LANDGLUT HOPFENSUD
Bilder eines Landlebens im Umbruch im südlichen Deutschland des
ausgehenden vorigen Jahrhunderts.
Vorspruch:
Das Bärlappkraut hat sich als Urgewächs aus sehr frühen
Erdzeiten erhalten, über allen Wandel hinweg.
EINGANGS
Der
Bärlapper Hans ist schon immer um fünf in der Früh aufgestanden, um in den
Stall zu seinen Kühen zu gehen. Die Mutter hatte da längst einen Rosenkranz
gebetet. Eine gute Stunde brauchte Bärlapper für die sechs Viecher. Die Mutter
tränkte einstweilen die Kälber, fütterte die Hühner und bereitete das
Frühstück, eine Brennsuppe, wie man sie immer hatte. Wenn er dann das
Stallgewand gegen den "Blaumann" getauscht hatte und in der Küche
saß, machte er mit der Mutter aus, was auf dem kleinen Bauernhof tagsüber zu
erledigen sei. Sie mussten da nie viel reden. Ein paar Worte reichten aus,
durch karge Gesten unterstützt.
Gegen
sieben fuhr Bärlapper mit dem Rad zur Arbeit in die nahe Brauerei, die zum
Schloss Ritzling gehörte. Bevor er dort durch das auf Altdeutsch gemachte Tor
auf den Hof gelangte, musste er eine kleine Anhöhe hinauf und über eine schmale
Brücke. Auf dem Weg zur Arbeit traf er meistens Kameraden, denen er sich
anschloss. War er jedoch allein, blieb Bärlapper auf der Brücke stehen, drehte
sich noch einmal um und schaute zum Dorf hinunter. Bei dem Blick über den Anger
und zu den Häusern hinüber hatte er immer ein gutes Gefühl.
An seinem
Arbeitsplatz stand er dann den ganzen Tag in einem hohen, bis zur Decke
gefliesten Raum zwischen summenden Maschinen und stampfenden Apparaten. Ein
scheinbar nie enden wollender Strom klirrender Flaschen lief auf ihn zu und an
ihm vorbei. Er hatte an der gläsernen Kolonne mit beiden Händen zu tun und an
jeder Flasche einen Handgriff auszuführen. Dieser Riese im Blaumann war bereits
Inventar: Der Körper eine Säule, die Arme und Hände im Takt in Bewegung zum kurzen,
gleichförmigen Ablauf.
Und wollte
sich Bärlapper auch nur einmal mit dem Handrücken über die Nase fahren, so
musste er erst sein Tempo steigern, um sich am Band vorzuarbeiten.
"Das
ist ja schier gar Sträflingsarbeit!", hatte einer von Bärlappers
Arbeitskameraden geschimpft, um seine Anerkennung kundzutun. Der Müller Seppl
war es, "der leicht einmal das Maul aufreißt, und bei dem es wie ein
Anschiss klingt, wenn er einem etwas Gutes sagen will", wussten alle. Sie
saßen damals bei der Brotzeit im Aufenthaltsraum. Der Müller hatte etwas
gelesen. Da lag nämlich immer ein Blatt wie ein Tischtuch ausgebreitet auf der
groben Platte. Wer die in ganz großen Lettern gehaltenen Aufmacher auch nur
überflog, hatte sich immer gleich seine Meinung gebildet. Das Blatt war zwar
stets bald fleckig und verschlissen, wurde jedoch vom Huber Max alle paar Tage
erneuert, und zwar besonders dann, wenn der Max auf diese Weise wieder etwas
ganz Besonderes mitteilen wollte. Alle schauten heute immer wieder mal darauf.
"Die gehen ja mit den Verbrechern im Zuchthaus um wie im
Nobelhotel!", wetterte der Müller. "Aber das ist es ja genau.
Heutzutag muss keiner von den Halunken mehr eine solche Arbeit machen wie der
Bärlapper oder unsereiner hier umeinander!" Er schaute zornig in die Runde
und tippte mit dem Finger auf eine Stelle in der Zeitung.
Nach
Feierabend beeilte sich Bärlapper immer, nach Hause und zu seiner Bauernarbeit
zu kommen. Er war dann wieder Stunden im Stall bei seinen Rindern – und sein
eigener Herr. Es musste auch das erledigt werden, was die alte Mutter nicht
geschafft hatte. Meistens waren das eben die schwereren Arbeiten und überhaupt
alles mit Maschinen, dem "neumodischen Zeug". Liegen bleiben durfte
dem Bärlapper nichts und verkommen gleich gar nichts. Man schaute im Ort
aufeinander, niemand wollte sich etwas Schlechtes nachsagen lassen. Besonders
vor den Nachbarn, die immer gleich alles wissen, musste man besonders auf der
Hut sein.
So hatte
Bärlapper jeden Tag bis in die Nacht hinein zu tun. Er war es gewöhnt.
Schließlich war er ja in diese Verhältnisse hineingeboren. Das Sachel war eben
zu klein, als dass es damit allein zum Leben gereicht hätte. Es war immer so,
dass man zu den Größeren gegangen ist, um ein paar Zentner Kartoffeln für die
vielen Mäuler, die es zu stopfen galt, samt den Schweinen. Auch um das Ährenlesen
nach der Getreideernte ging man auf die großen Felder, um für die Vermehrung
seines Mehlvorrats zu sorgen. Sogar um das Grabenausmähen bemühte sich mancher
bei der Gemeinde, um etliche Maul voll Gras mehr für seine paar Kühe, Schafe
oder Geißen zu haben. Um lauter solche kleinen Nützlichkeiten mussten sie
ständig besorgt sein. Bei den Herrschaften vom Schloss hatte es aber immer bare
Münze gegeben, wusste Bärlapper. Es war so etwas wie eine Vergünstigung, dort
zum Dienst antreten zu dürfen. Jeder hatte, früher jedenfalls, lange zu warten,
musste sich sozusagen erst als zuverlässig und brauchbar zeigen, bis ihm die
Gunst zuteilwurde. Es war zwar auch nicht zum Reichwerden, doch langte es
immerhin mit dem Milchgeld zusammen, um das Angeschriebene beim Schlosser,
Müller oder Krämer bereits am Ende eines jeden Monats zu tilgen – die dann
nicht warten mussten, bis die Ernte verkauft und etwas Geld zur Verfügung war.
Ganz früher gab es Zeiten, erinnerte sich die Mutter mit Schaudern, da hatten
so manche oft nicht mal die paar Pfennige für den Kaminkehrer und musste sich
die vom Nachbarn leihen. Ein Kleinhäusler musste, wenn er selber kein Handwerk
neben dem Hof hatte, seine Dienste anbieten und irgendwo, möglichst in der
Nähe, etwas dazuverdienen. Wer das andererseits nutzen konnte, der sparte sich
Knechte und Mägde, die er das ganze Jahr hätte durchfüttern müssen.
Daraus habe
sich ein herbes, sozusagen gefühlloses Miteinander gebildet, bemerkte
gelegentlich der alte Oberlehrer, der seine Siebzig auf dem Buckel – und eine
spitze, ungern trockene Zunge hatte. "Alles gewachsen und in sich
ruhend", fand er auch. "Und wenn doch mal einer aufbegehrt, dann
kriegt er den bekannten Spruch aufgesagt: Wenn ein Junger nicht aufmuckt, dann
hat er kein Herz. Es wurde freilich draufgesetzt: Wenn ein Alter immer noch
dagegenredet, dann hat er kein Hirn – und", grinste er daraufhin,
"wenn es euch befriedigt: Den Schuh ziehe ich mir an, weil ein Mensch ohne
besagtes
Hirn ein
leichteres Leben führen kann!"
Nicht etwa,
dass jemand diese Redensart je auf Bärlapper hätte anwenden müssen. Der war
eins mit seiner Welt und machte sich seinen eigenen Reim darauf.
Kam die
Zeit, in der die meisten Leute Ferien machten, dichtete sich Bärlapper auch
mal Geschichten zusammen. Die wollte er dann dem kleinen Schwestersohn
erzählen. Einmal saß der Junge wieder neben dem Onkel auf dem Traktor. Warum
Hans denn jeden Tag da zum Schloss gehe, wollte der Junge wissen, auch, ob da
die Prinzen und Prinzessinnen aus den Märchen wohnten. Die würde er dann auch
mal ganz gerne sehen, weil die Mama und die Tante im Kindergarten immer wieder
davon erzählten, dass es solche Leute gibt, die nicht wie die Leute sonst sind.
Die Mama könne gar nicht genug kriegen von den Ganzschönen auf der ganzen Welt
und suchte auch in der Zeitung danach, ob wieder was drinsteht. Weil da dauernd
so was drinsteht, was die machen oder was die für Sachen anstellen. Hans
fabulierte dann von seinen Wesen mit putzigen Schaumkronen, die lustig aussahen,
wenn sie so mit Klirren und Klimpern daherzogen. "Da denke ich mir, dass
da lauter kleine Könige und Prinzen und Prinzessinnen daherkommen und solche
besonderen Leute, wie sie meinen, dass sie sind. Du weißt ja, ganz die Feinen
und Noblen und mit oben was drauf auf den Köpfen. In einer klirrenden,
klimpernd schwatzenden Prozession", fabulierte Hans. "Verstehst du?
Klirrend, klimpernd, schwatzend", wiederholte er. Er hatte sich
schließlich gefreut, als ihm das eingefallen war. Er ließ den Kleinen diesen
Zungenbrecher nachsagen. Das wollte nicht gleich gelingen. Hans hielt sein
Fuhrwerk an. Sie übten beide und hatten für eine ganze Weile ihr Vergnügen
damit. Während Hans dann wieder anfuhr, erzählte er weiter, dass natürlich
keiner die Sprache seiner gläsernen Herrschaften verstehen könne. "Aber
Geklimpere, und mehr haben die nicht drauf", meinte er – verbesserte sich
gleich: "Oder, was unsereins doch nicht versteht. Das muss ja auch niemand
verstehen, denn ich glaube, die sind selber nicht so scharf drauf, dass sie
einander verstehen. Hauptsache ist für die, dass die Zeit vergeht und sie
nichts zu tun haben. Denn es muss auch solche Leute geben, die feiner sind und
sich die Hände nicht dreckig machen wie unsereiner. Warum das so ist, das weiß
niemand so recht, aber es langt ja zu wissen, dass es immer so war." Hans
berichtete dann auch von Flaschenkönigen mit ganz großen Kronen. Dass die
irgendwann, aber auf jeden Fall immer, und zwar meistens von hinten, einen
kleinen Rempler kriegten, so dass die Krone runterfallen oder besser
runterlaufen würde. "Dann geht es mit den Zurechtgestutzten", betonte
er, "irgendwie ganz normal, weißt du, ganz ohne Überschaum, weiter, und
zwar bis zu mir her." Bei ihm würden dann sowieso alle gleichgemacht,
sozusagen ganz einfach, mit einem einzigen Griff: "Zack."
Eine Hand
am Lenkrad, machte er dem Kleinen mit der anderen seine Handbewegung vor.
"Die
Welt ist einem in Ritzling stets greifbar nahe", meinte gelegentlich der
Oberlehrer. Was jemand nicht gleich verstehe, lasse er sich beim Bier oder über
den Gartenzaun erklären. Oder es ist eben nicht möglich und somit gar nicht
wirklich vorhanden, was einer nicht versteht: "Das gibt es ja gar
nicht!", laute bei so etwas Unverständlichem dann der Schluss. "Und
was da sonst noch so über die Zeitung und die Fernseher hereinschwappt, das ist
nur Theater", nörgelte der Oberlehrer weiter, wenn er in Fahrt war.
"Was nicht ausschließt – oder gerade darum, weil es Theater ist –, dass
sich ein junger Mensch bemüht, seine Frisur, seine Kleidung oder sein Verhalten
so zu richten, wie er es über die Kino-Stars gelesen oder von ihnen im Film
gesehen hatte. Die Alten gehen damit auch, aber verschämter um. Politik – du
lieber Gott! Von Interesse allenfalls, wenn es in der Welt wieder irgendwo gehörig
kracht. Aber auch diese Anteilnahme legt sich schnell, wenn einer von den paar
noch lebenden Veteranen in der Nähe ist und ihnen dann zum hundertsten Mal mit
dem Russlandfeldzug kommt.
Ein wenig
Aufmerksamkeit, wenn es in der Heimatzeitung etwas über den Ort gibt, wenn von
einem ein Bild in der Zeitung ist oder wenn sie einen aus dem Gäu wieder
gehörig in der Mange haben."
Wer nämlich
mit beiden Beinen auf dem Boden stehe, meinte der Alte auch, und beharrlich
dafür sorge, dass er den Horizont nicht aus dem Auge verliere, der darf sich
gewiss sein, alles mit wenigen Blicken überschauen zu können. Das hinwiederum
wiege einen in Ritzling in einem starken Gefühl der Sicherheit und mache einen
selbstbewusst und in den Anschauungen ungemein beständig.
Die Leute
nahmen solche Reden des Alten, wenn sie sich diese denn überhaupt anhörten,
natürlich nur mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis.
Am Morgen
und am Abend konnte Bärlapper Bauer sein. Am ersten Tag der Woche, dem Sonntag,
sogar den ganzen Tag: Ein König auf eigener Scholle, wie es immer noch hieß.
Für die andere Zeit war er weg vom Hof und stand in Lohn – auch so ein altes
Wort. Er sah darin keinen Zwiespalt und ging seiner Arbeit nach: Schier
unbeweglich, mit etwas zugekniffenen Augen, die starr auf den ihm entgegen
kommenden gläsernen Strom gerichtet waren, stand der Bärlapper Hans stundenlang
da und war beinahe nicht mehr zu unterscheiden von der kalten metallenen,
mechanischen Umgebung. Mit seinen großen, fleischigen Händen aber fuhr er in
einer unglaublich geschickten, in einer geradezu elegant zu nennenden Bewegung
die Glaskörper entlang: Mit der linken Hand drehte er die Flasche jeweils so,
dass er mit der rechten, von unten heraufstreichend, zunächst auf der Außenseite
des Zeigefingers die weiße Porzellankappe und auf der Oberseite des
Mittelfingers den stählernen Bügel zu liegen bekam; er schob sodann die Porzellankrone
mit dem roten Gummiring auf die Flaschenöffnung; er drückte schließlich den
Spannbügel mit einem kräftigen Ruck nach unten.
Wer gerade
vorbei kam, blieb gerne einmal stehen und sah ihm eine Weile zu. "Da
verstehst du ja", hat der Socher Luki gefrotzelt, "dass der kein Weib
braucht. Wenn du siehst, wie der mit den Händen über die Flaschen fährt. Das schaut
ja bereits aus, als wenn der was Fleischiges in seinen Pratzen hätte."
Jeweils
eine Sekunde mochte der Arbeitsablauf dauern. Das summierte sich.
Da kommt
was zusammen, urteilten die Leute. Die Direktion hatte sich sogar einmal zu der
Äußerung herbeigelassen: "Eine einigermaßen respektable Leistung,
nämlich ein nahezu hervorragendes Ergebnis."
"Jemand
rechnet sich, lautet ja ein in seiner ursprünglichen Form, wo allerdings eine
Sache gemeint ist, gewandelter Spruch. Dass sich jemand rechne, wirkt den
Leuten allerdings zu bemüht, eigentlich ausgesprochen überspannt", so der
Schulmeister wieder. "So reden ja auch eher nur die vom Büro daher. Der
normale Ritzlinger verwendet für einen ungewöhnlich fleißigen Menschen lieber
den Ausdruck: Der arbeitet wie ein Stier. Das lässt dann auch wieder den
Zweifel am Verstand des so Gekennzeichneten zu und kommt dem stets vorhandenen
Bedürfnis nach etwas Hinterfotzigkeit entgegen – was in den kultivierten
Kreisen derer vom Schreibtisch allerdings eher als gemeine Tücke bezeichnet
werden würde."
Immer
wieder mal wurde eine Schar von Touristen durch die Schlossbrauerei geführt:
Gemeinderäte aus der Provinz, Volkshochschüler auf Studienwanderung, Landfrauen
unter geistlicher Obhut ... Alle
schienen bestrebt, die Zeit von einem Gasthausbesuch zum anderen mit
Besichtigungen einigermaßen kulturell sinnvoll, aber nicht unbedingt
anstrengend zu überbrücken. Jedes Mal, wenn so ein Pulk bei Bärlapper angelangt
war, erklärte der Braumeister weniger den betrieblichen Ablauf an diesem Platz,
als vielmehr die nützlichen, guten, ja gerade in unserer Zeit – wie er
formulierte – so unverzichtbar vorbildlichen, da immer seltener werdenden
Eigenschaften dieses Arbeiters, respektive guten Geistes.
Charaktereigenschaften wie Zuverlässig- und Redlichkeit würden sich in Bärlapper
mit Geschicklichkeit paaren und fänden in Bescheidenheit ihre Krönung. Dieser
Mensch sei noch nie um einen besonderen Urlaub oder gar eine Lohnerhöhung
eingekommen.
Bärlapper
kannte diese Leier längst – und sogar beinahe auswendig. Dennoch ging es ihm
immer kalt den Buckel hinunter. Er war dann etwas durcheinander, weil es ihm
einerseits wurscht, andererseits doch irgendwie peinlich war, so hingestellt zu
werden. Wenn dieser Seim über ihn ausgegossen war, meinte er, seine eigene
Grabrede gehört zu haben. Aber schließlich konnte er sich immer wieder fangen:
"Der Meister muss halt irgendwas sagen und da fällt ihm nichts anderes
ein. Den Leuten muss er einen solchen Schwulst verzapfen, anders geht es scheinbar
nicht."
Der
Braumeister, geübt im Umgang mit Menschen, wusste natürlich, dass er diesen
Schlagrahm um seinen Bärlapper wieder mit etwas Handfestem unterlegen musste:
"Früher waren an diesem Arbeitsplatz zwei Leute gestanden. Die hat man
obendrein jeweils nach einigen Stunden ablösen müssen ..." – "Wegen
der Gewerkschaft!", war da schon auch einmal hineingezischt worden. –
"Da ist es immer zugegangen, sage ich Ihnen. Diese Leute haben sich doch
den ganzen Tag mit denen von den benachbarten Abteilungen unterhalten und
gelacht und ihre Gaudi gehabt. Oder sie haben gestritten. Da hat es auch nichts
genützt, dass man eine Trennwand zu den Leuten in der Waschanlage und jenen in
der Abkastung gezogen hat! Nein! Und entlassen Sie heute mal einen! Es hat nichts
gebracht, den Abfüllteil vom Verschlussteil zu separieren, um so die Störungen
zu unterbinden. Die beiden, damals, die dann nach der Abtrennerei, die ja auch
was gekostet hat, übriggeblieben waren, die haben die erforderliche Leistung
einfach trotzdem nicht bringen können. Aber dieser hier, der, den Sie hier
sehen, nämlich unser lieber Bärlapper Hans, der bringt das. Alleine,
wohlgemerkt! Das muss man sich einmal vorstellen. Eine Spezies, dieser Mensch,
die am Aussterben ist – oder die es vielleicht noch gar nie gegeben hat."
Dieser
Darlegung folgte häufig ein wohlgefälliges Murmeln, aus dem sich auch eine
deutliche Aussage lösen konnte: "Ja, so was!" – "Da schau
her!" – "Brav! Bravo!" Und am Ende das Klatschen, das den hohen
Raum erfüllte und von den glatten Wänden widerhallte.
Für
gewöhnlich, jedenfalls erst, nachdem er Bärlapper den Beifall hatte
zugutekommen lassen, fügte der Braumeister hinzu, dass das mit der Voraussetzung
für die Leistungssteigerung im Grunde ganz einfach gewesen sei: "Mein Bärlapper
ist nämlich draufgekommen, dass das Fließband so anzuheben sei, dass er daran
in aufrechter Haltung arbeiten kann! Dann lief die ganze Sache zwar nicht von
selber, jedoch wie geschmiert!" Es
folgten meistens wieder Beifallsgeräusche.
Einmal, anlässlich
der Visite einer Gruppe von Schullehrern auf Fortbildungsreise, schwang sich
der Braumeister nach seiner üblichen Einlassung über Bärlappers Qualitäten auf
und verkündete, dass es seiner Meinung nach eben nicht nur einen Fortschritt
der Technologie gebe, sondern auch einen solchen des Menschen selber. Er fühle
sich zwar nicht als ein Darwin der menschlichen Seele, er glaube jedoch fest
und unverdrossen an die charakterliche Evolution derselben. Die Schulmeister
nickten wie auf Kommando mit dem Kopf und schienen tief beeindruckt.
Bärlapper
aber hatte mit verschiedenen Begriffen aus dieser Rede gar nichts anfangen
können. Es ließ ihn auch kalt, dass ihm jemand im Vorübergehen anerkennend auf
die Schulter klopfte. Im Übrigen war so ziemlich alles, was sich Bärlapper an
Gefühl bezüglich seiner Arbeit leistete, ein wenig Stolz darüber, dass er an
seinem Arbeitsplatz im wahren Sinn des Wortes und natürlich auch auf seinem
Bauernhof alles voll im Griff hatte.
Immerhin
schützte ihn diese Regung davor, sich die von Zeit zu Zeit auftauchenden
Sticheleien unter die Haut gehen zu lassen. Ein paar Kollegen spitzten ihn
nämlich häufig wegen seiner Arbeitsweise an. Sie redeten ihm von Rechten, die
der arbeitende Mensch besitze, was sich aber bis jetzt anscheinend noch nicht
bis Ritzling und gleich gar nicht bis zu ihm, diesem guten Lapp von einem
Bärlapper, herumgesprochen habe. Da das bei Bärlapper nicht fruchtete,
schrumpften die Reden allmählich auf die Wendung zusammen, er solle doch nicht
so idiotisch sein und sich auszuzeln lassen wie eine Weißwurst.
Dass ihm
Arbeit schaden könne, wie diese "Maulaffen" behaupteten, kam ihm ganz
und gar blödsinnig vor. Oder er hielt es für ein Geschwätz von Faulenzern,
"die mit der Arbeit nichts am Hut haben. Denn von der Arbeit gehst du
nicht kaputt, aber vom Nichtstun freilich", war er überzeugt – und wenn es sein musste, dann
redete er auch so den anderen gegenüber, dass sie wenigstens für kurze Zeit
still waren.
Dann und
wann fragte jemand, was er denn mit seinem Lohn immer mache, wo er doch ein einschichtiger
Mensch sei "und nicht einmal für einen ledigen Bangert die Alimente musst
du zahlen, denn das würde man dann doch wissen, wenn du angebaut
hättest!"
"Das
weißt du schon, wen das überhaupt gleich gar nichts angeht!", antwortete
Bärlapper dann nur – und hatte dazu so eine Handbewegung, die die anderen doch
etwas vorsichtiger werden ließ. Er war ja zufrieden damit, sein Geld in seinen
kleinen Bauernhof zu stecken. Es war ihm immerhin im Laufe der Jahre gelungen,
die kleine Wirtschaft mit Gebäuden und Maschinen so auszustatten, dass sie, als
eine Miniatur vielleicht nur, aber immerhin als ein akkurates Abbild der großen
Bauernhöfe angesehen werden konnte. "Und das bei keiner Mark
Schulden!", rutschte ihm dann gelegentlich heraus, wenn ihm einer auf die
Nerven ging.
"Sakra,
wenn du keine Schulden hast", konnte da kommen, "dann stehst du ja
besser da als die meisten, wenn sie nicht eben ein paar Baugründe zum Versilbern
haben."
"Man
ist, was man ist, lautet ja eine weithin bekannte und ob ihrer Eindeutigkeit
nicht so leicht zu widerlegende Behauptung", meinte der Oberlehrer.
"Auch heißt es: Es ist, wie es ist. Trotzig ist zu ergänzen: Und es hat
ein Recht, so zu sein. Bei erziehlicher Anwendung dieser handlichen Weisheit
wird angefügt: Was man ist, das muss man dann gleich richtig sein, so wie es
sich gehört.
Denn wer
das nicht sein will, was er ist, der wird nicht ganz richtig sein im Hirnstüberl.
Jedenfalls gilt das alles für ein richtiges Mannsbild." Der Alte hatte,
wenn er so was von sich gab, immer dieses Grinsen in seinen Falten, das die
Leute so hassten und für etwas schier Teuflisches hielten.
Es war für
Bärlapper zwar eher ungewöhnlich, aber er soll doch einmal – und das sogar
irgendwie protzig – gesagt haben, dass jede Flasche Bier, die im weiten Umkreis
getrunken würde, durch seine Hände gegangen sei. Dass es das ja sonst nirgends
mehr gebe, soll er behauptet haben, dass man die Flaschen so zumache, wie er es
noch könne, "nämlich mit Bügel, die runtergedrückt werden, weil es sonst
nur noch Blechdeckel gibt, die sie draufhauen, ganz herzlos und dass man sie
nimmer zumachen kann, wenn man sie einmal aufgemacht hatte, seine Flasche."
Egal nun, ob das stimmte, dass das der Bärlapper von sich gegeben oder ob es
jemand erfunden hatte: "Klar Mensch, nichts geht ohne den Bärlapper
Hans!", hieß es doch. "Ein jedes Flaschel Bier im Gäu ist durch den
Bärlapper Hans seine Hände gegangen. Alle hat er angelangt zuerst!" Wenn
sie beisammen hockten, kam es sogar vor, dass einer Bärlapper zuprostete:
"Durch deine Hände!" Irgendwann hat wer gesagt: "Das sage ich
euch, dass das mit den Bügelverschlüssen auf dem Bau und für die Maurer ganz
wichtig ist und dass sie wegen dem das Ritzlinger Schlossbräu saufen, weil man
die Flaschen wieder zumachen kann und kein Dreck hineinfliegt und sich einer
nicht gleich alles ganz reinziehen muss, obwohl man es vielleicht gern machen
täte in seinem Durst, den jeder dauernd hat bei der Arbeit und sonst
auch!"
Für die
paar Kämpfernaturen im Dorf, die sich die Rechte der Arbeiter und solche Sachen
aufs Panier geschrieben hatten, war der Bärlapper wegen der vielen erfolglosen
Versuche, ihn zu belehren, ohnehin ein ziemlich hoffnungsloser Fall. Die Darstellung
von seinen Flaschen da im Umkreis und dass ohne ihn nichts ginge und dass das
auch noch wiederholt wurde und möglicherweise von ihm selber stammte, war ihnen
unerträglich. Sie hielten es fortan für ganz und gar sinnlos, Bärlapper Aufklärung
angedeihen zu lassen.
"Kein
Tropfen Bier trinke ich mehr", erklärte Bärlapper tatsächlich einmal,
"wenn es so weit kommt, dass man es hier bei uns daheim macht wie in
München drin, nämlich genau so wie in einer Fabrik!" Er erzählte, dass er
bei einer Besichtigung mit dem Burschenverein war: "In so einer Bierfabrik
sind die Weißkittel vom Labor rumgerannt. Das ganze Getue da mit dem
Plastikzeug und dem Neonlicht im Keller, der gar kein richtiger Keller mehr
war mit seiner Helligkeit. Und überhaupt, die Flaschen vom Fabrikbier, die
haben gar keine richtigen Verschlüsse mehr, bloß so von der Maschine
draufgehauenes Blech. Gegraust hat es uns allesamt", versicherte er,
"pfui Teufel! Nur den Limotrinkern, hat es nichts ausgemacht, denn die
sind es gewöhnt, dass es so ist. Doch von denen gibt es ja eh keinen unter
uns." Er fühle sich irgendwie "als der letzte menschliche Punkt –
mein lieber Schwan, da schaust du! – bei der ganzen Sache hier, die mit den
Händen gemacht wird. Weil hier bei uns in Ritzling alles noch seine Ordnung
hat!"
Die anderen
wunderten sich damals allerdings: "Ja, wie kommst du denn auf so was? Das
ist ja doch geschwollen dahergeredet, von wegen hier letzter menschlicher Punkt
und so was?"
Aber
Bärlapper hatte schon alles gesagt.
"Ein
richtiges Mannsbild redet nie was so daher", hatte Bärlapper vom Vater,
selig, immer wieder mal gehört. "Sicher musst du dir sein, gewiss, inwendig.
Und du musst das, was du über dich und überhaupt sagst oder besser erst gar
nicht sagst, tun. Machen musst du es, verstehst du? Denn wenn man was nicht
machen kann, was man sich ausgedacht hat und es dann auch noch sagt, dann ist
es auch nichts wert. Verrückt ist es noch dazu. Denn bloß so daherreden kann
ein jeder Trottel. Du brauchst dich dann gar nicht zu wundern, wenn man über dich
lacht!"
Hans
Bärlappers Position zwischen mannshohen, in einigen Exemplaren sogar bis an die
Decke reichenden Apparaten, im Gestampfe kreisender, ziehender, hebender
Mechanismen – und nicht minder im Ansehen der anderen – schien unanfechtbar. Er
war sich sicher, dass sein Handgriff einzigartig und durch nichts Lebloses –
und im Grunde auch nicht so leicht durch andere Menschen – zu ersetzen sei.
Hans Bärlapper war bereit, es noch eine ganze Weile auszustehen. Am Ende aber,
wenn es heißen würde, Abschied zu nehmen von diesem seinem Platz, würde er
einen anderen mit viel Geduld die Handgriffe beibringen und ihn anlernen.
"Freilich", beteuerte er sich, "was einer inwendig braucht zum
Gutsein bei der Arbeit, das muss einer ja selber bringen, das muss drin sein,
das kann keiner ihm beibringen ..."
DER
FORTGANG
1
Es war
Herbst geworden, und nächste Woche sollte auf dem Schloss Jahrtag sein.
"Freilich
kommen sie heuer wieder zusammen", hieß es, "die Herrschaften. Von
allen Ecken der Welt. Nämlich, solche sind das und keine geringeren." –
"Und wie sie in der Zeitung sind, mit großen Bildern. Auch wenn sie nicht
drinstehen. Aber solche könnten sie leicht sein, wenn sie möchten." – "So ein bissel fast nackt die Weiber,
mit oben fast nichts an. Aber gleich so gemein sind die unseren nicht, Gott sei
Dank, schämen würde sich das ganze Dorf."
"Sie
treffen sich, um was auszuhecken", argwöhnten einige. "So ein
Quatsch", redeten andere dagegen, "kommen tun sie einfach, um ihre
Kohle einzustreichen, die ihnen zusteht." – "Apanage!", traute
sich die Krämerin in die Diskussion einzubringen, weil sie immer die
Illustrierten hat und viel Zeit, dass sie hineinschaut und so was lernt, wenn
keine Leute im Laden sind.
Dass die
Herrschaften ihre Jagd abhalten werden, waren sich alle sicher, denn es war
immer so gewesen. "Da sind diesmal sogar etliche Herrschaften von der
Regierung aus München dabei", wollte jemand wissen. "Und nicht bloß
zum Jagen", war zu hören, "die machen doch überall umeinander ihren
Dreh und lassen nichts aus, was was bringt."
Es war
Gespräch, wo immer man zusammenkam. In der Käsküche, wie die Milchsammelstelle
auch ohne Käserei noch hieß, und beim Wirt die Mannsbilder. Beim Krämer und
über den Zaun die Weiberleut.
"Aber
es sind sogar solche Politischen", wurde behauptet, "die bereits im
Fernsehen waren." Und das beruhigte. "Denn wenn einer im Fernsehen
hergezeigt wird, dann wird er nicht so ein Lump sein und so schlecht, dass er
lügt und sich ein Geld in die Tasche schwindelt. Sonst könnte er sich nicht hinstellen
vor all die Leute." – "Jeder hat heute sein Fernsehen, und wegen dem
müssten die Politischen und die ganzen Großkopferten eigentlich immer ehrlicher
werden, weil das Fernsehen alles sieht und es herzeigt."
Der
Gutsinspektor hatte einsagen lassen, dass sich alle Mannsbilder beim Wirt
treffen: "Montag auf die Nacht, und zwar gleich nach dem Stall um acht!
Verstanden? Einteilung der Treiber! Klar? Eine Maß Bier gibt es frei. Und ruhig
sein! Karteln könnt ihr danach noch und davor nicht, wegen dem Krach immer und
dem Anstand, der sich gehört!"
Bärlapper
hatte es immer ganz lustig gefunden, in einer Horde wandelnder Vogelscheuchen
lärmend durchs Gelände zu ziehen, um das Wild aufzuschrecken und den
Herrschaften vor die Flinte zu treiben. Es war auch ganz selbstverständlich,
dass einer wie er da mitmachte, auch der Vater war immer dabei gewesen.
Bärlapper hatte sich also beeilt, hatte es sogar nicht ganz so genau gemacht im
Stall. "Einmal im Jahr wird es seine Richtigkeit haben und nicht schaden",
war er sich sicher. Er wollte rechtzeitig beim Wirt sein und ziemlich vorne
sitzen "wie in der Schule seinerzeit, dass einem nichts auskommt
..."
Als er dann
ins Gasthaus kam, saßen da bereits ein paar Männer beim Bier. Sie kannten sich
natürlich. Bärlapper setzte sich dazu. Es war nicht nötig zu fragen, wie lange
denn die anderen schon im Wirtshaus hockten, denn auf den Bierfilzen war eine
ganze Latte von Strichen. "Die haben ja viel Zeit", dachte er sich.
Da fragte ihn der Görer Naz, wann er denn endlich seine paar Kühe weggebe:
"Wo es doch sogar noch vom Staat ein Geld gibt dafür, dass einer mit
seinen Kühen aufhört. Und das Geld vom Viehhändler dazu. Da kommt doch was
zusammen. Ein schönes Biergeld und was dazu." Die anderen lachten.
Bärlapper zuckte nur die Achsel.
"Den
Blödsinn muss man sich vorstellen", setzte der Naz nach, "weil die
nimmer wissen, wer den Haufen Milch schlucken soll. Da geben die uns Bauern
ein Geld, dass wir nicht mehr so viel Milch daherbringen!"
"Der
Staat zahlt ein Geld, dass das Vieh abgeschlachtet wird!", erinnerte der
Luki.
"Aber
dumm wärst du ja gewesen, wenn du da nicht auch hingelangt hättest!", war
der Naz überzeugt. "Für meine vier Schecken die Abschlachtprämie, das hat
mich allerdings nicht reich gerade gemacht, und du, Luki, du hast da für deine
sechse das Geld gekriegt!"
"Musst
halt auch bei einem Unsinn mitmachen", bekannte der Luki, "besonders
wenn der von den Schlauköpfen in der Regierung kommt und es dir was bringt!"
In der
Runde setzte ein Kopfschütteln ein. "Ja, was es alles gibt! Musst du dich
ja fragen, ob die Blödheit bei den Gescheiten immer noch zunimmt!" Sie
murmelten vor sich hin. "Ja wie's nur sein darf ..." Dann nahmen sie
wie auf Kommando ihre Gläser und einen tiefen Schluck. "Die Politiker
haben nur Mist im Kopf und wie sie ein Geld machen für sich", wetterte der
Naz, als er sein Glas abstellte. Er koppte seinen Worten laut nach. Die andern
stimmten ein, und gleich war es ein richtiges Rülpskonzert.
"Und
in Afrika drunten ... ", polterte der Naz. Zunächst kam allerdings nichts
mehr, und sie wussten nicht, ob er vergessen hatte, was er sagen wollte, ob er
schon so blau war. "In Afrika drunten", ging es bei ihm dann doch
weiter, "da verhungert der Neger, weil er nichts zum Futtern
hat!"
Wieder
dieses Kopfschütteln. Doch das dauerte nicht lange. "Das sind doch lauter
Bazi, die Politischen!", hetzte der Socher. Das fanden die anderen ganz
richtig. Jeder schimpfte jetzt für sich, und jedem fiel etwas ein über
"die vollkommen idiotischen Politiker, die das Geld so rausschmeißen und
selber den Hals nicht vollkriegen und so scheinheilig daherreden, dass sie
alles bloß für die Leute machen ..." Sie hörten erst auf, als der Naz sich
wieder den Bärlapper vornahm und wissen wollte, wann der sich endlich einen
schönen Lenz machen will. "Wenn einer wie du, Bärlapper Hans, so werkelt",
erklärte er vorwurfsvoll, "dann sind die andern, die nicht so auf den Putz
hauen, für die Leute lauter faule Hunde!"
"Recht
hast du, Naz!", stimmte der Socher zu. "Du machst unsern Ruf total
kaputt, Bärlapper, mit deiner wahnsinnigen Schufterei!", schloss sich der
Sacklbauer an.
Für wen er
sich denn eigentlich so abrackere. Sie hier alle am Tisch gingen nur noch in
die Arbeit auf den Bau oder in die Fabrik in der Stadt oder sonst wohin,
"weil es eh egal ist, wo du arbeitest. Hauptsache ist, dass die Kohle
stimmt und dass du deine Ruhe hast, wenn du dann heimkommst nach der Arbeit
..."
"Außer,
dass die Frau immer jammert und keift", kicherte der Socher. "Aber da
machst du dich halt aus dem Staub und hier her zum Wirt. Da triffst du dann
lauter solche Heimatvertriebene wie uns, die es daheim nicht leidet." Sie nickten sich grinsend zu und nahmen
wieder einen kräftigen Schluck.
Bärlapper
zuckte wieder nur die Achsel und verzog das Gesicht zu einem einigermaßen
freundlichen Grinsen. Er bestellte ein helles Bier.
"Und
Weib hast du eh noch keins", meinte der Socher. "Jetzt bist du doch
mindestens über die Dreißig und gut beieinander mit deinen mindestens Einsachtzig
und vielleicht noch ein bissl dazu und alle Haare hast du auch noch auf dem
Kopf und keine Platte und bist immer noch einschichtig!"
Bärlapper
hörte es sich geduldig an, was ihm ja nicht neu war.
"Nur,
in die Stadt fährt er immer, der Bursche, mit seinem Moped", fiel dem
Görer ein. "Wirst doch dort eine haben. Eine ganz eine Schöne, von der
Stadt eine. Das sage ich dir, so eine geht dir nicht auf den Bauernhof. Auf so
ein kleines Sachel, wie das deine ist, schon gleich gar nicht. Da kriegt heute
nicht einmal ein Großbauer eine so ohne weiteres her. Die Madames heute, die
mögen nimmer so arbeiten wie die Frauenzimmer früher. Die Mädl heute, die
wollen lange Fingernägel haben. Und rot müssen sie sein, die Fingernägl, und
die Lippen auch. Aber scharf schaut das dann ja aus mit den Fingern und alles
umeinander."
Wie auf
Befehl schauten sie ihre schrundigen Hände an. Sogar Bärlapper machte da mit.
"Nimm
doch dem Schneidermann seine Maria", grinste der Zenz, der mit dem
Bärlapper die Schulbank gedrückt hatte. "Die Maria ist zwar fast überständig.
Auch keine Schönheit ist sie nicht, und keine Sexbombe ist sie erst recht
nicht, so mit Holz vor der Hütte, wie die Marilyn Monroe eins gehabt hat. Aber
die Schneidermann Maria hat auch so ein kleines Sachel, wie das deine eines
ist. Die kann hinlangen mit ihren Pratzen, die sie hat, wo andere Frauen Hände
haben. Dann bist du wenigstens ein doppelter Kleinhäusler, wenn du schon nicht
aufhören kannst."
Der Luki
rechnete vor: "Ich hab nichts und du hast nichts, dann schmeißen wir's
zusammen, unsere Nichts, dann haben wir ein Doppeltnichts."
Mit der
Formel vom 'Nichts plus Nichts' hatte es die Männer wieder gepackt. Sie hielten
sich an ihrem Glas fest und murmelten vor sich hin. Ohne eigentlich aufeinander
einzugehen, trafen sie sich doch immer irgendwo. "Ja, ja ...",
lautete meistens die Einleitung zu den Gedankenfetzen. Und bei "Jaja"
begannen sie, bedächtig das Haupt zu wiegen: "Ja, ja, da kannst du nichts
machen ..., so ist das Leben ..."
"Da
kannst du eigentlich fast nicht widersprechen", dachte sich Bärlapper und
nahm einen Schluck.
