen Blick darauf zu werfen. Aber ich war im Felde gewesen, in Russland, und ich hatte so viele zerfetzte Körper gesehen. Doch niemand gewöhnt sich so richtig daran. Stumpft höchstens ab. Der Eindruck Rot und Stoff und Sand überwog hier. Eine Ahnung überkam mich. Ich wendete mich ab. Du warst an der Front! Du lagst im Schützengraben ganz vorne! Ja, so etwas in Rot und Stoff und Dreck war alltäglich! Nimm dich zusammen! Also noch einen Blick riskiert. Und da lagen von einem Eisenträger zerquetscht, zermalmt die Fleischmassen und Stofffetzen einer Gestalt. Nur die linke Körperhälfte noch als solche erkennbar. Gar keine menschliche Form sonst, kein Gesicht mehr. Ich übergab mich vor Grauen.
Wieder bei mir, begriff ich, dass es dieser Gandauer gewesen sein musste, dessen zermalmte Reste hier lagen. Seine Papiere! Seine Papiere! Wenn du ihm deine Papiere in die Jacke schiebst, dann ist für meinen Todfeind Hanke und die anderen Schurken dieser Fleischrest da der Ernst Odtke. Und du musst untertauchen. Weg. Einfach weg. Und möglichst schnell raus hier, befahl ich mir. Der verfluchte Zauber dauert nicht mehr lange, ein paar Tage höchstens noch. Mögen es auch Wochen sein. Doch dann ist es aus, restlos aus! Wie eine Ratte in den Ruinen leben, warten, bis der böse Gespensterreigen vorüber ist.
Ich überwand mich, in den Resten des Uniformmantels nach Gandauers Papieren zu wühlen. Wie ein Schlachter im rohen Fleisch. Ich ergrapschte sie. Ich nahm sie an mich, nebst weiterem, zur Identifikation gehörendem Dokumentenkram, den jeder immer mitschleppte. Ich steckte ihm meinen Pass in die Manteltasche. Dann hervor unterm lebensrettenden Eisen. Ich konnte durch ein Loch in der Kellerwand in einen Krater kriechen und schlüpfte dann in einen anderen Keller. Eine andere Höhle.
Ich will zum Ende kommen: Mein bürokratisches Bedürfnis forderte – und meine Kenntnis des Amtsbetriebes erlaubte es mir, im Ausweisbüro meinen Namenswechsel perfekt zu machen. Während die Amtspersonen beim nächsten Angriff sich im Luftschutzkeller verkrochen hatten.
Ich lebte noch eine Weile in der Trümmerwüste und konnte mir sogar den Zeitungsbericht über den Nachruf bei der Beisetzung besorgen, bei welcher der wirkliche Gandauer meine Stelle im Sarg vertrat.
Ich glaube, ich sollte dem nun nichts mehr hinzufügen.
Verehrter Herr Sterzinger, mit dieser Darstellung und den Belegen, die Peters notfalls beeiden kann, wird der Prozess wohl einen – auch in Ihrem Sinne – erträglichen Ausgang haben.
Ich bedauere außerordentlich, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage war, Sie über meine wahren Umstände aufzuklären. Sie werden für mein Schweigen jedoch, dessen bin ich einigermaßen gewiss, ein Quäntchen Verständnis aufbringen.
Mit vorzüglicher Hochachtung,
Ihr Ernst Odtke (Beigeschlossen ist mein letztes Schreiben an Peters.)
Zu Rebekkas Erstaunen war dieser bebilderte Alex ins Freigängerhaus umgezogen. Die Enttäuschung, ihn nicht anzutreffen, war ihr deutlich anzumerken. Sie ging dann mit Piscator zu Gandauer. Allerdings wollte die Unterhaltung nicht recht in Gang kommen, so war es heute nur ein kurzer Besuch. Nach dem Verlassen der Anstalt bildete sich Rebekka ein, noch unbedingt sehen zu müssen, wo etwa die neue Unterkunft von ihrem Alex lag. Piscator war nur widerwillig mitgegangen. Jetzt befanden sie sich auf dem Weg in die Stadt. Vom Hauptplatz aus würden sie mit dem Bahnbus nach Hause fahren. Sie gingen schweigend nebeneinander. Plötzlich fragte sich Rebekka laut, wie die Kerle denn mit dem bisschen Freigang am Ende ihres Knasts draußen wieder Tritt fassen könnten. Sie war überzeugt, dass die meisten sofort wieder Mist bauen würden. Piscator erklärte sich für nicht zuständig in Sachen Resozialisierung. Rebekka fand das sehr herzlos und kritisierte, dass er daherrede wie so ein mieser Kissenfurzer. Sie solle sich das mit den Kerlen nicht zu sehr zu Herzen nehmen, war er ungerührt, im Leben sei jeder bei den meisten Sachen meistens irgendwie mehr oder minder daneben. Ganz ran an etwas, meinte er, komme einer sehr selten. „Alles bloß Annäherung“, tönte er noch nach. Als sie dann am Straßenrand warten mussten, begann er zu labern, dass er diese Erfahrung sogar regelmäßig mit seinem Schlüsselbund machen müsse, denn erstens sei der immer in der anderen Tasche und zweitens müsse er stets bis zum letzten Schlüssel durchprobieren. Rebekka stufte das ärgerlich als ganz beknackt ein. Es brodelte in ihr. Piscator ahnte nichts davon, er setzte seiner Schlüsselerfahrung noch drauf, dass er diesem ewigen Suchen durch radikale Vereinfachung und Reduzierung seines Bundes auf zwei Stück ein beinahes Ende gesetzt habe und sogar daran dächte, sich eine von den beiden Hosentaschen zuzunähen. Seine Laune stürzte allerdings jäh ab, als ihm einfiel, dass wohl bald uniformierte Staatsdiener für ihn die Schlüsseldienste übernehmen würden.
Dann war der Konvoi der Bundeswehr vorbei, und sie mussten nur noch das Ende der Autoschlange abwarten. Rebekka war noch sauer und sann darauf, sich Luft zu schaffen: „Du hast doch Dreck am Steckn, hast du gsagt. Dich werdn sie doch vielleicht auch mal holn. Die von der Polente.“
Piscator schwieg betroffen.
Jetzt hatten sie die Bundesstraße überquert und befanden sich bereits auf der steinernen Fußgängerbrücke, die sich über den Geländeeinschnitt für die Gleisanlage der Bahn spannte. Piscator blieb eine Weile über das Geländer gebeugt stehen, während Rebekka unwillig wartete. Er spuckte hinunter: „Das haben wir als Jungen gemacht“, erklärte er Rebekka, „und wenn die Luft rein war, dann haben wir das Rüsselchen aus der Hose gekramt und hinuntergepinkelt. Wer am weitesten kam, war Sieger. Die Verlierer mussten Kaugummi rausrücken.“
„Schweinchen“, kommentierte Rebekka, machte Grunzgeräusche und ging weiter, weil sie ihm durchaus zutraute, dass er seine Kindheitserinnerung realisierte. Hinter ihr herlaufend, erzählte Piscator noch, dass sie der Oberlehrer einmal erwischt hatte. Dass sie dann am Tag darauf vor der Klasse mit dem Rohrstock getrimmt worden waren. Zur Abschreckung für alle, die eventuell auch unter ähnlichen Charakterschwächen litten. „Nachdem die Nazis weg waren“, meinte Piscator, „war die Stunde der Moralisten gekommen, nicht etwa, wie fälschlich behauptet wird, die Stunde Null – oder“, und er freute sich vorweg laut über seinen Einfall, „das war die Stunde der Nullen!“ Er wiederholte das ein paarmal. Rebekka jedoch hatte sich, während Piscator so herumlärmte, weiter den mütterlichen Gefühlen gegenüber ihren großen Jungen im Knast hingegeben und sich den Kopf über sinnvolles Freigängertum zerbrochen.
Ihr Weg führte sie jetzt durch ein Stadtviertel mit kleinen Villen, anschließend eine mit großen Bäumen und Strauchwerk bewachsene Böschung hinunter. Dann ging es auf einem schmalen Steg über den Lech. Piscator spuckte wieder hinunter, und Rebekka wollte es ihm deutlich angemerkt haben, dass er am liebsten sein Jungenstück verrichtet hätte. Sie ging weiter, ohne sich umzusehen. Dann bummelten sie durch die Altstadt.
Sie hatten bis zur Abfahrt noch eine gute Stunde. Sie schlenderten umher und fühlten sich als Touristen. Rebekka musterte die Leute und rätselte, woher sie wohl jeweils gekommen waren. Piscator hatten es die Häuserfronten angetan. „Sie haben die Geschichte aus den Fassaden gekratzt“, urteilte er. Zwischendurch fiel ihm das mit dem Herumpinkeln wieder ein, und er wollte nun Schlüsse auf eine verklemmte und heuchlerische Gesellschaft ziehen. Dann entdeckte er, dass die gotischen Fronten nicht immer ganz symmetrisch waren; die unterschiedlichen Fenstergrößen und schiefen Giebel fielen ihm auf. Sein sittliches Anliegen betreffend, schwang er sich schließlich zu der Überzeugung auf, dass sie als Jungen damals Opfer irgendwelcher moralistischen Denunzianten geworden waren, die sie an den alten Steißtrommler verraten hätten. Er hielt sich dabei allerdings nicht lange auf, sondern zog bezüglich der Architektur den Schluss, dass moderne Bauten so nichtssagend seien, weil sie heutzutage dem rechten Winkel aufsitzen wie zu keiner Zeit zuvor. Architektur, wie Kunst überhaupt, sei der geschickte Umgang mit der Brechung der Geraden, dozierte er.
Rebekka echote giftig: „Brechung der Geraden“ – war aber mit den Gedanken gleich wieder woanders. Die Menschen hatten es ihr angetan, Reisende, Touristen von weither zumeist. Sie war eine ganze Weile auf fantastischen Reisen durch die Lüfte und über die Meere. Ein japanisches Paar war ihnen dann begegnet, und sie war in ihren Tagträumen gleich in Fernost bei Geishas und Tempeln und diesen fetten Catchern da. „Die anständigen Leute machen jetzt Urlaub“, klagte sie und deutete auf eine Masse, die gerade aus einem Bus quoll.
Sie wollten im Garten des Cafés am alten Mühlbach Platz nehmen. Auf der Brücke dorthin, kniff sie ihn in den Arm und giftete: „Fang jetzt bloß nicht wieder damit an!“ Als er grinsend auf einen Tisch zusteuerte und sich setzte, meinte sie, dass sie mit ihm auf keinen Fall nach Amsterdam oder Venedig fahren würde. „Ach“, schwärmte sie, die Augen genussvoll schließend, „ach, Amsterdam, Venedig!“
Während sie auf die Bedienung warteten, fragte Rebekka unvermittelt: „Wie heißt du denn wirklich?“ Er war so überrascht, dass es ihm die Antwort verschlug. „Du heißt ja gar nicht Piscator. Wer bist du’n eigentlich?“, bohrte sie – und spottete: „Ach, ich weiß, du bist das Manneken Pis!“
„Wer weiß schon, wer er wirklich ist?“, kam von ihm nur.
„Mensch, du immer mit deine Sprüche!“, ärgerte sie sich. „Ich hab beim Eingang im Knast deinen Ausweis gesehn“, setzte sie trotzig nach.
„Dann weißt du es ja.“
Sie bekamen ihren Tee serviert.
Piscator nahm das Teebeutelchen am Bändel und schwenkte es im heißen Wasser. „Namen“, redete er eher vor sich hin, „was sind schon Namen?“ Dann tauchte er den Löffel ein und drückte das Teebeutelchen gegen die Wandung des Glases. „Ich kenne deinen Namen immer noch nicht“, sagte er, „ich meine den Familiennamen.“ Er nahm einen Schluck. Er fauchte und schmatzte und stellte sein Glas gleich wieder ab.
Als sie ihm antworten wollte, wehrte er ab: „Behalte deinen Namen für dich. Und für die Ämter und die Bullen. Und für alle anderen Arschkrawatten. Die immer Name, Stand, Nation und den ganzen Schablonenkram brauchen!“ Er fühlte jetzt wieder seine verbrannte Zunge. „Ich sage dir: Nix sonst braucht der Mensch von sich. Oder sonst wer von ihm. Nur sich selber braucht der Mensch!“ Er rührte in seinem Glas, um das braune Wasser zu kühlen.
„So ein Käs!“, ärgerte sie sich. „Mann, oh Mann, wozu immer der ganze Aufstand in deiner Birne?“ Sie schwiegen und schauten auf das eilig dahinfließende Wasser im Mühlkanal. „Wenn du lange hinguckst“, schwärmte sie auf einmal, „dann meinst’, du fährst auf’m Schiff!“ Rebekka genoss das – plötzlich fuhr sie richtig auf: „He, lass uns doch weg von hier, irgendwo nach Übersee oder wohin!“
Piscator drehte sich eine Zigarette.
„Stell dir vor“, fing Rebekka an, „da hat mir so’ne olle Bekannte. Ging auch mal mit mir putzen. Die hat mir ‘nen tollen Tipp gegeben. Sagt die doch: Wenn du mal in Urlaub willst oder gleich ganz weg, dann gib doch deine beiden kleinen Anhängsel ins Heim. Oder lass die Bengel ein bissl ein Ding drehn, dass sie abgeholt werdn. Dann bist frei. Vater Staat finanziert das, der hat die Knete von unsern Steuern. Die fahrn mit die Bengels sogar nach Übersee zum Besserungsurlaub!“ Sie sah Piscator abwartend an und fragte nur noch, ob er Geld habe.
„Null“, klagte der, hatte aber nicht verstanden, worauf sie zielte. Sie war sichtlich enttäuscht und nahm einen Schluck aus ihrem Glas.
Sie schauten umher, versuchten, Gesprächsfetzen von den Nachbartischen aufzufangen.