"Ja,
du liebes Mägdelein, lass mich in dein Kämmerlein hinein!" Das musste vom
Socher gekommen sein und hob die Runde wieder etwas aus der Trübsal. "Dann
leg ich mich in dein Bett hinein und wir werden ganz eng beieinander
sein", war dem Naz sogar noch eingefallen. Sie hatten ihr bierseliges
Feixen im Gesicht und malten sich wohl das Kammerfensterln mit allem was so
dazu gehört richtig üppig aus.
"Ich
habe immer gemeint", dachte sich Bärlapper, "dass das Bier zum
Trinken ist. Oder was sonst? Oder halt ...
ja, ab und zu macht es eben eine bessere Laune oder holt einen
wenigstens aus der Trübsal oder so was in der Richtung."
"...
ja, ja ...", tönte es wieder.
"So
eine Lady aus der Stadt", gab sich der Naz Mühe, nach der Schrift zu
sprechen. "So eine Miss. – Ha, was ist das? Wenn so eine Miss ein Kind
kriegt?" Er glotzte seine Zuhörer der Reihe nach fragend an und machte
eine schlaue Grimasse. "Da kommt ihr nie drauf! Wenn eine Miss nämlich
eine Geburt hat, dann heißt man das nämlich eine Miss-Geburt." Es wollte
aber kein Lachen aufkommen. "Wird schon so sein", brummte der Luki
nur.
Der Naz
lachte ihn aus: "Klar, dass du da einen Grant hast, wo du doch der
Bockmeier Philomena immer noch deine Vergnügungssteuer zahlen musst, bis dein
Ableger seine Achtzehn ist!"
Der Luki
bot ihm etwas kreuzweise an.
"Aber
wie die das Bier brauchen", überlegte Bärlapper, "ha ... Ja warum
denn so? Wenn einer so oft einen Rausch hat, dass man es gar nicht mehr gleich
richtig merkt, dass er besoffen ist ..."
"Ja,
ja, heiratest eine Junge oder heiratest besser eine Alte? Ha?", war der Naz wieder zu hören.
"Ich sage dir was und gebe dir den Rat, Bärlapper: heirate besser eine
Junge! Denn bis sich die Junge im Spiegl so oft gedreht hat, dass es ihr passt,
da hat dir eine Alte bereits einen ganzen Laib Brot verdrückt!"
"In
ihrem Suff bringen sie diese alten Hüte daher", ärgerte sich Bärlapper.
"Das sind einmal lauter anständige Leute gewesen", ging ihm durch den
Kopf, während er einen Mundwinkel nach oben zog, dass so etwas wie ein halbes
Grinsen entstand. "Beim Zenz haben alle sogar gemeint, der wird ein
Pfarrer", erinnerte er sich, "weil der so leicht gelernt hat und brav
gewesen ist und weil der Pfarrer gesagt hatte, der soll studieren. Und jetzt?
Zum Wirt geht man doch eigentlich nur, wenn was ist, zum Feiern oder so, aber
die da, die hängen ja jeden Tag beim Wirt herum und saufen."
"Ja,
ja, jetzt musst du es machen, dass es dir guttut. Denn wenn du kalt bist, da
juckt es dich nirgendwo mehr", war dem Luki eingefallen.
"Die
sind arg runtergekommen, so unter die Gürtellinie und überhaupt", meinte
Bärlapper.
Vor der
Stube hörte man jetzt jemand laut mit sich selber reden. Der Wortschwall war
immer wieder von Husten unterbrochen. Alle wussten längst, wer da seinen
Auftritt vorbereitete. Gleich wurde die Tür aufgestoßen. Ein vertrocknetes
Männlein stand im Türrahmen und warf musternd seine Blicke in den Raum. Der
alte Oberlehrer war es. Sie hießen ihn etwas gezwungen willkommen. Er schien davon
allerdings keine Kenntnis zu nehmen. Er stierte lüstern auf die Theke, wo
bereits der Schnaps stand, den die Wirtin gleich zu Beginn seiner Aufführung
vor der Tür eingeschenkt hatte. Der Görer zupfte Bärlapper am Ärmel:
"Horch", er nahm noch schnell einen Schluck und begann zu erzählen,
dass sie neulich den Schulmeister im Abort erwischt hätten. Dass es elf in der
Nacht und der alte Tropf sturzbesoffen gewesen sei. Dass sie da den Alten
belauscht hätten, wie er am Waschbecken stand und in seinem Suff sein
Spiegelbild beschimpfte. Der Görer gab sich Mühe, den Alten nachzumachen:
"'Mensch, was willst denn du da wieder, du alter Affe?', hatte der Lehrer
zu seiner Visage im Spiegl gesagt! Also ich habe noch nie mit mir im Spiegel
drin geredet", versicherte der Görer, "so blau bin ich noch nie
gewesen! Dann der Alte weiter: 'Ich weiß gar nicht, du altes Vieh', sagte er zu
sich selber da im Spiegel drin, 'ich weiß nicht, warum du mir dauernd
auflauerst und dann auch noch so tierisch anglotzt. Und was du von mir
eigentlich willst, du Bestie da im Spiegel drinnen, weiß ich auch nicht
...' Nein, ich glaube der hatte gesagt:
'Ich habe noch gar nie herausfinden können, du alter Affe, was du von mir
willst. Solltest du tatsächlich von mir etwas wollen, so wisse: Ich habe noch
nie nichts je gehabt!'"
Der Bericht
war möglicherweise zu Ende, jedenfalls hörte der Görer auf, denn der Oberlehrer
war nach seinem Umweg zur Theke bei ihnen angelangt. Nun stützte er sich mit
beiden Händen auf die Tischplatte. Er beugte sich so weit vornüber, dass
bereits ein paar Hände hochfuhren, um ihn aufzufangen und vor allem das eigene
Bier zu retten. Es herrschte Ruhe. Sie warteten.
"Schweiget
weiter, ihr Stupidianten!", presste der Schulmeister in alter Gewohnheit,
zwar mühsam, aber eindringlich zwischen den paar gelben Zähnen hervor. Dann
trat eine Pause ein. Der Alte rang nach Luft und anscheinend auch um Gedanken.
Die Männer schauten eine ganze Weile abwartend auf den Graukopf. Der aber stand
stumm da und starrte ins Leere und sank dann stöhnend auf seinen Stuhl. Ein
Glas Bier mit einem Klaren war ihm von der Wirtin gebracht worden, ohne dass er
es hätte bestellen müssen.
"Brav,
Rosa, brav", murmelte er, "kriegst eine Eins."
"Hätte
ich das früher gewusst, Lehrer, hätte ich meine schöne Kindheit nie mit deinen
unnützen Hausaufgaben vertan, sondern dir immer eine Maß in die Schule
mitgebracht", war die Antwort, im Weggehen dahergesagt.
"Also
Männer, prost, trinken wir das Bier, bevor es schal wird!", kam als
Anweisung.
Alle
folgten.
"Das
Wasser bei uns hier, in diesem Ritzling hier, das kannst du ja eh nicht mehr
als Grundnahrungsmittel bedenkenlos ...", holte der Oberlehrer aus, ließ
jedoch den Gedanken unvollendet. "Und alle sollten sich überlegen sogar,
ob sie riskieren sollten, sich damit auch nur zu waschen!", kam, als er
sein Glas nach einem weiteren Schluck wieder absetzte. "Das Wasser kommt
ja doch ganz rot aus der Leitung. Zum Schluss bist du selber rot und schaust
aus wie eine Rothaut, wie so ein Indianer." Diese schlichte Konstruktion
musste ihm wohlgetan haben, jedenfalls schien er es zufrieden zu sein.
Die anderen
lachten grimmig.
"Der
Bürgermeister, dieser Trottel", raunzte der Oberlehrer, "baut sich
ein neues Rathaus mit einem großen Gemeindesaal. Das tut er nämlichen dafür,
dass ganz viele Leute mit seinen hohlen Reden, mit seinen Leerworten, abgefüllt
werden können. Immer hoch hinaus mit dem Geld der Leute! Immer hoch
hinaus!" Der Alte hatte bei seinem zweiten Hochhinaus die Arme in die Höhe
geworfen. Das sah so aus, als wollte er abheben. Als er sozusagen wieder
gelandet war und seine Kehle befeuchtet hatte, ging es weiter: "Doch unter
der Erde ist alles verrottet, verrotet, verrötet, ha, ha, ha, verrotet!",
spielte er mit Worten.
Die Männer
nickten nachdenklich. Der Mahner war jedoch noch nicht fertig: "Die
Wasserleitungen vergammelt! Alles vergammelt! Diese Zersetzung überall! Diese
naget an dieser Gemeinde, an diesem Staatswesen, an der ganzen Menschheit, und
zwar eminent tückisch, nämlich von unten her und von innen heraus und da beißt
die Maus keinen Faden ab, das ist das Aus und das ist das Grab!"
Die Männer
wussten nicht gleich so recht, was damit anzufangen wäre. "So ganz unrecht
hat er nicht!", war zwar zu hören, jedoch auch: "Na, ganz soweit ...
und das gleich mit allem .."
"Der
Mensch hingegen", verkündete der Oberlehrer mit gehobener Stimme, während
er sich aufrichtete, "der Mensch brauchet das Wasser!" Dann stürzte
er richtiggehend ab, nämlich fast auch körperlich, indem er zusammensackte, und
haspelte herunter: "Ihr Hornochsen alle umeinander hier in dieser
Gemeinde, dieser Insel der Blödigen! Denn wisset ihr denn nicht, dass alles
Leben aus dem Wasser kommet?" Er hielt inne, beugte sich vornüber und
starrte, schwer schnaufend, in die Runde. Als er wieder genügend Luft hatte,
fuhr er ganz leise, fast im Flüsterton fort: "Von wegen hier biblisch! So
von wegen Herrgott und die Sache da mit dem Lehm und das Herumgebatzle da von
dem lieben Schöpfer da! Der wird sich die Hände dreckig gemacht haben! Und dann
das Ergebnis, dieser Adam! Und schließlich Rippe raus! Und draus wird der
Sinnlichkeit Schmaus für den Mann. Da schau mal an! Und dieser ganze Kinderkram
da, der abergläubische!" Er musste seine Kehle befeuchten und nahm einen
Schluck und wurde wieder laut: "Die Schöpfung ist kein verdammtes
Sandkastenspiel, sondern sie ist sie selber!", empörte er sich.
Die Männer
schauten sich grinsend an. "Es wird schon wieder, Oberlehrer, ganz ruhig,
reg dich nicht auf!", beruhigte ihn der Zenz und klopfte ihm auf die
Schulter. Der Naz wiederholte: "Reg dich nicht auf", und dichtete:
"Sondern nimm es in Kauf, die Welt nimmt so oder so ihren Lauf!"
Als der
Alte sich tatsächlich wieder beruhigt hatte, klärte er sie auf, dass man ja
selbst zum Lehmbatzeln das Wasser brauche. "Sonst geht nichts mit dem
Batz. Das wissen schon die Kinder und jeder Idiot weiß es. Bloß die, die immer
vorgeben, alles zu wissen und sich dafür ein Schweinegeld bezahlen lassen von
uns, das sie dem sogenannten kleinen Mann aus der Tasche ziehen, die wollen es
nicht wissen, dass das mit dem Wasser nicht so einfach ist – oder wahrhaben –
und lauter solche Stupidianzien!", er machte eine wegwerfende Handbewegung.
Die Männer
stimmten gleichsam in diese Geste ein und fuchtelten eine Weile ebenso herum.
"Man kann ja gar nicht anders", erklärte er, "als hierher zum
Wirt zu kommen und das Bier zu schlucken, das gute Bier, dieses, wo jeder doch
sein gerüttelt Maß Flüssigkeit brauchet. Da das Menschenvieh doch einer Art
zugehört, die aus dem Wasser stammt und dauernd am Vertrocknen ist! Es ist eben
mit diesem Bier hier und heute zu decken und immerdar, und dieses gleich
gescheit und nichts Halbes, sondern in und mit ganzen Maßen auch
gleich!"
Die Männer
hatten verstanden und hoben die Gläser. Es wurde ausgetrunken und gleich wieder
bestellt. "Wer weiß denn, wozu dieser Dalk von Bürgermeister ein Rathaus
braucht", keifte der Alte weiter, "mit vielleicht sogar einem Schreibtisch
drin? Wo der doch eh gerade seinen Namen schreiben kann! Das kann er auch auf
dem Gemeindediener seinem Buckel erledigen, das bissl, was der schreiben kann.
Überhaupt, früher hat ein richtiger Bürgermeister die Gemeinde vom eigenen Wohnzimmer
aus regiert. Heute muss anscheinend jedes Kaff sein großkotziges Rathaus haben
und eine Allzweckhalle noch dazu. Das sind tolle Aussichten! Gebirgsblick auf
Berge von Schulden. Welche die Leute nicht besteigen dürfen zu ihrem Ergötzen,
denn das ist Vorrecht der Banker. Abtragen müssen die Leute alles und die
Kinder noch. Schon dieser Ausbund von Namen: Allzweckhalle. Ein Wahnsinn, in
dem das Geld der Leute zum Fenster hinausgeworfen wird! Haberfeldtreiben müsste
man ihm, dem Bürgermeister!"
Die Männer
verzogen nur ein wenig das Gesicht. "Recht hast du mit den
Schulden!", beeilte sich der Luki einzugrenzen. Damit kein Schweigen
blieb, das ihnen irgendwer als eine Zustimmung zum ganzen Rügenkatalog gegen
den Bürgermeister hätte ausgelegen können. Der Luki hatte es sogar irgendwie
angesoffen gemacht und gelallt. Denn sie wussten über das Haberfeldtreiben zwar
eigentlich nur, dass das im Oberland eine Tradition hatte. Eine allerdings sehr
schlecht beleumdete und ehemals staatlich bei Strafandrohung untersagte.
Eine Pause
war eingetreten, weil der Alte nach dem frischen Glas gegriffen hatte. Ob er,
wenn er sich die Kehle wieder befeuchtet hatte, vielleicht noch ein paar andere
drannehmen würde? "Solche, die es auch brauchen könnten und denen
eigentlich auch Haberfeld getrieben werden müsste. Was sie aber dem Oberlehrer
hier überlassen wollten, weil es draußen ja keiner mehr wie früher macht
", dachten sie sich vermutlich. "Vielleicht ist dann auch einer
darunter, den man selber nicht leiden kann. So einer, der schon lang einmal
durchgelassen werden müsste, dass nichts mehr bleibt von seinem guten Ruf, den
er sowieso gar nicht hat und der ihm auch gar nicht zusteht."
"Der
Lehrer hat immer gesoffen", erinnerte sich dagegen Bärlapper in dieser
kurzen Pause. "Wie hat das oft schnapselig gerochen, wenn der sich mal zu
einem runtergebeugt hat in der Schule. Damals, als er noch der Alleinherrscher
im Schulhaus und das Schulhaus noch im Dorf war. Jetzt fahren sie die Kinder
mit dem Bus ins Nachbardorf. Sein Herrschaftsbereich war vorn um das
Lehrerpult. Von dort aus hat es mit rauchiger Stimme in den Raum geschallt. Ein
jeder hat es gewusst, wenn es wieder mal besonders nebelig war in dem seinem
Kopf. Dann hat man den eigenen Kopf eingezogen. Das mit dem Suff ist bei diesen
Leuten vielleicht was anderes als bei unsereinem", überlegte Bärlapper,
als er die anderen so anschaute. "Unsereiner hat gleich gar nicht so viel
Grips, vielleicht. Solche wie der Oberlehrer haben ja einen Verstand auf
Vorrat, den sie versaufen können. Den Oberlehrer hat niemand anders gekannt als
immer ein bissl besoffen. Man meinte immer, der tanzt, wenn der geht. Und wenn
er mehr erwischt hatte, dann ist er saumäßig übel aufgelegt gewesen – und wenn
er zu wenig hatte, dann eigentlich auch. Wenn der so drauf war, hat ihm keiner
in die Quere kommen dürfen, Schüler schon gleich gar nicht. Der hat immer laut
abgerechnet. Gegeben hat es immer was, dass er rumstänkert. Die Leute haben
immer Schiss gehabt vor dem Dorfschreck, weil er alles gewusst hat von den Leuten.
Woher, das war nie klar. Fast so viel hat der über die Leute gewusst wie der
Pfarrer. Da war allerdings klar, dass der das aus dem Beichtstuhl hatte. Der
alte Pfarrer, Gott habe ihn selig. Bloß, dass der Pfarrer nichts rauslassen hat
dürfen, was er aus dem Beichtstuhl gewusst hat, sonst wäre keiner mehr
hingegangen. Aber der Lehrer hat dürfen. Man hat sich immer gegenseitig
verdächtigt, dass es ihm zugetragen worden ist."
Jetzt saß
dieser Giftzwerg hier am Tisch – und fuhr plötzlich auf: "Herrgott,
Burschen, das wäre doch was für euch!"
Sie waren richtig erschrocken. "Was ist denn das jetzt
wieder?", nörgelten sie. "Schaut her!", nahm der Alte seinen
Faden wieder auf, "nicht dass ihr eine schwanger gewordene Jungfrau durchs
Haferfeld treiben müsstet, wie angeblich die keuschen Burschen so um Miesbach
herum, früher ..."
"Ja,
was redest denn du da für einen Blödsinn, Lehrer?", empörte sich der Luki,
und die anderen schüttelten den Kopf.
"Ihr
hockt hier doch rum und habt im Dorf gar keine richtige Einbringung mehr für
eure ganze Kraft", sagte er und schaute rundum in die fragenden Blicke –
setzte aber gleich drauf: ... die ihr sogar im Kopf drinnen habt, die
Kraft!"
"Ja,
da schau her!", tönte es. "Das wird doch nicht gar ein Lob sein –
vielleicht auch eine fiese Hinterkünftigkeit nur ..."
"Der Bärlapper Hansl hat wenigstens seine
jungen Leute mit der Plattlergruppe", machte der Lehrer weiter. "Und
jetzt sage ich euch was ganz ohne Umschweife: Macht doch hier im Dorf die Haberer!"
"Ha?",
kam von den anderen nur und ganz langgezogen: "Waaas?"
"Vermummung,
ganz urtümlich und gruselig, Masken vor dem Gesicht zur Tarnung, Bewaffnung,
allerlei Lärmzeug ...", zählte der mögliche Anstifter schnell in das
Staunen der anderen hinein auf. Bevor noch einer einen Mucks von sich geben
konnte, wurde die Aufzählung fortgesetzt, dass er den Haberermeister machen und
die Lumpereien im Nest zusammen- und in Reimform vortragen würde. Dass sie nur
die Drohkulisse abgeben müssten mit viel Lärm und das alles gar nicht so zur
Erzeugung von dem immer fragwürdigen Geschwisterpaar Ordnung und Anstand.
Sondern vor allem wegen der Gaudi und auch dass die Moralisten ihre
Scheinheiligkeit vors scheele Auge und eselslange Ohr gehalten bekämen ...
Diese herbe
Brauchtumsstiftung hatte die ohnehin bereits im Bier schwimmenden Gedanken der
Zuhörer ordentlich durcheinandergebracht. Zum Glück rührte sich draußen endlich
etwas, so dass keine Anmerkung dazu fällig wurde. Gleich traten ein paar Männer
ein, von weiteren gefolgt. Die Köpfe fuhren herum, ein Grüßen, Sich-zunicken.
Der Alte schien noch in Gedanken bei seiner Anregung zu sein. Die Tischgenossen
waren es zufrieden, dass er Ruhe gab. Sie hatten zu schauen, wer da alles kam.
Bewegung, ein Durcheinander von Stimmen, Stühle rücken, Zurufe, Gläserklirren
... Bald war jeder Tisch besetzt und bedient, da die Wirtin von jedem der
Männer wusste, was einzuschenken war. Schließlich erschien auch der Gutsverwalter.
Es wurde ruhig im Raum, als ihm die Wirtin das Bier auf den Tisch stellte.
Der
Schulmeister hatte seinen Platz zu Bärlapper gewechselt und nuschelte jetzt
ganz vernehmlich vor sich hin, wen er alles ganz haberisch durchlassen wollte,
mit dem Bürgermeister als Mittelpunkt seiner Abneigung. "Ich werde aber
einen Teufel tun und alles verraten. Es langt, wenn sie wissen, dass der
Bürgermeister ein Beutel ist. Dass der aber ein unerhört schlauer
Einfaltspinsel ist, müssen sie am eigenen Leibe erfahren. Das ist am
wirkungsvollsten, wenn man ein Lehrgeld zahlen muss."
Alle
Anwesenden warteten darauf, dass der Inspektor das Wort an sie richten würde.
"Dass
der Lehrer was gegen den Bürgermeister hat, ist bekannt", wusste
Bärlapper, "aber was geht es mich an?" Er rutschte etwas weg. Der
Alte rückte ihm jedoch nach und setzte unverdrossen sein sonderbares
Selbstgespräch fort: "Ein ganz verdammtes Schlitzohr ist der. So hat er
sich über Jahrzehnte durchgemogelt. Dass sich jeder in Acht nimmt vor seiner
großen Liebe zur Wahrheit! Mein lieber Freund, jede Art von Wahrheit liebt
dieser Schurke: die Halbwahrheit, die Unwahrheit, die verdrehte Wahrheit!"
"Ein
ganz lästiger Schwätzer!" Bärlapper versuchte wegzuhören und
mitzubekommen, was vorne lief. Denn die Sitzung war endlich eröffnet. Alle Männer
durften erfahren, dass es heuer mehrere Jagdpartien geben werde. Jedem wurde
dargetan, welcher Gruppe er zugeteilt war. Der Rest der Information war im
Wesentlichen so etwas wie eine Manöverkritik der letztjährigen Treibjagd. Der
Oberlehrer war wieder nähergekommen und saß ganz dicht, nun etwas seitlich
hinter Bärlapper und redete so nur zum Schein vor sich hin – und Bärlapper fast
ins Ohr: "Die ganze Horde, die hier versammelt ist, haben wir alle, ja
wir, du lieber Gott, zu anständigen, folgsamen ..." Dann stockte seine Rede doch einmal. In
seinem Suff war ihm anscheinend der Faden gerissen. Der Alte nahm einen Schluck
und schaute dann traurig auf den Schaumrand, der den geschwundenen Inhalt
markierte. Darauf versuchte er es wieder: "Die haben wir ... Wir von der
schlauen Schule und der heiligen Kirche und dem großmächtigen Staat und all
solche Erzmonster. Wir grobhändigen Seelenkneter und verkrüppelten
Vorbildsfiguren und ganz verfluchten Söldner der ..." Der Mensch hatte
sich in eine Verzweiflung und damit in zunehmende Lautstärke hineingesteigert.
"All jene!", schrie er jetzt, dass alle herumfuhren und ihn unwillig
anstarrten, "all jene, die uns je bezahlt haben", dröhnte es in den
Saal, "all jene konnten sich unserer überaus treuen Dienste gewiss sein!
Wir mit unserer Afterdienerei: Ob es nun die aberwitzigen Nazis waren ..."
"Nein!",
tönte es wie aus einem Mund "Nein! Nicht schon wieder das mit dem
Nazischmarrn!" Alle schauten ihn zornig an. "Man kann es nicht mehr
hören!", schrie der Ginglmeier Sepp. Die Leute stimmten ihm zu und maulten
und gifteten den Störenfried mit bösen Blicken an.
Der
Oberlehrer erwiderte die Blicke überaus zufrieden und sogar ein wenig
freundlich. "Wo ist denn überhaupt der andere Seelenmasseur, ha?",
fragte er ganz aufgeräumt in die Runde. "Wo ist der Schwarzkittel? Seit
sie uns einen Inder ins Pfarrhaus gesetzt haben, siehst du keinen Pfarrer mehr
im Wirtshaus! Da wäre mir allemal ein Pole lieber", lachte er trocken,
"denn dieses Volk gilt als ein sehr trinkfreudiges!"
Die anderen
wandten sich verärgert von ihm ab und wieder ihrer Unterhaltung zu.
Dann
rumpelte der Lehrer plötzlich auf. Bärlapper rückte schnell zur Seite. Der
Stuhl war laut polternd umgefallen. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet.
"Was ist denn jetzt wieder?", stand in den Mienen. Es war ruhig im
Raum. Der Alte hielt sich noch an der Tischkante fest, weil er nicht sofort mit
dem Gleichgewicht zurechtkam. Alle warteten kopfschüttelnd.
"Ihr
..., ihr ..." Es wollte nicht
heraus. Der eine oder andere nickte ihm sogar zu, so als wollte er sagen:
"So mach doch und bring es hinter dich und lasse uns dann gefälligst in
Ruhe!"
"Ihr
...", kam es wieder. Dann winkte der Alte mürrisch ab und setzte sich.
Bärlapper hatte ihm den Stuhl hingeschoben und dabei verlegen im Raum
herumgegrinst – und mitleidige Blicke geerntet. Die Männer drehten sich
verärgert weg und schimpften dann doch noch ein wenig über diese Störung, bevor
sie sich weiter unterhielten.
Der
Schulmeister schien sich gefasst zu haben und nahm sich wieder Bärlapper vor:
"Gell, bist ein fleißiger, ein redlicher, ein bescheidener Mensch. Und die
brauchen dich, die anderen. Wo du auch immer auftauchst, da brauchen sie dich,
da sie dich auch gebrauchen können. Sieh nur zu, Bursche, dass sie dich nicht
verbrauchen! Denn wenn einer zu gebrauchen ist, erliegen die andern leicht der
Versuchung, ihn auch zu verbrauchen! Das ist in dieser elenden Egoistengesellschaft
so. Das ist der moderne Kannibalismus, dass sie dich auffressen. Diese
Kannibalen beginnen mit ihrer Auffresserei mit deiner Seele."
Bärlapper
fand das lästig, auch begriff er erst gar nicht so recht, von welchen Anderen
da die Rede war. Er wendete sich ab, um doch noch ein wenig von den anderen
Gesprächen aufzuschnappen. Die Worte von vorhin gingen ihm aber nicht aus dem
Kopf. Es dauerte allerdings eine Weile, bis Bärlapper aufging, dass es ihn
betraf, was der Schulmeister da gebracht hatte. Das mit fleißig und so.
Dass ihm
also der Lehrer, von dem er ja einiges – reichlich garniert mit Kopfnüssen,
Stockschlägen und harschen Worten – beigebracht bekommen hatte, jetzt noch eine
späte charakterliche Würdigung zuteilwerden hat lassen. "Dieser komische
Ausdruck da", erinnerte er, "charakterliche Würdigung, der auf dem
Schulzeugnis oben, gleich unter dem Namen stand und hinter den der Lehrer geschrieben
hatte: 'Hans ist ein guter, ruhiger Bub.' Vielleicht war es auch hinterhältig:
'Hans bemüht sich im Allgemeinen mit Erfolg, Zusammenhänge zu erkennen und ...'
Man merkt sich ja so was nicht so genau."
"Ein
Bier!", donnerte der Alte in Richtung Theke und ergänzte seine Rede von
vorhin, nachdem er Bärlapper energisch am Ärmel gezupft und ihn dazu gebracht hatte,
sich wieder herzuwenden: "Ich begreife nur deine behämmerte Hingabe nicht,
diese Sucht, sich zu verausgaben. Du siehst darin wohl die wahre Erfüllung oder
so einen Kitsch."
"Hingabe",
meinte Bärlapper nur kurz und schaute den Alten etwas ratlos an. "Wer
redet denn so geschwollen daher?", fragte er sich und ergänzte: "Außer
einem besoffenen Studierten vielleicht?"
Der Lehrer
widmete sich seinem frischen Bier, schlürfte genüsslich und hörbar die
Schaumkrone ab. "Wie sie das nur immer so hinbekommt", lobte er,
"unsere Rosa. Da sieht man es wieder, auch die einfache Tätigkeit will
gekonnt sein. Das muss jedenfalls er- und vor allem anerkannt werden."
Der
Gutsverwalter hatte seinen Wurstsalat gegessen und machte sich nun mit der
Gabel am Glas wieder bemerkbar, so dass es im Saal ruhig wurde. Bärlapper
folgte den Anweisungen zur Treibjagd: "Man hat sich vorzusehen! Man muss
sich geräuschvoll bemerkbar machen, weil das für den Treiberfolg und
letztendlich auch für die eigene Gesundheit von Vorteil ist. Und man muss immer
in Bewegung bleiben und sehen, wo die Damen und Herren mit der Flinte anstehen
und hinzielen. Und die Mütze abnehmen beim Grüßen, das gehört sich einfach so,
so aus Tradition und vor allem in einer Zeit, in der die Leute kein Benehmen mehr
haben und immer ungehobelter werden. Die Herrschaften sollen doch sehen, dass
man hier auf dem Lande noch einen Anstand hat und nicht etwa so gemein ist wie
ein Urwaldneger in Afrika drunten oder so ein Bazi aus der Vorstadt. Und
überhaupt, dass man nicht für was anderes gehalten wird als eben für einen
Menschen, der man ja nun einmal auch wirklich ist, und eine Ladung Schrot
draufgebrannt kriegt. Dann das ganze lästige Geschiss mit der Polizei womöglich
auch noch. Wenn da so ein blöder Kerl, der nicht aufpassen kann, abgeknallt
wird. Was dann den Herrschaften das ganze Vergnügen versaut!" Er nahm
einen Schluck, erhob den Zeigefinger und schloss seine Rede: "Das verdirbt
doch das ganze Jagdvergnügen letztendlich und gehörig, wenn da nämlich außer
der Wildsau auch einer von den Treibern auf der Strecke bleibt!"
Die Männer
lachten aus vollem Hals. Gleich wurden wieder die Geschichten vom Großvater
erzählt, in denen immer einer vorkam, der etwas von einer Ladung Schrot
abgekriegt habe. Wie dann der Dorfbader aus den Löchern im Balg mit der Pinzette
das Blei rausgepfriemelt habe. Und sie fabulierten, wie die Mannsbilder alle
dabei waren und mit literweise Schnaps alle gegenwärtigen und zukünftigen Keime
getötet hätten, wie sie am Ende restlos alle, samt Bader und Verwundetem,
stockbesoffen gewesen seien. "Das waren aber noch Zeiten!", schwärmte
dann schon mal einer.
"Gell,
du meinst, du bist ein Mannsbild mit einem Ansehen", raunte es wieder
dicht neben Bärlappers Ohr. "Und du bist der Mann im letzten Glied an
deiner Arbeitsstelle. Eine Kette ist so gut wie ihr letztes Glied, heißt es –
oder auch ihr schwächstes." Der Oberlehrer nahm wieder einen gehörigen
Schluck. "Du bist ja so etwas wie eine lebendige Garantie für die Echtheit
dieses Gebräus da. Das muss man der Bande da oben in ihren Schlössern ja
lassen, für die sich auch heute noch immer alle zum Narren machen, sie haben
für Qualität ein angeborenes Gespür. Die wissen, wen sie wo hinstellen müssen,
damit alles klappt und sie sich weiter pflegen können. Das ist es überhaupt:
Man muss, je weiter man nach oben kommt, im Grunde immer weniger wissen,
jedenfalls im Verhältnis zur zunehmenden Menge der Dinge, die einem anvertraut
sind. Nur eines wäre tödlich in dieser Höhenluft: Nämlich, wenn man nicht das
sichere Gespür dafür hätte, wem man was anvertrauen muss!"
Damit
schien er sich verausgabt zu haben, denn er hatte seine Rede schwer schnaufend
eingestellt. Bärlapper stellte mit einem Blick zur Seite fest, dass der Alte
jetzt in sich zusammengesunken dasaß und nur noch auf sein Glas stierte. Er
wandte sich erleichtert ab und wollte den anderen zuhören. Er hatte sich aber
getäuscht, denn es ging hinter ihm gleich wieder los, und zwar gehörig:
"Des Brot ich sing', des Lied ich ess'!", brüllte der Alte in den
Raum, dass alle erschraken. Er war aufgesprungen und hatte dabei wieder seinen
Stuhl umgeschmissen, dass es krachte. Wieder waren alle Blicke auf ihn
gerichtet. Als er sich der Aufmerksamkeit sicher war, wiederholte er seine
Behauptung: "Des Brot ich sing', des Lied ich ess'!"
Es dauerte
einen Augenblick, bis die Leute reagierten, so überrascht waren sie: "Ja,
was ist denn das?" – "Reicht es nicht, dass der dauernd dazwischen
schreit?" – "Muss der jetzt auch noch so einen Irrsinn
verzapfen?" – "Das Lied fressen und das Brot singen!" – "Ja
wie's nur sein darf!" – "So einer will Lehrer sein!" – "Und
überhaupt! Das heißt ja überhaupt andersrum!" – "Das ist ja
Bockmist!" – "Der den zum
Lehrer gemacht hat, der gehörte ja heute noch abgestochen!"
Bärlapper
war es peinlich, neben so einem zu sitzen, den alle anfeindeten. Als er dann
auf den Lehrer schielte, sah er, dass sich der wieder gesetzt hatte und vor
sich hin murmelte: "Die wollen nicht wahrhaben, dass so vieles, was der
Mensch von sich gibt nichts sagen, sondern eben nur tönen muss." Alle
konnten sehen, dass er ganz fett in sein Glas grinste.
"Dem scheint es ja auch noch Freude zu
machen!", empörte sich Bärlapper. "Ja, so ein Sauhund!"
"Siehst
du, lauter solche haben wir gemacht in unseren Schulstuben", teilte sich
der Alte Bärlapper mit. "Lauter Leute, die außer Stande sind, auch einmal
etwas umzudrehen und nachzusehen, ob da nicht auch etwas ist. Nämlich hinten,
auf der anderen, nämlich der Rückseite." Dann schwang er sich noch mal
auf: "Ihr kennt ja nur das Vorne, ihr Armleuchter, ihr armseligen!",
schmetterte er in den Saal. Aber die Leute begriffen nicht ganz, was er damit
meinte. Nur einer schrie zurück: "Was hat der uns genannt, ha?" Der
Zogler Martin war es – und zum Beweis seiner Entschlossenheit, keine
Beleidigung zu dulden, war er aufgesprungen und hatte die Fäuste geballt. Sein
Platz war allerdings etwas entfernt vom Lehrer, und alle wussten, dass dieser
Akt eher nur symbolische Bedeutung hatte. Seine Nachbarn beruhigten ihn:
"Rege dich nicht auf, Zogler! Recht hast du ja, aber der da ist doch total
voll und ein frecher Kerl ist er dazu, das weiß man doch. Und irgendwann werden
wir ihn eh los!"
Die ganze
Sache war sowieso zu Ende gekommen, man trank sein Bier aus und zahlte, was
über die Maß Freibier war. Zwar blieben noch einige sitzen. Bärlapper erzählte
aber etwas von einer Kuh, bei der das Kalb jeden Augenblick kommen könnte. Er
beeilte sich wegzukommen.
"Keinen
Schluck Wasser kannst du mehr trinken", hörte Hans von der Mutter, kaum
dass er in der Küche war. "Das Wasser kommt ganz rot aus der Leitung, und
so was hat es ja noch nie gegeben. Das ist ja bald schlimmer als damals, wo man
einen Brunnen auf dem Hof und sein eigenes Wasser gehabt hat", jammerte
sie. "Obwohl der Brunnen nur ein paar Meter von der Mistgrube weg gewesen
ist."
"Gell,
da hat das Wasser nur ein bissl gestunken", lachte Hans, "aber rot
war es nie, denn eine solche Sauerei hat es bei uns nicht gegeben."
"Mach
dich nur lustig", grantelte die Mutter.
Er ging zum
Herrgottswinkel. Dort war unter dem Kruzifix mit dem geweihten Kräuterbündel
der Platz des Fernsehers. Er schaltete ein, drehte den Ton weg und setzte sich
dann zur Mutter an den Tisch. Das Fernsehprogramm überließ er sich selber. Er
berichtete, dass auch der Lehrer das mit dem Wasser gebracht hatte.
"Was,
der?", wunderte sich die Mutter. "Der wird nicht viel Wasser brauchen
. Die Menge Wasser, die der braucht, kriegt der auch vom Tau, wenn er ein
Haferl über Nacht ins Gras stellt."
"Da
hast du dir aber was ausgedacht", lachte Hans und erzählte weiter:
"Der Lehrer hat dem Bürgermeister die Schuld an dem roten Wasser gegeben
und ihn einen Beutel geheißen, weil er das Geld für das neue Rathaus zum
Fenster hinauswirft, trotzdem man doch eine neue Wasserleitung viel notwendiger
hätte. Aber schlau ist er, der Bürgermeister, hat der Lehrer behauptet, und
dass man ihm haberfeldtreiben müsste."
Vom
Fernseher flimmerte es ohne Ton herüber. Ab und zu, wenn es ganz grell war,
schauten sie hin.
"Mein
Gott, verstehst du nicht?", begann die Mutter wieder, "das Rathaus
ist eben wie ein Denkmal, das alle sehen. Die Leute sehen es immer noch, wenn
der Bürgermeister nimmer ist. Dagegen wird eine neue Leitung in der Erde
vergraben, wo sie ja keiner sieht."
"Und
der Gemeinderat hat nicht dagegengeredet. Der macht den Mund eh nur auf, um was
reinzuschütten", schimpfte Hans.
"Das
war früher anders", erinnerte sich die Mutter, "da hat der Pfarrer
was gesagt, und da hat das der Bürgermeister gemacht, und das hat dann auch seine
Richtigkeit gehabt und den Segen gleich dazu."
"Einen
Idioten hat der Lehrer den Bürgermeister genannt!", sagte Hans
nachdenklich. "Der ist dumm, aber lügen kann der prima. Da kommt so
schnell keiner mit, da steckt der alle in die Tasche. Bloß wie ist denn das?
Wenn einer schlau ist, dann ist der doch nicht blöd, oder?"
"Ja",
sagte die Mutter nur, "das wird schon so richtig sein, wie's ist. Dem sein
Verstand hat ihm immer gereicht und er ist sogar der Bürgermeister."
"Wenn
der Lehrer einen für blöd hält", sinnierte Hans, "dann ist das
vielleicht eine andere Blödheit als bei den Leuten, wenn die einen so
bezeichnen!"
Hans ging
zum Apparat und suchte ein Programm mit einem amerikanischen Film. Die schönen
Leute in diesen Streifen gefielen ihm immer so gut. Nur, wie sie daherredeten,
das mochte er gar nicht. "Auf den Ton kann man eh verzichten", meinte
er, "bei dem bissl Handlung kann ich mir selber ausdenken, was die reden.
Wenn ich mir selber was zusammendichte, dann hab ich meinen eigenen
Quatsch." So blieb der Ton weiter fast unvernehmbar. "Wie die immer
daherredn", nörgelte er. Hans drehte den Ton noch weiter zurück.
"Na
ja, der alte Oberlehrer ist so eine Marke", fing die Mutter wieder an,
"aber er ist eben ein Studierter."
Nach einer
Weile sagte sie: "Das weißt du ja noch, was im Dorf erzählt wurde. Dass
der Oberlehrer vor dem Bürgermeister seiner Wahl die alten Schülerhefte, wo sie
die Aufsätze geschrieben haben seinerzeit, ausgemistet hatte. Und auf den Müll
geworfen hat, wo man immer alles hingeschmissen hat damals in die Grube hinein.
Jahrzehnte war das Zeug auf dem Schulspeicher gelegen und es hat keinen
gestört. Aber gerade vor dieser Wahl hat das angeblich runter müssen. Obenauf
in der Müllgrube. Gell, das weißt du noch! Da hat es irgendwer gefunden,
scheinbar ganz zufällig. Vielleicht beim Müllabladen und beim Rumschnüffeln.
Weil man gern ein bissl rumgestochert in dem, was die anderen wegschmeißn und
in den andern ihrem Dreck."
"Wie's
genau gewesen ist, das weiß ja niemand", erwiderte Hans, "und man hat
es nie erfahren. Aber da sind etliche Leute vom Dorf auch gerannt voll Schiss.
Die sich wegen ihren alten Schulsachen haben genieren müssen."
"Irgendwie
ist es ins Dorf gekommen", erinnerte sich die Mutter. "Ausgerechnet
das alte Aufsatzheft vom Bürgermeister war dabei. Du lieber Himmel, haben die
Leut gesagt, ja so was, kommt denn der Kerl mit seiner Schreibe aus einem Hintersonstwoher?