„Man müsste weg, vor sich selber weg“, redete Piscator nachdenklich vor sich hin. Rebekka hakte ein: „So wie die Leute hier, die hier rumlaufn. Die Leut aus Japan und Hamburg. Oder einer müsste halt gleich nach Amerika. Bei dene ist alles viel größer. Nicht so eng. Oder wo viel Leut sind, da sind’s gleich so viel, dass man gleich selber ganz weg ist.“ Dann fasste sie ihn beim Arm: „Mensch, ich hab mir immer gedacht, als ich die vielen Amis bei uns in die Kasernen gesehn hab, nach Amerika, hab ich mir gedacht, schon als kleines Mädl, da musst du hin. Was hab ich immer Amifrau gespielt! Was sind das doch für Leute dort!“
„Amis, lauter Amis!“, zog sie Piscator auf. Rebekka ließ sich nicht drausbringen: „Da fällst du gar nicht auf, in Neuyork. Da kannst du machn, was du willst, da kümmert sich keiner drum! Und das Land, jede Menge Land! Das ist doch hier alles zu. Aber in Amerika ... – Mensch, Piscator!“, klagte Rebekka und hatte sich mit leidender Miene erhoben. „Ich muss mal schnell!“
Er lächelte ihr nach.
Als sie wieder erschien, hatte er das Geld für die kleine Zeche auf den Tisch gezählt. „Verdammt, ich bin blank, völlig abgebrannt, alle Quellen versiegt!“, jammerte er.
Rebekka legte noch zwei Münzen, die sie in der Hand hatte, als Trinkgeld für die Bedienung hinzu: „Das Klo war umsonst.“ Sie setzte sich sonderbar vorsichtig hin.
„Die Stütze vom Sozialamt reicht nicht für uns alle“, meinte sie, „möglich, dass du bald wieder in die Maloche musst. Aber ich glaub, du hast Dreck am Steckn, wie du sagst!“
Er erhob sich stöhnend. Dann bummelten sie die Allee entlang in Richtung Brücke.
Von weitem das tiefe, satte Rauschen des Wassers, das über die Stufen des Wehres stürzte. Sie gingen schweigend nebeneinander. Eine Gruppe Urlauber, wohl wieder eine ganze Busladung, kam ihnen schwatzend, schauend, knipsend entgegen. Sie mussten vor der Menschenflut an die Mauer treten.
An der Betonwand zum Mühlbach stand noch immer in großen Lettern: ‘Asylantenstaat BRD’. Es war sorgfältig mit brauner Farbe aufgesprayt.
„So viele sind auf der Flucht“, sinnierte Piscator, als sie am Ende der Allee an der Treppe waren. „Niemand will Flüchtlinge haben. Da haben sie immer diese großen Worte gemacht von wegen Menschenrechten und Asylrecht. Oder noch toller! Da haben sie immer von den Brüdern und Schwestern in der DDR geseicht. Und ich sehe schon die langen Gesichter, wenn die mal in größeren Massen kommen werden. Und überhaupt, jeder ist bereits als Kind eigentlich auch Flüchtling. Nämlich aus dem Mutterleib!“
„Du spinnst doch!“, sagte Rebekka nur und schaute in die Auslage des Schuhgeschäfts.
Dann war es Zeit, zur Bushaltestelle am Hauptplatz zu gehen.
Kurz eine Notiz:
Mit Einheit von Pimpfen unterwegs gewesen: Gruppe „Dein Kampf“. Alle wehrsportlich ausgerüstet mit uniformem Dress, leichte Wehr, nämlich ein stehendes Messer, Tornister mit diversem Inhalt „fürs Überleben“. Du: Einflussnahme wenigstens in Richtung gemäßigtes Pfadfinderwesen versucht. Sie aber: eingelullt von Schwärmerei. Panzer-Männer, Draufgängertum, Heldenstorys vom Typ „Steiner – Das Eiserne Kreuz“. Du in Gedanken, dass Postheroismus aus Filmen infektiös sei – mit diesem Steiner ist Kämpfertum und Größe der unteren Ränge geradezu zelebriert. Und in so viele sickert dann doch ein wenig von diesen Schemen der ganz offensichtlich nicht wirklich vergangenen Welt. Angewidert sein zunächst. Allmählich nur noch etwas Abwehr. Um schließlich über das Erleben der Faszination der Jungen von Verständnis geradezu befallen zu sein. Du musst dich am Ende davor hüten!
Selbst-Infektion? Du? Erst mit Abstand, eher Abwehr. Allmählich über neutrale Sachlichkeit zum Verständnis dafür oder eher nur für die Jungen? Lauter nette Kerle, glühend vor Eifer. Aufkeimende Männlichkeit. Um schließlich zu einer, wenn auch recht gestutzten Art von Annahme dieser zu gelangen! He, Annahme wessen? Solltest du dich nicht ausbremsen? Dir zumindest nichts anmerken lassen?
Wie soll das sonst weitergehen?
Und dann durchfährt es dich auch noch: Dieses – ja nicht schon sagen dein – Mädchen! Führt der Weg nur über diese unsägliche Hürde zu ihr?
Lieber Herr Gandauer,
einer, der sein Leben bisher dilettantisch handhabte und dem dies soeben einigermaßen schmerzlich belegt worden ist, schreibt Ihnen nun. Einer, dessen Leben nun im Namen des Volkes untersucht und beurteilt werden soll.
So werden mir demnächst vorgewiesen werden: Belege über die monatlich stete Anweisung eines satten Betrages vom Konto einer Einrichtung, die seit Generationen ihren Betreibern die Mehrung des Vermögens durch die Herstellung von Waffen verschaffte. Belege auch und gottlob, die immerhin bezeugen, dass ich, der Veranlasser, die Transferierung ausschließlich zugunsten von Waisenkindern in einer sozialen Einrichtung vornahm.
Ich werde, dies mein fester Plan, betonen, dass mein Motiv darin bestand: Diese begünstigten, der Eltern beraubten Kinder standen mir Pate für jene auf der ganzen Welt, für deren Verwaisung als Ursache auch die Herstellung von Mordwerkzeugen zu betrachten ist.
Ich werde nicht aufhören, das darzustellen. Auch in alles Kopfschütteln hinein.
Fürs Erste werde ich aus meinem Aufenthalt hinter Gittern das Beste zu machen versuchen und vielleicht sogar nützlich sein. Es werde einem nämlich einiges geboten, heißt es. Alles sei ganz genau geregelt. Ich werde mir alles zu eigen machen und partizipieren an den Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, werde den Sozialdienst in Anspruch nehmen, mich an Aktionen des Insassenrates beteiligen und intensiv Freizeitgestaltung betreiben. Mein Gott: Sprachkurse, Fahrschule, Musik, Sport.
So versucht einer, der das Leben alles in allem liebt, sich doch noch die unentbehrliche Hoffnung wieder aufzubauen. Und stellen Sie sich vor, auch aus dieser verschlossenen Bleibe könnte ich mich sogar wieder in die Kommunalpolitik wählen lassen. So liberal sind Gesetze dieses unseres doch leider häufig verkannten Staatswesens. Ich spiele bereits mit dem Gedanken, eine diesbezügliche Initiative zu gegebener Zeit in die Wege zu leiten.
Vielleicht erlerne ich auch noch einen richtigen Beruf, etwas handfestes Handwerkliches, Schlosser zum Beispiel. Ich spiele mit dem Gedanken, einen Führerschein für Lastkraftwagen zu erwerben und habe bereits davon geträumt, mit so einem Ungetüm von Fahrzeug durch die Lande zu brummen, die Welt zu sehen und Menschen kennenzulernen.
Vor allem freue ich mich darauf, Ihnen, lieber Herr Gandauer, vielleicht sogar als Kollege vor Ort zu begegnen!
Mit sehr freundlichen Grüßen, Ihr Fischer, ehemals Piscator
Eine Notnotiz, vor allem aus Abscheu vor einem durchaus Selbstzwang zu nennenden Zustand:
Diskutieren. Wenn einer es so nennen wolle. Es gehe nämlich nicht etwa zu wie in der Judenschule (dieses alte Reizwort immer noch in Gebrauch!). Sondern mit Meldung und Worterteilung. Eher ein Meinungsabfragen. Eindruck, dass das Rudel im Ton der Alpha-Tiere bellt. Bissscheu. Keinen fremden Laut anschlagen. Die Mädchen haben zu schweigen, aber die Ohren zu spitzen. Das Ergebnis: Sie wollen auf meinen Vorschlag nicht eingehen, sich bürgerlich zu geben. Wie zum Trotz wollen sie eine möglichst schrille Aktion durchführen. Eine, die die träge Volksmasse aufhorchen ließe und sie aufrüttle aus Faulheit und Fettheit und geschichtsvergessener Gleichgültigkeit. Kranzniederlegung auf dem alten Anstaltsfriedhof, wo die exekutierten Ikonen des Dritten Reiches ihre Grabstätte hätten. Volkshelden, die von einer Siegerjustiz ermordet worden wären. Sie würden genau wissen, wo dieser und jener echte Volksgenosse zu liegen gekommen sei, obwohl dieser (nach ihrem perversen Wortgekränkle) siegermissgeburtliche Staat die Namensschilder beseitigen habe lassen. {Und ich versichere euch, ihr Satansbrut, ich notiere mir hiermit auch den siechen Wortlaut der Begründung für euren Wissensdurst bezüglich der Ruhestätten eurer Unheilheroen! Es hieß bei euch tatsächlich: Es dürfe nicht etwa dem Kadaver (!) irgendeines verendeten (!) Halbmenschen ehrendes Gedenken zuteilwerden.}
Am Ende dann der Schock für mich: Ich habe diese absurde Ehrungsmaßnahme vorzunehmen! Flankiert durch Begleitung der diskreten Art. Weil mir die Ehre aus dieser gesinnungstreuen und mutigen Verrichtung alleine gebührte. Mir würde die Chance gereicht, mich zu beweisen samt der Echtheit meiner Charakterhaltung!
Verdammt! – ein Fluch in heiligem Zorn. Dem ist jedoch nicht anders zu begegnen als mit einer Verwünschung. Es treibt mich jetzt schon eine ganze Weile um. Ich leiere mir immer wieder ein Sammelsurium von Schimpfwörtern herunter. Es befreit auch nicht, mich bissig selbst zu verhöhnen, welch reichen Vorrat davon ich denn besitze. Qualen, denn es muss sein, will ich meinen Plan verwirklichen, mäßigenden Einfluss zu nehmen und zur Umkehr zu bewegen. In meine Not mischt sich auch noch das Bild von diesem Mädchen, das sich mir zum ordinären Weibsbild und zur Hexe verzerrt und mir dennoch alles überschwebt. So ist Verdammnis, stelle ich mir vor. Absolute Zerrissenheit. Diese Pein-Lust, die sich einer immerwährend selber zufügt!
Der Fluchtversuch in die Sachlichkeit. Vielleicht gelingt es. Um mich aus dem Gemütspfuhl wenigstens etwas herauszuarbeiten. Wieder auf den Boden zu kommen! Da muss ich durch, befehle ich mir! Des von mir ja angepeilten Zieles wegen. Und, stopp! Nicht gleich wieder dieses Mädchen da hineinschlüpfen lassen!
Ich versuche, mich mit der Notiz hier loszuschreiben und mir vor allem einzureden: Sie wollen dich neben der Befriedigung ihrer Abartigkeit auch testen. Ob du nicht doch etwa ein getarnter Informant der Polizei bist. Ein Undercover. Ein V-Mann. Das haben sie aus Erfahrung im Hinterkopf. Mensch, leiste dir ein kleines Luftschloss: Wenn du den Humbug auf dem Friedhof in Landsberg durchgezogen hast, dann stehst du mit beiden Füßen auf ihrem braunen Boden. Du musst dich ja nicht dreckig machen damit. Also musst du dich obenhalten. Mit deinen besten Absichten der quasi Missionierung dieser Heiden.
Ach, du lieber Gott!
Ich werde es wenigstens dem Papier anvertrauen! Alles! Mit wem hätte ich auch darüber sprechen können? Etwa mit dem, der da behauptet, mein Anwalt zu sein? Obwohl ich den Eindruck nicht loswerde, dass mich alle mit sonderbaren Blicken mustern und darauf warten. Dass ich den Mund aufmache. Dass ich es von mir gebe. Was sie schon wissen. Um ihren Kommentar abzubekommen. Denn es sprach sich herum, was sich da ereignet hatte! Es war mit Sicherheit in den Medien. Wie nun damit umgehen? Die bedrückenden Vorstellungen würgen mich! Raus damit, samt meinem augenblicklichen Zustand. Alles, was mich umtreibt. Also, vielleicht schafft mir das etwas Luft:
Sechsundzwanzigster September, ich, ehemals Ernst Odtke alias Gandauer, notiere nach schlaflosen Nächten und ruhelosen Tagen:
Bei Gericht gewesen. (Muss selbst bei dieser Niederschrift immer wieder in ferne Erinnerung fliehen. Um vielleicht das alles etwas zu lindern, was mich bestürmt und bedrückt. Muss allerdings immer wieder die braunen Uniformfetzen abstreifen, in denen ich mir dauernd in irgendwelchen schattenhaften Umständen begegne. Ich stehe dann aber nackt vor mir! Und ich verachte mich. Will mir entkommen. In entlastende Fluchtpunkte. An Befreiung wage ich gar nicht zu denken. Ein wenig wenigstens entfernen von meinem Jetzt. Um mich doch etwas aus der tiefen Betroffenheit zu ziehen. Die mich so ergriffen hat. Es mit Münchens Justizpalast versuchen. Als gleichsam Rückzug nach vorne. Dem sie seinen graubraunen Überzug weggeschrubbt haben. Hedwigs gedacht. Ja! Der Spaziergänge mit ihr im alten botanischen Garten gegenüber. Der Bälle auch zur Faschingszeit im nahen Künstlerhaus. Es lenkt tatsächlich ein wenig ab. Leider für Momente nur. Alles ist bald als Vorwelt im Bewusstsein schmerzlich verflogen.)
Doch wieder zum Plan, den Vorgang zu rekonstruieren: Trotz Vor-Presse, wenig Publikum. (Mag sein, dass alle jetzt gebannt gen Osten blicken, auf die letzten matten Flügelschläge des zweiten deutschen Staates. Des Produktes aus unserer Konkursmasse. Es kündigt sich ein großer Sonnenaufgang in der deutschen und sogar der Weltgeschichte an. Da sehen die Menschen über die tiefen Schatten der Vergangenheit hinweg. In deren Dunkelheit und Kälte ich gefangen bin.)
Zunächst jedenfalls entspannte Atmosphäre im Saal.