Vielleicht ist der so schlau geworden zum Ausgleich für seine Einfalt? Denn der
Herrgott, der richtet es einem, und wenn einer Bürgermeister wird, dann gleich
erst besonders."
"Die
Leute haben ihn darauf zum Trotz gewählt", vermutete Hans und ging dann
wie immer um diese Zeit noch einmal in den Stall, um nachzusehen. Als er wieder
in der Küche war, fragte die Mutter, ob es denn am Jahrtag etwas Besonderes
geben wird. Hans sagte nur, während er bereits wieder am Fernseher herummachte,
dass sich anscheinend viele hohe Herrschaften angesagt haben. "Könnte
leicht sein, dass die da oben heuer irgendwas Besonders vorhaben."
Der
Fernsehapparat blieb mit der Seifenoper tonlos in Aktion. Hans holte sich die
Kirchenzeitung von der Anrichte und blätterte eine Weile darin.
Die Mutter
stopfte Strümpfe.
"Am
Jahrtag immer die vielen Herrschaften", begann die alte Bäuerin zu erzählen.
"Ganz früher sind sie in den Kutschen gekommen! Schöne Rosse! Das hat die
Mutter erzählt. Dann nach der Inflation – ein kleines Dirndl war ich noch –, wo
das Geld kaputt geworden ist, die großen Autos. Allen Leuten ist das Geld
verreckt, aber die feinen Leute haben ihre Autos gehabt. Niemand weiß es. Wo
sie das Geld hergehabt haben, heut noch. Gerade wie so ein schwarzer Omnibus,
mit den Männern vorn mit einer Uniform. Die Leute aus dem Dorf haben sich immer
Mühe geben, dass sie alles mitgekriegt haben. Sie sind auf die Straße hinaus,
wenn die großen Autos durchs Dorf gekommen sind: Damit sie die Herrschaften
haben grüßen können, weil sich das immer schon so gehört hat und die einem die
Arbeit gegeben haben im Schloss und der Brauerei und dem Gut. Eigentlich ist es
wie heute, aber heute doch nimmer ganz so wie früher, wegen dem Fernsehen, wo
einen Haufen solche Herrschaften hergezeigt werden. Bis ins Schlafzimmer rein
zeigt man sich ja heute her und mit ganz wenig was an sogar, heutzutage, mein
Gott. Dreckferkl hätte man sie früher genannt und gleich weggeschaut wegen der
Sündhaftigkeit!"
"Ja,
vielleicht seid ihr besser gewesen in der Moral, früher", brummelte der
Sohn vor sich hin. Er war jetzt in seine Zeitung vertieft, in der er einen Artikel
gefunden hatte, den er lesen wollte.
"Es
wurde viel geredet, wenn alles vorbei und der hohe Besuch weg war",
erinnerte sich die Mutter weiter. "Am Ende des Jahres hat man viel gewusst
von dem, was man sich so zusammengehört hatte."
"Eine
Sauerei ist das!", schimpfte Hans jetzt vor sich hin. "Ich glaube
gleich, dass man früher besser war in der Moral." Er hatte in der
Kirchenzeitung das Wort von Bischof Josef zur Abtreibung gelesen. Da Hans die
Erzählung der Mutter ohnehin aus dem jährlich wiederkehrenden Vortrag bekannt
war, hatte er sich vorhin den packenden Zeilen und jetzt seinem Zorn ganz
hingeben können. Durch den Vergleich der Abtreibung mit dem biblischen
Kindermord zu Bethlehem war es Bischof Josef nämlich gelungen, Hans in so etwas
wie einen heiligen Zorn zu versetzen. "Eine riesen Sauerei ist das!",
betonte Hans noch mal und jetzt noch energischer. "Wenn sich so eine erst
ein Kind hat machen lassen und das dann gleich wegmachen lässt, als wie wenn es
ein Abfall wäre."
Die Mutter
war zwar erschrocken, wusste aber gleich, was ihren Hans so aufregte, weil sie
das Kirchenblatt immer gründlich las. Sie war es zufrieden, dass der Sohn so
dachte, wie es der Hochwürdige Herr Bischof als Seelenhirte erwartete. So spann
die Mutter weiter an ihrem Faden: Einmal seien die noblen jungen Herren vom
Schloss droben auf der Jagd gewesen. Sie waren wohl seit dem Abend zuvor
unterwegs gewesen. Am Mittag jedenfalls seien die jungen Herren dann zu Bärlappers
Feld gekommen. Sie habe gerade mit dem Vater, selig, Getreide geerntet. Er habe
mit der Sense gemäht, sie die Garben gebunden, "wie es damals so war und
mühselig dazu, und da ist der Schweiß geronnen". Der Vater sei einer
gewesen, bei dem es nichts zu warten gegeben hat – "immer fleißig, nie
eine Ruhe, immer in Bewegung, das Leben lang. Sie seien dann bei der Brotzeit gesessen. Schlechte Zeiten waren es
eh damals, sie hätten immer gerade das Essen gehabt." Doch die jungen
Herren hätten ja so übernächtigt und hungrig, richtig hohlwangig ausgesehen. Da
habe man ihnen selbstverständlich das Zugreifen angetragen. "Und die haben
eingehauen, alles weggeputzt, im Nu, im Handumdrehen. 'Köstlich!', hätten sie
gesagt, aber immer erst runtergegessen, bevor sie weiter was gesagt hätten!
'Das karge, doch kräftige, würzige Mahl des einfachen Mannes, das diesen so
munter und gesund und lange am Leben erhält!', hätten die feinen jungen Herren
richtig geschwärmt", wollte sich die Mutter, indem sie sonderbar nach der
Schrift redete, erinnern können. Sie und der Mann seien zwar hungrig geblieben,
doch mächtig stolz gewesen. Sie hätten sich dann immer wieder versichert, dass
sie doch zufrieden sein müssten. Dass sie es denn doch gar nicht so schlecht
haben könnten. Weil das, was eben immer so da war, sogar diesen doch sicher an
so etwas Bescheidenes nicht gerade gewöhnten jungen Leuten gemundet habe.
"Ja,
ja, Mutter", gähnte Hans. "Die sind ja älter als ich." Er gähnte
noch mal und schaute auf den Fernseher, wo sich die Frau, "die ausschaut
wie eine Schaufensterpuppe, und der geschniegelte Stenz" immer noch heftig
attackierten. "Dass sie gar keine Ruhe geben können", empörte er
sich, "die streiten sicher, weil sie einen Haufen Geld und nichts zu tun
haben. Arbeiten müssten sie, dann täten sie die Schnauze halten, weil sie sich
selber wieder spürten und ihre Knochen und nicht nur ihren wirren Kopf."
Die Mutter
hatte das Nähkästchen auf die Anrichte gestellt. "Einer von den jungen
Herren, der nicht so alt ist wie du", berichtete sie dabei, "und der
jetzt der jetzige Herr ist, gell. Der, stell dir nur vor ..." Aber auch
das, was jetzt kommen würde, kannte der Sohn längst, nickte jedoch brav.
"... so stell dir vor, der ist doch, als er ungefähr drei Jahre war,
einmal weggestöpselt von da droben, und zwar mit einer vollen Hose. Und was denkst
du? Ich habe ihm eine frische von dir angezogen! Die seine habe ich schnell
gewaschen und bin mit dem Kleinen und seiner jetzt sauberen, aber noch nassen
Hose zum Schloss hinauf", war sie stolz. "Deine Hose habe ich heute
noch nicht zurück", fügte sie trocken an.
"Die
ist vielleicht wieder auf so einem hochherrschaftlichen Arsch", giftete er
und machte sich ins Bett davon.
2
Alle hatten
dann den Jahrtag unbeschädigt überstanden. Die Räusche vom Freibier waren
längst verflogen. Aber die Geschichten um das Ereignis hielten sich noch eine
ganze Weile: Von einer Frau Elvira, die einen dicken Bauch hatte und in guter
Hoffnung war, ging immer wieder die Rede. Die soll besser geschossen haben als
so mancher aus der Schar der männlichen "Semmelgesichter". Aber
Bedenken hatten die Leute doch, "nämlich, dass so etwas dem Kind geschadet
haben kann. In dem Zustand!" – "Tut eine das, wenn sie in der guten
Hoffnung ist?" – "Das wird
dann ein richtiger Satansbraten werden. Doch da passt er eh zu denen!"
Selbstverständlich hatte man es wichtig, es den anderen hinzureiben, wenn man
irgendeine Belobigung hatte kassieren können. Auch wurde die Strecke immer
wieder erinnert: Hasen waren es vor allem. Ein paar Rehe. Sogar eine Wildsau
war dabei, "... von diesen Mistviechern, die immer den Acker aufgewühlt
haben. Endlich ist eins hin von denen, aber es hätten ruhig viel mehr sein
können." Den Herrschaften wurde das Wildbret gegönnt. Die Treiber hatten
ja ihren Schweinsbraten zum Freibier gehabt. Der Weber Hiaß meinte: "Dass
die das Wildzeug weggeputzt habn, das gibt weniger Wildfraß auf den Feldern.
Dem Jungholz tut es vor allem gut. Kriegst ja nichts mehr hoch sonst. Allerdings
mehr Rehe hätten sie erwischen sollen, die alles verbeißen." Dem Hiaß sein
Wort galt, da wurde zugehört. Die Waldbauern hatten ihn ja zum Vorstand von
ihrer Genossenschaft gewählt.
Bärlapper
befand sich heute auf dem Weg zur Arbeit. Er war so zeitig dran, dass er an
seiner Wiese stehen bleiben konnte. "Ziemlich viel Scheißblätter",
stellte er besorgt fest. "Die Mutter fragen, warum man den Ampfer so
nennt, weil das doch komisch ist. Auch wenn dich wer fragt, der Kleine von der
Schwester oder irgendwer, dann sollst du es wissen. Oder sonst stehst du als
simpler Bauernschädel da."
Er fuhr
weiter. Bergauf schob er das Rad und pfiff einen Ländler vor sich hin. Als er
einmal zur Seite schaute, sah er eine fast ganz verhüllte Gestalt aus dem
Unterholz und über die Wiese kommen. Der Mensch hatte eine Plastiktüte in der
Hand. Bärlapper war zunächst etwas erschrocken und hatte zu pfeifen aufgehört.
"Vielleicht ein Landstreicher oder so ein Gratler, der im Holz geschlafen
hat?" Als er genauer hinsah, erkannte er aber den Oberlehrer, der
anscheinend gerade von einem Morgenspaziergang kam. Er wusste, dass der, einer
alten Gewohnheit aus seiner aktiven Zeit folgend, immer Ausschau nach
irgendeiner Besonderheit hielt, die er den Kindern hatte zeigen können. Der
Alte war herangekommen und hielt Bärlapper stolz ein Stückchen Rinde mit einem
muschelförmigen Auswuchs hin. "Da schau her, Hans", war er stolz,
"kennst du das?"
"Gesehen
habe ich das oft", sinnierte Bärlapper, "an Laubbäumen, an Buchen. An
toten Bäumen wächst das aus. Das macht die Bäume überhaupt erst kaputt. Oder so
was wird es sein."
"Ein
Zunderpilz!", triumphierte der Lehrer. "Man kann Blut damit stillen,
haben die Leute früher gewusst. Aber ich brauche das nicht", lachte er.
"Ich weiß gar nicht, ob ich noch Blut in den Adern habe, ich bin ja schier
gar ausgetrocknet", klagte er und machte Geräusche, als ob ihm die Zunge
dauernd am Gaumen kleben bliebe. "Ich werde ihn im Zimmer zum Anschauen
hinstellen, so ..." Er drehte und wendete sein Fundstück so, als ob er es
bereits irgendwo hingarnierte.
Bärlapper
war es egal. "Sieht dem gleich, dass er sich Schwammerl in die Stube
tut", dachte er sich. Er schaute dem Alten bei den Verrenkungen zu.
"Alsdann",
kam von Bärlapper dann nur nach einer Weile und er schob sein Rad weiter. Er
machte große Schritte. Der Alte trabte ihm hinterher. Bärlapper holte noch
weiter aus. Als der Alte endlich begriff, dass Bärlapper zu keiner Unterhaltung
aufgelegt war, blieb er stehen: "Ja, geh nur wieder brav deine Flaschen
zumachen!", rief er Bärlapper gallig hinterher. "Sieh aber zu, dass
du nicht selber ganz zu wirst mit der Zeit!"
"Vergelt's
Gott, und ebenso, Herr Schulmeister, windiger!", murmelte Bärlapper sauer
vor sich hin.
Ein
Arbeitstag wie immer wurde es – beinahe. Gegen zehn kam jedoch eine Gruppe
feiner Herren unter Leitung des Braumeisters und sogar der Anwesenheit des
Seniorchefs. Es wurde nichts erklärt, sie blickten zunächst nur umher, in jede
Ecke beinahe. "Ein Geschau haben die drauf", bildete sich Bärlapper
ein, "Augen, ganz hungrig und gierig. Fast so wie, was kostet das hier
alles", kam ihm ganz unwillkürlich.
Sie redeten
auch überhaupt nicht viel. Sie warfen
sich nur dauernd Zahlen zu.
"Auch
eine Art von Unterhaltung", wunderte sich Bärlapper. "Das sind aber
lauter Leute vom Fach, denn einen simplen Touristen würdest du gleich an seiner
Schwafelei erkennen. Und die ganz die Gescheiten, die das wenigstens von sich
selber glauben, dass sie's sind, die stellen ganz schlaue Fragen."
Als er sich
kurz umwendete, glaubte er die Blicke auf sich gerichtet und Kopfschütteln
bemerken zu können. Er konnte mit dieser Beobachtung jedoch nichts anfangen und
arbeitete in gewohnter Weise weiter: Mit einer Handbewegung am Flaschenhals
entlang den Metallbügel nebst Porzellanstück nach oben bringen, so dass der
Verschluss auf der Öffnung zu sitzen kommt, dann mit einem Griff in
entgegengesetzter Richtung den Federmechanismus spannen, um die Flasche zu
verschließen ...
"Aber
das ist, wenn ich es genau nehme, heute was anderes! Das Kopfschütteln von
denen ist ein anderes als von den Leuten sonst", ging es ihm durch den
Kopf.
"Die
braunen Flaschen ...", wollte er sich jetzt, wo diese Zahlenmenschen
hinter ihm standen, ablenken. "Ja, freilich, die braunen Flaschen: so
richtig geschaffen – ha, geschaffen! – für den Inhalt, wie heißt es gleich? Ton
in Ton? Überhaupt haben sie was, was ruhig macht. Anders die grünen Flaschen,
die machen einen kalten Eindruck. Eindruck? – Sauber! –
Keiner mit Gespür mag sie eigentlich, wenn wer einen Geschmack hat für
das Bier. Und diese Zahlentypen da hinter mir, die sind wie grüne
Flaschen!"
Er spürte
eine Abneigung, wenn er an einer grünen Flasche entlangfuhr. Er dachte sich:
"Das ist so eine Kälte so für das Gemüt. Richtig gegen das Gemüt. Etwas
Abweisendes. Wenn das nicht gleich zu geschwollen dahergeredet ist. Oder
gedacht ist, denn das ist ja doch komisch, dass man auch geschwollen denken
kann. Bloß gut, dass keiner weiß, was ich denke. Nein, diese grüne Kälte ist
keine Kälte, die als solche fürs Bier ja eigentlich gut ist, dass es frisch
bleibt. Freilich: Kühl muss es sein, dass das Glas außen schwitzt. Und eine
schöne Schaumkrone muss es haben, die auch hält und nicht gleich zusammenfällt.
Freilich, wenn da einer mit einem Fettrüssel drangeht, dann fällt der schönste
Schaum zusammen. Man muss später jeden Schluck deutlich wegen dem Schaumrand am
Glas sehen, so gut muss der Schaum halten, dann ist es richtig. Aber die
grünen! Keiner mag die grünen Flaschen so richtig, alle mögen die braunen
lieber. Keiner kann sagen, warum. Aber es ist so. Die grünen Flaschen, nein ...
Eigentlich wie diese Leute da mit den Zahlen hinter mir und ihrem abständigen
Kopfschütteln ..."
Dass es
grüne Flaschen gab, ärgerte ihn nach diesem merkwürdigen Besuch noch mehr. Sie
passten ihm einfach nicht.
Daheim ließ
er gelegentlich eine grüne Flasche von höher in die Steige plumpsen, fast in
der Erwartung, dass sie in Brüche gehe. Das war allerdings auch alles, was er
sich, dann über sich selber den Kopf schüttelnd, in dieser Richtung leistete.
Immer vom Vorsatz gefolgt, nie mehr so kindisch zu sein. Er war bisher nie auf
den Gedanken gekommen, etwas zu zerstören, um etwas zu ändern. "Du kannst
eh nichts ändern", war er überzeugt. "Was soll ich auch anders
machen? Alles hat seine Richtigkeit – oder wenigstens das meiste. Wenn es nicht
richtig wäre, dann wär es ja bereits anders. Wenn sich was ändert, dann kommt
das ziemlich von alleine, und am besten ist es, wenn es ganz leise und
unauffällig kommt." Einmal gab er sich sogar zu: "Dass es die grünen
Flaschen gibt, wird ja vielleicht richtig sein. Auch wenn es nicht gleich zu
verstehen ist. Irgendwer wird mal irgendwann einsehen, dass nur die braunen
Flaschen zum Bier passen. Dann schmeißen sie die grünen sowieso weg, weil sie
heute alles gleich wegschmeißen. Überhaupt, ein wenig was ändert sich sowieso
dauernd. Manchmal ist das allerdings eigentlich auch wieder viel zu
schnell."
Bald darauf
kamen diese wortkargen Menschen wieder daher. Gleich war da bei ihm auch das
mit den grünen Flaschen im Kopf. Als Bärlapper die stumme Prozession anrücken
sah, wäre er beinahe aus seinem Rhythmus gekommen. Das unangenehme Gefühl, das
er sich immer noch nicht erklären konnte, überkam ihn aufs Neue. "So was
hat es ja noch nie gegeben, dass Besucher gleich öfter zu mir her gekommen
sind. Solche gleich gar. Der eine oder andere Schwätzer freilich doch mal. Aber
solche wie jetzt nicht. Kommen sie wieder, weil sie doch was daherreden
wollen?", fragte er sich. "Doch nicht nur wegen mir, nein! –
Irgendwas läuft da", argwöhnte er, als die sonderbaren Besucher dann wie
vorhin so beinahe wortkarg herumstanden. "Die kommen ja nicht nur zu mir,
nein, sondern die schnüffeln im ganzen Betrieb herum!"
3
"Der
Unterlassner liegt jetzt auf den Tod", klagte die Mutter, als Hans von der
Arbeit kam.
"War
ja bereits lange schlecht drauf und ist nimmer aus dem Bett gekommen. Der
Doktor war so oft da", ging Hans wenig gerührt darauf ein. "Es geht
dem Ende zu mit ihm, und ich gönne es ihm."
Er holte
sich Brot, Speck und ein Bier und setzte sich, um Brotzeit zu machen.
"Ganze
Fünfundachtzig ist er geworden", betonte die Mutter.
"Eine
schön lange Zeit", meinte der Sohn.
"Und
immer Arbeit, solang er sich hat bewegen können. Du weißt ja, du hast ihn ja
rumwerkeln sehn, den Nachbar. Ein richtiger Bauernmensch eben: Arbeit und
nichts als Arbeit, bis zur Grube."
"Nicht
nur Arbeit. Da muss es ja auch sonst noch etwas gegeben haben", merkte
Hans an. "Ausgelassen hat auch früher keiner was vom Leben!", setzte
er drauf. Als ihn darauf die Mutter fragend ansah, holte er aus: "Ich bin
überzeugt, die haben früher nichts ausgelassen. Was hergegangen ist, das haben
sie mitgenommen. So wie die Leute heute eben auch. Bloß, dass sie heute nimmer
so genierlich und verdruckt sein müssen und sich herzeigen."
Die Mutter
wunderte sich nur, sie wusste nicht gleich, was er andeuten wollte.
"Und
wenn was anderes hergegangen ist, dann haben sie es eben gepackt ..."
"Ich
hoffe ja nicht, dass du es so meinst, wie ich einen Verdacht habe. Doch am
besten gibst du Ruhe damit!", forderte die Mutter.
Hans flog
ein leichtes Grinsen übers Gesicht. Er erhob sich, um in den Stall zu gehen.
"Ja, anders ist es heutzutage auch nicht – bei den meisten wenigstens",
meinte er noch.
Heute ist
alles lauter und alles geht schneller", holte die Mutter aus.
"Deswegen scheint es mehr zu sein. Aber wenn der Ranzen voll ist, dann
geht nichts mehr rein. Es wiederholt sich ja alles, was da daherkommt, auch
wenn es sich anders verkleidet. Langweilig wird es euch auch schneller als uns
früher."
"Bei
uns ist es langweilig", gab ihr der Sohn Recht, "obwohl die meisten
mehr haben als ihr früher, nehme ich an. Viel mehr Möglichkeiten ..."
"Mag
sein, dass das richtig ist", flüsterte die Mutter fast nur. Sie war jedoch
nicht mehr so richtig bei der Sache, denn sie hatte bereits den Rosenkranz in
der Hand. Ihre Lippen bewegten sich fast unmerklich.
"Was
hat mir der Unterlassner den Hosenboden ausgehauen, wenn er mich erwischt hat,
wie ich ihm Äpfel geklaut habe", erinnerte sich Hans, als er dem Vieh das
Futter eingab. "Die schönen Jakobsäpfel, die frühen, auf die jeder Lausbub
scharf war – und wegen der Gaudi und der Spannung, die man als kleiner
Stehlratz mit den andern gehabt hat." Er ließ das Bild von dem
Ochsenfuhrwerk wieder aufleben, neben dem der Unterlassner immer hergelatscht
war. Immer die Pfeife im Mund, den blauen Schaber, wie sie früher die Schürze
genannt haben, mit einem Zipfel in den Gürtel gesteckt. Hans überlegte, ob er
sich mit dem Nachbar jemals richtig unterhalten hatte, einfach so, über den
Zaun weg oder auf dem Feld, wenn sie sich begegnet waren. Man war sich nahe,
aber hatte nicht viel miteinander zu tun gehabt. Nicht etwa, dass sie sich feind
gewesen wären. "Das wäre ja recht", hat jemand nur sagen müssen,
"wenn man die Brennnesseln am Rain abmähen täte", wenn es einen gestört
hatte. Meistens hat so was gereicht, mehr musste nicht gesagt werden. Auch bei
nachbarschaftlicher Hilfe lief es ja eher ohne viele Worte ab. Doch über das
Wetter hat man sich häufiger ein paar Brocken zugeworfen, erinnerte er sich.
"Den siehst du nimmer", wurde Hans plötzlich klar. Da überkam es ihn,
dass ihm der Alte irgendwie doch fehlen würde.
Nach der
Stallarbeit richtete sich Hans her, um zum Wirt zu gehen, wo er bei seinem
Trachtenverein zu tun hatte. Den Jungen wollte er heute den Watschentanz beibringen.
Bevor er
sich auf den Weg machte, schnitt er sich noch einen Ranken Brot herunter,
bestrich ihn mit der Leberwurst aus der letzten Schlachtung und aß im Gehen.
Beim
Wirtshausdiskurs war es am Stammtisch um ein politisches Ereignis gegangen, das
sich im Ort ankündigte. Wobei sich am Ende der Vertreter der
Minderheitenmeinung durch Rückzug in eine Ecke des Raumes selber ausschloss. In
seinem Grantlerwinkel verweilte der glücklose Streiter allerdings auf angenehme
Art hinter einer schütteren, jedoch unverwüstlich immergrünen Weinrebe aus Kunststoff.
Eine Weinlaube sollte das ganze Gebilde darstellen, und stilgerecht schlürfte
man dort sein Viertel Weißen oder Roten.
Bärlapper
erschien zu seiner Plattlerprobe. Doch auch heute war er wieder zu zeitig dran.
Er merkte es nur, weil der Probenraum verschlossen und von seinen jungen Leuten
noch niemand da war. "Es muss am alten Regulator in der Küche liegen. Der
geht doch immer falsch. Weggeschmissen gehört er!", ärgerte er sich.
"Oder einem Antiquitätenhändler müsste man ihn andrehen. Die sind doch auf
alte Sachen vom Land ganz scharf. Dass sich wieder einer in der Stadt eine
Bauernstube einrichten kann, wie er meint, dass so eine Bauernstube ist. Wie
behämmert die Leute sind, wenn sie das teuer kaufen, was unsereiner zum
Wegschmeißen übrighat."
Dann
schaute er den anderen beim Kartenspielen zu.
"Zum
Heiligen Kastulus geht man heuer auch wieder", ging es nebenbei um die
Wallfahrt. – "Du gibst jetzt!" – "Was war dann das für einer,
der Kastulus, ist das heute noch bekannt?" – "Also ..., na ja
..." – "Ansagen musst du!" – "Der Kastlbauer heißt so, weil
einer Kastulus oder Kastl geheißen hat, der früher auf dem Hof gesessen
ist." – "Kreuz ist Trumpf!" – "Einen Unsinn redest du
daher. Beim Kastlbauer hat höchstens ganz früher einer Kästen gebaut, wie sie
früher die Schränke genannt haben!" – "Schreibt eigentlich keiner
eine Dorfchronik?" – "Du musst Schell zugeben!"– "Das wäre
doch was für den Lehrer, dann muss er nicht dauernd streiten, wenn er was zu tun
hat und nicht nur auf unsere Kosten lebt in seinem Nichtstun, seinem fett
bezahlten!" – "Hau doch deinen Zehner rein, der Stich gehört
uns!" – "Mei, der Kastlbauer ist ein armer Hund mit seinem großen
Hof. Wird der größere Hof sein im Dorf, aber ein ganz armer Tropf ist er
doch!" – "Für was hast du denn deinen Zehner aufgespart? Der Luki hat
doch die Sau, hast du das nicht gemerkt? Der zieht dir deinen Zehner
raus!" – "Kastulus, das muss ganz früher gewesen sein, ganz früher
hat der gelebt, vielleicht sogar noch bei den alten Römern!"
Sie zählten
ihre Stiche, nörgelten herum – und kramten dann noch eine Weile in ihren
Geschichts- und sonstigen Unkenntnissen. Sie gaben sich zwar Mühe, die Sache um
den Traditionsheiligen zu klären. Sie waren jedoch wenig erfolgreich darin –
wenn auch nicht unbedingt traurig darüber.
In der
Weinlaube rührte es sich, als sie am Stammtisch ihr Pulver verschossen hatten
und eine Pause eingetreten war. Ein Räuspern war zu hören, ein energischeres
Nachsetzen. Es wollte anscheinend nicht gelingen, so folgte eine Wiederholung
in mehreren Wellen mit noch mehr Aufwand an Energie und immer tiefer aus der
Brust kommenden Geräuschen.
Dann
verstummte die Attacke. Der Frosch schien gelöst zu sein und wurde, dem
Geräusch nach zu schließen, ausgespuckt, vermutlich zur Begutachtung ins
Taschentuch.
Sie hatten
die Szene mit einigem Ekel verfolgt. Die meisten kannten den Vorgang allerdings
von ihrer Schulzeit her. Sie zogen noch Grimassen, um ihren Abscheu kundzutun,
als der Oberlehrer hinter dem immergrünen Rebwerk hervorkam.
"Ich
habe ja gar nicht gewusst, dass der da ist", sagte Bärlapper zu den
anderen, "erst wo er die Aule raufgeholt hat."
"Da
hast du auch nichts versäumt", war der Socher kurz angebunden. Bärlapper
schloss daraus, dass es da zuvor etwas gegeben hatte – und wurde auch gleich
vom Sacklbauer Zenz in Kenntnis gesetzt: "Weißt du, da wollen doch die
Sozis im Dorf einen Verein aufmachen. Die Roten. Gewerkschaft oder so was oder
Partei gleich gar. Der Müller Seppl und die Hungerleider und Zugereisten vom
Unterdorf. Kein Gestandener aus dem Dorf ist eh nicht dabei. Das sind lauter
solche, die zu kurz gekommen sind, wie der Streibl Max von der Regierung gesagt
hat seinerzeit! Glaube ich. Aber, was man ja gar nicht richtig versteht, dass
einer von den Zweitwohnungsbonzen aus der Stadt auch dabei sein soll. Der hat
doch alles – und etliches mehr. Ich denke, der will uns nur ärgern damit, dass
er auf Sozi macht."
"Ist
keiner von den Halbrussen aus der Müllgrube dabei?", mischte sich der
Görer ein.
"Das
sind ja Vollrussen", war der Sacklbauer überzeugt, "so wie die
hausen. Das passt ja gut zusammen: Die Sozis und die Russen. Und das bei uns da
heraußen, ja, da verreckst!"
"Weißrussen
sind das höchstens", stieg Bärlapper ein, noch dazu heftig, ganz entgegen
seiner Gewohnheit. Er steigerte sich sogar noch: "Weißrussen sagt man da,
aber keine Halbrussen, du Zipfel. Das hast du jetzt mit den Halbnegern
verwechselt. Aber keiner weiß es richtig, was für welche das sind, die dort
draußen in dem ganzen Dreck hausen und seit den fuffziger Jahren bereits
vielleicht." Bärlapper wunderte sich über sich selber – und versuchte
abzulenken: "Ich möchte wissen, warum der Bürgermeister zulässt, dass die
Stadt auch noch den Stadtdreck in unsre Müllgrube kippt."
"Das
mit den Politischen, das braucht es gar nicht bei uns da", schimpfte der
Sacklbauer. "Da sind wir uns alle einig gewesen vorhin. Das bringt einen
Streit ins Dorf, so wie bei denen droben in ihrem Bonn und mit der frechen
Goschen, die die Politischen haben und nicht halten können. Dem Müller Seppl
und der ganzen Bande zeigt man's schon, wenn sie die Frechheit haben und bei
uns da ihre Partei oder so was aufmachen! Aber der Schulmeister hat ja wieder
dagegengeredet. Weißt ja, wie der ist. Wir sind keine Demokraten nicht, hat der
Schulmeister gesagt. Keine ... – ist ja wurscht was. Ja da legst dich nieder!
Am Ende ist er selber so ein Roter. Gleichsehen tät's ihm, so wie der sich
immer aufführt."
Für einen
Augenblick war es ruhig, sie schienen nachzudenken.
"Aber",
kam der Sacklbauer heraus und grinste dabei bis hinter die Ohren, "wer
will denn schon so was sein bei uns hier in Ritzling? Ein Demokrat! Wie sich
das schon anhört. Demokrat, das können sie von mir aus in der Stadt sein mit
ihrem Durcheinander von den vielen Leuten!", lachte er.
Der
Oberlehrer war durch den Saal geschlurft und stand nun bei den Männern am
Tisch. "Ihr Rindviecher!", fing er an und scherte sich nicht darum,
dass sie fast aufgesprungen wären – sich allerdings damit begnügten, ihn giftig
anzuschauen. "Ihr habt in meiner Schule überhaupt nichts gelernt, sondern
nur die Luft verfurzt!", formte seine schwere Zunge. "Auch dieses
Nichts habt ihr noch zur Hälfte vergessen, ihr Wichte!", fügte er hinzu
und machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann setzte er sich umständlich und
war dabei bemüht, mit seinem Hinterteil den Stuhl nicht zu verfehlen.
"Kann
sein", bekam er vom Socher trotzig zurück, "da ist ausschließlich der
Lehrer schuld, dass wir nichts gelernt haben! Wir nämlich hätten saumäßig gerne
was gelernt. Wenn nur der Lehrer besser drauf gewesen wäre!"
Sie lachten
und zwinkerten sich zu. Der Socher mischte gleich wieder und gab Karten.
Der Alte
rückte sich auf seinem Stuhl zurecht. "Euer Kastulus war ...", wollte
er zur Belehrung ansetzen, unterbrach sich aber selber und machte wieder diese
wegwerfende Handbewegung: "Es hat ja doch keinen Wert", nuschelte er
vor sich hin und wurde dann deutlicher: "Keiner muss immer alles wissen.
Die Hauptsache ist, Burschen, dass ihr gesund seid – was seid ihr viehisch
gesund, ihr verdammten Naturburschen."
"Darauf
kannst du einen lassen!", kam es wie auf Kommando.
Dann erhob
der Schulmeister seine Stimme: "Hätten nämlich die Leute gewusst, warum
sie jedes Jahr hinterm Pfaffen her und zum heiligen Kastulus gelatscht sind,
dann hätten sie's ja irgendwann einstellen müssen. Spätestens als in den
Fuffzigern die Pferde und Ochsen, die vierhaxigen wohlgemerkt, gegen diese
stinkenden, sündteuren Zugmaschinen eingetauscht waren. Allerdings wäre das
falsch gewesen! Denn höre: Jetzt gibt es ja wieder genug Gäule. Und es darf ja
eigentlich gar nicht wahr sein: Es hat alles seine Richtigkeit, wie es geblieben
ist. Auch wenn es heute nur lauter Streichelvieh ist für die vielen kaputten
Seelen, die überzeugt sind, dass sie mit Viehzeug statt mit dem Stall voller
Kindern wieder normal werden ..." Er hatte sich damit etwas verausgabt und
musste zusehen, dass er auch wieder seine Zunge befeuchtete. Darauf ging es
weiter und übertönte das Kartendreschen der anderen: "Jetzt sage ich euch
was! Jeder könnte an diesem Vorgang ganz deutlich sehen, welchen Stellenwert
die Unwissenheit, sprich Dummheit, bei der Brauchtumspflege einnimmt. Da kann
man sagen, was man will, Dummheit zahlt sich aus. Gell, ihr Schafsköpfe?"
Es mochte ihm zwar wohlgetan haben, was er da wieder rausgelassen hatte. Die
Männer dagegen waren darüber nicht gerade erbaut und hatten sogar ihr
Kartenspiel unterbrochen. Der Alte feixte und schaute die Männer jetzt frech
der Reihe nach an. Immer wenn er einen auf diese Weise passiert hatte,
hinterließ er bei diesem versteinerte Züge, aus denen die Augen zornig
blitzten. Sie hielten ihre Karten reglos in der Hand und schienen zu überlegen,
wie sie es dem Lästermaul heimzahlen könnten.
Der Alte
saß nach erfolgter Aktion mit fast geschlossenen Augen da und harrte offenbar
der Dinge, die da eigentlich kommen müssten.
Spannung
lag im Raum.
Da drosch
der Sacklbauer eine Spielkarte auf den Tisch, dass die Platte bebte und die
Gläser schwankten. Alle griffen blitzschnell danach, um ihr Bier zu retten.
Es war
sofort klar, dass dieser Schlag dem Oberlehrer gegolten hatte. Das tat ihnen
ganz bescheiden wohl. Sicher war, dass das Schandmaul nur sein Alter noch vor
einer saftigen Schelle bewahrt hatte.
Aber Verlass war nicht darauf. Es war ja durchaus bereits vorgekommen, dass
eine Ladung verspätet explodierte und sich mittels Faustschlägen oder sonstigen
Ausbrüchen ein Ziel gesucht hatte. Eine Erscheinungsform im Übrigen, die gerade
im Wirtshaus und unter reichlichem Konsum bestimmter Kraftquellen zu durchaus
ebenso allgemeinen Abrechnungsveranstaltungen gedeihen konnte.
Der Lehrer
wusste die Lage einzuschätzen und hielt sich vorerst zurück.
Die
Angelegenheit war allerdings für die Männer noch nicht ganz zu Ende gebracht.
Mit ihren derben Fäusten droschen sie abwechselnd die Spielkarten auf den
Tisch, peng, peng. Es hörte sich manchmal wie ein Trommelwirbel an, wenn die
Schläge dicht aufeinander folgten, peng peng. Sie richteten es in ihrem Zorn
auch ganz bewusst so ein und machten kleine aggressive Kompositionen: peng peng
peng; pengpeng peng; peng peng peng; pengpengpeng!
Das war für
den Alten ein untrügliches Zeichen dafür, sich noch für eine Weile ruhig zu
verhalten. Sie sollten sich erst ein wenig abreagieren. Er konnte ja
einstweilen genießen, sie so in Fahrt gebracht zu haben.
"Lauter
Fremdkörper hier bei uns", zischte der Socher und deutete mit dem Kopf auf
den Lehrer, ohne diesen anzuschauen.
"Habt
ihr schon gehört, die allerschönsten Fremden da in der Müllgrube bei uns sollen
Ratten fressen!", wollte der Görer ein wenig ablenken. Die Männer verzogen
vor Ekel das Gesicht. "Froh müssen wir sein, dass noch keine Chinesen im
Dorf sind, denn dann wären wir nach und nach unsere Hunde los!", versuchte
es der Görer noch einmal auf bissig.
"Wenn du jetzt die Goschen nicht hältst mit so was, dann kann es
passieren, dass du eins draufkriegst!", drohte der Socher.
Aha! Das
war ein Signal. Sie wussten, dass da nur noch ein Funke fehlte – den jeder von
ihnen schlagen konnte, vielleicht auch nur aus Unachtsamkeit.
Görers
Mannesstolz gebot diesem, noch einmal aufzumucken – allerdings so verhalten,
dass es gerade noch zu bemerken war. Er beschränkt sich auf einen kühnen Blick.
Mehr war nicht ratsam, wenn er den Bullenkerl von einem Socher anschaute.
Der
Sacklbauer und der Socher dachten weiter über eine Vergeltung für die Angriffe
von vorhin nach. Ihre Ehre verlangte das. Es wurmte sie gehörig, dass sie es
nicht auf ihre einfache, unter ihresgleichen übliche Art bereinigen konnten. Da
hätte man einfach hinübergelangt. Nicht etwa, dass man damit nur eine einzige
Möglichkeit gehabt hätte. Je nach Lage der Dinge und der eigenen Laune wäre es
denkbar gewesen, entweder nur auszuholen, um die flache Hand im Gesicht des
Gegners zu landen, Watschen genannt. Oder man hätte eine Mischung aus Schieben
und einfachem Aufklatschen wählen können.
Wobei die
Hand nicht zur Faust zu ballen gewesen wäre. Man hätte mit dem Handballen an
der Kinnlade auftreffen müssen. "Ich schiebe dir eine", hätte da die
Vorwarnung gelautet, "ich schieb dir eine Bockfotzen!"
Aber hier
war das Problem mit dem Oberlehrer. Da konnte man ja doch nicht so ohne
weiteres ... Wer würde einen alten Mann schlagen? "Eher lässt man daheim
mal seine Alte durch. Aber an einem alten Mann vergreift man sich nicht. Und an
dem Schulmeister schon gleich gar nicht, der gehört zur Obrigkeit, das steckt
immer noch irgendwie in einem drin." Lauter solche Gedanken gingen ihnen
im Kopf herum.
"Den
Lehrer muss man anders packen!" Sie redeten nichts, außer die paar
Kartenbefehle: "Ausgeben!" – "Zugeben!" ..., barscher als
sonst, ja, voll Zorn, Hass bereits. Sie dachten dabei weiter nach und droschen
weiter ihre Karten auf den Tisch.
Ganz
unvermittelt und fast unverständlich zwischen den Zähnen hervor, fragte dann
der Socher den Alten, warum der denn keine Frau habe und warum er nicht
verheiratet sei, "wie es sich für ein richtiges Mannsbild doch
gehört." Dabei hatte der Socher nicht aufgeschaut, sondern getan, als
müsse er sein Blatt studieren. Und dass es ihm eigentlich auch wieder wurscht
sei, hat er dann nachgesetzt.
Der Alte
nahm einen Schluck, stellte das Glas ganz gelassen wieder auf den Bierfilz und
musterte den Angreifer von der Seite. Der musste das gespürt haben, hob den
Kopf, blickte dem Lehrer in die Augen und sagte herausfordernd: "Da gibt
es doch was, ha? Was ganz Bestimmtes, wo man nicht drüber redet, und strafbar
ist es auch – jetzt leider nicht mehr. Aber grauen tut es einem davor. Und das
mit Recht, weil man es halt nicht tut, wenn man richtig herum ist! Und dass ein
womöglich linksrum Gestrickter dann auch noch Lehrer ist!"
Die Männer grinsten
vielsagend. "Mensch, das hat gesessen und war mindestens so gut wie eine
Bockfotze", dachten sie wohl alle, "der Socher traut sich was, und
das war ja fast schon die fällige Abreibung."
Der Alte
beugte sich ganz nahe zu seinem Widersacher hin und entgegnete ruhig:
"Schau, Socher, Bub, warum soll ich auf dein Geschwätz eingehen? Wo du
damit doch nur etwas Saublödes in den Raum stellen willst mit deinem Geschwafel
vom Richtigsein. Aber eines sage ich dir immerhin doch ..."
Alle waren
gespannt, ob er jetzt den Funken schlagen würde, nämlich besagten, der das
Feuer entfacht, eine Explosion vielleicht sogar, wo man zuhauen könnte und wo
es endlich was Handfestes gibt, "aber Spaß würde es ja nicht so richtig machen:
Der alte Mann, das dürre Zwetschgenmännlein, da langst du einmal hin und
vielleicht zerquetscht du ihn gleich ganz oder brichst ihm was ab. Notwendig
wäre es schon lang einmal. Man könnte ja auch untereinander aufeinander
losgehen, stinken tut einem immer auch an den anderen einiges. Was schließlich
alles dann in ein Großreinemachen gepackt werden könnte. Dabei könntest du ja
aus ganz aus Versehen dem Alten auch ein paar Saftige drüberziehen. Du könntest
ja nachher sagen, dass er dir in den Schlag hineingelaufen ist, der einen
anderen treffen hätte sollen. Dann bist du nicht gar so viel schuld ...",
mochte der eine oder andere überlegt haben.
"Aber
eines sage ich dir doch, Socher", setzte der Alte wieder an, "mein
Kompliment!"
Mehr kam
zunächst nicht. Allen stand die Enttäuschung im Gesicht. "Der alte Schuft
ist doch zu feige", dachten sie. "Von wegen Kompliment! Das ist doch
gleich wieder so hinterfotzig wie immer bei dem!"
Die
Angelegenheit war jedoch noch immer nicht abgetan: "Socher, es ist ja doch
eine Kunst", erklärte der Oberlehrer gekünstelt freundlich, "nämlich
mit dem Fliegenschiss nach deinem Geistesfurz einen ganzen Misthaufen zu
produzieren. Richtig ökonomisch ist das ja", spielte er weiter. "Ich
glaube, du solltest mit dieser hervorragenden Fähigkeit, von der in der Schule
überhaupt nichts zu bemerken war, etwas für deinen beruflichen Aufstieg tun!
Damit du von deinem schlichten Mörtelrühren wegkommst. Welchselbiges ja, nach
dieser deiner intelligenten Kostprobe zu urteilen, deiner wirklich unwürdig
ist!"
Der Socher
saß wie versteinert da. Er wurde von links und von rechts geschubst und
untertischs sogar getreten, doch sofort etwas zu unternehmen. Er aber war
ratlos und verlegte sich deshalb darauf, so dreinzuschauen, als ob er die
Stichelei gar nicht zur Kenntnis genommen hätte. Da war der sprichwörtliche Zug
auch bereits abgefahren. "Reagieren hätte er sofort müssen, wie in
Notwehr, klar!" Das sagte ihnen das Gespür für solche Situationen.
Irgendwie enttäuscht wandten sie sich darauf wieder ihren Karten zu.
Der Lehrer
griff nach seinem Glas. Seine Hand zitterte. Doch das sah keiner.
Bärlapper
war das ja alles unangenehm. Er hatte dauernd angespannt überlegt, wie er sich
davonmachen könnte. "Da hältst du dich raus!", hatte er sich immer
gesagt, "das geht dich doch einen Dreck an, was die da miteinander
auskampeln. Das sind eh sowieso schon fast lauter Gratler, die da: der Görer,
der Socher, der Sacklbauer. Mit so was lässt man sich nicht ein."
Da fing
aber der Sacklbauer wieder an: "Mei", nuschelte er vor sich hin,
drosch einen Trumpf auf den Tisch und strich den Stich mit einer fetten
Grimasse ein: "Mei, es ist eben so, dass wenn einer nicht mit zirka
vierzig Jahren endlich doch verheiratet ist, dass der einfach nicht kann und
noch nie können hat!"
"...
oder dass er ..." Der Sacklbauer legte eine Pause ein. Die anderen
wussten, was da zu ergänzen war. Sie nickten sich mit scheinheilig besorgten
Mienen wissend zu. "... oder dass der andersrum ist", schob der
Sacklbauer schier beiläufig nach. Die anderen nickten wieder so.
Bärlapper
beugte sich unter den Tisch und fingerte an seinen Schuhbändeln herum. Als er
mit rotem Kopf wieder auftauchte, fuhr ihn der Socher an: "Schau nur zu,
Hans, dass du die Kurve noch rechtzeitig kriegst, sonst stehst du auch im
Verdacht!" Die anderen lachten laut heraus. "Das weißt du ja",
machte der Socher weiter, "die Natur fordert ihr Recht! Und wir schauen da
drauf und das ganze Dorf, dass alles seine Richtigkeit hat, wie sich's gehört
in der Natur, die sich nicht ins Handwerk pfuschen lässt! Uns kommt keiner aus,
der nicht richtig ist – und die Richtigen alle, die kommen uns auch nicht aus!
Weißt schon, die mit dem Rock an, normalerweise!" Sie lachten.
"Gehört
hat man von dir noch gleich gar nichts mit den Weibern", bohrte der Socher
weiter. "Aber das sage ich euch! Das sind die Schlimmeren, von denen man
nichts weiß!"
Jetzt war
Feixen angesagt, Augenzwinkern, eine Kopfbewegung zum Oberlehrer hin – der so
tat, als interessiere ihn das alles nicht.
"Auf
wen wir einen Verdacht haben, Bursche, dem schauen wir genau auf die
Finger!", versicherte der Görer dem Bärlapper.
"Hätt
ich's nicht, dann tät ich's nicht!", reimte der Socher lachend und drosch
einen Ober auf den Tisch.
Als dann
wieder Ruhe war, meinte der Oberlehrer: "Eine schöne Sauhatz habt ihr da
abgezogen, Burschen, Respekt!"
Die anderen
freuten sich und spielten weiter. "Gell, da zittern die morschen
Knochen!", fiel dem Görer ein.
Nachdem der
Alte sie kurze Zeit in ihrer guten Laune gelassen hatte, sagte er: "Nur,
um da einiges ins rechte Licht zu rücken, eine kleine Rückblende ..." Er
legte wieder so eine Pause ein, als er bemerkte, dass die anderen sofort
reagierten und von ihrem Spiel immer wieder zu ihm schauten. Es schien so, als
genieße er, dass sie wohl eine Ahnung hatten, was jetzt kommen würde. Nach
einer Weile machte er weiter: "Kennt ihr die kleinen Jungen noch und ihre
Spielchen auf dem Schulhof oder wo auch immer? So etwa: hasch mich! Gequietsche
und Gepiepse. Gerade so im Stimmbruch, da fangen die Lümmel wieder richtig zu
albern an, dass man sie manchmal an die Wand klatschen möchte!"
"Habt
ihr's gehört?", fuhr der Görer dazwischen, "der Huber hat für seinen
Stier viertausend gekriegt auf der Versteigerung!" Die anderen nickten
eifrig mit dem Kopf, obwohl es ihnen eigentlich egal war. "Ein schönes
Geld!" Mehr fiel ihnen dazu jedoch nicht ein.
Der Lehrer
machte weiter: "Und laust mich der Affe, was sehe ich denn da immer wieder
einmal? Man kann es fast nicht glauben: Immer mal schnell einem zwischen die
Beine gegriffen! Und der jault auf! Und der rächt sich dann und greift zurück
oder bei einem andern hin! Und dann alle bei allen! So eine richtige
Grabsch-Orgie mit Kreischen, Wiehern, Verfolgung, Ergreifen und Hingreifen!
Lust-und-Weh-Geschrei. So richtig kleine Schweinchen, meine Buben!"
"Eichel
ist Trumpf", knurrte der Socher den Görer an.
"Auch
mal einen zu zweit festgehalten", nervte der Lehrer weiter. "Lauter
solche Sachen. Diese geilen Späßchen der Lausbuben. In der Knabentoilette dann
gelegentlich herzeigen!"
"Jetzt
gib schon endlich", fauchte der Sacklbauer, weil der Socher gar nicht
aufhören wollte zu mischen.
"Wenn
der nicht bald das Maul hält, dann vergesse ich mich doch noch!",
zwitscherte der Görer, "denn so eine Sauerei höre ich mir nicht länger
an!"
Der Alte
nervte weiter: "Ein Lineal! Eine tolles Vielzweckgerät ist so ein Lineal:
zum Stricheziehen, zum Zuhauen, den Buckel kratzen kann man sich auch damit.
Aber was machen meine Knaben mit einem Lineal auf dem Abort?"
Der Lehrer
wartete eine Weile ab und schaute vor sich hin.
"Von
was hat denn der eigentlich geredet?", fragte der Socher gereizt. Die
anderen gingen nicht darauf ein und versuchten sich auf ihr Spiel zu konzentrieren.
Nach einer
Weile war der Alte wieder zu hören: "Oder überhaupt, wie soll man es denn
nennen, wenn sich da Kerle dreckige Witze erzählen und sauigeln?" Er war
wieder leiser geworden, aber umso angespannter hörten die Männer hinter ihren
Karten zu. "Wie war das vorhin da mit dem Schatzilein und dem Kämmerlein
hinein, hinein und das andere Gerede da immer? Meiner Einschätzung nach ist das
gemeinschaftlich genossene gleichgeschlechtliche Befriedigung. Und wie nennt
man denn das, ha?"
"Pfui!",
schrie der Görer, "die Pornografie höre ich mir nimmer länger an!"
"Das,
meine Herren", sagte der Lehrer mit erhobenem Zeigefinger, "das ist
schieres verbales Homo, schlicht Schwulität genannt!"
Sie waren
baff, der Mund ging ihnen auf und sie legten die Karten aus der Hand.
"Das
hätte es jetzt nicht gebraucht, Lehrer!", klagte der Görer. Es hatte sich
eigenartig ergriffen angehört. "Nein, wirklich, soweit hättest du jetzt
doch nicht gehen dürfen."
Nach einer
Weile platzte es doch heraus: "Was?", schrie der Socher und
wiederholte nur: "Was?" Der Görer versuchte wiederzugeben, was er
gehört hatte: "... werdale ..., was Homo ..., du bist ein ...!" In
seiner Erregung gelangen ihm aber nur diese Fragmente. Sie schubsten sich immer
wieder mit beiden Händen voneinander weg, als ekelten sie sich voreinander; sie
schlugen sich mit der flachen Hand auf den Schenkel, dass es klatschte, dann
wieder mit der Faust auf die Tischplatte, dass die Gläser tanzten ...
"Jeder
Kerl ist auch ein bissl warm!", riskierte der Oberlehrer noch in ihr Toben
hinein. "... vielleicht", setzte er jedoch schnell noch hinzu, um es
auch wieder etwas zu entschärfen.
Es war
vermutlich sein Glück, dass es die anderen nicht gehört hatten, während sie
noch lautstark mit ihrer Entrüstung befasst waren. In ihrer Aufregung schlugen
sie mit den Händen immer noch irgendwohin und schrien durcheinander: "Das
kann ja gar nicht wahr sein!" – "Da würgt es mich ja, wenn ich bloß
an so was denke!" – "Ja, darf man denn so was ungestraft
daherreden?" – "Da ist einer früher weggesperrt worden!"
Es ging
laut zu und sie steigerten sich immer mehr hinein. Sie tobten schließlich so
sehr, dass die Wirtin in Angst um ihr Mobiliar aus der Küche gelaufen kam.
"Eine Ruhe ist, Saubande!", schrie sie dauernd und griff sich den
Bierschlägel und schlug damit zu ihrer "Saubande" auf die Theke. Aber
in dem Krach und Durcheinander da drüben gingen ihre Geräusche unter – oder
passten eher ganz gut dazu. So stellte sie ihre Aktion ein, blieb jedoch,
bereit zum Eingreifen, den Schlägel noch in der Faust, hinter der Theke.
"Aber das sage ich euch, ihr Falotten", zeterte sie in den Lärm
hinein, "ich passe genau auf! Ich merke mir, wer von euch was zertrümmert!
Das zahlt er mir auf Heller und Pfennig! Ungeschoren davonkommen tut mir
keiner!"
Am Rand
dieser Szene saßen Bärlapper und der Oberlehrer. Während Bärlapper besorgt
dreinblickte, saß der Oberlehrer lässig zurückgelehnt, interessiert beobachtend
da und schien sich zu amüsieren, wie er sie aufgemischt hatte. Als sie sich
ausgetobt hatten und wieder Ruhe war, nuschelte der Alte: "Wie heißt es
doch gleich? Wer im Glashause sitzet, nämlicher sollte nicht mit Steinen
schmeißen!"
Die Männer
schauten ihn ratlos an, der Socher tippte mit dem Finger an die Stirn, und die
anderen machten es ihm nach.
Der
Oberlehrer lachte und bestellte eine Runde Schnaps bei der immer noch besorgt
dreinschauenden Wirtin. Der Blick der Frau hellte sich auf, sie legte den
Schlägel weg, griff nach der Flasche und beeilte sich, den Auftrag auszuführen.
"Wenn
ich euch nicht hätte", versicherte der Alte der Runde: "Meine lieben
Schafsköpfe! Dann wäre mein Dasein, mein Leben, mein ganzes windiges restliche
Leben – versteht ihr, Buben? – dann wäre mein Leben eigentlich ohne Sinn, ohne
Inhalt! Ohne euch hier!"
Das hatte
echt geklungen und war deswegen beinahe unter die Haut gegangen –"wenn es
auch wieder so geschwollen dahergeredet war", mochten sie sich denken. Man
war irgendwie gerührt, durfte das jedoch als Mannsbild nicht zeigen. Sie hatten
das Gefühl, dass er sie allesamt am liebsten gestreichelt hätte – wie damals,
ganz, ganz selten ... "Ach ja, der, ja der Grantler, der hat einen ja auch
mal gestreichelt ... Mensch, ganz selten, aber das hatte immer seine Wirkung
gehabt ..."
Der Klare
wurde serviert. "Bringe gleich die ganze Flasche her", orderte der
Lehrer noch, "und hock dich dazu, Rosa. Du hast ja deinen Kummer mit
uns!" Dann stießen sie an – bevor doch noch etwas überlaufen konnte.
"Ja,
so ein Sauhund, so ein verreckter", rief der Görer, der glänzende Augen
hatte, und setzte sein Glas an die Lippen. "Wohlsein, Prost! Ja, so ein
Bazi!"
"So
was erlebst du nur beim Wirt und nur beim Wirt!", ergänzte der Sacklbauer
lachend. Der Socher meinte, dass er den Oberlehrer ja verstehen könne, warum
der nie geheiratet habe, "denn so eine Gaudi, die gibt es daheim bei der
Frau nicht oder nimmer – oder hat es die überhaupt mal geben?"
Sie machten
wie auf Befehl ein langes Gesicht.
Bärlapper
hatte während der ganzen Szene immer wieder darüber nachdenken müssen, warum
der alte Oberlehrer immer so ein Theater macht. "Der denkt sich dabei
nichts, wo unsereiner aufpassen muss wie ein Haftelmacher, nämlich auf
Bekannte, Verwandte, wo man mit dem halben Dorf verwandt ist, auf Nachbarn,
dass einem nichts nachgesagt wird, auf die vom Verein und alle andern Spezl.
Dass du nicht ausgerichtet wirst. Aber der Alte ist ein Einzelkämpfer. Für
einen losen Vogel haben sie ihn gehalten. Weg haben sie ihn immer wieder mal haben
wollen, die Moralapostel vom Dorf, die ganze Zeit. Aber nichts ist gegangen,
trotz ihrer Beziehungen. Es könnte allerdings leicht sein, dass ihm viele auch
neidisch waren, weil der sich alles getraut hat."
Bärlapper
kippte seinen Schnaps hinunter und stand auf: "Muss jetzt zu meinen Jungen
vom Trachtenverein zur Plattlerprobe, Servus."
"Ach,
drum bist du so aufgemacht mit deiner Lederhose", stellte der Görer
fest.
"Ja,
da geht es sauber zu bei den Trachtlern", meinte der Sacklbauer, als
Bärlapper weg war. "Wisst ihr es noch, wie wir mit der Lederhose
rumgerannt sind als Buben und bei der Prozession zu Fronleichnam, beim
Trachtenumzug, beim Musikfest?" Er schaute die anderen an, die
nachdenklich mit dem Kopf nickten.
Von nebenan
klang jetzt ein Zwiefacher aus dem Recorder herüber, dazu das rhythmische
Stampfen und Klatschen der Tanzgruppe, begleitet von einer sonoren
Kommandostimme, dem Bärlapper seiner.
"Eigentlich
wird alles immer weniger", meinte der Socher. Das hatte ziemlich wehmütig
geklungen.
Der
Sacklbauer wollte das nicht so stehen lassen. Er behauptete, dass sich der
Socher das nur einbilde: "Denn im Dorf gibt es jetzt noch viel mehr als
früher. Zu der Blasmusik, den Trachtlerverein sowieso, den Frauenbund von der
Kirche, den Fußballverein, auch noch den Faschingsklub, genau wie in der Stadt
– und daherbringen sie es immer, wie sie es im Fernsehen von Köln gesehen
haben. Den Fußballklub hat es ja schon lang gegeben. Den hat immerhin mein
Großvater gegründet, so in den zwanziger Jahren", war er stolz.
Dann
tranken sie aus und machten sich auf den Heimweg.
4
Die zehn
jungen Leute hatten sich bei den Übungen redlich geplagt. "Also dann,
Burschen und Madln", war Bärlapper zufrieden, "ich glaube jetzt ist
es geschafft, und es stimmt mit der Musik überein."
Sie
wischten sich den Schweiß von der Stirn.
"Klar,
jetzt passt es!", kam die Antwort.
"Okay,
haun wir ab", sagte die Ramona vom Langmeier aus dem Unterdorf. Sie zogen
plaudernd davon: "Prima, dass es mit der Musik zusammenstimmt und
klappt", freute sich der Tommy vom Habermann gleich neben der Kirche, der
auf das Y hinten am Namen großen Wert legte. Er wurde auch gelegentlich auf den
Arm genommen, wenn er es beim Schreiben forderte, dass es ja wohl bedauerlich
sei, dass man es beim Sprechen nicht merkt.
"Habe
ja gemeint, da steige ich nimmer durch mit diesem Tanz! Schwerstarbeit",
urteilte der Kesselbauer Andi vom Aussiedlerhof auf der Leite. "Jetzt
ziehen wir uns eine Halbe rein, dass es zischt. He, bleibt ihr noch
da?"
"Eigentlich
muss ich heim", antwortete die Sindy vom Gemeindediener, bei denen sie
alle Trachtler waren, "aber etwas kann ich noch bleiben." Sie gingen in die Wirtsstube.
"Unsere
Tanzerei ist ja überhaupt an etlichen Stellen bereits akrobatisch",
stellte der Maier Martin vom Fiedlerhof fest, während die Wirtin mit den
Getränken beschäftigt war.
"Aber
das ist gar nichts gegen den Rock 'n Roll", hielt der Kneißl Benedikt
dagegen. Ben hießen sie ihn nur, und sein Vater war der Postbote. "Vielleicht
fange ich mit Rock 'n Roll auch noch an, der kommt jetzt wieder. Die tollen
Überschmisse da, wie sie die Mädchen durch die Luft schmeißen!"
"Geh
zu, schmeißen! Du Knirps und Mädel schmeißen, da fliegst eher du!", lachte
der Tommy.
Ben lachte
mit – und klärte die anderen auf: "Da gibt es eine Technik, mit der es
scheinbar leicht geht, so was Akrobatisches. Ein Akrobat bist du auch beim
Platteln, wenn du da mit der flachen Hand auf die Schenkel schlagen musst und
dann beim Springen die Schuhsohlen treffen musst, dass es auch wieder richtig
patscht."
"Ein
Juhu-Akrobat", rief Walli, Sindy's
Schwester.
"He,
da kannst du ja bereits im Zirkus auftreten mit unserer Nummer – oder besser im
Fernsehen. Da könnte man auch noch Kohle machen damit, die zahlen ein schönes
Geld, wird immer gesagt!", fiel dem Andi ein. Das hatte gut geklungen, und
sie schienen eine Weile darüber nachzudenken, während sie ihren Durst löschten.
"Okay, jetzt hauen wir ab", sagte Tommy, "zahlen tut der
Bärlapper Hans", rief er zur Wirtin, die gerade die Gläser von den
Zechbrüdern vom Stammtisch räumte.
"Passt
schon, das macht der ganz bestimmt gern", quittierte die, "grüß euch
– und brav bleibn!", setzte sie hinzu.
Bärlapper
kam aus dem Nebenraum, wo er noch aufgeräumt hatte, als sie weg waren.
"He,
tun wir die Lederhosen runter?", hörte man von draußen den Andi fragen.
Die anderen lachten: "Willst du was herzeigen?" Andi fuhr sie an:
"Armleuchter seid ihr! Lasst mich ausreden: Fahren wir in die Stadt rein
zur Disko?"
"Sollen
sie ihren Spaß haben", dachte sich Bärlapper, als er auf dem Weg war, sein
Wasser abzuschlagen. Er überlegte noch, ob er das Geschäft nicht an der
frischen Luft draußen vor der Wirtschaft erledigen sollte. Das war zu so später
Stunde eigentlich ganz üblich. Er entschied sich jedoch für die häusliche
Art.
Bald stand
er an der Rinne hinter dem Mauervorsprung, der neben der Kabine war. "Wir
werden", überlegte er sich, während er sein Geschäft erledigte, "beim
nächstn Gauplatteln bereits antreten können. Einen Preis rausplatteln, das wäre
ja prima. Wir kommen ins Heimatblatt, dass es alle wissen ..."
Da ging die
Tür auf, und irgendwer schlurfte herein. Bärlapper sah zu, dass er fertig
wurde, denn er hatte es nicht gern, wenn jemand beim Wasserlassen neben ihm
stand und, wie es üblich war, zu ratschen anfing. Allerdings kam da niemand um
die Ecke. Es war auch nichts mehr zu hören.
"Vielleicht
steht der Kerl irgendwo am Eingang", rätselte Bärlapper, "vielleicht
steht der am Spiegel beim Waschbeckn. Wenn es überhaupt ein Mannsbild ist und nicht
die Wirtin zum Putzen anfängt. Doch die Hände waschen tut eh keiner, denn man
hat ja nichts Unrechtes angefasst bei seinem Geschäft, heißt es. Der war ja eh
noch nicht beim Wasserlassen oder der hat es doch draußn gemacht und geht
jetzt wegen was anderem rein. Vielleicht weil er sich einen Gummi ziehen
will."
Bärlapper
machte die Hosenklappe zu, verhielt sich ganz still und wartete ab.
In der
Kabine neben Bärlapper rührte sich etwas. Er zuckte zusammen. "Was ist
denn das? Das ist ja irgendwie komisch! Oder vielleicht geistert es hier von
unseligen Stuhlgängern aus der Vergangenheit, blödelte er sich. – Du hättest es
doch besser draußen gemacht." Er überlegte, was das für Geräusche gewesen
sein konnten und meinte schließlich, dass der eine, den er vorhin hat
reinkommen hören, vermutlich in die Kabine gegangen sei.
Da hörte er
wieder für diese Örtlichkeit untypische Geräusche aus der Kabine. Es war ihm
jetzt, als hielten sich dort mehrere auf. Bärlapper verstand jetzt gar nichts
mehr. "Vielleicht treiben es da welche. Sakra. Was hat der alte Pfarrer
immer wieder mal in der Religion gesagt? 'Der Abort, das ist so ein Ort!', hat
er so gesagt, dass es sich reimte, und dann hat er den Zeigefinger erhoben und
mit dem sechsten Gebot angefangen: 'Früher, wo man bloß ein Bretterhäusel
gehabt hat, wo bloß einer reingepasst hat und wo es gezogen hat durch alle
Ritzen, durch die man auch schauen hat können, wenn es sein hat müssen, da ist
das ungefährlicher gewesen und mit der Moral besser, weil sich keiner getraut
hat, weil man ihn erwischt hätte bei der Unmoral. Aber heute, da ist der Abort
ja gleich beheizt, und wo es warm ist', hatte er gepredigt, 'da lauert auch
gleich der Satan schon mit der Sünde und der Verführung der Gotteskinder, die
wir ja alle sind. Der Teufel stiehlt nämlich immer dem Herrgott seine
Kinder!'" Hatten sie diese Predigt früher gelegentlich mit einem Schuss
Humor versehen zitiert, so stand sie Bärlapper im Augenblick recht beunruhigend
in der Erinnerung.
Bärlapper
stand immer noch an der Rinne. Er drehte sich jetzt ganz vorsichtig um und
blieb dann wie angewurzelt stehen. In dieser Haltung wollte er den Augenblick
abwarten, wo er sich schnell und vor allem unerkannt verdrücken konnte.
Es war
jetzt zu hören, wie Wasser in das Becken plät scherte und im Ausguss gurgelnd
verschwand. Ein verhaltenes Kichern aus der Kabine! Bärlapper zuckte zusammen.
Er wagte aber dann doch einen kleinen, ganz vorsichtig gemachten Schritt nach
vorne. Er wagte auch, ganz behutsam zwar, um die Ecke zu lugen – und fuhr
sofort wieder zurück, schloss die Augen und dachte nach, ob das wahr sein
konnte, was er da gesehen hatte: "Da steht doch der alte Oberlehrer!"
Bärlapper holte tief Luft. "Ja, was macht denn der jetzt da – und
überhaupt?", fragte er sich und wollte seinen Augen noch nicht getraut
haben und lugte noch einmal hinter seiner Deckung hervor. "Was macht denn
der da – und überhaupt jetzt um diese Zeit? Die Kerle sind doch vorhin alle
weggegangen und der mit denen." Bärlapper sortierte noch einmal, was er
eben erspäht hatte. "Das ist darf doch gar nicht möglich sein!",
sagte er sich: "Der alte Gauner steht auf den Zehenspitzen am Waschbecken
und schifft rein und glotzt bei der Sauerei in den Spiegel. Mit blöden großen
Augen wie ein Ochs!"
"Das
gibt es doch nicht!", durchfuhr es Bärlapper. "Doch gesehen hast du
es mit eigenen Augen und gleichsehen tut es ihm auch! Der lässt doch nichts
aus, keine Sauerei auch!" Bärlapper blieb allerdings keine Zeit mehr, sich
weiter darüber aufzuregen.
"Mei
gud fäiß", hörte er den Alten wohl sein Konterfei im Spiegel anreden.
Bärlapper
griff sich ungläubig an den Kopf und riskierte noch einen Blick hinter der Ecke
hervor. Er sah, wie der Alte sich jetzt mit beiden Händen auf das Waschbecken
stützte. Er redete tatsächlich auf sein Spiegelbild ein: "My good face
..."
"Der
hat das jetzt irgendwie anders gesagt, aber es muss so was sein wie
vorher", dachte sich Bärlapper – dass es auch eine Bedeutung haben musste,
obwohl er es nicht verstand.
Der Alte
glotzte immer noch in den Spiegel und setzte nach: "Meine saubere Fresse,
du!" Das schien ihm zu gefallen, denn er wiederholte es noch einige Male
"meine saubere Fresse, du ..."
Bärlapper
hörte jetzt wieder etwas aus der Kabine, es war so ein Geräusch fast wie
Kichern.
Gleich
tönte es erneut vom Waschbecken her: "Weißt du noch, du alter Lump, wie du
mit dem Bürgermeister immer in die Stadt bist? Du und der! Der eine wie der
andere ein ganz feiner Herr, Schlipsträger. Herr, nach außen hin, zugegeben nur
nach außen hin!"
"Den
Bürgermeister hat er doch nie leiden mögen", erinnerte sich Bärlapper.
"Das hat die Mutter gesagt und die Leut auch, denn er hat es immer wieder
alle wissen lassen. Mit dem will er in die Stadt gefahren sein? Wo er ihm – und
der andere ihm auch – aus dem Weg gegangen ist, wenn es nur immer möglich
war!"
"Diese
Fahrt von ganz besonderer Art!", klang es. "Diese Fahrten. Wie wir
immer zu der kleinen levantinischen Hure gegangen sind – uns geschlichen haben
– zu einer, so einer, wie sonst keiner. Hinten hinein, und tausendmal
umgeschaut, und feiger Hund zu später Stund, bei der Nacht so eine Sauerei
gemacht. Die Sau rauslassen, das Tier in dir befreien! Und in der Brust, da
gärte die Lust. Aus der tiefsten katholischen Provinz kommend und einmal –
immer wieder – so richtig Mensch sein wollen, so einer, sollen, müssen. Wenn
man überhaupt eine richtige Vorstellung haben kann vom richtigen Menschen und
seinem Sein. Wir sind doch alle verfallen dem Schein in uns. Die Vorstellung
vom Menschen, die ja nur die Spießer haben können in ihrer Aufgespießtheit auf
dem Pfahl, auf den sie sich selber stecken zur lustvollen Qual auf den Pfahl.
Ha, das ist der Mensch, auch das ist er: Der sapperlot fromme Bürgermeister und
der sapperlot vorbildhafte Schulmeister – zwei getaufte Halunken – schnell
sozusagen zwischen zwei Andachten in ein unheiliges Bordell, einen Puff, ein
verdammtes Hurenhaus ..."
"Ja,
da schau her! Zwei solche Gauner, und jetzt hat der doch völlig
durchgedreht!", war Bärlapper völlig baff und stand immer noch da wie
angewurzelt.
"Geduftet
hat diese kleine feine dralle Schnalle immer", ging die Vorstellung am
Waschbecken weiter, "diese Rose von Schiras: schweres französisches
Parfüm, unsäglicher Herkunft, und immer auch ein Hauch von Knoblauch, so eine
Kombination, die Komposition war, parbleu ..."
Bärlapper
schielte wieder hinter der Ecke vor – und fuhr gleich wieder zurück. "Ja,
verreck, wann steckt der denn sein Ding endlich wieder in die Hose? Ja pfui
Teufel, an das Waschbecken gehe ich nimmer hin zum Waschen, wo du eh nicht hingehst,
aber jetzt schon gleich gar nimmer, wo der sein Gemächt reinhängt!"
"Diese
unerhört sinnliche Mischung. Ei, ei, ei! Mit
diesem Vollmond von Po gewackelt hat die Liebesdienerin in ihrer
Duft-Erotik-Wolke. Wir Tölpel vom Lande! Sie: von Welt – und was für einer
Welt: nicht gerade von dieser, aber auch gar nicht überirdisch, sondern
verdammt irdisch, wo es sumpfig ist und morastig und zum Absaufen. Dieser
unsägliche Duft auch, und diese unnachahmlich rollende Bewegung: die Sünde,
kein Zweifel, das Laster kommt so daher – ach, was sage ich güllevernebelter
Trottel vom Lande! – kommt daher, kommt ...! ... sie weht, haucht, säuselt ...
ja, ja und so weiter ... sie macht dich an, sie macht sich an dich heran, die
Freveltat, sie erfasst dich, nimmt dich ein und nimmt dich mit in die Hölle,
die du in deiner Ver- und Entrücktheit sogar für den prallen Himmel hältst
..."
Der Alte
hatte sich wohl verausgabt, er legte eine Pause ein und schnaufte tief und
hörbar. Bärlapper stand wie versteinert mit offenem Mund hinter der Ecke – er war so baff, dass er gar nicht richtig zur
Kenntnis nahm, wie es in der Kabine zuging.
"...
dieser barock überbordende Arsch! ... und vorne seine riesige, die Verpackung
zu sprengen drohende Tittenwucht ...", ging es mit dieser Orgie weiter,
und die Stimme des Alten schwoll wieder an: "Immer schwipp, schwipp,
schwipp, wenn sie einhertripp, -tippp, -tippelte. Ich empfinde, alles Sünde,
ich empfinde, alles Sünde! Eine solche supermaximale Sinfonie in Harmonie der
Leidenschaften, diese Auftritte mit jedem Schritt dieser aufreizenden Metze,
eine einzige Hetze ..."
"Das
hat ...", Bärlapper stockten selbst die Gedanken, "... ja, das hat ja
schier gar so geklungen, – ja, wie denn?" Bärlapper riskierte noch einen
Blick um die Ecke und erblickte, den Alten, beide Hände in die Hüften gestützt,
seinen Vortrag nachtänzeln. Bärlapper sah es zwar nicht, da er den Alte nur
von hinten – und auch nur für Sekunden – beobachtete, aber er nahm fest an,
dass es ihm noch aus der Hose hing bei diesen Verrenkungen. "Der ist verrückt,
und zwar total!", war Bärlapper überzeugt – und es flog ihn an, ob er da
nicht helfen müsse. "Vielleicht muss man die mit den weißen Turnschuhen
rufen, denn der gehört vielleicht weggesperrt in eine Gummizelle!" Als
Bärlapper wieder hinter seiner Deckung hervor zum Spiegel hinüberschaute, zuckte
er zusammen. Er riskierte aber den Blick gleich noch einmal. Tatsächlich! Da
waren im Spiegel die Abbilder von drei Köpfen. Er wischte sich über die Augen
und schaute erneut hin. "Ja spinne jetzt ich auch schon?", fragte er
sich entsetzt. Noch mal den Blick riskiert: Es war tatsächlich so! Da waren
drei Visagen in Kleinformat. Es sah aus wie im Kasperltheater. Über die
Aborttür als Rampe warfen sie ihr Grinsen in den Raum – und der Spiegel fing es
auf. "Das ist ja der Socher und die andern", war Bärlapper
schockiert. "Die Kerle feixen und machen auch noch Faxen."
Der Alte
spülte sein Wasser im Becken weg. Er nahm schließlich einen kräftigen Schluck
Wasser, ohne Rücksicht darauf, dass es ja rot aus der Leitung kam. Da war er
auch bereits wieder bei seiner schlüpfrigen Erinnerungsarbeit: "Im dicken
Auto vom dicken Bürgermeister in die Stadt zu dieser unvergleichlichen Person.
Sich an ihr verschwägert, nota bene. Heidiwitzka! Aus der tiefsten Provinz
kommend, wir sonderbaren Heiligen. Aus einem vom Himmel fest zugedeckten
Landstrich hervorgeschlüpft und in die Unmoral hineingeschlüpft, versackt,
versumpft im Sündenpfuhl!" Er nahm wieder einen Schluck. "Ich gehe
jede Wette ein: Diese verfluchte Metze war innerlich kalt, eiskalt wie ein
Stück Eis vom Nordpol", hat der Alte wieder angefangen. "Genau
deswegen hat es dich so heiß gemacht ... Es sind eben die Unerreichbarkeiten,
die uns so bewegen ..." Er fuchtelte mit den Armen herum. "Aus einem
gottgesegneten Landstrich, wo sich die größten Halunken sogar noch aufs
Überirdische berufen dürfen ... Das Antlitz rein und so weiter – all are good
faces – ganz viele habn eine saubre Fresse hier! All are good faces!" Dann
legte er wieder eine Pause ein und atmete schwer.
"Wie
ein Ami", hörte Bärlapper ganz deutlich aus der Kabine. Er war
zusammengezuckt: "Mensch, das muss doch auch der Alte hören! Wenn das auffliegt
hier, der Blödsinn mit denen im Abort, Wahnsinn! Dann bin ich womöglich mit
dran!"
"Good
face", klang es vom Waschbecken her: "Was kann das wohl heißen? – Die
Kleine hatte dich beim ersten Mal erkannt und richtig eingeschätzt. In meiner
Umgebung hier ... diesem Hier, da lachen ja alle nur, wenn es sich richtig
lohnt. Weil sich hier alles lohnen muss! Wenn es nur einen Wert hat, dann ist
es auch recht und gleich rechtens und am Ende heilig obendrein ... Das Lachen
ist selten genug, dieses Lachen hier. Es ist alles so gewachsen hier um dich
herum. So geerbt alles, so immer schon da. Unser aller Lachen hier ist so echt
wie dieser verdammte Goldzahn da, der zum Vorschein kommt, wenn du lachst – und
der mit seiner furchtbaren Echtheit das ganze angefressene Dreckzeug darunter
verdeckt, bis alles verreckt, dieses Kadaverige hier unter der feinen Oberfläche,
der frommherzigen und was sonst noch alles. Dieses Klo, wo man immer nur den Deckel
zumacht und das Spülen vergisst. Ja, so echt ist das alles ..."
"Abhauen
und einfach durch und an dem vorbei!", überlegte Bärlapper. "Der ist
ja so durchgeknallt, dass er es wohl gar nicht merkt!" Er wollte bereits
starten – da ging es allerdings am Waschbecken wieder weiter ...
"My
English ... ", kam gepresst. "Mit dieser Kleinen hast du nur Englisch
sprechen können – und der Bürgermeister, überhaupt nichts. Woher auch? Der hat
nur Sekt gesoffen, zu Champagner umetikettiert – was haben wir immer Schädelweh
gehabt am andern Tag! Hundertfuffzig Mark die Flasche! Der Bürgermeister hat
immer nur ganz bedeutungsvoll zu allem gegrunzt. Der hat gesoffen, hingelangt, gegrunzt. – But my English – you know? – my English is
very poor language ... Hörst du, Bürgermeister, mein Englisch ist eine sehr
arme Sprache ... Ich habe mir jeden Satz, von den wenigen, die ich von mir
gegeben habe, auch zuerst zurechtlegen müssen. Mit meinem irre absolut windigen
Gefangenschafts-Zigarettenschnorr-Englisch nach des Teufels tausendjährigem
Reich. Mensch, waren das auch geistig anstrengende Nächte im Puff. Allerdings
war es die große Freiheit, das da, unsere Sauerei da in der Stadt ... Mit dem
Vorwand, dort im Staatsarchiv alles für die Ortschronik zusammenkratzen zu
müssen. Jahre lang, ohne dass wer von dieser neugierigen Bande hier dahintergekommen
wäre. – Wo ist diese kleine lesbische levantinische Metze wohl abgeblieben? –
Sei's drum! Wir immer zurück in unseren teuflischen Himmel, diesen da, dieses
ganz ausgekochte Himmelchen da ..."
Der Alte
seufzte tief und hielt sich wieder am Waschbecken fest. "Wo ist diese
unzüchtige, bestimmt auf beiden Schultern tragende Fee? – Wo ist denn eigentlich
diese heißersehnte Chronik des sauberen Ortes hier abgeblieben? Du hast doch
den Auftrag vom Gemeinderat, und zwar immer noch, ha, ha, ha. Und du hast dir
vorgenommen – gehabt ... Ach du meine Fresse, was hast du dir nicht alles
vorgenommen ... – Zum Lachen, sie wollen doch nur, dass du dich zwischen Ritter
Kunibert und ihrem bisschen Kirchenbarock hindurchzwängelst, um auf kürzestem
Weg auf sie, diese einbetonierten Ortsansässigen, zu sprechen zu kommen. Habe
die Ehre, Euer Wenigkeit, und ein Denkmal für allezeit, euer Dürftigkeit!
Diese Alteingesessenen im Ort müssten sich wiederfinden können in dem
Geschreibsel. Voran dieser Bürgermeister – was hat mich der bekniet ... und
lauter Bilder, wo er drauf ist, immer er: er in der Kirchenbank ganz vorne, er
im Festzug voran ... – Aber wo ist meine unzüchtige Fee ..."
Er fing
plötzlich an, ganz jämmerlich zu heulen. Übers Waschbecken gebeugt flennte er,
mal laut, mal leise, wimmerte, plärrte er, und er schien am Ende sogar das Echo
im Raum in sein Gejaule mit einzubeziehen – es schien sogar so, als wollte er
auch das alles noch genießen, denn er lachte hinterher aus vollem Hals, dass er
schließlich nach Luft jappen musste und man meinen konnte, er würde ersticken.