Hatte Peters aus einiger Entfernung gesehen. Ihn sofort erkannt (untersetzt, satter Gesichtsausdruck – in vermutlich pflegerischer Begleitung). Er ließ mir durch Sterzinger (der ihn wegen der Identitätsbezeugung noch einmal angesprochen hatte) einen Zettel überbringen. Habe ihn sogar noch in der Tasche: „Befinden sich im Irrtum, Herr Gandauer, mit der Vermutung einer Vernichtung des gesamten Bücherschatzes der Breslauer Bibliothek. Etwa fünfzigtausend Seiten gerettet: Opitz, Gryphius, Logau, Böhme, der Schatz unserer geliebten schlesischen Meister der Barockliteratur. Sie stehen wieder vor Ort. Jetzt leider in Polen.“ Sterzinger übergab mir den Fetzen mit sorgenvollem Blick: „Ob der alte Herr noch die Kraft hat, um glaubwürdig für uns als Zeuge auftreten zu können?“
War mir nicht sicher, ob Peters mich erkannt hatte. Ich hatte auch keine Gelegenheit mehr, Sterzingers Eindruck diesbezüglich zu hinterfragen.
Eröffnung der Sitzung pünktlich zehn Uhr.
War mir des Ernstes, der dem Ereignis auf jeden Fall gebührte, voll bewusst und mühte mich, mir den klaren, ungetrübten Blick zu wahren. Lenkte zur Unterstützung dieses Vorsatzes meine Aufmerksamkeit auf die Damen und Herren in Robe. Aus noch sportlich ferienbraunem Teint ihr amtsstrenger Gesichtsausdruck. Im Verhältnis zu mir allemal sehr junge Leute. Der viel benutzte Ausspruch von der Gnade der späten Geburt kam mir sofort neidvoll in Erinnerung bei ihrem Anblick. Bemühte mich weiter, mir die Wachheit zu erhalten, indem ich die Zuhörerschaft zu zählen begann, um nicht etwa gleich wieder in ein Nebelhaftes abzudriften, das mich seit einiger Zeit bisweilen überzieht.
Vortrag der Personalien. Gab vermutlich auf die Frage nach meiner Identität nach meiner Gewohnheit an, hätte mich genau dieser, nämlich Gandauers, bedient. Der vorsitzende Richter schien, glaube ich, für einen Augenblick irritiert. Sterzinger wendete sich mir zu, das weiß ich noch genau. Er blickte drein, als wolle er mich noch einmal ermahnen und mich erneut auffordern, den Identitätswechsel zu Ernst Odtke auch wirklich öffentlich werden zu lassen. Der Vorsitzende ließ, vermutlich nach kurzem Zögern, meine Einlassung gelten. Sterzinger beantragte umgehend (meine ich, mich zu erinnern), eine Erklärung zu meiner Identität abgeben zu können. Er wurde damit wahrscheinlich zurückgewiesen. Ich denke, dies geschah mit dem Hinweis, dass die vorliegenden Angaben überprüft und als vollständig prozesstauglich befunden seien. Diese Abfuhr muss Sterzinger geärgert haben. Hatte er doch vermutlich versäumt, sein Vorhaben bereits in ausreichender Frist vor Prozessbeginn schriftlich zu erledigen. Er nestelte erregt (habe ihn damit auch bei dieser Niederschrift noch beinahe direkt vor Augen) an seinen Unterlagen herum. Verdächtigte ihn sofort, dass er geplant haben könnte, mit der nachgeschobenen Identitätserklärung den Prozess Aufsehen erregend platzen zu lassen. Hatte ihm immerhin die ganze Zeit über viel zugemutet. Habe ihm also alles nachzusehen.
Dieses ganze Szenario des Auftakts neulich nimmt mich (allein in Gedanken daran) jetzt schon so ein. Ich werde eine Pause einlegen, um Kräfte zu sammeln!
Nach Stunden wieder hoffentlich ausreichend Fassung, das Vorhaben mit Darstellung des problematischsten Teils des Ereignisses anzugehen:
Verlesung der Anklageschrift. Bereits die ersten Punkte ergriffen mich zutiefst! (Und ich hatte vorhin bei der Erinnerung daran und dem ersten Versuch, es zu Papier zu bringen, vor Schauder immer wieder einmal den Stift weglegen müssen. Nun muss ich jedoch den Mut aufbringen!) Bin immer noch unendlich bestürzt über diese Bilanz der Unmenschlichkeit und werde mich dem vermutlich auch nie entziehen können! Bei den ersten Absätzen der Anklageschrift türmten sich mir schon vor dem inneren Auge diese geradezu Berge von ausgemergelten, zerschundenen, zu Tode Gemarterten auf. Welche die Amerikaner damals in befreiten Lagern filmisch dokumentiert hatten! Welch einen Auswurf an Barbarei hatte ein gewöhnlicher Mensch wie dieser Gandauer in der kurzen Zeit seiner Exekutions- und sonstigen Vollzugstätigkeit über Leib und Seele seiner Opfer abgesondert! Es war mir kurz nach Eröffnung der Anklage klar geworden, dass ich diesen sich zuvor als Biedermann gutbürgerlichen Formats gebenden Gandauer sträflich falsch eingeschätzt hatte. Auch beim Versuch der Aufzeichnung hier noch: Ich fühle mich ob der Rohheit der dargestellten Untaten auch wiederum fortwährend von der Frage bedrängt: ob ein gewöhnlicher Mensch überhaupt zu all dem alleine fähig sein kann. Handlungen entschieden satanischen Charakters. Abläufe, deren bloße Schilderung noch nach dieser langen Zeit immer wieder tief in die Seele schneiden. Obwohl nur in kaltem Justizdeutsch vorgetragen. (Wäre es denkbar, dass gerade dieses dürre Deutsch einen gewissen Steigerungseffekt zeitigte?)
Jener Mensch Gandauer habe es fertig gebracht, in kürzester Frist nach seiner Ernennung zum Büttel, in seinem Wirkungsbereich KZ-Milieu auf engstem Raum zu erzeugen. (Gerade diese räumliche Enge musste die Drangsale vermutlich noch erheblich gesteigert haben. Da sie die Opfer an sich selber erleben und zuvor durch Augenschein fortwährend bei anderen hatten miterleiden müssen): Blockälteste mit Recht zur Prügelstrafe (bevorzugt hochkriminelle Banditen, die sich in ihrer perversen Weise austobten), Nacktvisitation, Elektroschocks und dreizehn Stunden Schwerstarbeit. (Arbeit als Strafe, als Selektions- und Vernichtungsinstrument.) Dann die täglich durchgeführten Exekutionen, verstärkt in ihrer Wirkung auf die noch Überlebenden durch die Obszönität einer erzwungenen Öffentlichkeit.
Diese unselige Ballung von Ruchlosigkeit konnte nicht Produkt nur eines einzigen, wenn auch tiefdunklen, eiskalten Inneren sein! Diese Einsicht erfasste mich – und hat mich im Griff und wird mich gewiss nicht mehr loslassen. Es suchte mich mit jedem Satz des Vortrags mit wachsender Deutlichkeit heim! In meinem Kopf keimte, zunächst verhalten, dann jedoch immer stärker und schließlich unaufhaltsam der Gedanke: Mit dieser Anklage da werden wir dargestellt! Wir alle: sämtliche Täter, sämtliche Veranlasser, samt allen nur Hin- und Wegsehern. Wir von damals. Wir, die wir entweder immer wieder die Hände sozusagen in Nichtwissen eingetaucht hatten, um sie damit rein zu halten. Oder die wir uns damit befriedeten, alles als rechtlich und sogar moralisch statthaft zu begreifen. Wenn es nur von staatlicher Seite verlautet war.
Hier wieder von der Schreibarbeit weg! Es wird sicher Stunden dauern, in denen ich mit Versuchen der Ablenkung beschäftigt sein werde, um dem mich wieder zunehmend beherrschenden Ekel wenigstens etwas auszuweichen!
Später doch weiter, denn es muss heraus:
Meine nach dem Zusammenbruch unserer Bewegung gehegte und gepflegte Überzeugung schwand mir im Fortgang der Verhandlung zunehmend! (Soweit ich ihr, muss ich gestehen, überhaupt wach und ganz bei Sinnen folgen konnte!) Jene Gewissheit, dass ich mit solchen fürchterlichen, abstoßenden Vorgängen, die hier vor Gericht aufgezeigt wurden, nicht etwa direkt etwas zu tun hatte.
Fortwährend und selbst eben noch beim Aufzeichnen jetzt der Gedanke, dass all das nicht ein Einzelner nur aus sich selber heraus zu verüben imstande war. Dass das der verpestete Dunstkreis war, aus dem wir alle atmeten. Dass dies und ja unermesslich mehr geschehen konnte auch auf die beschweigende Duldung durch die Masse auf bloße Verweigerung der Kenntnisnahme hin. Was jedoch immer und überall nur als feiges, stilles Geheiß, als nichts weniger denn als Aufforderung betrachtet werden muss. Durch die Normalitätsbewusstsein erzeugende Mehrheit gedeckt.
Im Laufe der Verlesung der Dokumente des Horrors wurde für mich immer bedrängender: Dieser Gandauer wird mit jedem Satz stets weiter hineingepresst in die Bande der Täter, der wirklichen, doch auch stillen Auftraggeber, der Ignoranten. Welcher Rotte ich unweigerlich angehörte. Verflucht, im vordersten Glied sogar.
Das ist mir auch in diesen Momenten der Aufzeichnung ganz klar und überaus bedrängend im Bewusstsein: Die besten Jahrzehnte meines Lebens ins nicht zu steigernde Arge investiert gehabt zu haben! Teufel und Hölle und all das. Bin versucht, diesen Ereignissen mit derlei magischen Begriffen zu begegnen. Muss mich allerdings auch wieder davon losreißen. Denn mit diesem Inventar des Imaginären schaffte ich dem realen Grauen nur eine allegorische Patina, die den Blick darauf äußerst unbillig verdeckte oder gar überhaupt versöhnte.
Und immer wieder: Dieser Gandauer könntest tatsächlich auch du gewesen sein, nämlich der Verstrickung und nicht etwa nur dem Namen nach!
Die gebeugte Frau mit schlohweißem Haar dann! Die sie da in den Saal geleitet hatten.
Allein ihre Erscheinung! Ihr stockend vorgetragener Bericht! Ihr spürbares Ringen dabei um Haltung und Würde! – Aus einem jeden ihrer Worte flackerte die innere Verschlissenheit dieser tragischen Existenz. Es erfasste mich erneut zutiefst – und hat mich noch gefesselt und wird mich gewiss nie mehr loslassen! Habe sofort jegliches Vorgetragene als die entsetzliche Wahrheit akzeptiert. Hier vor der Niederschrift noch (und ich versuche, ganz klar zu bleiben, mir nicht zu gestatten, mich in eine feige Trübung davonzumachen!): Es waren sogar weniger die Worte als vielmehr die Aura, die dieses Opfer durch seinen Auftritt im Nu verbreitete. Die Atmosphäre des Leids aus den erlittenen Qualen und des großen Verlustes nahen Menschenlebens, die sie umgab, als Anklage, als Beleg des unerbittlichen Nachhalls der Unmenge der Torturen. Eine im Grunde untragbare Last. Dass wohl dieses ganze Leben davon geprägt wurde nach dieser Begegnung mit dem Arm der Vollstreckung der allgewaltigen Skrupellosigkeit und Verkehrung der Werte. Und dass diese Zeugin es überall hin mitschleppen muss, wohin sie noch ihre Wege führen werden. Das lebendige Leid des Jahrhunderts! In ihr abgebildet. Und ich als einer der Fangarme der Krake einer nicht zu steigernden Abscheulichkeit. Seit ihrem Auftritt ist mir diese kleine, gemarterte Person gegenwärtig. Immerfort. Mir ist nun ganz bewusst, dass wir in diesen Erinnerungen der Opfer weiterwüten und unsere Freveltaten endlos vollführen. Das ist der grenzenlose Schreckenshort, den wir fanatisch blind bereitet hatten.
Mit welch einer Identität bin ich durch die Zeit gegangen?
Es lässt sich kein Abstand gewinnen!
Das alles brach über mich herein. Ich hätte mir in den Augenblicken dieses Überwältigtseins gerne wieder einen dichten Nebel gewünscht. Der mich vor mir selber verbergen hätte können!
Fühlte bei einem Blick umher die abgrundtiefe Verachtung in den Augen der Anwesenden. Für mich als Gandauer!
Ich blickte dann betroffen zu Boden, mir der tiefen Abscheu voll bewusst. Es hatte sich mir im Kopf dann doch etwas zu drehen begonnen ... (Wie eben hier vor der Notiz: Die doch unverdiente Gnade der Natur wollte mir anbieten, mich wieder etwas fortzutragen von der Qual der Gedanken, mich zu entrücken ... Ich hatte dem damals feige nachgegeben – wie auch eben
Nun habe ich jedoch wieder genügend Klarheit und Kraft:
Die Verhandlung dauerte an. Und was da weiterhin alles vorgetragen wurde! Diese Bestialitäten waren auch aus mir gequollen. Stand mir plötzlich ganz klar vor Augen! Der üble Vollstrecker wurde immer mehr ich selber. Ich wusste mich in seiner Haut, die die meine war und ist und bleibt. Aus der ich mich nicht befreien konnte und kann – und darf.
Diese Unerträglichkeit!
Ich setzte mit einem Mal mein im Grunde doch lächerliches Inkommodiertsein gegen den durch unsereinen gesetzten Aberwitz und seine ungezählten abstoßenden Varianten. Ich ging an der bloßen Mitschuld vorbei. Ich zeigte im Inneren auf mich. Ich bezichtigte mich sodann endgültig und konnte mir nicht mehr ausweichen und dann:
Ich hatte mich erhoben. Bebend und mit zitternden Knien zwar. Sterzinger war aufgesprungen, um mich zu stützen.
Ich gebe Erklärung ab:
„Ich bin es! Ich bin tatsächlich und nicht widerrufbar, ich bin Gandauer. Ich bin dieser Gandauer und niemand anderer. Meine und aller Mittäter eigentliche Bezeichnung ist überhaupt Gandauer!“
Mich schwindelt es an dieser Stelle wieder in meiner Erregung die mir die Erinnerung heraufbeschwor ich werde jetzt erneut innehalten die Augen schließen hinwegtaumeln weg vom beklemmenden
Jetzt wieder bei dieser Aufzeichnung (ich lasse die zuletzt gedachten Worte stehen, wie sie von mir noch hingekritzelt wurden): Vermute, meine Erklärung vor Gericht wird möglicherweise dem Ende zu im anschwellenden Geräuschpegel untergegangen sein.