Bärlapper
war ratlos. "Wenn der jetzt verreckt, dann kommt der direkt in die Hölle
mit seinem lasterhaften Geschwätz da. Der Teufel holt ihn gleich hier im
Scheißhaus ab. Das ist ja total irr", war Bärlapper außer sich, "da
könntest du ja gleich mitschreien, und der würde es gar nicht merken, so steckt
der in seiner Schweinerei!" Wieder dachte er darüber nach, ob er sich
nicht doch eilig an diesem Gauner vorbei davonmachen sollte. "Raus musst
du hier so schnell wie nur möglich aus diesem Tollhaus und weg von dem Irren
da!" Er hielt sich startbereit und wartete nur noch den geeigneten
Augenblick ab.
Der Alte
schien tatsächlich zu Ende gekommen zu sein. Er spuckte ins Waschbecken, spülte
ein wenig nach und wankte hinaus. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
Bärlapper, der gerade wieder hinter der Ecke hervorspähte, war überzeugt, ein
ganz gemeines Grinsen in den verwitterten Gesichtszügen des Alten ausgemacht zu
haben. "Ja, so ein Mistkerl!", empörte er sich. "Da kriegst du
dich ja nimmer. Wenn der einmal abkratzt, dann tut er es an der eigenen
Bosheit."
Damit er
jetzt weder draußen dem Alten, noch hier vor Ort den drei anderen zu begegnen
brauchte, verschwand Bärlapper leise in der zweiten Kabine. "Vielleicht
wissen die gar nicht, dass ich hier gewesen bin", hoffte er. Abwartend auf
der zugedeckelten Schüssel hockend, hatte er das Geschäft in seinem Kopf zu
erledigten, indem er die harten Zweifel nicht gleich loswerden konnte:
"War das alles Wirklichkeit oder bin ich total durchgedreht oder der Alte
oder die Kerle oder war da überhaupt was?" Er sprang nach kurzer Zeit auf,
riss die Tür auf und ab ging es ins Freie. Er floh, ohne sich umzusehen. In
einiger Entfernung fühlte er sich befreit. "Alles Theater!",
beruhigte er sich bald. "Der alte Gauner zieht nur eine Schau ab – gegen
die Langeweile. Und die anderen spielen da mit, weil es ihnen am Ende auch
Zeitvertreib ist", entschuldigte er diese ganze Truppe. "So
wahnsinnig kann ein normaler Mensch gar nicht sein, und die beiden alten
Rindviecher sind doch nie zu solchen Horizontalen gegangen!", war sich
Bärlapper beinahe sicher. "Ach, jetzt geht mir ein Licht auf! Der Alte hat
seiner Bande diese Besuche bei dieser sonderbaren Madam vorgespielt, um den
Verdacht zu übertünchen, dass er andersrum ist!" Er glaubte jetzt wieder
an das Gute im Menschen und ging beschwingt heim.
5
Bärlapper
kam von der Arbeit und setzte sich an den Tisch, um wie immer vor der
Stallarbeit Brotzeit zu machen.
"Jetzt
ist er hinüber, der Unterlassner", klagte die Mutter kaum vernehmbar und
stellte Hans ein Haferl Suppe hin.
"Dann
hat er's hinter sich", kam von Hans erst nur, während er Brot einbrockte.
Dann begann er zu löffeln, den schweren Oberkörper auf beide Ellenbogen
gestützt. "Eigentlich hat man ihn mögen", sagte er zwischendurch,
"aber er ist etliche Jahre nur noch im Bett gelegen."
Als er
fertig war, winkelte er den Arm an und stützte das Kinn auf die Faust, in der
er den Löffel hielt. Er überlegte. "Wenn man das sieht, das mit den alten
Leuten, die immer älter werden, heutzutage mit der Menge Medizin, die sie
reinpumpen in die Halbleichen! Das möchte man sich selber nicht wünschen.
Keiner hat es gesagt, aber einem jeden von seiner Familie ist der alte
Unterlassner lästig gewesen. Der ist den ganzen Tag bloß dagelegen in seiner
stinkenden Bettstatt und hat sich nicht rühren können. Ich möcht es nicht, wenn
ich so fertig bin. Alles faulig. Am lebendigen Leib verfaulst du, Herrgott, ein
Kreuz ist es. Ein jeder macht einen großen Bogen drum. Keiner will auch nur ein
paar Worte mit einem sprechen. So was von überständig, wie einer wird auf die
alten Tage." Hans schüttelte den Kopf. "Aber was erben wollen sie
alle!", setzte er bissig nach. "Ein paar schöne Baugründe hat der
Unterlassner freilich zurückgelassen neben dem Bauernsach."
"Man
hört immer wieder, dass die Leut meinen, früher ist das besser gewesen mit den
alten Leuten", sagte die Mutter. "Aber da waren nur mehr Leute im
Haus. Aber dann sind halt mehr Leute an dem alten Menschen vorbeigegangen. Auf
die Weise war sie ihm sogar lebendig, seine Umgebung. Doch liegen lassen und
schnell vorbei mit einem bissel Geschwätz vielleicht. Außer, man hat dem alten
Menschen noch eine Arbeit schaffen können, dass er einen Wert gehabt hat.
Allerdings ist man eben schneller gestorben, da hat es nicht so viel Medizin
gegeben und das sündteure Rumdoktern an den Leuten."
Als Hans den
Rest der Brühe ausgeschlürft hatte, ging er zur steinernen Spüle und stellte
seinen Scherben hinein. "Eigentlich musst du ja Angst haben",
murmelte er vor sich hin, "wenn du an so einen denkst wie den
Unterlassner, wie er so dahingesiecht ist."
"Hans,
du gehst morgen doch mit zum Rosenkranz für ihn in die Kirche!", brachte
die Mutter noch schnell an.
"Weiß
nicht, ob ich morgen Zeit habe", wich Hans aus, "ist doch eh was für
die Weiberleut. Aber den Sarg tragen und eingraben tu ich ihn gewiss. Weil es
der Brauch ist von den Nachbarn. Da nehme ich mir sogar einen Urlaub. Da bin
ich freilich dabei", redete er sich heraus und setzte noch drauf,
"das ist ja dann auch eine von den sieben oder acht Werken der
Barmherzigkeit, wie es in der Religion heißt."
"Wenigstens
auf einen Rosenkranz musst du gehen", beharrte die Mutter, "das
gehört sich! Wenigstens einen für den Nachbarn."
Hans machte
sich in den Stall davon. Er erledigte die Arbeit heute etwas eiliger.
Nach einer
Stunde erschien er dann wieder, zum Ausgehen hergerichtet, in der Küche.
"Soso,
wird heute gar nicht Fernsehen geschaut?", fragte die Mutter. Sie hatte
einen kurzen Blick auf ihn geworfen, als er hereingekommen war. Dann
schnupperte sie ein wenig, als er, um sich das Brot aus dem Küchenkasten zu
holen, an ihr vorbeiging.
"Anders
angezogen als sonst am Abend", bemerkte die Mutter, "ein wenig anders
auch als sonst, wenn er im Dorf was zu tun hat. Und die neue Hose, Blautschienz
heißt er sie, die er gekauft hat, ganz allein und in der Stadt. Ganz allein
wird er es ja nicht gekauft haben, denn das hat er noch nie gemacht. Na
ja."
Sogar
rasiert war Hans, und er strömte tatsächlich einen eigenartigen Geruch aus.
"Das
ist das aus der kleinen Flasche neben dem Rasierer", wusste die Mutter,
"das fast so wie der Waldmeister hinterm Haus riecht."
"Nein,
kein Fernsehen, keine Zeit heute", antwortete er nach einer Weile, während
er noch das Hemd zuknöpfte.
"In
die Stadt?", wollte die Mutter wissen – oder sie stellte es fragend fest,
denn sie kannte das ja. Hans fuhr am Donnerstag immer nach dem Abendessen in
die nahe Kreisstadt. Bereits ein Jahr ging das so.
Hans stand
am Tisch, würgte die Bissen hinunter und blätterte dabei in der Zeitung. Die
Mutter schaute ihm von ihrem Platz am Ofen aus zu, wie sie es immer tat. Auch
jetzt überkam sie dabei die Sorge, er könne sich verschlucken. Sie wusste zwar,
dass es dumm sei, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Aber es gelang ihr auch
heute nicht ganz, dieses Gefühl zu unterdrücken. "Wenn du Mutter bist,
dann bist es deiner Lebtag lang!", war sie überzeugt.
"Eigentlich
muss er ja mal was sagen, wo er immer hinfährt", versuchte sie sich
abzulenken. "Wie viel", überlegte sie, "muss einem denn ein Kind
– mein Gott, der Hansl ist doch ein ausgewachsenes Mannsbild! Was muss einem
alles gesagt werden von den Jungen? Da müsste man den Pfarrer Bahtiar fragen,
irgendwann. – Ja so, der ist ja gar nicht von hier und ein junger Inder, ein
ganz netter, immer freundlich, und hört immer zu, aber ..., mei! Und in der
Messe bei der Wandlung macht der Hans auch kein Kreuzzeichen nimmer – da muss
ich den Pfarrer auch fragen, ob das seine Richtigkeit haben kann. Auf so was
wird der junge Inder doch antworten können. Heutzutage, nach dem dicken
Johannes-Papst machen sie ja in der Kirche eh so viel anders als früher. Auch
wenn es die heiligen Herren in Rom drunten danach wieder etwas gerichtet haben.
Wie es immer war und auch lateinisch, was niemand versteht, was einen
allerdings auch nicht stört. Oder gerade darum!"
Sie dachte
zurück, wie es in jungen Jahren bei ihr war. "Da hat es nicht viel zu
reden gegeben. Was getan werden hat müssen, das ist immer von den Eltern
bestimmt worden – und das andere hat man halt heimlich gemacht ...
Wer hat
sich getraut, dem Vater zu widersprechen und der Mutter. Da hat es eh nie viel
zu reden gegeben – oder wie sie heute sagen, diskutieren, wie sie sagen, wenn
sie so durcheinanderreden? – Sagen könnte er ja doch mal etwas, der Hans,
trotzdem wir zu unserer Zeit auch nie was gesagt haben. Heute reden sie mehr,
behaupten sie – aber sagen tun sie eigentlich nicht viel. Die Liesl-Tochter ist
auch einfach eines Tags dahergekommen mit ihrem Soldaten – und in der Hoffnung
dazu. Was kannst du da machen? – Hauptsache ist immer noch, es geht dem Hansl
gut und dass er gesund ist. Dafür ist zu sorgen, dafür bin ich da und für das Sachl und die Kühe.
Aber irgendwann eben eine andere, wie es sich gehört, wie es halt so ist, wenn
alles seine Richtigkeit hat."
Er stand
noch da und wechselte von einem Bein auf das andere. "Warum setzt du dich
denn nicht?", wollte die Mutter wissen. Sie erhielt jedoch keine Antwort.
"Es
ist ja so", war sie wieder bei ihren Gedanken, während der Sohn sich
stehend noch ein Brot bestrich und hastig einen Bissen nach dem anderen
hinunterwürgte. "Als ein Weiberleut wird man halt eher überständig. Immer
weniger versucht es mal einer noch. – Was haben die Lackel einem immer keine
Ruhe gelassen! Irgendwann ist auch bei einem Kerl die Zeit rum. Jetzt ist der
Hans ja lang über die Dreißig. Da schaut einer dann zu genau hin. Da ist dann
die Narretei weg, die alles übersieht. Mangel hat er keinen, der Hans. Ein
richtiges Mannsbild ist er, wie sein Vater eines gewesen ist, Gott hab ihn
selig. Gerade gewachsen ist der Hans, arbeitsam und ehrlich, ein wenig fromm
sogar, auch wenn er das Kreuzzeichen nicht macht. Und er säuft und raucht
nicht. Was will eine da noch mehr? Warum der keine Richtige findet?"
Hans hatte
sein Brot aufgegessen, nahm noch einen Schluck Milch und wollte gerade gehen.
"Da
ist wieder ein Haufen altes Zeug hinterm Schuppen", versuchte ihn die
Mutter noch ein wenig zu halten, als sie sah, dass er abziehen wollte:
"Altes Eisen, die Ölkanister und so was. Du musst morgen den Krempel in
den oberen Weiher schmeißen."
"Nein,
das machen wir nimmer, Mutter", ging er darauf ein. "Den Weiher lasse
ich wieder ausbaggern und setze Fisch rein. Weißt du, Forellen. Karpfen
vielleicht auch, wenn für die Forellen das Wasser zu warm ist."
"Um Gotts
willen", fuhr die Mutter auf, "da haben wir doch immer alles
reingeschmissen, der Vater bereits!" Sie überlegte: "Mein altes
Fahrrad muss drin liegen, jede Menge Blechkanister, Flaschen und was nicht noch
alles. Ja, der Vater hat den alten Stacheldraht von den Zäunen im Weiher
versenkt! Denn das nasse Loch hat zuwerden sollen und einplaniert. Wenn man
dann eingesät hätte, hätten wir auch ein paar Schüppel Gras zum Mähen
gehabt." Sie schüttelte den Kopf: "Ja was, das ganze Zeug willst du
rausholen, wo der Weiher beinahe zu ist?"
"Also,
das lasse ich alles rauskoffern oder mach es selber. Mit einem Bagger ist das
nicht schwer, den leihe ich mir irgendwann am Samstag vom Baumichl, wenn ihn
der gerade nicht braucht. Dann fahre ich es in die alte Kiesgrube zu den
Russen. Denn weißt du, jetzt geht es noch. Denn bereits reden sie darüber, die
von der Politik, dass man nichts mehr reinwerfen darf in die Grube und zahlen
muss, wenn man seinen Abfall weghaben will."
"So,
so, das auch noch. Aber dass die Russen von da unten da drinnen rumwühlen in
unserem Zeug. Das ist mir gar nicht recht, denn das braucht keiner wissen, was
wir alles wegtun! Zum Schluss meinen die noch, wir haben einen Haufen
Geld."
Hans musste
lachen. "Wird doch nichts Unrechtes drin sein, was niemand sehen dürfte,
in unserem alten Zeug. Die Russen sammeln doch eh bloß Alteisen oder was eben
noch zum Verkaufen geht."
"Man
glaubt es ja gar nicht", wunderte sich die Mutter, "unsereiner muss
sich abrackern, und die leben von dem, was die Leute alles wegschmeißen. Man
möcht es nicht glauben. Die Leute schmeißen immer mehr in die Müllgrube. Und
das ist ja gar nicht immer was, was nichts mehr taugt, was die Leute
wegschmeißen, heutzutage. Ein Haufen gute Sachen, die vielleicht nur nicht mehr
so gut aussehen oder in der Mode sind."
"Also,
ich verzieh jetzt", beendete Hans das Gespräch. "Zur Resi",
ergänzte die Mutter – als er bereits draußen war. Dann hörte sie, dass er den
Traktor angelassen hatte.
"Die
Müllgrubenrussen, das sind so Leute. Ein richtiges Gesindel ist das",
dachte die alte Bäuerin. "Ein Pack, ein versoffenes und was die noch alles
treiben da in ihrem Dreck und bei dem Ungeziefer. Grausen möchte es einen. Im
Sommer immer die Schmeißfliegen, ganze Schwärme von Schmeißfliegen auf den
Müllbergen. Der größte Dreck kommt aus der Stadt – immer schon – und die Leute
..."
Sie holte
sich den Rosenkranz und wickelte ihn um ihre linke Hand. Dann arbeitete sie
weiter an ihrem Flickzeug.
"Warum
gerade ein Stadtmensch für den Hans?", fragte sie sich, nachdem sie ein
Ave gebetet hatte. "Gibt es hier nicht genug Mädel in unserem Dorf. Auch
solche, die nicht gerade von einem Hof kommen, wenn es schon eine solche sein
muss. Auch wenn man es nicht verstehen kann. Auch wenn die Liesl mit dem
Soldaten in die Stadt geheiratet hat. Da sind doch ums alte Dorf immer mehr
Häusl gewachsen mit Mädel drin. Auch wenn es nicht Bauernmädel sind. Immerhin
vom Dorf, von denen man halt mehr weiß, ob sie sauber sind – noch – und am
Sonntag in die Kirche gehen. Weil sie nun mal von hier sind und man weiß, was
sie so treiben. Wenn sie in die Kirche gehen, dann sind sie ja keine ganz so
schlechten Menschen, das hat heute noch seine Richtigkeit. Auch wenn die Bauernmädel
heute auch lieber irgendwas in der Stadt machen und nimmer arbeiten mögen.
Auch die
Leute, die da herzgeogen sind mit der Zeit?" Sie ließ die Frage offen und betete wieder.
"Eigentlich
sind die Nachbarn alle miteinander schuld. Die Bauern, die einen Baugrund
hergegeben haben. Die Nachbarn haben ihre sündteuren Maschinen mit dem Baugrund
bezahlt. Allerdings durch uns hat keiner einen Baugrund! Keine Handbreit Boden!
Von uns nicht! So viel Geld trägt der Hans immer noch heim, dass es für die
Maschinen und alles reicht. – Da ist sowieso nichts Gescheites hergezogen. Etliche
Leute, die hier nur schlafen und rumhocken, wenn sie frei haben ... Viel frei
haben sie, nichts zu tun und einen Haufen Geld. Freilich, ob eine von denen
grad richtig wäre für den Hans – und das Vieh?
Eine, die Frisörfinger hat oder Bürohände."
Bärlapper
hatte währenddessen seine Fahrt beim Wirt kurz unterbrochen und war vom Traktor
gestiegen. Er war unten stehen geblieben und hatte mit dem Schuh gegen den
Reifen geklopft, so als ob er ihn prüfen wollte. Dabei hatte er aufmerksam
umhergeschaut, um festzustellen, ob ihn jemand beobachtete.
Die alte
Bäuerin genoss eine Zeit lang das von ihr gefällte Urteil und die bereits
vollzogene Hinrichtung der Unmoral und der sonstigen Unartigkeiten. Sie führte
die blitzende Nadel mit ihren rauen Fingern behände durch den verschlissenen
Stoff. Sie nähte einen großen Flicken in den Ärmel der blauen Arbeitsjacke von
Hans und betete ein Ave nach dem anderen.
"So,
gehst du zum Bier?", wollte der Nachbar im Vorbeigehen wissen.
Bärlapper
zuckte zusammen. "Das ist das schlechte Gewissen", kam ihm. –
"Nein, das gerade nicht!", rief Bärlapper angestrengt lachend.
"Ich muss dem Wirt was sagen wegen den Trachtlern, da brauche ich nämlich
den Saal."
"So,
so, macht ihr wieder was", bemerkte der Nachbar nur und ging weiter.
Bärlapper
drückte sich beim Hintereingang in die Wirtschaft. Auch dort schaute er sich
ein paar Mal aufmerksam um, weil er gerade hier sicher sein wollte, dass er
bestimmt alleine war. "Das muss keiner wissen. Im Dorf wissen sie eh immer
zu viel von dem, was sie nichts angeht." Er holte die Silbermünzen aus der
Hosentasche, fingerte sie aufgeregt in den Schlitz am Automaten, schaute noch
mal herum und lauschte – und zog sich ein Päckchen Gummis.
Den Rückweg
trat er eilig, aber mit Besitzerstolz und wiederhergestellter innerer Ruhe an.
Jetzt schaute er lässig umher, hatte das Päckchen in der Hosentasche und
grabschte danach, tastete es von allen Seiten ab, fuhr die Kanten entlang. Er
bebte schier vor Freude, während er zum Führerhaus emporkletterte, steckte den
Schlüssel in den Schlitz, brachte sein Gefährt auf Touren ... Als er seine
Tastübungen während der Fahrt noch einmal aufnahm, fiel ihm wieder diese
Geschichte über den Pfarrer ein: "Wie der Hochwürden sich aufgeführt
hatte. Wie der vor etlichen Jahren aus heiligem Zorn, wie er es nannte, gegen
die Unmoral und den Blechkasten im Abort gekämpft hatte. Der Kasten, der immer
die Sündengummi auswirft, wenn man seine Silberlinge, wie es bei ihm hieß,
reingeworfen hat – die eigentlich ins Sammelsäckel in der Kirche gehörten. Mit
seinem Gehstock, dem Hacklstecken, hat der Pfarrer auf das in seinen Augen
Teufelswerk eingeschlagen. Er wollte ein Zeichen gegen den sittlichen Verfall
setzen, verkündete er. Hat es auch von der Kanzel runter gedonnert, dass man
den Kopf eingezogen hat – bis auf die alten Weiber, die rumgeschaut haben, wer
da den Kopf am ärgsten eingezogen hat. Der Pfarrer hasste ja den blechernen
Kasten, dem sein Inhalt zur ungehemmten Fleischeslust anregte, wie er behauptet
hat, obwohl er das ja eigentlich gar nicht hat wissen können! Den Blechkasten
hat er runterschlagen wollen und möglichst samt Inhalt vernichten. In den Staub
mit der Verderbnis!" – die Bärlapper jetzt in der Hose fühlte. Aber mehr
als ein paar Beulen, die heute noch zu sehen waren, hatte der Pfarrer dieser
Lustbox nicht zufügen können, geschweige denn, dass er es geschafft hätte, das
Ding aus seiner soliden Verdübelung zu bringen.
Bärlapper
musste jedes Mal, wenn er sich ein Päckchen zog, daran denken. Dabei merkte
er, dass es ihm doch irgendwie am Gewissen packte. Da ging es ihm im Kopf
herum, gelegentlich wieder zur Beichte zu müssen – was allerdings beim neuen
Pfarrer aus Indien nicht mehr ganz so unangenehm wäre. "Der alte hatte
einen im Beichtstuhl auch den Marsch geblasen, wenn das sechste Gebot dran war
und das mit den Gummis rausmusste. Wo es doch ohne Gummi schon für einen Rüffel
gelangt hätte, ohne verheiratet zu sein", erinnerte sich Bärlapper.
"Wenn es damals laut geworden ist im Beichtstuhl, dann hat die Schlange
der wartenden Sünder draußen immer genau gewusst, um was es da gegangen ist.
Gerade da, beim sechsten Gebot nämlich, ist er immer so eingestiegen, der
harsche Gottesmann. Warum eben da? Das war für etliche dann gleich ein wenig
Fegfeuer. Nämlich wenn sie als zwar losgesprochener Sünder, aber mit
knallrotem Kopf und dem Auftrag, zur Buße einen Rosenkranz zu beten, wieder
rausgekommen sind und an den anderen vorbei haben müssen und die sich die Häme
verkneifen mussten. Um dann selber diese Abreibung zu kriegen."
Zu später
Stunde erschreckte die alte Bäuerin eine Erinnerung: "Du lieber Himmel,
diese Resi ist ja auch ein Stadtmensch – Bedienung sei sie, und hergezeigt hat
er sie auch noch nie! Was wird denn das für eine sein. Vielleicht ist sie ein
wenig nicht so gesund, hat einen Buckel oder einen zu kurzen Fuß? Dass er sie
nicht herzeigt. So eine will dann eine Bäuerin werden. Da muss eine doch gut
beieinander sein, dass sie die schwere Arbeit packt und das Kinderkriegen und
das alles! Hatte der Pfarrer seinerzeit eh immer wieder mal gefragt in der Beichte,
warum wir bloß zwei Kinder haben. Ob da nicht mehr hätten kommen müssen. Oder
ob wir die Ehe missbrauchten – zur Lust – oh mei ..." Und sie stürzte sich
damit wieder auf ein Gesetz vom Rosenkranz, "... vergib uns unsere Schuld
..."
Sie saß
dann noch für den Rest dieses Abends Schicksal ergeben, von Zeit zu Zeit
kopfschüttelnd und in der Erinnerung, die sie manchmal sogar richtig
heimsuchte, tief seufzend, bei ihrer Flickarbeit. Es mochte auf elf Uhr
zugehen, als sie das Arbeitsgewand vom Sohn in Ordnung gebracht hatte: Ein
Flicken am linken Arm, etwa handtellergroß, war einzusetzen gewesen, ein
ebensolcher am Gesäß, und je ein Knopf an Bund und Hosenschlitz hatte befestigt
werden müssen. Sie schaute ihr Werk am Ende noch kritisch, jedoch nicht unzufrieden
an, plante noch, demnächst am Hinterteil einen Zwickel einzusetzen. Weil ihr
Hans offenbar, allerdings zu ihrer Freude einen Jahresring um den Bauch
zugelegt haben mochte, was ihm deshalb immer den Knopf aufsprengte. Mit der,
jedenfalls im Augenblick unbeantwortbaren Frage, ob eine Junge das alles
überhaupt noch schaffen wollte, erhob sie sich. Sie legte ein Kissen auf den
Boden und verrichtete kniend ihr Nachtgebet unter dem Herrgottswinkel. Eine
geweihte Kerze, die ihren Platz auf dem Fernsehgerät hatte, flackerte dazu und
ließ den Korpus am Kreuz für Sekunden direkt lebendig erscheinen. In ihre
frommen Gedanken schloss sie neben dem verstorbenen Mann auch den toten
Nachbar, den gerade verreisten Sohn, die mit ihrer Familie in einer
norddeutschen Stadt lebende Tochter und alle lebenden und toten Lieben ein. Am
Ende vergab sie ihren – vermutlich gar nicht vorhandenen – Feinden, um sich
die Vergebung für ihre – vermutlich auch nicht vorhandenen – Sünden
einzuhandeln. Darauf ging sie über die schmale Stiege, die unter jedem Tritt
knarrte, zu ihrer Kammer.
Resi, mit
Berufsnamen, eigentlich Michaela, Michi, wie sie Hans nannte, wartete bereits
auf ihren Hans mit Tee und Gebäck bei Kerzenschein, dem auch ein
geheimnisvoller Duft entströmte. Dieses Arrangement war fester Bestandteil
einer Übung, die sie das ganze Jahr und nicht nur zurzeit der, wie eben jetzt,
kürzer werdenden Tage pflegte. Bei ihrem Hans machte es auch noch viel mehr
Spaß als bei ihren verflossenen Herzbuben, die sich, sonderbarerweise der eine
wie der andere, durch Unpünktlichkeit ausgezeichnet hatten. Michaelas Kerzen
waren dann meist heruntergebrannt und der Tee hatte Blumen bekommen, wenn der
Kerl endlich aufgetaucht war. Sie vertrat die Auffassung bereits mit
Prinzipientreue, dass man auch und vielleicht gerade in Herzensdingen immer
unter dem Einsatz von gewissen, wenn auch schlichten Ritualen, wie den ihren
zum Beispiel, vorzugehen habe. Das sei zu wichtig und dürfe nicht schnöder
Alltag werden, was da um die Liebe herum alles abläuft, bildete sie sich ein.
Aber jetzt, mit ihrem Hans, gab es da keine Schwierigkeiten, denn der war
pünktlich, und sie könnte sogar die Uhr nach ihm stellen, sagte sich Michaela
gern und auch mit Stolz. Wenn sie ihn hin und wieder deswegen lobte, erhielt
sie nur zur Antwort, dass er ja bei seinen Kühen auch pünktlich sein müsse,
weil er sich da beim Melken leichter tue, "denn weißt du, die haben auch
so was wie eine innere Uhr, da geben sie dann die Milch leichter her." Das
fand Michaela toll, wenn er so etwas aus der Natur der Natur daherbrachte.
Da stand er
heute auch bereits vor der Tür.
Sie
schlürften nach dem Begrüßungshallo zunächst schweigend Tee und genossen die Atmosphäre, die schiere
Freude des Beisammenseins. Sein Wohlgefühl steigerte sich zunehmend. Er
vermutete, dass die vorhin hastig trocken hinuntergewürgten Brotbrocken in
seinem Magen jetzt dank des Tees aufquollen, weil es ihm so satt zu Mute wurde.
Da wagte er sich aus dieser Sicherheit seiner Existenz heraus auch an eine
etwas heikle Angelegenheit, und zwar um eine so überaus ungewisse Sache wie die
Zukunft. Er hatte ja die Mutter immer ziemlich gut verstanden, wenn sie am Donnerstag
stets etwas sorgenvoll hinter ihm her schwieg. "Magst du nicht ...?",
begann er und holte noch mal Luft, "... magst du nicht meine Bäuerin
werden?", stieß er seinen Antrag geradezu aus.
"Bäuerin!",
war von Michaela nur – und obendrein fast wie ein Klagelaut zu vernehmen. Damit
diese völlig offene, nämlich viel und auch wieder nichts sagende Äußerung nicht
etwa von ihm als gegen sich oder gar den ganzen Berufsstand der Bauern
gerichtet von ihm gedeutet würde, rückte sie näher zu ihm hin und begann, ihn
zu streicheln und zu herzen. Das blieb nicht ohne Antwort, ja, es schien sogar
auf ein heftiges Verlangen gestoßen zu sein ...
Oben angekommen, nahm die alte Bäuerin ihr abgegriffenes Gebetbuch aus
dem Nachttisch. Sie blätterte darin, während sie sich auf den Bettrand setzte,
und sie war durchaus bereit, eine weitere Gebetsübung zu vollführen. Eine Menge
Heiligenbilder kamen zum Vorschein, Madonnen zumeist und in allen Posen der
Seligkeit. Auch eine Anzahl Sterbebilder waren da: "Selig, die haben es
hinter sich!", murmelte sie, und es liefen mit jedem Gedenkbild, das sie
zur Hand nahm, so etwas wie kleine Filme der Lebensläufe der Verblichenen vor
ihrem inneren Auge ab. Dann stieß sie auf ein vergilbtes Papier, das
handbeschrieben war. "Mein Gott, die Schrift vom Mann." Ja, deswegen
hatte sie es aufgehoben, aber eigentlich nur deswegen, denn gelesen hatte sie
es noch nie so richtig, sondern nur mal überflogen. Sie wusste nur, dass es
damals – "... du lieber Himmel, wann war das denn?" Sie kam nicht
drauf. Der Mann hatte nur gesagt, als er vom Trachtenverein heimgekommen war,
damals eben, dass man es ihnen angesagt hatte, so wie in der Schule der Lehrer
beim Diktat, und sie hatten es schreiben müssen. "Das ist vom Kiem Pauli
verfasst worden, und vielleicht so in den fünfziger Jahren. Der Mann hatte es
über den Schellkönig gelobt, was der Kiem Pauli da geschrieben hatte: Das soll
unser Hans auch wissen – irgendwann einmal, wenn er so was wissen muss
..." Jetzt ging sie doch daran, sich das Werk dieses Kiem Pauli vorzunehmen.
Den hatte sie noch gut in Erinnerung als so etwas wie einen Apostel der echten
Volksmusik und als einen nimmermüden Kämpfer für die Tradition in einer Zeit
des immer schnelleren Verfalls der Bräuche. Vor allem der guten Sitten. Sie
begann, die Schrift ihres Mannes zu entziffern:
"'Durch verschiedene Umstände wird die Bodenständigkeit unserer
bäuerlichen Jugend und das Festhalten an alten Überlieferungen immer mehr
untergraben ...'
Anstrengen musst du dich richtig, merkte die alte Bäuerin. Denn so schön
hat der Mann auch wieder nicht geschrieben. Mannsbilder halt!" Sie nahm
die Brille ab und putzte sie mit der Schürze. "Er hat auch noch mit dem
Tintenstift geschrieben, den man dauernd abschlecken hat müssen, damit es wie
Tinte aussieht ... 'Da und dort gibt es auch schon auf den Bauerndörfern
Lokale, die in ihre bäuerliche Umgebung gar nicht passen, weder in der
Aufmachung noch in ihren Besuchern. Bei Jazzmusik und modernem Tanz feiern dann
der Wein und der Schnaps seine Triumphe. So lange man in solchen Lokalen nur
Allerweltsmenschen sieht, wäre unsere Besorgnis nicht so groß. Aber man muss
leider feststellen, dass auch ein Teil unserer Landjugend solche Lokale
aufsucht. Dort tanzt dann der Bauernbursch mit einer frisch gestrichenen Fee
oder das Bauernmädel mit einem halbeleganten Schnigerl, der seiner Lebtag sich
noch keinen Pfennig mit harter Arbeit verdient hat.
Unsere Jugend glaubt, fortschrittlich zu sein, wenn sie so ein Leben
mitmacht, merkt aber nicht, dass das der Anfang vom Ende ist. Was kann schon
aus so einem Burschen für ein Bauer werden? Und aus so einem entwurzelten
Bauernmädel für eine Bäuerin? Ein gesunder Bauernstand erlaubt so eine
Entartung nicht ...'
Recht hat er, der Kiem Pauli", redete die alte Bäuerin laut vor sich
hin. Sie beschloss, weil ihrer Meinung nach alles, was dieser gute Mensch von
sich gegeben hatte, durch und durch echt war und also stimmte, sich einen Teil
zu schenken und den Text nur noch zu überfliegen – soweit das eben die
Handschrift vom Seligen zuließ:
"'... Fast alle Tänze der Naturvölker sind schön, ganz gleich, ob
russisch oder spanisch, ungarisch oder ein Negertanz ...'"
"In Afrika drunten", ergänzte sie und las weiter:
"'Aber Jazz ist ein entarteter Negertanz! ...'"
"Den hat der Ami nach dem Krieg mitgebracht", wusste sie noch,
"Jatz, sprechen es heute noch die Alten aus, fast, wie es halt geschrieben
wird. Der Hans spricht es aber ganz komisch Tschäß oder so – wenn er es denn
überhaupt mal daherbringt". Dann las sie doch wieder genauer:
"'Ein Volk, das seine Kultur aufgibt, gibt sich selbst auf! ...
Aber unser Bauernstand muss zu seinen Überlieferungen stehen! Er ist das
Mark des Volkes. Wir haben so viele schöne Tänze ... In der Kleidung ist es
genauso: Die Welt huldigt heute der Gleichmacherei, die uns noch das ganze
Dasein versauert. Wir wollen, dass die Kirche im Dorf bleibt, dass unsere
bäuerliche Jugend sich schlicht kleidet, dass sie unsere alten, schönen
Volkslieder singt und auf Brauch und Sitte achtet. Sonst kann es noch so weit
kommen, dass der Bauer seiner Bäuerin im Stall draußen den Jazz einstudiert und
der Knecht mit der Baumsäge die Musik dazu macht! ...'"
Die alte Bäuerin lachte: "Ja mir gehst! Das wäre ja lustig! '... Ist es nicht zum Weinen, wenn ein Bauernmädel
mit seidenen Strümpfen und Russenstieferl einherläuft ...
... heimatliche Tracht ... Ehrenkleid unserer Landbevölkerung ...
Und kein gesund denkender Bauernbursch wird eine heiraten, die von der
Bauernarbeit nichts versteht und womöglich jeden Abend ins Kino läuft ...'
Ja mei! Das muss der Hans lesen! Genau das! Ja, das ist ja gleich ein
Vermächtnis vom Vater, selig!
Der hat das kommen sehen! Schlau ist er halt gewesen."
Mit diesem guten Gefühl einerseits und dem Vorsatz von vorhin, das Vermächtnis
dem Hans zu zeigen, legte sich die alte Bäuerin schlafen. ((Der Text der Volkstums-Ikone Kiem Pauli befand sich
in einem Lesebuch für landwirtschaftliche Schüler noch in den 60er Jahren))
Nach
geraumer und recht vergnüglicher Zeit erhob sich Michaela und sammelte die
Klamotten zusammen. Sie warf Hans die Bluejeans zu und machte auch sonst
wieder Ordnung. Sie fragte so nebenbei, während sie sich bückte, warum er denn
gerade auf eine wie sie abgefahren sei, wenn er denn so unbedingt seine
Bauernklitsche erhalten und sich schinden und plagen wolle.
Da
verklärte sich sein Blick geradezu, und er begann zu schwärmen, dass er
eigentlich immer – sie solle das nicht falsch verstehen – auf Mädel aus der
Stadt gesponnen habe. Da sei er stets in seinen Tagträumen mit dem Motorrad
durch die Stadt gerauscht, nein, gedonnert und geknallt, "dass es von den
hohen Wänden der Häuser zurückgekommen ist wie im Gebirge das Echo ... So ganz
schwere Maschinen, nicht unter tausend Kubik, heiße Öfen", die er da in
seinem Kopf geführt habe – und das hat gekracht da, – "klar, ganz echt, in
meinem Schädel, dass die Leute sich umgedreht haben und die Mädel natürlich –
ganz besonders die ... und dass es die Zündkerzen hinten hinausgehauen hat
schier, vor lauter Fehlzündung – lauter so irres Zeug, wie es die Buben nun mal
in der Birne haben ... Aber Stadtmädel habe ich schon immer ..."
"Du
immer mit deinem 'das habe ich schon immer'", klang es etwas heftig vom
Badezimmer her. "Und überhaupt mit deinen komischen Flaschen auch in der
Brauerei, die du auch schon immer ...", sie zögerte einen Augenblick,
"... geliebt hast – oder diese stumpfsinnige Arbeit. Warum machst du denn
eigentlich nichts anderes?" Sie schien es sofort bereut zu haben, denn sie
lenkte ab: "Bist du heute wieder mit deinem Bulldog, ach Verzeihung, mit
deiner Agrarlimousine da?"
"Ein
Fendt, Michi, vier Zylinder, Kabine und mit einer Hydraulik", klang es
stolz zurück. "Den habe ich weiter draußen abgestellt", fuhr er fort.
"Die Polizei mag das nicht so, wenn wir mit so was privat in die Stadt
fahren. Nicht so wegen dem Lärm, denn die Maschinen sind heutzutage ganz leise,
wassergekühlt, verstehst du? Sondern wegen der Steuervergünstigung, die wir
Bauern kriegen."
"Ich
glaube, ihr Bauern seid alle Bulldog-Narren", schimpfte sie. "Ich
würde ja ganz genau rechnen, ob sich das Maschinenzeug rechnet, das sage ich
dir, wenn ich mal ..."
"Ja?",
versuchte er, sie bei ihrem ausgebremsten Versprecher zu packen.
Sie ließ
sich allerdings nicht darauf ein, sondern suchte in der Kommode herum.
"Ja?",
versuchte er es noch mal. "Dann komme doch mit mir nach Hause. Da kannst
du das ja alles ausrechnen und wir hausen miteinander, wenn du meine Hauserin
wirst, wie es früher geheißen hat!"
"Was
tust du denn da auf deinem Dorf?", fragte sie in einem beinahe
herausfordernden Ton und setzte hinzu: "Geh doch in die Stadt – und
überhaupt: mache doch was aus dir, dumm bist du doch nicht!"
"Ach
weißt du", kam von Hans nachdenklich, "in meinem Dorf bin ich halt
daheim. Also, verstehst du, das ist Heimat ... Heimat", wiederholte er –
kam aber damit nicht gleich weiter. "Heimat", prüfte er den Klang und
war fast überrascht, dass ihm aus dem schlichten Daheim so etwas Großes wie
Heimat geworden ist. Er wartete kurz, dann versuchte er es so: "Also, in
der Stadt hier, nicht noch weiter weg, da ist ja auch Heimat, irgendwie. Also,
das ja, aber so richtig ist das nur bei mir daheim, also in Ritzling.
Jedenfalls für mich."
"Gewohnheitssache!",
warf Michi trocken ein.
"Ich
weiß nicht", zweifelte Hans und setzte wieder an: "Weißt du, hier ist
ja auch Heimat, da spricht sie meine Sprache, du weißt ja, wie ich das meine.
Aber so richtig Heimat ist für mich nur in Ritzling, denn da braucht man
mich." Er war jetzt überrascht: "Ja, gerade das ist es! Da brauchen
sie mich und ich brauche die anderen dort." Er redete jetzt richtig auf
Michi ein: "Weißt du, da bist du wie ein Rad in einem Uhrwerk. – Sakra,
Uhrwerk!" Der Vergleich gefiel ihm. "Doch auch wenn du einmal nicht
rundläufst als so ein kleines Rad, da steht aber daheim nicht gleich alles
still ... Das ist ja das Wunder! Heimat! Anders als in einem Uhrwerk, das eine
Maschine ist und wo alles gleich stillsteht, wenn auch nur das kleinste Rad
spinnt. In der Heimat, da geht alles seinen Gang, auch wenn da mal was nicht
ganz rundläuft. Und überhaupt: In Ritzling, da verstehe ich alles, das ist
wichtig. Ja, und das reicht, glaub ich, denn wenn wer an was glaubt, der fragt
ja nicht ..."
"Aha",
bemerkte sie etwas ratlos, "Heimat ist, wo man daheim ist, weiter
nichts."