Es war mir jedenfalls vor Augen schwarz geworden. Ich war zusammengebrochen und zu Boden gesunken.
Als ich wieder zu mir kam, nahm ich erst nur so etwas wie ein Raunen im Saal wahr. Anschwellen der Lautstärke in meinem Ohr. Daraus blitzten empörte Rufe. Irgendwas. Wie das Kläffen und Bellen aus einer gereizten Meute schließlich.
Ich, ja ich liege zwar körperlich am Boden, nahm ich mich wahr. Dagegen wusste ich mich für den Augenblick im Inneren befreit und erhoben. Es überkam mich schließlich ein Eindruck, der sich sofort als Auferstehung, Wiedergeburt und Neuanfang anbot.
Ich gewahrte die auf mich gerichteten empörten Blicke des Anwalts.
Vorsitzender hatte sicher die Verhandlung unterbrochen.
Ich wurde noch im Gerichtsgebäude ärztlich versorgt.
Sterzinger, den ich sehr bedauere, fassungslos. Abbruch der Verhandlung dann. Sterzinger wieder etwas Qualmendes im Mund, erinnere ich. Mandat niederlegen. Polternd Rede dann von bewusster Irreführung, Missachtung des Gerichts, Täuschung, Vorspiegelung falscher Tatsachen, Urkundenfälschung, Betrug ...
Als ich wieder ganz bei mir war, fühlte ich tief und unabweisbar und musste dieses Gefühl auch als Realität akzeptieren: Dass ich mich angesichts der hemmungslosen Schandtaten, an deren Entstehung und Verbreitung ich beteiligt war, der Verantwortung für die Folgen und damit verbunden der Übernahme der Schuld gar nicht mehr entziehen darf. Ich weiche nicht davon ab: Ich, mutmaßlicher Odtke, bin und war in der Wirklichkeit ein Gandauer, bin es wie jeder Einzelne von denen, die auch nur weggesehen haben, die wirklich dazu aufgefordert und die es schließlich vollführt haben: zu entrechten, zu rauben, zu schänden, zu morden.
Ich werde Sterzinger mitteilen! Dass ich die ihm gegenüber gemachte Darstellung des Identitätstausches voll und ganz widerrufe. Ich werde feststellen! Dass dieser Akt der Übernahme des Namens und der Identität Gandauers insofern ein logischer und damit notwendiger war. Als damit die Taten zu übernehmen waren. An denen ich unabweislich Mitschuld zu tragen habe. Ich muss Gandauer sein. In Vertretung so vieler
Man hatte scheinbar einen Ernst Odtke in den Ruinen gefunden. Und als diesen auch beerdigt. Dieser Odtke war jedoch lange vorher: bereits tot.
Und ich muss mich ganz in mich hineinfallen lassen und so weiter
Gandauer vermutete, sich wieder einigermaßen erholt zu haben. Die Beklemmung, die ihn seit dem gescheiterten Verfahren fest im Griff hatte, schien etwas gelöst – unklar, ob es das tintene Bekenntnis bewirkt hatte. (Er hatte es noch auf dem Tisch liegen, wagte jedoch gar nicht mehr, es zu überlesen!) In die gelegentlich immer noch auftretenden Schwindelgefühle spukte es ihm nun allerdings traumhaft herein mit längst verblichenen Gestalten. Deren Grimassen meinte er entnehmen zu können, dass sie unaufhörlich wortlose Reden führten. Er plante, damit umgehen zu lernen, denn es tat ihm manchmal richtig wohl, sich diesem Gespensterreigen hinzugeben. Mit dem Lauf der Dinge war er zufrieden. Es kam ihn hie und da ein wenig Stolz an, seinem alten Gaul Schicksal, wie er es sich selber erklärte, die Sporen gegeben zu haben. Natürlich wusste er nicht, wie es weitergehen würde, aber das focht ihn wenig an.
Er saß in seiner Zelle und kaute auf dem Stift herum. Dem Anwalt gegenüber hatte er ein schlechtes Gewissen und wollte ihm schreiben.
Sehr geehrter Herr Sterzinger!
Ich sehe es als meine Pflicht an. Noch einmal die Sprache auf den Hinfall bei Gericht zu bringen. Darauf insbesondere. Dass der Eindruck entstanden werden will. Sie seien eine Figur meines hingegen gar nicht vorhandenen Traktierens. Und überhaupt der Situation als gediegener Fachmann, als überaus ausgewiesener Jurist, nicht Herr gewesen
Immer wieder musste Gandauer seinen Schreibversuch unterbrechen. Aber er hatte ja Zeit. Nach Tagen war er überzeugt, die Sache doch erledigen zu können:
Es wäre für mich und für alle und besonders für Sie bedauerlich, wollten Sie zu Schaden genommen sein. Ich will Ihnen gerne etwas zugestehen. Freilich, dass ich alles in meiner Kraft daran setzen werde. Sollte nämlich durch diese unvermeidbaren Vorfälle Ihr Ruf beschädigt worden sein. Und zwar vielleicht etwa annähernd so, wie es der Meine sein könnte und bleibt. Ich darf und muss Ihnen bereits und in Zukunft und alle Zeiten etwas versprechen. Freilich dass ich die Mittel dazu sehr wohl in die Hand bekommen und halten und anderen zur Not auf die Füße werfen könnte, dass es Sie schmerzt. Weil, es haben mich im Ablaufe der letzten Tage gleich zwei auf dem Gebiet der Offenlegung wohl bewanderte Illustrierte behelligt. Sie wissen schon: Glanzpapier. Welche mir Exekutivgebote unterbreiteten, so etwas wie eine Lebensbeichte herausträufeln zu lassen. Sollte es jedoch aus Gründen der Klärung von Misslichem bezüglich meiner Person und zur Aufhellung Ihrer durch und durch fachlich qualifizierten und ehrenvollen Rolle erforderlich scheinen: So werde ich unverzögerlich und sehr wohl auch in der Lage sein. An der Öffentlichkeit heranzumachen.
Trotz dieser Fährnis, nachstehend mein Versuch
Gandauer ließ es jedoch sein.
Er schwieg, warf einen Blick auf die offene Tür des Haftraums. „Wenn dich wer Selbstgespräche führen hörte! Die halten dich dann alle für sonst einen!“ Er lachte darüber laut, dass es in den Gang hinaus hallte. In klaren Momenten keimte in ihm tatsächlich der Verdacht, wahnsinnig zu sein: „Das ist das Tollsein wegen dieses ganzen entsetzlichen Irrsinns immer!“, bestätigte er sich. „Das ist die Quittung! Und ist aber auch der beste Schlupfwinkel hinter sich selber! Mensch, ja! Sich hinterm eigenen Wahnsinn verkriechen! Und: Sich dort zu verstecken – Bis zum Verrecken.“ Er bekicherte seinen Schlussreim eine ganze Weile.