"Muss
alles immer so kompliziert sein? Dass man es gar nicht sagen kann, was man
spürt?", war er fast etwas ärgerlich.
Michi
meinte, dass sie, wenn sie es so wie er sehen wollte, eigentlich gar keine
richtige Heimat habe.
"Ja,
dann gehe eben mit mir zu mir heim", versuchte er es wieder. Doch sie
reagierte wieder nicht. Hans gab sich Mühe: "Gehe halt mit. In die Heimat
muss man reingehen, dann nimmt sie einen auf! Bloß das hat sie dick, die
Heimat, wenn man nämlich durch die offene Tür nicht geht!" Er schnaufte
tief durch und ging seinem Gedanken, von dem er selber einigermaßen überrascht
war, noch einmal nach. Dann holte er aus: "Weißt du, da komme ich jetzt
drauf, weil mir das Lied eingefallen ist, das die Loisachtaler singen. Diese
Heimat wird da in den höchsten Tönen gelobt. 'Du kannst die ganze Welt
ausgeh'n, da findst es nirgends mehr so schön', heißt es. Dann kommt die
Einladung: 'aber wenn du gern da bist, schlagst halt ein, sollst auch ein
Loisachtaler sein ...'" Hans summte die Melodie.
Michi hörte
eine Weile zu. Jetzt sprang sie fast auf: "Du, ich habe da was!" Hans
stellte seinen Gesang ein, hatte sie allerdings mit seiner Gesangeskunst auf
eine Idee gebracht. Sie eilte zum Plattenspieler und legte eine Scheibe auf:
Chormusik erklang ...
"Das
ist meine neueste Errungenschaft!", rief sie begeistert nach den ersten
Takten in die Musik hinein und drehte lauter.
"Kennst
du das, Hans?"
Es dauerte
etliche Takte: "Gehört habe ich es irgendwann, meine ich!"
Die Musik
war laut, so kam Michi näher zu ihm, damit er sie noch verstehen konnte:
"Klar, das musst du kennen!", behauptete sie, "du bist doch ein
Kirchgänger, im Gegensatz zu mir!"
"Das
habe ich sogar oft gesungen", kam es ihm jetzt. "Früher hat man das
gesungen, heutzutage nicht mehr so oft. Denn die da in Rom auf ihrem Konzil
damals haben die Pfarrer richtig rumgedreht. Das nicht nur zu den Leuten hin.
Sondern überhaupt mit der Sprache und dem Gesang. Wir müssen nur noch lauter so
neue Lieder singen, die keiner mehr kennt. Da brummeln sie nur noch, wenn der
Pfarrer nicht ins Mikrofon rein- und vorsingt."
"Also,
Hans, hör mal, das ist Schubert! Eine Messe von Franz Schubert! Toll, was?
Darauf bin ich voll abgefahren!"
Er nickte
ihr zu und begann zu summen, zuerst nur leise und fast schüchtern und schaute
sie immer wieder fragend an. Dann erinnerte er sich an ein paar Zeilen des
Textes. Das genügte bereits. Er stieg stärker ein und begann mit seinem dunklen
Organ kräftig zu singen – worein sie dann mit ihrem rauchigen Alt stimmte ...
Es ging in
diesem eigenartigen, aber beiden sehr wohltuenden Duett geraume Zeit in der
Deutschen Messe von Franz Schubert. Sie kamen mit wenigen Worten aus und
dichteten eben frei hinzu, wenn es ihnen erforderlich schien. Auch in die
Melodien schlichen sich mal kleinere, mal größere Abweichungen ein. Aber ihre
Ergriffenheit überbrückte diese Mängel ganz locker, überflog alles, sozusagen,
und ließ sie darüber hinwegschweben.
Sie
umschlangen sich immer wieder während ihres Gesanges, küssten sich in den
Pausen wie Besessene und liefen bei wieder einsetzender Musik zu gesanglichen
Höchstleistungen auf. Ihren Höhepunkt erreichten sie bei der Stelle, wo es
heißt: "Noch lag die Erde wüst und kahl ..." – oder so ähnlich –
"Da sprach der Herr: Es werde Licht. Er sprach's, und es ward Licht
..."
Sie hatten
ihr ganzes Gemüt in die Melodie gelegt, als die Folgen dieses Schöpfungswortes
singend darzustellen waren: Der Ursprung schlechthin, mochten sie, zumindest
während sie sich in den Armen lagen, fühlen. Und sie taten es beide voll Wonne
und mit einer nicht mehr zu steigernden Ausdruckskraft. Es war ihnen so zu
Mute, als reiche ein Exemplar dieses Kosmos nicht aus, und sie taten so, als
gelte es, das ganze All noch einmal hervorzubringen, und zwar in einer kleinen
Stadtwohnung im dritten Stock.
Außer Atem,
hing Hans im Sessel und genoss das Glück. Michi lag mit dem Kopf auf seinen
Schenkeln. Es störte sie nicht, dass der Tonarm am Ende der Platte knackte und
der Apparat nicht aufhören wollte. Später erhob sie sich doch, um abzustellen.
Nach einer Weile rief sie ihm aus dem Schlafzimmer zu, dass es jetzt doch Zeit
sei, ins Bett zu gehen.
Er lag bald
neben ihr. Sie redete ihn in den Schlaf, dass das bei den "Katholen"
toll sei in der Kirche mit diesen Rauschegewändern aus dem Altertum und von
ganz weit weg aus dem Orient und sozusagen aus Tausendundeiner Nacht, ein
richtiges Kostümfest, das die Leute ebenso nötig hätten, denn das sei ja auch
Heimat oder so was, meinte sie, denn man benötige etwas fürs Auge, fürs Ohr und
vor allem fürs Herz und so, und er solle doch so häufig, wie es ihm nur immer
möglich sei, mit seiner Lederhose, der ganz schönen nämlich, der mit der
Stickerei drauf, zu ihr kommen, da sei sie ganz erpicht drauf, und sein
lustiger Hut, der mit der Adlerfeder drauf – so was habe ja kein richtiger
Mensch auf der Welt mehr an, höchstens die Naturvölker in der Dritten Welt,
aber das fände sie so was von originell, wo sie doch eine evangelische Preußin
sei, eigentlich, und in der Welt alles immer platter werde und schnöder und
eiliger obendrein, wenn er verstehe, was sie damit meine ...
Hans
verstand hingegen gar nichts mehr, denn er schlief längst tief und fest.
6
Hans hatte
noch jede Weckuhr überhört. Zu Hause waren sie allerdings immer ohne ein
solches Instrument ausgekommen. Man richtete sich im Wesentlichen nach den
Kirchenglocken, die sich um sechs mit
ihrer verkünderischen Eindringlichkeit mitteilten und von der Mutter noch immer
wahrgenommen und auch als Aufforderung zu einem ersten Gebet verstanden wurden.
"Gelobt sei Jesus Christ!", war bald darauf die Mutter zu hören, nicht
eben laut, gefolgt von einem deutlicheren: "Zeit ist es, Hans!" Das
hatte er noch nie überhört, selbst dann nicht, wenn er doch einmal ein paar Maß
mehr getrunken hatte und erst spät ins Bett gekommen war.
Heute war
Michaela in der Pflicht, ihn zeitig am Morgen aus dem Bett zu bekommen. So
gegen fünf Uhr. Sie kannte jedoch die Formel der Bärlapperin nicht. So musste
sie ihn, selber noch verschlafen, mit anderen Mitteln wachbringen. Ihre sanften
Schubse mit dem Fuß führten bei ihm zunächst nur zu ein paar Grunzlauten. So
raffte sie sich auf und walkte ihn mit beiden Händen und schrie: "Aufstehen,
raus aus dem Bett!" Eine harte Arbeit bei seiner Masse Körper.
Er erhob
sich nach einigen Anstrengungen ihrerseits und verließ wortlos die Schlafstatt.
Sie ließ sich ermattet aufs Bett fallen: "Menschenskind, wie hast du das
denn bei der Bundeswehr gemacht?", stöhnte sie. "Oder was haben die
mit dir gemacht, dass sie dich wachgekriegt haben? Du musst ja ein ganz toller
Soldat gewesen sein. Du hättest doch glatt den dritten Weltkrieg verpennt, wenn
der zu nachtschlafender Zeit gelaufen wäre."
"Bin
noch immer aufgestanden", brummte er und machte sich ins Bad davon,
splitternackt.
Bis er
seine wenigen Morgenverrichtungen erledigt hatte und angezogen war, stand eine
Tasse Nescafé auf dem Tisch, daneben ein Teller mit einem dicken
Leberwurstbrot. Er murmelte etwas von einem Dankeschön und setzte sich. Wie es
seine Gewohnheit war, hatte er den Oberkörper auf die Arme gestützt, die
angewinkelt auf der Tischplatte lagen. Michaela saß ihm zunächst gegenüber, gähnte
und schaute ihm mit müden Augen zu, wie er aus seiner schwerfälligen Haltung
heraus abwechselnd nach dem Brot und nach der Tasse griff. Beide schwiegen, sie
schienen noch in ihrer eigenen Schlafwelt zu sein. Michaela zog sich dann zu
ihrem Bett zurück, legte sich auf die Decke und schaute ihm weiter zu. Kaum lag
sie, da erhob sie sich wieder etwas und machte eine Verrenkung, um das Radio
vom Bett aus anzuschalten.
Sie hörten
das leise Dudeln der Musik und starrten müde ins Leere.
Er
versuchte dann doch einmal, ihren Blick einzufangen. Dazu brauchte er sich
nicht einmal mit einer Bewegung zu bemühen, das Bett befand sich direkt
gegenüber. Er suchte mit den Augen. Sie hatte aber die Lider geschlossen und
döste vor sich hin. Ihm war etwas aufgefallen. Er fuhr staunend ihre schlanke
Gestalt entlang: Sie lag, den Kopf auf den linken Ellbogen gestützt, auf dem
Plumeau und sah in ihrer Reglosigkeit, in ihrem langen, die Figur umfließenden
weißen Nachtgewand aus wie aus Marmor, wie so eine liegende Statue.
"Herrgott, wo habe ich denn das mal gesehen?“, ging es ihm durch den müden
Kopf. "Die Michi schaut ja aus, wie so eine Figur ..." Er wurde
abgelenkt, Bayern Drei gab bekannt, dass in der Umgebung von Hof Nebel mit Sichtbehinderung,
bei München ein Unfall war, dann sang einer 'ein Tag wie ein Freund' und dass
er sich sein rot-weiß kariertes Hemd anziehe ...
Als
Michaela die Augen ein wenig öffnete und zu Hans schaute, trafen sich ihre
Blicke. Sein Lächeln brachte er nur bis zu einem freundlichen Zucken der
Mundpartie. Sie fand das lustig und lachte leise, Schloss aber gleich wieder
die Augen.
"Ich
habe mir einen Moment lang eingebildet", flüsterte sie, "dass du auch
so ein komisches rot-weißes Hemd anhast. Die muss es mal bei C&A oder
Kaufhof oder sonst wo in Augsburg ganz billig gegeben haben, jedenfalls hatte
jeder Zweite, der aus der Gegend am Sonnabend in Richtung Berge fuhr, so ein
Hemd an. Lauter Bergwanderclowns."
Er biss in
sein Brot und fuhr mit den Blicken wieder über ihren Körper. "So was! Das
hast du doch irgendwo gesehen!" Er nahm einen Schluck Kaffee. "Ganz
starr fast und wunderschön ..." Er kaute und konnte die Augen nicht von
ihr lassen. Wieder einen Schluck Kaffee. Sie lächelte mit geschlossen Lidern,
so als fühlte sie, dass er ihr mit den Augen über den Körper fuhr. Er hielt
noch die Tasse am Mund. "Ja so viel Schönheit", ging es ihm durch den
Kopf, und es wurde ihm ganz wohl dabei, und er fuhr wieder über die Linien der
Gestalt dort drüben auf dem Bett. "Meine schöne Michi auf dem Bett",
dachte er stolz.
"Bett?",
fragte er sich nach einer Weile, "Bett, das reicht nicht, so redet man
immer, aber so was sehe ich nicht immer! Wann siehst du so was schon wie das
da?" Er biss wieder ins Brot.
"Bett
... – Ruhestatt", fiel ihm ein. Er freute sich. "Das ist
es!"
"Mensch,
woher kenne ich das? So wie eine Statue aus einem weißen Marmor auf einer
Ruhestatt – Liegestatt ist noch besser! Aber wo war das?"
Er kam
nicht drauf, wo er das gesehen hatte, sosehr er sich auch bemühte.
Irgendwelche
musikalischen Liebesschwüre ertönten jetzt aus dem Radio ...
Er schob
den letzten Brocken hinein und begann mit vollem Mund zu erzählen, dass sie ihn
bei der Bundeswehr meistens gemeinsam geweckt hätten, je nachdem wie sie
aufgelegt waren: "Diese Sauhunde haben sich oft einen Spaß daraus gemacht.
Wenn da einer von den anderen gut drauf war, da habe ich es zu spüren gekriegt,
dass es ihn juckt. Oder ich habe eben den Ärger abgekriegt, wenn es anders war.
So mit einem nassen Lappen aufs Gesicht, haben sie es mir gemacht. Das hat auch
mal ein dreckiger Putzhadern sein können. Oder Zahnpasta in die Nase drücken.
So was wie einen Blitzableiter haben sie gebraucht. Aber ich hab es denen bei
der Übung dann gezeigt. Denn von wegen Kondition. Bei den Pionieren in
Ingolstadt ist es gewesen und da hat es oft was zu schleppen gegeben. Schwere
Teile und solches Zeug. Die schlappen Säcke, denen habe ich es dann gezeigt,
was ein richtiger Kerl alles schafft. Der Spieß hat immer gesagt: Was der
Bärlapper kann, das kann ich von der anderen Mannschaft auch verlangen. Da
haben sie oft eine Sauwut gehabt. Ich habe lachen müssen über die windigen
Hanswursten. Verhauen hast du ja keinen dürfen, sonst wärst du in den Bau gewandert."
"Einfach
toll!", kam von Michi, sie schien aber einem Song zu lauschen.
"Verstehst
du das Englische, das die singen, – das ist doch Englisch?", wollte Hans
wissen. Sie nickte fast unmerklich.
Dann stand
Hans auf und ging zu ihr hinüber. Er beugte sich hinunter und drückte ihr einen
Kuss auf die Wange: "Respekt, bist eine ganz Gescheite!"
Sie bewegte
sich fast unmerklich und schnellte dann die Arme in die Höhe, umschlang ihn und
zog ihn mit aller Kraft zu sich herunter: "Komm her, mein toller Pionier
aus Ingolstadt!“, rief sie, "du Konditionsbrocken, du
muskeliger!"
Sein
massiger Körper fiel schwer aufs Bett. Sie hatte sich behände zur Seite
gedreht. Mit einer schon akrobatischen Drehung war es ihr in diesem Augenblick
auch gelungen, unter die Decke zu schlüpfen. Sie lagen dann eine Weile ruhig
nebeneinander und verschnauften ein wenig. Er fuhr aber mit dem rechten Arm
ganz behutsam unter ihrem Körper hindurch und bekam die Decke so zu fassen,
dass ihre Arme gefesselt waren. Mit der Linken schlüpfte er unter die Decke und
weiter unter ihr Hemd und begann schließlich mit seiner großen, rauen Hand ihre
nackte Haut zu streicheln und die vorhin so begeistert betrachteten Konturen
nachzufahren. Dazu erzeugte er urige Brummlaute. Das ging einige Minuten so.
Mit einem Ruck bekam Michi die Arme frei und schlang sie um ihn. Als ihr sein
Herumhantieren allmählich zu viel wurde, fing sie an zu quietschen und presste
ihn mit aller Kraft an sich. Damit unterband sie sein Streicheln an den
kitzeligen Stellen. Sie rangen miteinander, balgten sich herum – rissen sich
voneinander los und bewarfen sich lachend mit den Kissen, immer wieder um Luft
ringend. Sie umklammerten sich wieder, schubsten sich dann voneinander weg, um
sich gleich wieder zu umfangen. Sie erwischten sich mal an Stellen, wo es etwas
schmerzte, mal, wo es wieder angenehm war ...
Am Ende
hatte sie ihn mit Armen und Beinen umklammert, und sie lagen schwer atmend
nebeneinander, rasteten und hörten Musik.
So
verstrichen etliche Minuten, dann befreite er sich aber aus ihrer wohltuenden
Umklammerung. Er drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange, sprang aus dem
zerwühlten Bett und verließ Michis Wohnung.
So
geräuscharm, wie es nur möglich war, ließ er den Traktor an und fuhr aus der
noch schlafenden Stadt.
Es war
ziemlich frisch an diesem Morgen. "Das Jahr lässt es dich spüren, dass es
fast rum ist", redete er vor sich hin. Er rieb sich fröstelnd die Oberarme,
mal rechts, mal links. Da kam ihm wieder das Bild von seiner Michi da auf dem
Bett mit ihrer Haltung da wie aus Marmor in den Sinn. "So schön gleich!
Das ist irgendwie nicht von jetzt, die Figur, die die Michi da gemacht hat. So
'lebende Bilder', die wir früher immer mit der Schule beim Dorffest machen
haben müssen: Eine Heilige Familie an Weihnachten. Du hast es mit der Zeit vom
kleinen Engel ... Die Mutter hat das Gewand genäht. Und du hast es zum Hirten
gebracht. Die Mutter hat immer alles genäht und gewaschen, später auch die
Fußballdresse von der ganzen Mannschaft. Bloß zum Josef in der Heiligen Familie
hat es für dich nicht gereicht. Zum Hirten schon. Saublöd! Ja, das sind immer
andere gewesen. Du wärst auf das Josefmachen scharf gewesen. So ein Mist, die
'lebenden Bilder'. Dem Pfarrer seine Köchin, die alte Bissgurgl, hat es den
Kindern beigebracht. Da täten sie doch alle das Lachen kriegen, heutzutage,
wenn man so einen Schmarren machte. Aber damals, da haben sie gestaunt, wenn
der Mesner den Vorhang mit einem neuen Bild aufgemacht hat: Ah und Oh! Das mit
dem Fernsehen war halt schwarz-weiß und nicht so viel wie heut. Oder möglich
ist es ja, dass das gleich wieder so ausgefallen ist, dass man es wieder
herzeigen kann. Dann ist das doch gar nicht so schlecht, ha? So im
Trachtenverein. Das werde ich im Vorstand sagen, irgendwann. Oder bei den
Veteranen, die könnten doch am Heldengedenk so eine Soldatengruppe, so dreie,
viere machen: 'Lebende Bilder'! Ausgewachsene Mannsbilder, das ist so irr,
dass es auch gleich wieder gut ist. Soldaten, vielleicht, wie sie einen toten
Kameraden tragen. Und dazu spielt dann die Blasmusik mit was Rührendem.
Vielleicht könnte da sogar auch die Bundeswehr eine Kompanie abstellen, so in
Kontaktpflege, wie das immer geheißen hat. Weil sie immer jammern, dass sie zu
wenig Ansehen hätten. Das wäre eine Schau!" Der Motor hatte jetzt seine
Betriebswärme, und Bärlapper bekam in der Fahrerkabine ein wenig davon ab.
"Einen Kitsch hast du dir da ausgedacht", ärgerte er sich. Kopfschüttelnd
gab er Gas und holte die Vierzig, die in seinem Traktor an Geschwindigkeit
steckten, voll raus. Er hatte vor, so gegen sechs beim Dorf zu sein. Dort
wollte er an seinem Feldstadel eine kleine Fuhre Heu mit nach Hause nehmen, da
er sowieso mit der Winterfütterung begonnen hatte. Der Wagen stand bereits seit
gestern an der Scheune. Bärlapper brauchte nur noch aufzuladen und alles hätte
seine Richtigkeit. Keiner sollte ihm draufkommen, dass er aus einer ganz
anderen Richtung angefahren war.
Im Sommer
hatte er diesen Freitagmorgentrick immer mit Grasmähen durchgezogen. Auch das
hatte immer geklappt. Allerdings konnte man nie genau wissen, was die anderen
im Dorf alles wussten oder einem angedichtet hatten. Gerüchte über jemand
liefen immer mit einiger Geschwindigkeit von Mund zu Mund, wusste er, und in
der Regel lange an einem vorbei, wenn man gemeint war. Woher das Geschwätz kam,
das da neulich im Gasthaus, dass er mit dem Moped in die Stadt fahren würde, um
da irgendwas zu machen? Es wollte allerdings jetzt beim Heuladen nicht weiter
darüber nachdenken. Da war ja auch noch immer das Rätsel im Kopf um das Bild
von der Michi auf der Liegestatt. "Da nimmst du dir mal einen richtig
vor", ärgerte er sich, "wenn das Mopedgeschwätz wieder kommt. Ein
Auto kaufst du dir eh irgendwann ... Einen Golf, einen Diesel."
Immer
wieder mischte sich auch das Bild in seine Gedanken, das die Michi da auf dem
Bett abgegeben hatte.
"Ein
Diesel und das raue Fahrvergnügen wie beim Traktor. Da hätte ich ja den Sprit
bereits daheim, weil ...
Michi und
der Golf und ...
... weil
für den Traktor immer ein Fass voll Dieselsprit gelagert ist und billiger ist
als an der Zapfsäule. Nur erwischen lassen darfst du dich nicht mit
Subventionsdiesel, privat ...
... und
wenn dir endlich das Bild einfallen würde, das dich nimmer auslässt ..."
Dann aber
ins Dorf und heim, umgezogen und in die dicke Luft im Stall, Fenster auf, Mist
raus und Heu rein. Melken, eine Kuh nach der anderen, eigentlich fünf an der
Zahl, aber zweie standen derzeit mit einem dicken Kälberbauch trocken. In der
kurzen Zeit, die zum Verschnaufen blieb, dem Geräusch des Saugtakts der
Melkmaschine gelauscht, daran gedacht, wie teuer die war, – und gleich wieder
die Michi und der Golf – und dass man es leicht auch weiter von Hand hätte
machen können, das Melken. Aber die anderen Bauern hatten ja auch eine ... Und
so notig war man ja noch lange nicht, dass man mit denen nicht mithalten könnte
...
Dann war
auch die Mutter da. Ein kaum merkliches Zunicken. Sie ging gleich an ihre
Arbeit, tat, was sie immer erledigt hatte, bereits zu Lebzeiten des Mannes: Sie
fütterte nach, schob den frischen Mist mit dem Karren hinaus, wartete, bis
wieder eine Kuh hinten wieder was rausließ, ging hin, lud es auf ...
Bärlapper
sagte schon lange nicht mehr, dass sie doch in der Kammer bleiben soll oder
sonst wo im Haus drüben. Er hatte sie früher manchmal dazu aufgefordert, als er
wieder von den Soldaten zurück war. Er hatte es jedoch bald aufgegeben, dachte
nur hie und da daran, wenn die Mutter wieder einmal kränkelte und trotzdem in
den Stall kam.
Die Mutter
richtete am Ende den Trank für die beiden Kälber her. Bärlapper war dann so
weit, mit dem einen Milchkübel zur Käsküche – eine der letzten im Umkreis –,
wie sie die Sammelstelle der Molkereigenossenschaft immer noch nannten, zu
fahren.
"Verdammt
wenig, irgendwie komme ich mir doch armselig vor ..."
Dort etwas
warten, bis die zwei vor ihm abgefertigt waren, solche mit viel Milch, solche,
die gerne auch einmal auf seinen kleinen Kübel einen mitleidigen Blick warfen.
Sich die Beine vertreten, an der Anschlagtafel lesen, was die Schlauköpfe von
der Gemeindeverwaltung wieder Wichtiges hervorgebracht hatten ...
"So,
Hans, was war denn gestern beim Wirt?", wollte der Bertl-Nachbar
wissen.
"War
nicht dort!"
"Habe
doch deinen Bulldog gesehen!"
"Bin
weitergefahren."
Jetzt war
er an der Reihe, seine Milch zu schütten.
"Weißt
du ...", sagte der Käser, während er die dreißig Komma vier Liter vom Bärlapper
notierte, "... beim Mühlberger Beni kriegen sie wieder ein
Kind." Bärlapper beschränkte sich
auf "So, so".
"Die
Mühlbergerin ist doch mindestens bald fuffzig", mischte sich der
Bertl-Nachbar ein, "und vier haben sie doch bereits!"
"Weißt
du, was der Mühlberger vorhin gesagt hat? Gerade vorhin. Da kommst du nie
drauf, Hans!"
"Was
wird der gesagt haben?", nuschelte Bärlapper nur.
"Stell
dir vor", machte es der Käser spannend, "der hat gesagt: 'Kann ich
doch nichts dafür, wenn meine Alte ein Kind kriegt', hat der Mühlberger dahergebracht.
'Wenn die nicht ihre Pille nimmt, dann kann ich doch nichts dafür'. Herrgott,
haben wir gelacht! Gell Bertl? So was hörst du nicht jeden Tag! Recht hat er ja
eigentlich doch schier gar ein bissl! Aber davon verstehst du ja nichts,
Bärlapper, wo du doch so ein Problem mit den Kindern nicht hast. Mensch, geht
es dir gut, so gut möchte ich es auch haben!"
"Dem
Mühlberger seine Blödheit fruchtbar ", stellte der Bertl fest.
Die beiden
lachten und hatten ihr Vergnügen. Bärlapper war jedoch plötzlich eingefallen,
woran ihn Michis Haltung auf dem Bett heute Früh erinnern sollte. "Ja
freilich: Von Rom her kennst du das", war er sich gewiss. "Ja,
damals, wie der Trachtenverein mit dem Pfarrer und dem Frauenbund nach Rom hinunter
ist und zum Heiligen Vater! Mensch, klar!"
Nachbars
dritter Kübel wurde scheppernd abgestellt. Bärlapper stand immer noch da, in
Gedanken: Die Italienreise ging ihm im Kopf herum, jede Menge Wein und die
langen Nudeln und jede Menge Kunst. "Mensch, haben die viel so alte
Sachen, alte Häuser und Kirchen und Bilder, und so viel ist kaputt, überall
umeinander und nicht so anständig und aufgeräumt wie bei uns ..."
"Was
glaubst du denn", schwappte Bärlapper von außen in die Erinnerung,
"was glaubst du denn, Kerl, ob du noch ein freier Mensch bist, wenn du
eine Familie hast? Ha? Und Kinder, ja du lieber Herrgott! Da schluckt die die
Pille nicht! Auch wenn es der Papst verboten hat ..."
"Figuren
haben die da in Rom drunten ... ", kam es Bärlapper, während er dem Käser
zunickte, "dass der endlich den Mund hält ... – Mensch klar, da war der
steinerne Sarg, die Platte oben drauf mit der Toten aus Stein oder der
Lebendigen aus Stein, die so dagelegen ist wie die Michi heute in der Früh, als
ob sie lebendig wäre – oder doch nicht lebendig ..."
"Da
bist du nimmer der, der allein anschafft daheim", machte der Käser
unverdrossen weiter, "da regiert die dir Angetraute und durch die regiert
bei dir daheim der Frauenbund mit, der Pfarrer sowieso mit seinem Heiligen
Vater im Ohr, der Landfrauenverein ..."
"Da
könntest du ja durchdrehen", überkam es Bärlapper, während er den Deckel
auf seine Milchkanne drückte: "Kinderkriegen in Ritzling und Sargdeckel in
Rom und die Michi im Kopf und überhaupt der Käser mit seinem Geschwätz. Bald
kommt bei uns auch der Zuzelwagen von der Molkerei, dann brauchst du nimmer her
und dir diese Schwafeleien anhören."
Bärlapper
stellte seinen Milchkübel so geräuschvoll wie möglich auf die kleine
Ladepritsche und machte, dass er wegkam.
"Gerauft
haben sie, zugehauen", rief ihm der Bertl nach, als Bärlapper bereits auf
dem Traktor saß. "Ums Karteln ist es gegangen, wie in Wildwest bei den
Cowboys. Und zwar richtig. Der alte Schulmeister ist untern Tisch geschlüpft
vor lauter Feigheit ..." Der Bertl wollte mit seiner Berichterstattung
richtig ausholen, doch Bärlapper ließ den Motor an. "... ein paar Stühle
sollen sie zerlegt haben", schrie der Nachbar gegen den Motorenlärm an,
"und mit den Trümmern haben sie zugeschlagen. Zugehauen, dass die Fetzen
geflogen sind. Gerade, dass die Polizei nicht gekommen ist!"
"Dann
ist es ja gut, dass du nicht dort gewesen bist", erklärte Bärlapper,
nickte dem Bertl zu und gab Gas.
Als er dann
zur Arbeit in die Brauerei fuhr, blieb er an seiner Wiese stehen. Er schaute
über die kleine Fläche und ärgerte sich. "Verdammte Scheißerblätter, wie
das schlampig ausschaut", war er unzufrieden, "die hat es doch früher
nicht so viel gegeben. Die Mutter sagt, dass die Wurzel zu einem Sud zu
gebrauchen ist. Den sie getrunken haben, wenn sie nimmer aufs Häusl können
haben. Die Samen von den Scheißerblättern machen es genau anders rum, dann soll
es wieder fester werden. Wenn die Kühe den Dünnpfiff gehabt haben, dann wurde
ihnen der Samen ins Maul gedrückt. Deswegen haben sie es Scheißerblätter
genannt, klar. Aber wegen dem kann ich die nicht stehen lassen", war er
überzeugt, "und die Kühe fressen sie nicht. Was denn da die Leute sagen,
nämlich dass der nichts versteht von der Bauernarbeit, der Bärlapper, und sein Sachl
verkommen lässt. Dann muss ich doch auch das Gift spritzen, was sie alle auf
die Felder hauen, ums Unkraut wegzuspritzen. Sogar in den Gärten spritzen die
Häuslleute literweise Gift. Also machst du es auch, es wird kein Schaden
sein."
Mit diesem
Vorsatz zog er weiter.
"Kostet
dir der Liter von dem Zeug so an die zwanzig Mark. Wird dann noch drin sein.
Man braucht bloß etwas aufpassen, haben sie beim Wirt gesagt. Denn sonst wird
auch das Gras kaputt. Das ist nicht schwer. Das kann ein jeder machen und
kriegt auch ein jeder zu kaufen. Da musst du kein so Studierter von der
Winterschule sein. So dumm kann gar keiner sein, dass da was passiert
..."
In der
Brauerei ergab es sich wieder, dass er vor der Arbeit mit dem Braumeister ins
Gespräch kam. Der war die letzten Tage häufiger bei Bärlapper gewesen und hatte
immer etwas zu reden gehabt. Nichts Wichtiges. So gesprächig kannte ihn Bärlapper
jedoch nicht, machte sich deswegen allerdings keine weiteren Gedanken. Der wird
eben alt und fängt das Schwätzen an.
Heute
wollte Bärlapper aber etwas vorbringen, was ihn seit einiger Zeit nicht mehr
losließ. Er sagte dem Meister, dass die Maschinen, auf die er bei der Arbeit
dauernd schauen müsse, doch bereits ziemlich schäbig aussähen. "Der Lack
ist an etlichen Stellen ab, das nackte Metall fängt zu rosten an."
Als das
raus war, wollte Bärlapper einen schier wehmütigen Ausdruck im Gesicht des
Chefs bemerkt haben. "Das ist dem auch bereits lang aufgestoßen",
überlegte er. "Ein wenig Farbe", schlug Bärlapper eifrig vor,
"und die Sache stimmt wieder. Jetzt, wo doch so viel Leute hier zum
Besichtigen herkommen, da darf nichts schlampig ausschauen! Oder?" Und
weil der Braumeister nicht gleich reagierte, fuhr Bärlapper fort: "Viel
mehr kommen ja als früher, oft sind es die gleichen gleich öfter. So feine
Pinkel. Das Streichen rentiert sich bestimmt! Denn innen sind die Maschinen ja
doch noch gut und arbeiten tun sie wie neu und ohne dass man sie richten muss
..." Bärlapper stoppte seine Lobrede und schaute den Braumeister
erwartungsvoll an. Der brachte den Mund nicht auf. So machte Bärlapper weiter:
"Also, die tun doch ihre Pflicht und Schuldigkeit noch locker! So was
stellen sie doch gar nicht mehr her, das ist doch gute alte deutsche
Wertarbeit. Oder Vorkriegsware, wie die Mutter manchmal noch sagt", lachte
er. "Die arbeiten so prima wie am ersten Tag, die sind doch noch ..."
Bärlapper ging zu einem der guten alten Apparate und tätschelte ihn freundlich,
strich mit seinen Fingern fast behutsam über eine der Wunden.
"Ja,
ja, die stehen hier seit ... ja, seit wie vielen Jahren? Jahrzehnten!",
klang es jetzt doch, aber ausgesprochen traurig. "Ja, die Firmen haben
früher so gut gearbeitet, mit ihrer deutschen Wertarbeit, dass das ein
Menschenleben lang gehalten hat, was sie da verkauft haben. Und weil sie
deswegen zu wenig verkaufen konnten, sind viele wegen ihrer guten Arbeit zu
Grunde gegangen, Bärlapper. Ist unsere Welt nicht ganz und gar verrückt und
ist sie noch zu retten?", klagte am Ende der Braumeister und ging.
Bärlapper
kam im Moment über ein kurzes Staunen nicht hinaus, denn da klimperte bereits
die gläserne Kolonne auf dem Rollenband heran. Er machte sich mit Schwung an
die Arbeit. Er wollte vielleicht auch einen auf deutsche Wertarbeit machen – er
wusste es nicht so genau, immerhin hatte ihm der Ausdruck gut gefallen.
Irgendwann
war der Braumeister wieder da. "Ja, früher!", sagte er und musste
schlucken. "Die Apparate standen längst da, als ich hier angetreten bin.
Das ist ja eine Weile her. Und ich geh irgendwann bald in Pension."
Sie nickten
beide bedächtig in Richtung der guten Arbeitsgefährten mit dem schäbigen
Äußeren und dem gesunden Innenleben. Dann meinte Bärlapper, während er seine
Flaschen zumachte: "Früher ist alles stabiler gewesen, und viel länger
hast du alles gehabt, einfach weil es kein Murks gewesen ist. Es ist ja gar
nicht zu glauben, was heute alles für ein Pfusch gemacht wird und wie die Leute
angeschmiert werden. Doch die wollen das vielleicht auch gar nicht anders,
damit sie sich immer wieder was Neues und in der Mode kaufen können."
Bärlapper
arbeitete ohne Unterbrechung, erinnerte jedoch nach dieser Einlassung über den
Zeitgeist, dass ja sein Anstreichproblem noch nicht gelöst war und machte einen
Vorschlag: "Also, wenn es sein muss, Braumeister, dann besorgst du mir
eine Farbe. Nach der Arbeit, am Samstag, da pinsle ich sie eben an. Dann kost
es euch fast nichts."
Der
Braumeister schaute Bärlapper nur mitleidig an.
"Also
am Samstag", holte der aus, "weil es da über den Sonntag trocknen
kann und auch ausstinken kann."
"Mein
Gott, ist ja prima, Bärlapper, du bist ein Pfundskerl", stotterte der
Braumeister fast heraus und verschwand eilig.
Bärlapper
fühlte sich gut, und die Arbeit ging ihm noch leichter von der Hand.
In der
Pause, später, als die Kameraden um ihn herum ein Fußballproblem diskutierten,
saß er still dabei und freute sich immer noch, dass er vorhin dieses Angebot
zum Erhalt der Maschinen anbringen konnte. Er war so lange zufrieden, bis ihn
der Müller, der gar nicht zu ihrer Gruppe gehörte und sich heute bei ihnen
sozusagen eingeschlichen hatte, anging: Was er denn machen würde, wenn er hier
nicht mehr arbeiten könne. Bärlapper war überrascht, denn die anderen hatten
eben noch von Fußball geredet. "Sie haben das Thema gewechselt, ohne dass
du es mitgekriegt hast", warf er sich vor, "weil du mit die Gedanken
beim Pinseln gewesen bist, abschleifen, von unten nach oben ..." Er antwortete
dem Müller jetzt nur, dass er so was gar nicht für möglich hielte und dass er
es sich nicht vorstellen könne.
"Ist
ja auch gar nicht nötig, dass du dir das vorstellst", giftete Müller,
"es langt ja, wenn es die da oben tun. Dann ist es nämlich gelaufen. Es
reicht, wenn du am Ende das Ergebnis erfährst per Rausschmiss." "Wenn
du meinst", antwortete Bärlapper.
"Und
wie ich das meine!", trotzte Müller.
Bärlapper
war gleich wieder bei der Farbgebung seiner Apparate, ob er den alten weißen
Ton mit dem gelblichen Stich wieder bringen solle. Er hörte zwischendurch, dass
Müller den anderen einzureden versuchte, dass alle sich wegen der Arbeit zusammentun
müssten. Da waren allerdings bei Bärlapper gleich wieder die Probleme mit der
Farbgebung und er konnte nicht weiter zuhören. Ausdrücke wie Arbeitsrecht,
landeten dennoch in Bärlappers Gedanken und Gewerkschaft und so etwas. Das
klang ihm aber ganz fremd, fast wie aus einer anderen Sprache oder gleich aus
einer anderen Welt.
"Vielleicht
könnte ich sie grau streichen?", überlegte Bärlapper.
Die anderen
hatten sich Müllers Vortrag beinahe geduldig angehört, waren danach jedoch
sofort wieder beim Fußball mit ihrer Unterhaltung.
Die Pause
war zu Ende gegangen, Müller sauer abgezogen – und der Tag verging in gewohnter
Weise.
Zu seiner
Überraschung wurde Bärlapper trotz seiner Abneigung wieder von Müllers Frage
heimgesucht. Sie kam jetzt mit einem Gedanken daher, den er nicht sofort
loswerden konnte: "Das hier ohne dich! – Von wegen hier keine Arbeit mehr
oder diese Arbeit nicht mehr oder ..." Er kam nicht klar damit. "Wie
hat das denn der Müller, der lästige Kerl, überhaupt gesagt? Hättest vielleicht
doch zuhören sollen. – Was hast du neulich gesagt?", wollte er den Müller
gelegentlich fragen. Doch es kamen ihm Zweifel: "Den Stänkerer wirst du
auch noch fragen, der sogar einen Verein oder die Partei machen will, wie sie
beim Wirt gesagt hatten. Dann hast du keine Ruhe mehr von dem, weil der immer
wieder daherkommt, wenn du ihn einmal was gefragt hast. Freilich, die sind so
wie die Vertreter, wenn du denen einmal die Tür aufgemacht hast. Oder wie die
von den Bibelforschern, wenn du mit denen einmal zu diskutieren angefangen
hast."
Es trieb
Bärlapper noch eine Weile um. Er wusste allerdings nicht, was ihn daran so
aufregte, weil er sich ja seiner Sache sicher fühlte. "Gebraucht wirst du,
und das ist gewiss. Vielleicht war das vom Müller auch nur so ärgerlich",
wollte ihm schließlich einleuchten, "weil der Kerl den Brotzeitfrieden
gestört hatte."
7
Heute
hatten sie den Unterlassner einzugraben. Vier Mannsbilder aus der Nachbarschaft
mussten den Sarg tragen. Sie waren dem Brauch nach in Tracht, aber ohne Feder
am Hut gekommen. In der Leichenhalle war zu beiden Seiten des Sarges Aufstellung
zu nehmen. So blieben sie stehen, bis alle Leute, die dem Unterlassner noch
einen paar Spritzer Weihbrunnen geben wollten, vorübergezogen waren.
Dann war
Totenmesse, die der Dorfchor auf Lateinisch begleitete. Die dünnen, manchmal
etwas brüchigen Stimmen passten heute direkt zum traurigen Anlass.
Schließlich
schritt man zur eigentlichen Beisetzung, zu der sich die ganze Gesellschaft
wieder vor der Aussegnungshalle versammelte.
Hochwürden
Bahtiar, trat mit seinen Ministranten auf, unter denen sich sogar ein Mädchen
befand, und verrichtete seine Handlungen. Als er zu Ende gekommen war, trat die
Beisetzungsmannschaft des Veteranenvereins an. Eine gichtige Truppe von sechs
Greisen formierte sich in Reih und Glied. Der Meinl Hans, der es im Krieg bis
zum Spieß gebracht hatte, befehligte den kläglichen Haufen. Als sein
Stillgestanden ertönte, ging immerhin ein beachtlicher Ruck durch diese
hinfällige Schar. Sogleich stimmte die Blasmusik ein ergreifendes Stück an, und
der Zug setzte sich in Bewegung. Voran schritt der Pfarrer mit seinen
Messdienern, gefolgt vom Sarg, der von Bärlapper und drei weiteren Mannsbildern
getragen wurde. Dahinter kam die Trauergemeinde. Die Reihenfolge am Sarg hatte
sich nach Verwandtschaftsgrad gebildet.
Zuerst ging
es um die Kirche herum, man war bald am Grab angelangt, und die Träger stellten
den Sarg ab. Sofort musste der Messner-Damerl dem Dorfbäck ein Zeichen geben.
Der hatte den Schießschein und außerhalb des Friedhofs auf der Wiese Posten
bezogen: Die dumpfen Böllerschüsse, die ein Vorrecht der Veteranen waren,
krachten in die Melodie vom guten Kameraden, die gleichfalls auf das Zeichen
vom Messner-Damerl hin angestimmt worden war. Diese ergreifende Melodie, und
wie es da hineinkrachte! Das ging ziemlich ans Gemüt. Die Leute würgte es im
Hals. Sogar die Mannsbilder hatten zu kämpfen, dass das Wasser in den Augen
blieb. Als diese wohlige Seelenqual vorüber war, folgten die Reden der Vereine,
denen der Unterlassner angehört hatte. Nach diesen weltlichen Einlagen trat der
Gottesmann erneut in Aktion und segnete noch einmal die Totentruhe samt inneliegendem
Verblichenen. Dann ging es an die Versenkung, nach der der Geistliche die drei
Schippen Erdsymbol unterbrachte. Am Ende war noch der Vorbeizug am offenen
Grab. Jeder spritzte dreimal Weihwasser in die Grube und brachte bei den Verwandten
des Gewesnen noch seine Beileidsbekundungen an.
Dann zog
die Trauergesellschaft ins Wirtshaus.
Bärlapper
und die anderen Träger mussten das Grab zuschaufeln. Sie banden sich Schürzen
vor, um die schönen Lederhosen zu schonen. Der Behringer Martl war der Kapo.
Versenkungswart sagten sie auch zu ihm. Er befahl: "Auf geht's, Männer,
und hinter den Unterlassnerischen ihrem Grabstein liegt ein Flaschel Schnaps,
wenn ein Gschmackerl raufkommt aus dem Grab. Oder für sonst was, wenn wer Durst
kriegt." Der Kies prasselte hinunter und schlug mit einem dumpfen Geräusch
auf den Sargdeckel.
"Wenn
du denkst, wenn sie einen verbrennen, da braucht es kein so großes Loch",
sagte der Mertl Sepp dazwischen. Sonst war außer den Arbeitsgeräuschen lange
nichts zu hören.
Auf einmal
hatte der junge Zittler Michl, der das erste Mal bei so etwas war, einen Totenschädel
auf der Schaufel. Er stand plötzlich starr und wie angewurzelt da und schaute
die anderen ganz abgestanden an: "Mensch", stammelte er, "da
sind ja noch Haar dran!" Er wurde käsbleich.
"Das
täuscht, der ist sauber nach der Zeit und der schiere Schädel bloß. Auch wenn
es auf der Nordseite von der Kirche mit dem Moder nicht so schnell geht. Nur
hinunter damit", befahl der Behringer, "es hat alles seine
Richtigkeit! Geweihte Erde! Da drunten kommt alles zusammen, und ein Segen
liegt auf der geweihten Erde."
Der Michl
gehorchte sofort. Er zuckte zusammen, als der Schädel unten aufschlug, dann
atmete er tief durch. Aber er war jetzt noch blasser um die Nase.
"Geh,
Michl, nimm dir einen Schluck von dem Schnaps da hinten", riet Bärlapper,
"dann wirst du schon wieder!"
Die anderen
Männer verschnauften ein wenig und schauten mit ernsten Mienen in die Grube.
Die Flasche machte die Runde.
"Das
muss dem Unterlassner seinem Bruder sein Schädel sein", meinte der
Behringer, "nämlich der, der sich Ende der Fünfzigerjahre mit seiner Horex
verunfallt hat. An einen Amitrack ist er hin, frontal, dass es ihn geschmissen
hat, dass alles hin war und er selber auch. Habe ihn gut gekannt. Ein prima
Kerl, ganz prima ..." Er zog sein kariertes Sacktuch heraus und schnäuzte
sich.
Dann
brachten sie ihr, laut Katechismus, Werk der Barmherzigkeit schweigend zu Ende.
Auf den kleinen Hügel wurden zum Schluss die Kränze gelegt. Danach standen sie
alle noch davor und machten das Kreuzzeichen. "Kein einziges Fleckerl Moos
ist auf den Unterlassners ihrem Grabstein", lobte der Behringer, als sie
abzogen. "Die Bäuerin schrubbt den Stein jede zwei Wochen mit der
Wurzelbürste ab. Da könnte sich ein mancher da umeinander sein Beispiel nehmen!"
Im
Nebenraum zum Leichenhaus wuschen sie sich die Hände und banden die Schürzen
ab. Schließlich ging die Flasche herum, bis sie leer war. Sie sollten mit dem
Schnaps den fauligen Geschmack im Hals wegkriegen, wie der Behringer meinte,
"aber es ist auch der Brauch, dass die Totengräber einen kräftig zur Brust
nehmen, denn sonst packst du das manchmal nicht."
Sie waren
die ganze Zeit über ziemlich niedergeschlagen und kleinlaut gewesen, auf dem
Weg ins Wirtshaus kam ihnen dann jedoch die gute Laune wieder.
"Behringer,
wie lang bist du jetzt schon der Versenkungswart?", wollte der Michl
wissen.
"Seit
ich im Austrag bin", antwortete der stolz, "so vor zehn
Jahren."
Beim Wirt
angekommen, hatten sie das Tischgebet versäumt und waren mit Essen und Trinken
im Rückstand. Bärlapper kam neben dem Totengräber zu sitzen. Er war es
zufrieden, denn da war er weiter entfernt von den Verwandten und näheren Bekannten
des Verblichenen und musste sich nicht die Geschichten und Betrachtungen
anhören, die meistens mit "ja mei" angingen und die Qualitäten des
Toten beschrieben, nämlich, was der Unterlassner für ein guter Mensch gewesen
sei und dass es solche nimmer viele gebe auf der Welt und dass es kein Wunder
sei, wenn die Welt immer schlechter und lotterhafter werde, und was sich die
Leute heute alles trauten, was man früher nur heimlich gemacht habe, denn wenn
die Guten wegstürben – doch der Unterlassner habe ja ein gottgesegnet langes
Leben gehabt und das sei ihm schließlich vergönnt ...
Sie sahen
zu, dass sie mit dem Essen nachkamen, auslassen wollten sie natürlich nichts,
das waren sie sich und dem Verblichenen schuldig. "Denn", kommentierte
der Behringer, "bei den Heiden haben sie einem das Essen mit ins Grab
gelegt. Doch davon ist der Christenmensch auch erlöst wie von dem anderen
Blödsinn umeinander. Denn der Christ darf das selber verdrücken, so lang er das
Leben noch hat. Und was übrigbleibt, wenn er abgekratzt ist, das kriegen dann
die, die noch leben. Richtig zulangen musst du, das bist du dem Unterlassner
freilich schuldig, dass es ihm gut geht im Jenseits drüben. Das ist dann doch
noch geblieben vom Heidnischen, und richtig ist das so, denn wenn was gut ist,
dann ist es auch eine Tradition!"
Trotz
dieser Verpflichtung zum Verzehr, der er mit seinen drei Zähnen eifrig nachkam,
fand der Behringer Zeit zum Erzählen. "Da hat es einmal eine Leiche
angeschwemmt im Bach", setzte er an, als er ein ordentliches Stück vom
Schweinsbraten eingefahren hatte, musste sich diesem aber zunächst widmen.
"Ja,
das ist bekannt", bestätigte Bärlapper und rückte sein Bier ein wenig vom
Behringer weg, "wenn es ein Hochwasser hat, da treibt es einen Haufen Zeug
an im Bach. Und alles von den Bayerdorfern, diesen Schlampern. Kaputte Hennen
und voriges Jahr sogar eine krepierte Sau ... Wo soll das noch hinführen?"
Bärlapper nahm mit besorgter Miene einen tiefen Schluck Bier, stellte sein Glas
noch etwas entfernter vom Behringer ab und aß weiter.
"Aber
der Kerl, den es da hergeschwemmt hat", fuhr der Behringer kauend fort,
"der hat dann der Gemeinde gehört. Da bist du noch ein Schulbub gewesen,
Bärlapper. Weil die Polizei auch nicht rausfinden hat können, wohin der gehört
hat. Man hat ja alles, was es da immer wieder mal hergetrieben hat, schon auch
mal mit der Mistgabel weggeschubst, dass es ins Nachbardorf hinunter ist im
Bach. Auch wenn es ein Toter gewesen ist, der eh nichts mehr spürt. Doch der
nämliche hat sich irgendwie verfangen gehabt, und dann ist er der Gemeinde
geblieben. Bissl schlecht ausgesehen hat der schon, voll Dreck und Schlamm und
aufgegangen, dass du gemeint hast, den zerreißt es."
Bärlapper
hatte kurz zum Behringer hingeschaut, musste sich aber gleich wieder abwenden,
um sich den Appetit auf den vierten Knödel zu retten. Auch seinen Teller schob
er jetzt aus Behringers Niederschlagszone heraus.
"Bereits
aufgetrieben ist er gewesen, wie es halt mal so ist. Aber mit einem Kübel
Wasser und dem Schrubber drüber, und da hat er gleich wieder menschlicher
ausgeschaut."
Bärlapper
spülte es mit einem kräftigeren Schluck hinunter. Sie haben nachgefasst und waren
danach weiter nur mit dem Essen beschäftigt.
Der Behringer
schaute immer wieder einmal zum alten Schulmeister hinüber, während er seine
zweite Portion verschlang. Der Lehrer saß zwischen zwei älteren Frauen und
hielt Vortrag. "Richtig grantig schaut der Behringer auf den
Oberlehrer", fiel Bärlapper auf. "Und überhaupt, wie schafft der
Behringer das Einfuttern mit fast keinen Zähnen", fragte er sich,
"der muss doch ganze Brocken hinunterwürgen." Er aß weiter.
"Wunder ist es ja nicht, wenn der Behringer was gegen den Lehrer
hat", dachte sich Bärlapper dann, als er ein frisches Bier bestellte,
"denn da ist er ja nicht der einzige im Dorf."
Der alte
Schulmeister redete immer noch händefuchtelnd auf die Frauen ein. "Da kann
er daherreden, was er will", grinste sich Bärlapper", die beiden
hören wohl kaum noch etwas."
Dem
Behringer war, als er so immer wieder zum Lehrer hinüberschaute, etwas
eingefallen: Früher habe man die Särge im Leichenhaus tagsüber nicht
zugedeckelt, damit alle den Toten noch von Angesicht zu sehen bekamen. Da hatte
der Totengräber im Sommer mit der Fliegenpatsche daneben zu sitzen. "Und
immer drauf, wenn sich da eine Schmeißfliege gesetzt hat. Patsch und noch mal
patsch. Wenn da einer lag, still für immer zwar und steif vor lauter Totsein,
aber den man im Leben gar nicht leiden hat können, weil es ein rechter Schuft
war, da hat man auch einmal stärker hingehauen, vielleicht auch
zweimal."
Der
Behringer deutete zum Schulmeister hinüber und bedauerte, dass der gute Brauch
aufgegeben worden war. "Der mit dem Fliegenpatscher, denn da möchte ich bei
dem ja noch öfter draufhauen, bei dem Bazi, dem windigen!"
Bärlapper
beförderte ein gedämpftes Lachen an Knödel und Schweinsbraten vorbei.
"Ja,
da hatten sie mal einen von weiter her holen müssen", wusste der Behringer
noch, "mit dem Pferdefuhrwerk." Da sei er, Behringer, aber noch nicht
dabei gewesen. "Das war nämlich da im Bachtal unten, und der einschichtige
Mosler ist es gewesen. Seine Leiche hatte auch bereits länger gelegen, da ist
normalerweise kam jemand hingegangen, und gemerkt hat man es erst, als der am
Sonntag nicht in die Kirche gekommen ist, denn die hat er nie ausgelassen. Dann
sind sie mit dem Sarg und dem alten Mosler drin auf der holprigen Straße
gefahren. Da ist noch lang nichts geteert gewesen und lauter Schlaglöcher und
Steine hat es gegeben. Da hat es gerumpelt und den Deckel hat es auch mal ein
bissl gehoben von dem Rumpeln. Den haben sie nämlich noch nicht richtig zugemacht
gehabt mit den Nägeln. Denn die Leiche hat ja noch gerichtet werden müssen. Und
wie es den Deckel immer wieder einmal angehoben hat, da ist der Wind so
gestanden, dass der Gaul was von dem Gschmackerl aus dem Sarg in die Nase
gekriegt hat, das schon ein bissl arg war. Und, sakra, auf ist es gegangen, auf
und davon, und niemand hat den Gaul, den Hundsheiter den windigen, mehr halten
können, und runter sind sie vom Fuhrwerk aus Angst, dass es umschmeißt. Und der
Gaul und der Karren und der Sarg ohne den Deckel, ist in das Dorf hinein
galoppiert wie vom Teufel getrieben. Die Leute, die haben zuerst geschaut und
dann sind sie abgehauen, als der Gaul dahergekommen ist mit dem Sarg und dem
Toten, den es so rumgebeutelt hat, dass er immer wieder mal über den Rand rausgeschaut
hat, als ob er wiedergängerisch wäre. Die Totengräber mit dem Sargdeckel
hinterher! Und schreien: 'Bleibst du stehen, du Hundsheiter, du ganz
verreckter!' Die Leute sind wieder aus dem Haus und haben geschaut, und die
haben dann nicht gleich gewusst, ob sie jetzt lachen sollen oder sich richtig
fürchten und ob es da mit rechten Dingen zugegangen ist! Denn so ein Vieh, und
das schönere Ross ist es eh nicht gewesen, und so ein Vieh ist ja kein
Christenmensch, und da hat der böse Geist dann schon mal sein Quartier in so
einem Vieh, dass man es ausbenifizieren muss mit einem Weihbrunnen im Stall
drinnen oder gleich vom Pfarrer am Leonhards-Tag, wo man einen Umgang hat, oder
zum Kastulus!"
Es war
lauter geworden im Saal. Es war jetzt hie und da auch bereits ein Lachen zu
hören. "Es ist freilich recht", sagte Bärlapper zum Behringer,
"dass in der Trauer auch gelacht werden kann. Oft ist es auch so, als wie
wenn es so eingerichtet wäre, dass der buckligen Trauer der Papagei auf ihrem
Buckel hockt und immer einen Schmarren redet, dass du lachen musst."
"Es
mag so sein, wie du das siehst", antwortete der Behringer etwas ratlos und
dachte nach. "... bucklige Trauer ..., ja, was ist denn das?",
wunderte er sich. "Das hast du dir wieder ausgedacht, Bärlapper. Wenn du
lachst", setzte er schnell drauf, "das ist dann auch so eine
Auferstehung, du weißt schon, wie bei einem Christenmenschen, wie der Pfarrer
behauptet, dass es ist ... Die Auferstehung ist, wenn du lachen kannst. Aber
das sage ich bloß so, und wer weiß, ob es richtig ist."
Sie kamen
nebenzu ihrer Pflicht dem verblichenen Unterlassner gegenüber nach und
fütterten gehörig nass ein, dass es ihnen immer leichter wurde.
Sie traten
dann zur Stallzeit, nachdem die Frauen noch am Grab waren, satt und mit einem
gehörigen Rausch den Heimweg an.
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darauf, am Samstag, hatte sich Bärlapper vorgenommen, etliche Fuhren Mist
auszufahren. Die Mutter war allerdings nicht so sehr dafür. Dass es zu schön
sei heute fürs Mistfahren, hatte sie behauptet. "Fahr doch lieber das alte
Zeug in die Grube. Die Sonne, die ist nie gut für den Mist. Für den Odel auch
nicht. Aber den fährst du wenigstens nicht, Gott sei Dank!"
"Das
hört sich ja unbändig neumodisch an", dachte sich Hans und fasste sich an
den Brummschädel. "Ja gleich so modern wie bei denen, die auf der
Winterschule gewesen sind, nämlich, wenn sie in der Wirtschaft wieder mal so
gescheit daherreden."
Als er sich
wieder mit einer Leidensmiene über den Kopf fuhr, forschte die Mutter spitz, ob
sie den Unterlassner gestern denn eingegraben oder eingegossen haben und ob das
sein muss, "dass man die Trauerleute gar so gotteslästerlich
hersäuft." Er gab keine Antwort. Er ging zum Wasserhahn am Ausguss und
löschte mit tiefen Schlucken seinen Brand.
"Woher
es die Mutter nur hat, das mit dem Mistfahren und dem Wetter? Vielleicht aus
dem Bauernblättl? Aber da hat sie doch nur immer den Roman gelesen. Jedenfalls
halten sich ja diese ganz Gescheiten auch nie dran, was sie da mit dem Wetter
und dem Mist daherreden. Die fahren ihre Gülle bei jedem Wetter und auch im
Winter auf den Schnee – bis es einmal verboten wird. Die Modernen haben alle
Gülle, wegen dem neuen Stall, bei dem sie keinen Mist mehr schieben müssen. Bei
mir rentiert sich das nicht. Das bissl Arbeit mit dem Mistschieben. Meine
eigene Arbeitszeit kostet mich ja nichts. Wenn ich einen Umbau zahlen müsste,
dann wär es anders. Dann arbeitest du nur noch für die Bank, die dir das Geld
rauszieht aus der Tasche."
Bärlapper
kam dann darauf, dass es eher der Mond war als die Sonne, der die Mutter
abraten ließ. Diese Mondregeln. Diese geheimnisvollen Wachstumsregeln.
"Aus der Heidenzeit sind sie und immer noch in den Köpfen. Ein Aberglauben
ist das und ein Unsinn dazu, wie der Lehrer immer gewettert hat. Etwas von den
wenigen Sachen, wo er mit dem alten Pfarrer eins war. Die Leut lassen sich von
ihrem Mondglauben nicht wegbringen. Klar, sie schreiben dem Mond etliches
zu", dachte Bärlapper, "wo sie was kriegen, ohne dass sie was zahlen
dafür, wenn sie es mit dem Mond richtig können. Da ist der Wettersegen, den der
Pfarrer gibt, auch noch eine Dreingabe – und nach dem Lehrer schon gleich
genauso was Abergläubisches. Gewiss das halbe Dorf ist dem Mond verfallen. Doch
du hörst kaum was über das, was es da alles zu machen gibt. Denn wenn man
drüber redet, ist die Wirkung im Eimer, heißt es. Man muss es irgendwie selber
rausfinden. Einen Glauben daran musst du haben, den du ja auch erspüren
musst", war Bärlapper überzeugt, "ohne Glauben geht so was rein gar
nicht. Irgendwann schreibt es einmal einer auf. Doch wenn es geschrieben ist,
dann hat es keine Wirkung mehr, denn das ist ja, wie wenn man darüber
redet." Er suchte sich sein Arbeitszeug zusammen. "Und überhaupt, da
gibt es eine Masse ziemlich zauberische Sachen", ging es Bärlapper im
Brummschädel herum. Er wusste auf dem Hof vom verblichenen Unterlassner so
etwas. Einen alten Ziegenbock. Ein gespenstisches Vieh, das sie in
Unterlassners dunkler Tropfsteinhöhle von Kuhstall frei herumlaufen ließen.
Kohlrabenschwarz mit blitzenden Augen kam der Bock daher – und ein Hinterlauf
war ihm obendrein zu kurz geraten. Der sollte – unausgesprochen, versteht sich
– die Krankheiten, wohl besser die bösen Geister, bannen. "Möglich ist es ja,
dass der Geißbock jetzt abgestochen wird, wo der Altbauer auch hin ist",
dachte Bärlapper, während er die Streuwalzen von seinem Mistbreiter schmierte.
"Der Geißbock schaut schier gar wie so ein Bild von so einem Teufel aus.
So wie sie es ganz früher gemalt haben, wo sie auch noch die Hexen verbrannt
haben, dem Herrgott zuliebe", erinnerte sich Bärlapper. "Möglich wär
es ja, dass da die andern Teufel glauben, wenn sie Unterlassners Kühe
heimsuchen wollen und den Bock sehn: Abhauen, Burschen, rufen sie, die Teufel,
abhauen, da ist schon einer drin von uns im Unterlassner seinem Stall!" Er
musste über seinen Einfall lachen – und da stach es auch gleich wieder im
Schädel. "Klar, wenn der Bock so aus einer dunkeln Ecke vom Stall rauslugt
mit seinen blitzenden Augen und seinen Hörnern!"
Bärlapper
grinste vor sich hin. Als er die Mistgabel aus dem Stall holte, erinnerte er
sich, dass die Mutter dort einen kleinen Weihwasserkessel hängen hatte.
"Bestimmt hat sie das", war er überzeugt, "um das Böse vom Vieh
wegzukriegen. – Scheiß Kopfweh", jammerte er still vor sich hin,
"vielleicht vergeht es, wenn du es dann beim Mistladen rausschwitzt. Einen
Rossmist müsste man haben, da zieht einem der Ammoniak den Rausch aus dem Kopf,
haben sie früher gesagt. – Auf geht's!", spornte sich Bärlapper an. Er
ging noch einmal in die Küche, um sich eine Flasche Bier zu der schweißtreibenden
Schwerarbeit zu holen.
"So",
giftete die Mutter, "jetzt machst du es ja doch mit dem Mist!"
"Es könnte
wie im vorigen Jahr werden", versuchte er, sie zu beschwichtigen. "Es
könnte ja sein, dass der erste Schnee ganz früh kommt und ich dann nimmer aufs
Feld kann. Da haben viele ja nimmer gewusst, wohin mit dem Dreck, und es wurde
auf dem Hof in der Not ein zweiter Misthaufen angelegt. Da war dann die braune
Soße dauernd quer über die Straße gelaufen und ist ins Dorf hinein geronnen. Da
bist du gleich ein Saubär, über den sie maulen, ganz hinterfotzig freilich nur
..."
Die Mutter
schimpfte, während sie am Herd werkte: "Das sage ich dir: 'Wo Mistus, da
Christus!' Wurde uns noch gelehrt. Der Mist ist kein Dreck! Das musst du
wissen, was da für eine Kraft drinnen steckt! Aber fahre nur zu. Ihr Jungen
wisst alles besser. Bis ihr die Erfahrung zahlen müsst und euer Lehrgeld
..."
Er machte
sich davon. "Möchte ja sein, dass sie so unrecht doch nicht hat mit ihrem
Mond", dachte er. "Wo sie zwar von der Sonne gesprochen hat. Doch ich
weiß, was sie meint, wenn sie was sagt ..."
Er fuhr mit
seinem Mistbreiter vor, stieg ab und kletterte über die Ladepritsche des
Hängers auf die höchste Stelle seines Misthaufens. Auf dem Gipfel angelangt,
genoss er zuerst die Aussicht und warf einen Blick auf den Hof. Er zählte die
Enten und Hühner, die im Hof schnatterten und gackerten, an denen die Mutter hing, obwohl alle sagten,
dass es sich gar nicht mehr lohne, das ganze Viehzeug zu halten, das sowieso
nur die schönen neuen Maschinen verscheißt. "Ich lasse es ihr eben, auch
wenn es die andern nimmer haben." Er schaute zur Straße hinüber. Da sah
er, dass die Schneidermann Maria mit ihrem Schlepper dahertuckerte. "Diese
überständige Jungfrau", urteilte Bärlapper, "die sie dir neulich in
der Wirtschaft als eine gute Partie haben verbandeln wollen. Wie die auch
wieder ausschaut, wie ein Kerl, da oben auf dem Bulldog. Eine Kluft hat sie an
wie eine Vogelscheuche." Er vermutete noch, dass die einer Kuh in bloß
fünf Minuten ihre satten zwanzig Liter rausmelkt – "mit solchen Händen."
Er wollte gleich zur Seite schauen. Zu spät! Die Marie hatte ihn entdeckt und
sofort ganz freundlich herübergegrüßt, indem sie eine Hand vom Lenkrad nahm und
ihm zuwinkte. In seiner Überraschung salutierte er ihr mit der Mistgabel – und
hieß sich selber einen Blödmann.
Dann stach
er auf seinen Haufen ein.
"Eigentlich
ist es schade", meinte er. "Die braune Brüh von dem Mist dürfte nicht
wegrinnen. Die müsste ich eigentlich in die Odelgrube kriegen. Allerdings bin
ich da nicht der Einzige gewesen, dem der Odel weggeronnen ist im letzten
Winter."
Er fragte
sich, ob das seine Michi verstehen würde, und wuchtete einen Batzen nach dem
anderen auf den Anhänger.
"An
dem Gespann von der Schneidermann Maria ist eh nur der Traktor gut", ging
es ihm durch den Kopf, während er kurz verschnaufte. "Ein blöder Einfall",
verwarf er den Gedanken gleich wieder. Dann gabelte er wieder.
"In
der Stadt würden sie dir gleich vorm Gericht was anhängen mit der braunen Brühe
und dem Gestank. Deswegen gibt es in der Stadt keine Bauern mehr und wegen den
Bauplätzen ... Denn da wäre ja einer dumm, wenn er keinen Bauplatz hergäbe. Da
lebt es sich gut, wenn man Bauplätze hat. Da hast du deine Moneten. Die Alten
haben früher gewerkelt und sich geplagt, bis sie in die Grube gesunken sind.
Sie haben sich ihrer Lebtag lang auch gerade am Fressen gehalten mit dem bissl
Boden, den die meisten nur gehabt haben. Die Jungen verkaufen das Sachl und
haben ein gutes Leben, dass sie nimmer wissen, wohin mit dem Geld, denn das
haben sie dann doch nicht im Kopf und haben es nicht gelernt. Von wem auch
hätten sie es lernen sollen wie die Kaufleute. Denn mit dem Haufen Geld richtig
umzugehen, da reicht das Schlausein allein nicht aus ..."
Er hebelte
den Gabelstiel übers Knie und drückte, dass es knackte. Bärlapper ärgerte sich
über sich und prüfte, ob das Holz gebrochen war. Es hätte ihm leidgetan, weil
er den Stiel vor Jahren selber aus einem Ast von der Esche im Hof gemacht hatte
und das Holz doch bereits so schön blank poliert war durch die Hände. Doch es
war alles in Ordnung, so machte er weiter.
"Mei,
die Marie schaut ja in ihrem Dirndl, wenn sie es mal anhat, doch auch wieder
richtig fesch aus, aber ..." Jetzt hatte er das vorhin festsitzende Stück
Mist auf der Gabel und warf es hinunter. "... eigentlich ist es ja egal.
Denn man ist, wie man ist, und man hat das Recht dazu! Oder etwa nicht? Man
muss ausschauen dürfen, wie man ist."
Er begann
jetzt, eine Ecke des Haufens wegzugabeln. Er schaute einmal genauer hinunter,
um festzustellen, wie es um die Ladung stand.
Er stach
auf den Mist ein und gabelte, dass ihm der Schweiß triefte. Dann verschnaufte
er und holte sich die Flasche Bier vom Schlepper.
Weiter ging
es nach ein paar kräftigen Schlucken. Der Mist wurde allmählich feuchter und
schwerer. Es ging in die Knochen. "Das bist du vielleicht nicht mehr
gewohnt", sagte er sich. "Wenn du dich plagst bei der Arbeit. Ob es
immer gut ist?" Er verschnaufte. "Wie der Müller das da erst gesagt
hatte bei der Brotzeit, dass die Arbeit vielleicht kaputt macht. Durch die
Arbeit einen Wehdam, ein Leiden. Was sollst du da sagen?" Er machte
weiter.
"'Wo
Mistus, da Christus", überfiel ihn plötzlich wieder. "Ja, da schau
an!", wunderte er sich. "Ja so was! Was ist denn das alles. So ein
Durcheinander im Kopf: der Mist und die Marie mit Bulldog und Dirndl und jetzt
auch noch dieser Spruch ..."
Aus den
tiefer liegenden Schichten des Haufens dampfte es, eindringlich riechend,
ätzend fast. "Wie im richtigen Leben!", blitzte ihm durch den Kopf.
Er hatte Mühe zu atmen. "Du verschnaufst es nimmer", gab er sich zu
und legte Rast ein.
"Stinken
tut es ja, jedoch nicht so sehr wie die Gülle. Wo die von den Siedlungshäusern
immer maulen, wenn einer Gülle fährt und sie das riechen müssen. Allerdings wo
käme man da hin, wenn man sich da dreinreden ließe ", dachte er sich, während
er weitermachte. Ein Mistbatzen nach dem anderen klatschte unten auf. Dann war
die Fuhre fertig. Bärlapper sprang vom Haufen hinunter auf seinen beladenen
Streuer. Er stieg über die Anhängedeichsel zum Schlepper und fuhr an.
Hinaus ging
es, durch das Dorf, einen leichten, stechend riechenden Dunstschleier hinter
sich herziehend. Nachdem er die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte,
lehnte er sich auf seinem Schleppersitz entspannt zurück und schaute umher.
Sonne, blauer Himmel, ein paar Wölkchen, und von Süden her wehte der Föhn, dass
die Berge scharf umrissen waren.
"Alles
viel zu warm für die Jahreszeit! Das ist ja wieder typisch für uns hier",
stellte er fest, "es ist November – und sonst überall sicher nebelig, doch
hier vor den Bergen, da putzt der Föhn alles weg. Dann scheint die Sonne ab und
zu bis in den Dezember."
Draußen auf
seiner Wiese stellte er den Streuer an. Bald verfolgte ihn ein Schwarm Krähen,
der vom nahen Buchenwald am Schlossberg herbeigeflogen war. Die großen Vögel
pickten emsig ihre Leckerbissen aus dem Mist am Boden. Die dreisteren machten
sich auf der Fuhre zu schaffen.
Bärlapper
fühlte sich gut. Er schaute in der Gegend umher, während seine Maschine die
Arbeit erledigte. Er freute sich über die herbstlichen Farben. Die Kronen der
Bäume waren lichter geworden und gaben nun den Blick auf die Gebäude frei.
"Der
Herbst kann auch befreien", überkam ihn plötzlich. Er fühlte, dass das
eigentlich tiefer ging, wollte jedoch an dem Gedanken nicht hängenbleiben.
"Jetzt spinnst du", schimpfte er mit sich. Es ließ ihn trotzdem nicht
los: "... wenn etwas weniger wird, dann ..., ja was dann? – ... dann ist
man es los, wenigstens zum Teil. Wenn etwas zur Neige geht ... – Mein lieber
Schwan: Neige ... – Ja so was! Was ist denn das? – Wenn du bloß noch ein
Neigerl im Glas hast", versuchte er, sich herauszublödeln, "dann
kannst du dir ein frisches Bier kommen lassen und noch eines." Eine
Querrinne war zu passieren. Es rumpelte und schüttelte ihn durch.
"Manchmal
fällt einem so ein Zeug ein", entschuldigte er sich. "Gar kein
Wunder, dass manchmal einer zu spinnen anfängt, wenn ihm zu viel davon
einfällt."
Als der
Wagen leer war, stellte er den Motor ab. Er ging zu einer nahen Kuppe, die noch
zu seiner Wiese gehörte. Dort stand am höchsten Punkt eine mächtige Eiche. Er
setzte sich am Fuß des Baumes ins Gras und freute sich über den schönen Ausblick.
Die Berge schienen in der klaren Luft ganz nah zu sein, ja, man konnte an
solchen Föhntagen meinen, sie würden gleich hinterm Dorf aus dem Boden wachsen.
"Das Karwendelmassiv, haben wir in der Schule gelernt", erinnerte er
sich. "Vielleicht solltest du mal auf einen hinauf, mit der Michi, jetzt
wo sie alle auf den Berg gehen, die Augsburger und die Münchner – und die
Japaner", witzelte er sich hinterher. Er nahm den Hut ab und setzte sich
auf den Filz, weil es ihm von unten her kalt wurde.
"Ob
die Michi das überhaupt will? Wir wissen doch gar nicht viel voneinander,
eigentlich so gut wie gar nichts, bei der kurzen Zeit am Donnerstag immer und
mit ihrer Kirchenmusik." Er wunderte sich und schüttelte den Kopf so
heftig, dass es ihm ein wenig schwindlig wurde.
"Aber
alle, auf den Berg hinauf", dachte er. "Ganze Kolonnen auf der Straße
in der Frühe, dass du mit deinem Bauernfuhrwerk höllisch aufpassen musst und
besonders mit dem Viehzeug. Den Berg hinauf, und am Abend wieder alle zurück!
Lauter Irre!" Auch wenn es ihm merkwürdig erschien, nahm er sich vor,
Michi demnächst darauf anzusprechen und ihr sogar einen Vorschlag für eine Tour
zu machen.
Er warf
einen Blick in die Krone des Baums. "Herrgott, wie hat die Mutter für die
alte Eiche hier gekämpft, früher, als die von der Flurbereinigung die ganze
Landschaft ausgeräumt haben. Die spinnt doch, haben die Leut gesagt, damals.
Aber heute sagen sie, dass sie recht gehabt hat. Man muss nicht alles raushauen
aus den Feldern oder aus dem Wald auch nicht. Aber damals haben sie eine
maschinengerechte Flur wollen, wie es geheißen hat. Den Bach haben sie
schnurgerade gemacht. Alle Straßen, denn die sind ja, wie der erste Ochs
gepieselt hat, haben sie gesagt. Weil sie noch gewusst haben, dass der Ochs
beim Gehen brunzt und dass das deswegen ein Zickzack wird. Der Baum hätte
wegmüssen. Die Hammel von der Flurbereinigung. Mit ihren Bulldozern haben sie
rumgewerkt. Wie mit Panzern sind sie durch. Und die Mutter hat sich vor den
Baum gestellt: 'Du haust ab, mit deiner Säge!', hat sie den Arbeiter
angeschrien, 'sonst musst du mich gleich mit wegschneiden!'
Wenn man es
bedenkt, hat sie recht gehabt. Gerade der Baum hier oben. 'Den macht keiner von
euch um!', hat sie getrotzt, 'der bleibt stehen!'
Das ist
doch so schön hier. Wie oft haben wir bei der Heuernte wegen der Hitze unterm
Baum gehockt, bei der Brotzeit. Grad schön war es! Doch deswegen allein hat die
Mutter nicht um den Baum gekämpft ... Ob es wieder so ein Glauben war, wie das
mit dem Mond? Der alte Pfarrer hat ja seinerzeit gesagt: 'Die Eichen, das sind
heidnische Bäume!' – Und die Nazis mit ihrem Geschwätz von der deutschen Eiche,
wie man uns gesagt hat. Aber die Mutter hat doch nichts im Sinn gehabt mit so
was! Denn mit den Braunen hat man daheim nichts zu tun haben wollen, wo die
groß drauf waren. Da muss ich sie einmal fragen. Freilich, mit den Nazis hat
der Vater nichts am Hut gehabt und die Mutter gleich zweimal nichts, weil das
verrückte Heiden waren."
Bärlapper
stand wieder auf und ging zu seinem Fuhrwerk.
"Ich
sollte nur Bauer sein können, sonst nichts", fand er, als er später wieder
auf seinen Misthaufen stieg. "Das wäre gut. Nicht dauernd das und das und
alles ein wenig und nichts ganz. Plagen muss ich mich doch mit allem. Nichts
ganz, alles halb, aber am Ende kostet es mich doch alles. Überall ist mir das
Hemd zu kurz und es reicht nicht."
Er stach
heftig auf den braunen, zähen Grund ein, auf dem er stand. Er sank immer wieder
bis zu den Knöcheln ein. Er zerrte eine Gabel voll nach der anderen heraus.
Dann überkam ihn auch wieder das Gefühl, dass das alles hier nie weniger würde
– nie, das ganze Leben lang nicht – und dass es ihn festhielt. Auch war da
wieder der Einfall von vorhin, das mit dem Herbst "... der Dinge – o
Mensch!" Auch die Sache da mit dem Baum, und weil die Mutter so darum
gekämpft hatte, damals. "Musst halt fragen", bestimmte er sich,
"aber nach so was fragt man eben nicht.
Warum eigentlich nicht?"
Er merkte jetzt, dass er auf
solche Einfälle, die alles nur noch schwieriger machten, gar nicht eingestellt
war. Er schüttelte den Kopf über sich. "Arbeiten musst du", befahl er
sich, "dann vergehen dir die Flausen. Und wenn es sein muss – und es muss
ja eh immer sein –, dann musst du dir eine neue Arbeit suchen. Es gibt hier
überall genug zu tun. Und wenn ich selber nichts mehr zu machen habe, dann
gibt‘s die andern. Die sind froh, wenn ich ihnen was abnehme, möglichst
umsonst. Für ein Vergelt's-Gott vielleicht nur ..."
Immer wenn
er sich von der Stelle bewegen wollte, musste er seinen Fuß mit einiger Anstrengung
aus der klebrigen Masse ziehen. Es entstand ein schmatzendes Geräusch. Er
musste aufpassen, dass der Gummistiefel nicht steckenblieb.
Es war halb
zehn geworden.
"Geh
doch dann rein zum Brot", rief ihm die Mutter nach, als er wieder auf den
Schlepper kletterte.
"Aha",
dachte er, "jetzt hat sie endlich was gefunden." Er hatte die ganze
Zeit über gemerkt, dass sie dauernd irgendwo in seiner Nähe war, da und dort
herumgewerkte. Auf diese Weise waren die Hühner zweimal in den Genuss einer
Fütterung gekommen, und der Holzstoß sah gegen zehn noch ordentlicher gestapelt
aus als sonst und bei den Nachbarn überall. Die Mutter trieb etwas um.
Nachdem er
von dieser Fahrt zurück war, ging er in die Küche. Er trank ein Glas kalte
Milch und wollte sich über die heißen Kartoffeln hermachen, die in einem
kleinen Häufchen bereits geschält auf der blanken Tischplatte lagen.
"Hände
waschen!", hörte er vom Herd her, als er gerade nach so einer Kartoffel
greifen wollte. Er folgte, murrte vor sich hin und verließ für kurze Zeit die
Küche.
Als er
wieder hereinkam, saß die Mutter am Tisch. "Also hör zu, Hans!", fing
sie an, nachdem er sich hingesetzt hatte. "Du musst in die Stadt hinein
und mir einen Franzbranntwein holen!"
Er schaute
sie groß an, und sie schob sofort, ohne dass er hätte etwas sagen oder fragen
können, die Begründung nach: "Ich muss nämlich wieder einen
Franzbranntwein haben wegen dem Rheuma, nämlich zum Einreiben ..."
"Ach
Mutter", seufzte Hans, "jetzt hast du halt endlich einen Grund wegen
deinem Vollmond und dem Mist!" Er nahm eine Kartoffel, tippte sie in das
Salzhäufchen und begann zu essen.
Die Mutter
hatte nichts darauf erwidert, sie sah ihm zunächst schweigend zu, wie er aß.
Dann begann sie zu erzählen, dass ihr das Rezept wieder eingefallen sei, bei
dem Kiefernsprosse mit Franzbranntwein angesetzt wurden. Er solle ihr zum
nächsten Frühjahr welche bringen, wenn die Kiefern wieder angetrieben haben,
"jetzt ist es zu spät, die Triebe sind ja bereits verholzt. Im jungen
Trieb steckt die ganze Kraft."
Hans musste
lachen. "Also, dann brauchst du ja deinen Sprit auch erst im
Frühjahr", ärgerte er die Mutter.
Sie
murmelte, dass man sich ja auch so einreiben könne mit dem Franzbranntwein und
dass das vielleicht auch was nütze ...
Hans kaute
genüsslich und trank die Milch dazu. Dabei ging ihm auf, welche Möglichkeiten
noch in dem Auftrag steckten. Er hatte sofort einen Plan.