„Du solltest eines tun“, kam es ihm dann. „Dieses dein ganzes Verrücktsein annehmen und auch wirklich leben. Wenn das auch nur irgendwie vollziehbar ist. Weil alles seit so langer Zeit schon gar nie mehr am rechten Platz ist. Sondern verrückt. Und das Recht hat, auch weiter dort im Irgendwo zu sein, trotz allen Umstands. Was seit einiger Zeit als Widerhall gelegentlich erklingt – lausche gefälligst! Und dich mitnimmt in seine Fremdwelt. Die ja doch lange bereits die deine ist. Nicht nur so als Ausflucht. Sondern als bekennender Narr. Hast du zu firmieren.“
Er lief in gewohnter Weise im Raum umher und warf immer wieder grinsend einen Blick auf das Schreiben an Sterzinger. Schließlich nahm er das Blatt und trug es mit sich herum, blieb stehen und las – oder las im Gehen, stolperte auch einmal über seine Worte – oder auch seine Füße.
Nach einiger Zeit vermutete er, den Text halbwegs auswendig zu können. Er begann, ihn laut herzusagen. Es war ihm, als habe er eine Rolle in einem tragischen Stück zu spielen, „dem auch etwas Komik innewohnt – wie allerdings im richtigen Leben überhaupt“, beteuerte er sich. Freilich verhaspelte er sich ständig. Er freute sich dann darüber, weil er sich sicher war, dass es sein Unterfangen bereichere, zudem sein eigenes Publikum belustige, das er gerne – und wie er sich vormachte: Ohne Eintritt und demnach unentgeltlich – selber verkörpern wollte. Er genoss schließlich auch das Durcheinander im Kopf, das ihn fast ganz im Griff zu haben schien, wohl durch seine aufwendigen Vorführungen verursacht, zumindest gesteigert. Am Ende war er bereit, alles als zu einer Art Kunstwerk zusammengefügt zu erkennen – und war sich darum selber dankbar.
In helleren Momenten machte er die paar Schritte von der Fensterwand zur Tür. Es tat ihm gut, lenkte von allem ab, weil er auf die Schritte zu achten hatte. Diesem Wechsel von Vortrag, Taumel und Schreiten gab er sich einige Zeit hin. Dann nahm er seinen Briefversuch an den Anwalt und legte ihn auf den Tisch, strich mit der Hand darüber. Darüber breitete er sein Erinnerungsprotokoll von seinem neulich alle höchst verstörenden Bekenntnis vor Gericht, nämlich seine Wandlung betreffend. Sein Glätten setzte er sogleich fort. Und er tat es so lange, bis ihm der Handballen, mit dem er seine Aktion betrieb, heiß war. Darauf schritt er den kleinen Raum wieder ab, immer weiter ausholend, bis es nur noch drei Schritte waren. Er war sich sicher, dass das wunderlich aussah, und freute sich auch darüber.
Schließlich griff er sich seine Zettel und begann mit zitternder Hand, sie in kleine Fetzen zu zerlegen.
Am Ende spielte er tatsächlich mit dem Gedanken, die Schnipsel innerlich zu entsorgen. Er erwartete sich davon wieder Beifall, den er sich selber ausgiebig spenden würde – sich, dem sozusagen intimsten Publikum. Und er beschallte sich schon einmal zur Probe damit, wenn auch nicht gerade lauthals.
Endlich ließ er die Entscheidung doch offen, den Verdauungskanal mit der Beseitigung zu befassen, beförderte es immerhin zur Option – und wollte darin voll Heiterkeit sogar einen Rest Zukunft erkennen, zumindest für ein paar Tage.
Der schließlich bestellte Pflichtverteidiger traf fortan nur noch einen nach beinahe jedem zweiten Satz freundlich kichernden Greis an.
Frank wollte, kurz nach einem recht unerfreulichen Kontakt mit der Polizei, bei Gandauer so etwas wie ein Geständnis ablegen. Auch spielte er mit dem Gedanken, den alten Herren möglicherweise als Zeuge in seiner Angelegenheit zu gewinnen, nämlich dafür, dass sein Einsatz bei dieser rechten Clique ausschließlich von einem höchst positiven um-erziehlichen Plan getragen war. Alles war sorgfältig ausgedacht, als er in der Vollzugsanstalt auftauchte, um Gandauer zu berichten: Es sei damals schon dämmerig gewesen zu Beginn dieser absolut blödsinnigen Aktion, als er am Parkplatz gegenüber dem Friedhof der Justizvollzugsanstalt angekommen war. Ihm sei von drei Kameraden ein großes, schweres Kranzgebinde an das Auto gelehnt worden, wollte er Gandauer informieren. Er sollte es an einem bestimmten Grab in der dritten Reihe niederlegen, danach strammstehen, die Ehrenbezeugung mit erhobenem Arm und dem obligaten Heil Dir abfolgen lassen. Diese Weisung verarbeitend, habe er einen Blick über die niedrige Mauer geworfen, um das Ziel auszumachen. Als er sich den Überbringern wieder zuwenden wollte, seien diese verschwunden gewesen. Er habe sich zwar gewundert, weshalb ihm die drei nicht wenigstens beim Transport des Gegenstandes mit der schwarz-weiß-roten Schleife haben kameradschaftlich behilflich sein wollen. Er habe sich noch vorgenommen, ihnen einen gehörigen Anpfiff zu verpassen. Durch diesen Vorsatz der Disziplinierung innerlich gestärkt, habe er sich an das befohlene Ziel begeben. Mit Verachtung zwar, aber immerhin, sei er gegangen, um den Auftrag im Sinne der rechten Fanatiker zu erfüllen. Er sei sich gleich sicher gewesen, die feigen Typen würden den Vollzug link aus dem Hinterhalt kontrollieren. Tatsächlich habe er mehrmals Linsenklicken eines Fotoapparates vernommen! Voll Hohn und Abscheu habe er das Affentheater unter dem Kamerageräusch etliche Male wiederholt. Und dann sei er zwar etwas erschrocken: Zwei uniformierte Kraftpakete seien auf ihn zugeeilt. Er habe allerdings laut herausgelacht und geschrien, sie schreckten in ihrer Dummheit wohl vor nichts zurück und maskierten sich jetzt sogar in staatlicher Aufmachung! Einer der Uniformierten habe eine amtliche Formel hergesagt. Er habe noch gespottet, dass diese sehr brav auswendig gelernt sei. Doch sie hätten ihn untergehakt, und zwar nicht gerade sanft. Dass es jetzt reiche, habe er noch geschrien. Dann sei ihm allerdings der Ernst der ganzen Szene aufgegangen. Unter seiner üppigen Bekundung von Entschuldigungsfloskeln sei er ins Polizeiauto komplimentiert worden.
Bei Gandauer angekommen, gewann Frank allerdings bald den gleichen Eindruck wie der Verteidiger. Auch ihm begegnete dieser freundliche, offenbar geistig nicht immer ganz anwesende Greis. So behielt Frank seinen Bericht natürlich für sich. Mit seinen Problemen mit der Justiz musste er allerdings sehen, wie er ohne Zeugenschaft des alten Herren zurechtkommen würde. Er war jedoch guter Dinge und voll Hoffnung. Im Übrigen hatte er sich gleich nach besagter Begegnung mit der Justiz entschlossen, nun doch dem Herzenswunsch seiner Mutter zu entsprechen. Er wollte zunächst erkunden, wenn er schon vor Ort war, wie er seinen Gesprächspartner von ehedem auch weiterhin unter den neuen Vorzeichen würde treubleiben und behilflich sein können.