"Freilich,
Mutter, das mache ich", sagte er, "du kriegst freilich deinen
Sprit."
In der
Stadt wollte er seine Michi mit einem Besuch überraschen. "Vielleicht
lässt es sich richten, dass wir miteinander etwas unternehmen", dachte er
und kaute eifrig. "Sie kann doch auch mal frei kriegen in ihrer
Bierwirtschaft dort. Dann fahren wir wohin mit Michis Golf: An den Ammersee bei
dem schönen Wetter oder nach Augsburg oder auch nicht, denn dort hat es immer
Nebel um die Jahreszeit, vom Donauried her. Oder nach München vielleicht sogar,
da greift der Föhn ja oft als Wolkenschieber."
So bald
würde er dann nicht heimkommen wollen. Sogar in der bestickten schwarzen
Lederhose wollte auftreten und einem weißen Hemd ..." Da wird sie Augen
machen, wenn ich so daherkomme, so wie sie neulich gesagt hat, dass es ihr
gefällt."
Er stand
mit einem Ruck auf und verließ die Küche, auffallend beschwingt.
Die Mutter
meinte noch, dass er doch den Abfall in die Müllgrube fahren solle, wenn er
dann wieder daheim ist.
Er hatte
bereits die Hand an der Türklinke, blieb jedoch kurz stehen und drehte sich
noch einmal um: "Was sind das eigentlich für Leute dort in der Müllgrube?
Die sind da doch immer, wenigstens soweit ich mich erinnern kann. Dort in der
Baracke. Aber keiner kennt sie richtig, nicht mal wie sie eigentlich heißen!
Russen nennen sie alle."
Die Mutter
wunderte sich ein wenig. "Die sind nicht wie die richtigen Flüchtlinge
gleich nach dem Krieg gekommen. Da vom Osten her irgendwo", überlegte sie.
"Etliche Zeit nach der Währungsreform waren sie plötzlich da. In die
Baracken vom Krieg wurden sie gewiesen. Vielleicht dort reingesetzt vom Staat.
Mit denen hat niemand was zu schaffen haben wollen. Keiner weiß richtig, warum.
Fremde eben, denen alle immer und überall misstrauen. Doch warum willst du das
jetzt wissen?", fragte sie.
"Einfach
bloß so", sagte Hans.
"Die
sind auch nicht unter die Leute gegangen und in die Kirche auch nie!",
fuhr die Mutter fort. "Doch das ist bekannt: Gestritten und gerauft haben
sie da in ihren Baracken wie die Hunde. Saufen tun sie auch! Ich glaube, die
haben auch selber einen Schnaps gebrannt, jedenfalls haben das die Leute
behauptet. Wird was dran sein. Na ja, jeder wie er mag, wenn er nicht gleich
ein arger Hallodri ist. Zwei Frauenspersonen sind es und zwei Mannsbilder?"
"Jeder
wie er mag", bestätigte Hans. "Aber unter die Leute muss man schon
gehen!"
Dann machte
er sich davon, um sich stadtfein zu machen.
Sein
schönes Gewand sollte es heute tatsächlich sein.
Wieder
unten, machte er die Tür nur einen Spalt auf und steckte den Kopf herein:
"Essen gehe ich in der Stadt", rief er. Er schien in bester Laune zu
sein, es hatte jedenfalls ziemlich munter und zuversichtlich geklungen. Die
Mutter wusste natürlich auch gleich Bescheid.
Dann,
nämlich am frühen Nachmittag bereits, tauchte Hans wieder auf. Er stellte
seinen Einkauf, der nur aus der Flasche Franzbranntwein bestand, mit einem
unverständlichen Murmeln auf den Tisch und verschwand sofort wieder. In seiner
Kammer rang er mit sich, ob er seine Mistarbeit fortsetzen oder zum Wirt gehen
solle. Er hatte die Schuhe schon ausgezogen, die Hosenträger heruntergestreift.
Jetzt setzte er sich aber auf die Bettkante und sortierte noch einmal seinen
Kummer: "Die hat mich doch verdammt abblitzen lassen. Wie ein Trottel bin
ich dagesessen. Und sie ist immer gleich gesprungen, wenn einer nach der Resi
geschrien hat. So was Saublödes! Resi! Welche Bedienung lässt sich heute noch
so nennen? Als sie dann Zeit gehabt hätte, ist sie doch endlich mit mir hinauf
in ihre Kammer gegangen. Hinsetzen soll ich mich und still sein – und sie zieht
eine dicke Schwarte raus, und wie ich hinsehe ..."
Er
schüttelte immer wieder den Kopf.
"Das
darf doch nicht wahr sein!", jammerte er. "Sie hat eine Bibel – und
zu lesen angefangen." Er schüttelte wieder den Kopf. "Die Bibel haben
wir auch – im Küchenkasten drin. Aber da schaut auch die Mutter so gut wie nie
hinein. Die hat man eben, denn die ist geweiht. Was drin steht, das sagt der
Pfarrer. Was muss ich da selber lesen? Doch die Michi tut es. Wird womöglich
richtig fromm. So gottesfürchtig, dass sie dann alles, was sie tun will, erst
darauf untersucht, ob es nicht vielleicht sündhaft ist. So abgestanden. Gerade
deswegen, weil sie jetzt fromm wird, würde sie allerdings zur Mutter passen.
Aber wie es aussieht, ist da nichts drin damit!" Diese Gedanken kreisten
in seinem Kopf. Das schmerzte ihn alles. Es tat weh und würgte ihn am Ende
richtig, gerade so, als ob da Tränen kommen wollten.
"Das
ist ja das Letzte! Ich glaube, ich krieg mich nimmer: Diese Frau und die Bibel
und am helllichten Werktag ... Ja da verreckst!", raffte er sich markig
wieder auf. "In einem Bibelkreis wäre sie seit einiger Zeit und ein
Kapitel lesen müsste sie nun, sonst könnte sie heute Abend nicht mitreden. Und
ich hocke da wie ein Idiot und habe das Maul offen wie irr! Meine
Donnerstagbraut und der Bibelkreis! Ich wie der Ochs vorm Berg!"
Er
wechselte sein Festgewand gegen etwas Alltägliches.
Beim
Weghängen der Prachtstücke nannte er sich einen Hornochsen. Nachdem er sich den
Anschiss selber verpasst und auch weggesteckt hatte, fühlte er sich nicht mehr
ganz so elend.
"Überspannte
Geiß!", schimpfte er laut vor sich hin. Dann ging er hinunter und machte
sich aus dem Haus.
Als er auf
dem Hof war, fiel ihm ein, dass seine beste Kuh, die Liesl, bald so weit sein
dürfte. Das lenkte ihn noch weiter von seinem Elend ab. Er kehrte um, prüfte
den Zustand des Tiers. Dann knüpfte er einen Strick zum Halfter, nachdem er
gesehen hatte, dass Liesel richtig rindrig war. Er trat mit seinem Vieh den Weg
durchs Dorf und zum Stier an.
Dort
angekommen, musste nicht viel geredet werden. Der Kastlbauer brachte gleich den
Koloss von Bullen. Es war das vertraute Bild, wie der bucklige, für seine
fünfzig Jahre arg geschrumpfte Mann das Monstrum am Nasenring aus dem Stall
führte. Er ging mit dem Bullen erst ein paar Mal im Kreis herum. Der Stier
zerrte und drängte zur Kuh. Der Kastlbauer mühte sich an der Führungsstange ab.
"Lasse dir Zeit, Simmerl", redete er dem Bullen gut zu, "wenn du
dir Zeit lässt, macht es dann mehr Spaß!" Bärlapper, der mit der Kuh
dastand, rief er zu: "Da nimmt die Kuh mit Sicherheit auf. Und wenn du ein
Glück hast, dann gibt es gleich Stücker zwo Kälber! Aber ich weiß nicht, ob du
ein Glück hast", schränkte er ein. "Das weißt du ja sowieso, man darf
nicht gleich, wenn man will, das ist halt so im Leben und in der Liebe erst
recht!"
Bärlapper
ließ ihn reden. Das zitierte Leben mit dem Blick auf die Liebe ... Er kannte
zwar das Gerede vom Kastlbauer. Leben und Liebe aber! Jetzt beschwor es dem
guten Hans wieder seine ganze Betrübnis herauf. Um dem wenigsten ein wenig zu
entgehen, ließ er sich durch den Kopf gehen, wann das Geschwätz ihm gegenüber
begonnen hatte und wer und wie in dieser Weise tätig geworden war, der Schmied,
der Müller ... Das war wie eine Flucht nach vorne – mit dem Vorsatz, auf jeden
Fall Michi aus den Gedanken heraus zu bekommen. So hielt er sich an der
Altmännerbotschaft an die Jungen fest, die er kannte, seit er aus der Schule
war. Er wusste auch, dass das alle Burschen abbekamen, wenn sich nur immer die
Gelegenheit dazu bot. Es ging immer so, wenn allerdings sonst niemand zuhörte,
bis einer der auf diese Weise Aufgeklärten dann geheiratet hatte. Mal war es
lästig, dann auch wieder ganz anregend. Bilder ließ er sich durch den Kopf
ziehen, solche von angepriesenen Bräuten und vom Hochzeitslader, der immer auch
ein wenig auf den Kupplerpelz aus war ...
"Für
die Schecken gäbe es für das Kalb sowieso fast einen Hunderter mehr als für ein
braunes", hörte er den Kastlbauer wieder und sah, wie er sich immer noch
mit dem Fleischberg plagte. "Es ist ja richtig, wenn du meinen Stier auf
deine braune Kuh setzt", ging es außer Atem weiter, "dann kriegst du
halt vielleicht einen halben Hunderter mehr fürs Kalb."
"Will
ich hoffen", antwortete Bärlapper nur.
"Und
mit der künstlichen Besamung", keuchte der Kastlbauer herüber, "mit
dem Rucksackstier ..." Jetzt war er mit seinem Simmerl in der Nähe,
"du weißt schon, so hat man es genannt, weil der Besamer immer mit dem
Rucksack gekommen ist am Anfang von dem Blödsinn mit dem verdünnten Zeug drin.
Also mit dem Stier von der Station, ich weiß nicht. Da nehmen die Kühe schlecht
auf. Dann ist das Jahr rum und dir fehlen so an die paar hundert Mark, wenn die
Kuh umrindert. Aber ihr geht ja in die Arbeit und tragt Moneten heim, ihr
braucht ja das Geld vom Hof nicht, ihr Hobbybauern. Und dabei macht ihr uns den
Milchpreis kaputt, weil ihr auch noch schütten müsst, obwohl ihr es eigentlich
nicht braucht, sondern nur aus eurer faden Gewohnheit. Aber nichts für ungut,
Hans! Du weißt ja, wie schwer man sich tut heutzutage als Vollerwerbsbauer, wie
sie einen nennen heute ..."
"Lasse
ihn reden", dachte sich Bärlapper, "vor zwei Jahren ist ihm die Frau
gestorben, und der Sohn ist nach einem Streit vom Hof weg und in die Arbeit auf
dem Bau."
"Wie
kommst du denn zurecht?", fragte Bärlapper.
"Geht
schon – wenn du weißt, wie es geht, wenn du nicht weißt, für wen dass es gehen
soll!", war die Antwort, und er ließ jetzt den Bullen steigen.
"Wenn
wir zwei schon nichts haben, gell, Bärlapper, nachher soll unser Vieh
wenigstens sein Vergnügen haben!", murmelte der Kastlbauer, während sie
warteten, bis der Stier die Rute bei der Kuh untergebracht hatte. Ein Ruck –
und die Männer gingen etwas zur Seite. Die Kuh war durch die Wucht des Sprunges
einen Schritt nach vorne gedrängt worden.
"So,
jetzt hast wieder für ein Jahr eine Ruhe, Marie, oder wie dich der Bärlapper
nennt", redete der Kastlbauer zur Kuh gewandt daher – und nuschelte dann
vor sich hin, während er mit seinem Stier abzog, dass das ja auch nicht gerade
die wahre Erfüllung sei, alle Jahre wieder und dann in zwei Sekunden ...
"Servus",
rief Bärlapper und machte sich auf den Heimweg. Während er so im Tempo seiner
Begleiterin dahintrottete, überlegte er, woher der alte Bauer dieses "die
wahre Erfüllung" haben konnte, "ja so was, und wie sich das anhört
bei dem, vielleicht liest der in einem Roman, wo das vorkommt. Die wahre
Erfüllung! Respekt!" – und war sofort wieder bei seiner Michi. Von der
hatte er das auch einmal gehört, fiel ihm ein. Bei der passte so ein Ausdruck
doch eher in die Sprache. Jetzt schon gleich gar, meinte er, jetzt wo sie
anscheinend ... Doch mit diesem Gedanken an die Michi hatte er sich wieder
wehgetan. Er schlug der Kuh eine mit der flachen Hand aufs Hinterteil, um
schneller heimzukommen.
Mit der
Besorgung am anderen Ende des Ortes war doch fast eine Stunde vergangen. Nun
machte sich Bärlapper auf den Weg zum Wirt, um daheim nicht seiner Grübelei
ausgeliefert zu sein.
"Na,
der Flaschenhansl", begrüßte ihn der Oberlehrer dort. Der hockte als
einziger Gast da. Bärlapper passte diese Anrede nicht, doch er wollte sich
nichts anmerken lassen. Der Alte schien leutselig und noch gar nicht so voll zu
sein. "Na gut", meinte Bärlapper bei sich, "sieh es ihm nach, da
kriegst du vielleicht eine Unterhaltung, ohne dass du dich selber anstrengen
musst mit deinem Gram. Auch wenn es vielleicht auch wieder zu irrwitzig
gescheit wird, bei dem. Jedenfalls lenkt der dich ab von deiner
Kümmernis."
Der Alte
schaute Bärlapper listig grinsend von oben bis unten an. Als Bärlapper sein
Bier hatte, fragte er ihn: "Weißt du, lieber Hans, warum ein Narr der
Heiligkeit sehr nahe ist?"
"Ja,
das geht ja gut los! Was ist denn das für eine saudumme Frage?", fand
Bärlapper bei sich, versuchte allerdings, wissbegierig dreinzuschauen.
"Also,
niemand anderer als ein Narr kann ein Heiliger werden. Die Welt, die arge, gibt
das nur auf diese Weise her! – Prost", unterbrach der Lehrer seinen
Vortrag und stieß mit Bärlapper an.
"Was
spinnt der denn, auch wenn er noch gar nicht richtig voll ist?", staunte
Bärlapper.
Der Alte
fuhr gleich fort: "Also, das ist mir heute eingefallen. Und das ist so:
Der einfache Narr ist der Heiligkeit immer sehr nahe, weil er richtig, ehrlich,
ungehemmt fühlt. Er fühlt tief – verstehst du? –, was andere zu wissen glauben.
Und das ist auch bereits bald der ganze Witz! Weißt du, so richtig von Herzen
fühlen, das ist ja etwas anderes, als das Fühlen so etwa in der Magengegend. Obwohl
die zwar ganz in der Nähe vom Herzen ist. Hingegen kann dieses Fühlen in der
Magengegend nämlich leicht nur bloß ein Furz sein. Einer, der da um die Kurve
saust und ein angenehmes Gefühl auslöst in der Hoffnung auf Befreiung und Verschwisterung
mit der freien Atmosphäre. Und wenn er – der einfache Narr jetzt wieder! – was
nicht fühlt, fragt er auch erst gar nicht danach. Wenn ich es aber richtig
besehe, dann muss ich feststellen und es dir verraten, dass ich natürlich jene,
die alles zu wissen glauben und nur dieses gelten lassen, für die uneinfachen
und damit gefährlichen Narren halten muss. Und das ist so, weil sie um ihre
Dummheit nicht wissen, was ja im Leben wichtig wäre: Ich weiß, dass ich nichts
weiß." Er legte eine kurze Pause ein und fuhr dann damit fort, dass er Bärlapper
mit so etwas nicht habe erschrecken wollen. Eigentlich sei es sonst so, dass er
das wegspüle, wenn ihn so ein Wust ankomme. Denn das Leben sei allemal, soll es
einigermaßen gelingen, ein zu Handhabendes und nicht zu Bedenkendes. Dann
klopfte er Bärlapper auf die Schulter und meinte leutselig: "Das habe ich
immer an euch denkbaren Heiligen in der Schule so bewundert und war bemüht,
euch eure Fühligkeit möglichst unangetastet zu lassen und nicht etwa durch
schädliche Hirnfüllung zu vertreiben. Das, mein lieber Junge, ist die wahre
Bildung!"
"Was?",
brachte Bärlapper nur heraus – meinte jedoch: "Der Schwätzer ist sogar
nüchtern ganz besoffen." Den Alten blickte er stirnrunzelnd an. Der hatte
sein Glas erhoben und lachend "Prost" gerufen.
"Da
möchte ja jeder glatt so ein einfacher Narr sein!", gab sich Bärlapper
Mühe. "Ein Narr möchte man sein, wenn das so einfach ist und man obendrein
noch heilig wird!"
"Wenn
es so leicht wäre, ein richtiger Narr zu sein! – Doch das Schönste kommt
noch", ging es beim Alten weiter: "Durch diese seine eben
dargestellte Zurückhaltung ist ihm, dem einfachen Narren, sicher, dass er sich
nie von sich selber wegbegibt, sich nie von sich selber entfernt."
Der Alte
hatte dazu bedeutungsvoll genickt. Jetzt erhob er den Zeigefinger: "Was
hinwiederum die allererste Voraussetzung ist, sich selber zu bejahen, ja, sich
selber zu lieben. Ja, ja, andere zu lieben – den lieben Gott vielleicht sogar
zu lieben! Stelle dir das nur vor!"
Er hatte
allerdings Bärlapper mit dieser Wendung zur Liebe hin sozusagen Salz in die
frische Wunde gestreut. Bärlapper trank, ohne weiter zuzuhören, in tiefen
Schlucken sein Glas leer und bestellte in die Rede des Alten hinein ein neues,
das er ebenso schnell leerte.
Der Alte
zog mit Bärlapper immer gleich und dozierte ansonsten vor sich hin, dass sich
in diesem geschlossenen Kreis des Fühlens durchaus auch einmal Vollkommenheit
entwickle.
"Noch
ein Bier", schrie Bärlapper zur Wirtin, die am Tresen herumwienerte.
"Scheiß Weiber", brummelte er vor sich hin – und hoffte auch gleich,
dass es die Wirtin nicht gehört hatte. Weil dann auch von dieser Seite her ein
Wortschwall auf ihn eingeprasselt wäre. Vermutlich zur Verteidigung der gesamten
Frauenwelt – was er jetzt gleich gar nicht ertragen hätte. Er schüttete sein
Glas in einem Zug in sich hinein. "Und ich", irrlichterte es bereits
in seinem Kopf, "der ich über die Narren, die über die Frauen – oder
..." Es war ihm jetzt eigentlich alles egal.
Bärlapper
saß da, während es neben ihm noch tönte, und glotzte in sein Glas, nahm tiefe
Schlucke, bestellte neu ...
So hatte
der Oberlehrer den Bärlapper noch nicht gesehen. "Der scheint zu
planen", vermutete er, "sich einfach volllaufen zu lassen. So, so. Da
stößt womöglich wieder einer", nahm er an, "zur feuchten Gemeinde der
Alkoholgläubigen."
Dann kam
der Görer Naz. Die anderen von der Stammtischrunde waren auch bald da. Sie
begriffen sofort und redeten verständnisvoll an Bärlapper vorbei, dass jeder
mal einen Moralischen bekomme oder sonst etwas wegspülen müsse. Dass da das
Bier eben am bekömmlichsten sei. Dass man bei so einer Arbeit, wo man was
runterspülen muss, mit seiner angestammten Marke auch am besten dran sei.
"Dass die Leber das am besten kennt und nicht gleich kaputt wird",
meinte der Naz. Der Sacklbauer setzte drauf: "Was man gewohnt ist, das
schadet einem nicht so leicht. Da sagt die Leber bei jedem Schluck, der im
Kanal an ihr vorbei rinnt: Aha, grüß Gott, du süffiges Ritzlinger
Schlossbräu!" Sie freuten sich, hatten ihr Glas und prosteten sich zu.
Bärlapper
hörte dann den Görer neben sich und dass der wieder wegen seinem Bauernsachel
auf ihn einredete. Etwas von Dummheit und Plagerei und wenig Geld bekam
Bärlapper doch noch mit. Dass ihm etwas vorgerechnet wurde, hörte er:
"Schau, wie viel Milch schüttest du denn jetzt? So dreißig Liter? Das nimm
mal sechzig Pfennig, aber das ist ja gut gerechnet! Was kriegst du dann am Tag,
Mensch Kerl? Ha? Ich sage es dir: So zwanzig Mark – und die gehören dir nicht
einmal ganz, denn davon geht auch noch was weg. Für die paar Pfennige arbeitest
du!"
"Du
Rindvieh! In der Mahlzeit dreißig!", lallte Bärlapper. "Ich muss
jetzt heim ...", damit sank sein Kopf mit einem dumpfen Schlag auf den
Tisch. Die anderen nickten verständnisvoll. "Deine Mutter, die gute Frau,
die arme, die kriegt ihrer Lebtag keine Ruhe mit dem kleinen Hof und dem Haufen
Arbeit. Jeden Tag bist du mit deinen paar Kühen angehängt. Dann mache doch
lieber nur deine Flaschen zu!", versuchte es der Görer noch.
"Wir
machen sie ja wieder auf!", rief der Socher dazwischen, "Prost!"
"Wenn
du eine Ahnung hättest!", brachte Bärlapper noch raus. Doch das hörte
keiner mehr. Sie unterhielten sich, berichteten, wie sie es gemacht hatten mit
ihrem Minibauernhof und der Plackerei und heute noch wieder machen würden –
vielleicht nur noch ein bissl schlauer – und lachten.
Bärlapper
dämmerte es noch, dass jetzt eigentlich Stallzeit sei. Er versuchte
aufzustehen, stützte sich auf den Tisch, stemmte sich hoch. Doch er kam nicht
weit und sank auf den Stuhl zurück.
Die anderen
kümmerten sich nicht weiter um Bärlapper und ließen ihn in Ruhe. Sie spielten
Karten. Der Görer merkte dann doch irgendwann, dass Bärlapper weg war. Sie
wunderten sich, dass ihnen das nicht gleich aufgefallen war. "He,
Bärlapper Hans!" Sie schauten umher, bis der Socher mit dem Fuß an etwas
Weiches stieß. "Herrgott!", rief er und schaute unter den Tisch,
"da liegt der ja und tut keinen Muckser!"
"Ja,
da schau her!" Sie holten Bärlapper unterm Tisch hervor und legten ihn auf
eine Bank an der anderen Ecke der Stube. Von dort war bald ein lautes
Schnarchen zu hören und untermalte als Begleitung ihren Kartenlärm.
Als sie
spät am Abend aufbrachen, erinnerten sie sich an Bärlapper. Sie packten ihn –
selber nicht mehr ganz im Lot –, packten ihn, einer hinten, zwei vorn. Der
Lehrer befehligte den Trupp: "Hauruck, zugleich!" Damit wuchteten sie
ihn auf ihre Schultern.
"Sakrisch
schwer ist er, der Bärlapper", stöhnten sie, "seine zwei Zentner hat
er, und jetzt ist der Kerl auch noch voll wie ein Schwamm!" Sie hatten
weiter mit dem eigenen Gleichgewicht zu ringen. Dann ging es hinaus. Kaum
draußen, fühlten sie so ziemlich zur gleichen Zeit, dass sie etwas bedrängte.
Sie legten Bärlapper noch einmal – und nicht gerade sanft – auf der Straße ab,
um sich gleich daneben zu entleeren. Es plätscherte, begleitet von wohligem
Stöhnen. Bald rannen ein paar kleine Bäche die Straße hinunter. Unter Kommando
des Oberlehrers: "Links zwo, drei, vier!" und mit Lachen und lauter
Manöverkritik ihres Kartenspiels: "Hättest du deine Schellsau gleich
ausgespielt ...", ging es dann durchs Dorf. Schließlich erzählten sie sich
auch Geschichten vom Wasserlassen, dass das früher eben immer so war, weil alle
nur ein Bretterhäusl an der Mistgrube gehabt hatten daheim, wo die Frauen
hinein sind und kein richtiges Mannsbild, was immer schon das Wasser im freien
Fall abgelassen hatte ... Aber im Sommer, da habe es doch manchmal ein wenig
scharf gerochen um das Wirtshaus herum, wenn am Montag die Sonne den ganzen
feuchten Segen vom Sonntag angegrinst habe und der Dampf aufgestiegen sei ...
Bärlapper rutschte ihnen etliche Male von den Schultern, aber sie hatten ihren
Spaß und brachten ihn doch ziemlich unbeschädigt heim. Beim Bärlapperhof verebbte
das laute Palaver, fast schlichen sie und legten Bärlapper, diesmal sogar
behutsam vor der Haustür ab. Dann machten sie sich schnell aus dem Staub, denn
von der alten Bärlapperin wollte sich keiner den Kopf waschen lassen.
"Wo
man noch Rosse gehabt hat", ging es in einiger Entfernung weiter, "da
wurden die Besoffenen im Misthaufen eingegraben, dass nur noch der Kopf
ausgeschaut hat", wusste der Socher vom Großvater. "Dann haben sie am
anderen Tag, wenn sie wieder aufgewacht sind und wenn sie es überlebt hatten,
kein Schädelweh gehabt", wollte er gehört haben.
"Das
Ammoniak hat das rausgezogen", behauptete der Lehrer. "Vielleicht
haben sie danach ein wenig streng gerochen. Allerdings davor auch bereits. Denn
so feine Nasen haben sie früher eh nicht haben dürfen, weil da jeder seine
Ausschwitzung hinter sich und um sich rum gehabt und nachgezogen hat
..."
Sie blieben
in einiger Entfernung vom Bärlapperhof stehen und berichteten sich noch, laut
durcheinander, von großen Festen, schweren Räuschen und was sonst noch so alles
an feuchtfröhlichen Ereignissen. Dem Görer fiel noch ein, dass sie den Simbacher
vom Oberdorf an Kirchweih auch so heim transportiert, aber im Stall in den
Barren gelegt hatten, "dass ihn seine Kühe abgeschleckt haben die ganze
Nacht über oder was noch davon übrig war!"
"Das
Gewand habt ihr ihm vom Leib gezogen", wollte sich der Oberlehrer erinnern
können.
Das jedoch
stritt der Görer entschieden ab und betonte, dass das – wenn der Simbacher
schon nackt war, was er auch gehört habe, – ein anderer gemacht haben musste,
"denn solche Sauigel sind wir nicht und haben doch noch eine Moral!"
Weil aber der Alte auf seinen Worten beharrte, nahm der Streit noch an
Lautstärke zu, freilich, ohne zu einem Ergebnis zu führen.
Da wurde
ganz in der Nähe ein Fenster aufgerissen. Gleich kreischte eine Frauenstimme
aus der finsteren Nacht: "Ruhe muss endlich sein, versoffenes Gesindel,
ganz versoffenes!" Ein Husten bellte dem hinterher, und gleich ging es
weiter: "Das Maul halten, ihr Halunken, ihr ganz lumpigen!"
Da stellten
sie ihr Gezänk ein und zogen ab.
8
Der
Braumeister stand in der Abfüllerei, als Bärlapper zur Arbeit kam. Bärlapper
wunderte sich über diesen frühen Besuch.
Mit einem
kurzen Grüß-dich ging er in den Aufenthaltsraum, um seine Tasche mit der
Brotzeit drin abzustellen. Er wunderte sich und meinte: "Der muss doch
heute was haben, der schaut ja aus, wie wenn er saumäßig schlecht drauf wäre.
Vielleicht hat er gestern auch einen Fetzen gehabt, so wie ... – verdammt, die
Mutter heute in der Früh, und der Schädel dazu!"
Als
Bärlapper dann bei seinen Apparaten war, sprach ihn der Braumeister gleich an:
"Es ist eine Ladung von neuen Fässern eingetroffen. So etwas Neues, wie es
die Andern bereits lange haben und besonders die großen Brauereien und weil wir
in der Zeit weit hinten sind und wo wir doch aufpassen müssen, dass wir nicht
auf der Strecke bleiben, weil das heute ganz brutal ist. Die Fässer müssen
schnell und so bald wie möglich runter vom Laster ..." Er fingerte an
einem Hebel herum und schien vergessen zu haben, was er noch sagen wollte.
"... nämlich der Laster kostet ein Schweine Geld pro Stunde", fuhr er
doch fort und schaute an Bärlapper vorbei. "Das ist ein riesiges Fahrzeug,
so ein Dreiachser. Auf alle Fälle kostet er eine schöne Summe die Stunde. Da
müssen wir zusehen, dass er wieder vom Hof kommt. Du verstehst,
Bärlapper?" Er schaute ihm jetzt in die Augen und fuhr dann wie zur
Entschuldigung fort: "Es kostet ja alles immer mehr, heutzutage, und da
kannst du gar nichts machen, verstehst?"
Bärlapper
verstand noch nicht ganz, worauf der Braumeister eigentlich hinauswollte,
nickte aber zustimmend.
"Das
Moderne frisst alles auf – jedenfalls das Alte, auch das gute Alte", ging
es weiter. "Und du hilfst beim Abladen, Bärlapper, gell?"
Dann ging der
Braumeister weg, ohne Bärlapper noch einmal anzusehen. "Wenn es nicht
gleich gar die ganze Zeit frisst, das Neumodische ... ", hörte Bärlapper
noch.
"Ja,
das ist so", stimmte Bärlapper zu.
Die
Abfüllanlage ruhte also, und das Band blieb außer Betrieb.
Bärlapper
machte sich gleich auf den Weg. Am Brunnen, der sich in der Mitte des Gevierts
befand, stolperte er über die untere Treppe, so dass er beinahe hingefallen
wäre. Er blieb einen Augenblick stehen, als er sich wieder gefangen hatte. Da
ging ihm anscheinend ein Licht auf: "Das ist ja tatsächlich was
Neues", wunderte er sich. "Das ist ja ganz was Sonderbares, dass ich
was anders machen muss! Dass ich an meinem Platz nicht mehr unabkömmlich
bin?"
Er ging
nachdenklich weiter.
"Wird
schon nichts sein ... ", beruhigte er sich.
Weiter
wollte er es auch nicht treiben mit Betrachtungen. Denn hier an der frischen
Luft setzte ihm sein Brummkopf vom gestrigen Versuch, den Liebeskummer zu
ersäufen, wieder zu. Er wollte diesen Körperteil also nicht unnötig traktieren.
Am Laster
traf er neben den Ladern auch noch etliche, die anscheinend ebenfalls
hinbeordert waren. Man grüßte sich nur kurz mit einem kaum merklichen
Kopfnicken.
Die
Stimmung war nicht gut. Da lag so eine Ahnung in der Luft. Er war sofort an der
Reihe, ein Fass aufzunehmen. Bevor er zupackte, warf er einen Blick in den
Laderaum. "Richtig silbrig und glänzend", stellte Bärlapper fest,
" nobel, nobel! Und gleich so eine Menge von dem Zeug!" Dann ging er
mit seiner Last hinter den anderen her ins Lager.
"Mei,
die Herrschaft und die ganze Verwandtschaft von denen, die sind ja auch so
nobel", hörte er hinten, "so nobel-glänzend. Da tun es freilich die
windigen Holzfässer nimmer, da müssen sie eben was Silbriges haben, weil es die
andern schon lange haben!"
"Heu,
du bist ja auch da", wunderte sich Bärlapper, als er wieder am Laster war.
"Geht
es dich was an?", knurrte der Müller.
"Da
schau her, der Müller Seppl, so, so!", machte Bärlapper weiter, "gibt
es in der Mälzerei nicht viel zu tun, dass sie dich weggeschickt haben?"
"Packs
an und hau ab mit dem blechernen Zeug, Bärlapper", giftete der Müller.
"Pack zu, dass der Schrott hier ins Lager kommt!"
Hinter ihm
warteten bereits ein paar Männer. Er nahm wieder so ein Blechding auf und ging
weg.
"Alu
ist es", erklärte der Luis im Lager, "jetzt steigen sie um auf Alu,
gerade so wie eine Bierfabrik! Nichts mehr Holz, das ist altmodisch! Nichts
mehr ist, wie es war. Keiner weiß es, wo es hinführen soll und wofür es gut ist
außer fürs Praktische zum Saubermachen. Und wie das Bier dann schmeckt aus so
einem toten Blech, wo das Bier doch ein Leben hat und was schier Lebendiges
ist!"
Die Kolonne
zog eine ganze Weile missmutig dahin. Man hörte nichts mehr – außer dem
Scheppern des Blechs, das bisweilen auch etwas unsanft abgestellt wurde, und
ein paar Flüchen.
"Was
ist denn das für eine Welt?", schimpfte der Huber Xari dann doch einmal.
"Das Bier saufen sie bald gar nimmer aus Flaschen und Krügen, sondern bloß
noch aus Blechbüchsen und Plastikhaferl! Ja, pfui Teufel!"
Gleich
darauf plumpste eine von diesen silbern glänzenden Neuheiten von der Rampe und
schlug mit einem dumpfen Dröhnen am Boden auf. Als sie es hörten, blieben die
Männer wie auf Befehl stehen, wendeten sich mit einem Ruck der Bescherung zu
und warteten gespannt ab. Das leere Blech bewegte sich vom Laster erst langsam
weg und nahm allmählich richtig Fahrt den abschüssigen Hof hinunter auf. Keiner
der Zuschauer rührte sich von der Stelle, um das Ding vielleicht zu stoppen.
Der silberglänzende Zylinder rollte, wurde allmählich schneller und schneller.
Mit der Geschwindigkeit steigerte sich auch das hohle Scheppern. Sie schauten
der Blechwalze interessiert nach, wie sie dröhnend hinunterwalzte und durch
zunächst kleinere Unebenheiten immer wieder ein wenig emporgeschleudert wurde.
Die Talfahrt erzeugte bereits richtig Lärm. Die Spannung stieg, und die Männer
hatten ein saures Grinsen im Gesicht. Bald wurde das laute Stück von größeren
Steinen alle paar Meter zu einem Luftsprung hochgeschleudert, wieder am Boden
aufknallend und seinen Weg fortsetzend, mit jedem Schlag in eine andere
Richtung getrieben, da hin und dort hin und wieder geradeaus weiter. Dieser
Zickzack ging eine ganze Weile. Die Männer schauten immer noch gebannt
hinterher, fragten sich, wo es denn enden würde: Knallt es dort unten gegen die
Mälzerei? Geht es noch eine Zeit so weiter und auch weiter hinunter – ab ins
Dorf vielleicht? "Ja, eine Gaudi wäre es dann, und was habt ihr uns denn
da runtergelassen, von euch da droben, aber leer war es, ihr Geizkrägen ihr neidischen!",
würde es dann wohl heißen. Aber eine Gaudi wäre es ja. – Noch ein paar Haken,
noch ein paar Sprünge, und das Blechgeschoß prallte nun doch auf. Fast wie ein
Donnerschlag hallte es von der Mauer herüber. Da nickten die Männer zufrieden
und machten jetzt irgendwie beschwingt weiter.
"Und
wenn die Blechigen da einmal hin sind", meinte der Marxer später,
"die werden ja auch irgendwann mal hin, dann kann man sie den Russen da in
der Müllgrube andrehen. Die verscherbeln es. Die machen ein Geld daraus. Und
die haben vielleicht überhaupt ein Geld und niemand von uns weiß was davon. Die
lachen uns aus mit unserer Schufterei hier! So arme Teufel, wie wir sind. Die
stinken da in dem grausigen Loch da herum und machen aus dem Dreck ein Geld, wo
unsereiner hier schuftet zum Kaputtwerden für die paar Mark!"
Niemand
bemerkte zwar dazu etwas, doch alle waren einen Moment stehen geblieben, als
müssten sie darüber nachdenken.
"Angefangen
mit dem Hinwerden von dem verdammten Blech hat es ja bereits", kam wieder
vom Marxer, der auf das Fass an der Mauer unten deutete. Sie waren es
zufrieden.
"Ah,
habt ihr es gehört", setzte der Marxer nach, "habt ihr es gehört, wie
die Russen wieder umgehauen haben gestern in der Nacht? Der Jäger hat es
erzählt, der ist da vorbeikommen, wie die wieder gerauft haben. Rumgeschrien
haben sie, einander nachgerannt durch die Müllgrube mit Prügeln in den
Händen!"
Sie hatten
jetzt wieder Worte. Jeder, der etwas dazu beitragen wollte, musste richtig
schreien, damit es alle hören konnten: "Richtige Gratler sind es",
rief der Huber Willi und fuhr fort, als er merkte, dass alle seiner Meinung
waren: "Eigentlich müsste man sie rausschmeißen aus der Gemeinde. Wegen diesen
Russen heißt man uns noch das Russendorf bei den ganzen Nachbarorten umeinander
und der ganze Ruf ist hin von uns!"
"Einen
Russen lasse ich mich nicht heißen!", war vom Lager her zu hören.
Sie trugen
ihre Last und schimpften vor sich hin: "Sauerei", war immer wieder
mal zu vernehmen. Das befreite offenbar, und die Schritte wurden ihnen
leichter.
"Die
Baracken einfach einmal aufbrennen. In der Nacht!", rutschte einem raus,
doch so, dass niemand richtig ausmachen hätte können, von wem es gekommen war.
Sie nickten jedoch zustimmend vor sich hin.
"Ist
saumäßig feig. Aber egal, wer das gesagt hat", meinte Bärlapper bei sich.
"Denn wenn es doch einmal passiert und es aufbrennt, dann musst du es
nicht sagen, wenn du es nicht gewusst hast, von wem es gekommen war. Du
brauchst dann keinen hinhängen bei der Polizei."
Sie dachten
nach, während sie hin und her gingen. Ein Feixen hie und da.
"Einfach
mit einer Schubraupe in die Grube hinunter die Baracken, mit samt dem
Russenpack und ihren Hunden!" Klang es wieder so mit ungewisser Herkunft
aus dem Lager.
Die
Stimmung hellte weiter auf. Bald marschierte die ganze Kolonne beschwingt.
"Recht
wäre es ja, aufräumen muss der anständige Mensch – und in der Gemeinde auch
", dachte dann der Luckner, der in
der Kirche immer den Vorbeter machte, laut. "Bloß machen darf man es nicht
auch mit den Leuten. Wegen der Polizei und weil man schließlich doch auch ein
Christenmensch ist. Einer, der das heutzutage nicht mehr macht. So wie früher
oder irgendwo auf der Welt, wo sie sich heute noch abschlachten, schlimmer als
das Vieh."
Der Laster
war dann bald entladen. Sie standen noch ein wenig beieinander, zündeten sich
eine Zigarette an, tranken eine Flasche Bier. Da kam der Marxer plötzlich
drauf, dass sich mit den neuen Fässern ja etwas auf jeden Fall ändern würde:
"Dass jetzt der Fassmacher, der Schäffler, nämlich der Summerer Xari,
einpacken kann. Irgendwann jedenfalls, weil ja niemand von ihnen eigentlich
weiß, wie radikal die Umstellung auf das Blechzeug geht."
"Ja,
das ist eh ein Beruf, den du vergessen kannst, denn in München drin gibt es
zwar noch den Schäfflertanz, wo sie alle hinrennen, um ihn anzuschauen. Schön
ist der ja, und nicht nur Amis und Japanern gefällt der. Aber den ziehen sie
ziemlich sicher immer ohne Schäffler ab, weil du bestimmt nirgends mehr einen
findest."
Da waren
sie sich einig und nickten bedächtig.
"Na
ja, da kann ja der Xari hingehen nach München und sich als Berufstänzer
anstellen lassen", schlug der Luckner vor und lachte seinem Einfall
hinterher.
"Das
gäbe ja eine Gaudi, wenn der steife Kerl da auf dem Marienplatz in München
umeinander hupfen würde", sagte der Müller bissig. "Wie ein Tanzbär.
Die Stadtleute, die täten sich freuen, dass sie wieder ein echt bayrisches
Original irgendwo rausgezogen haben aus der Provinz, von uns da aus Ritzling.
Einer, der ihnen wieder den Affen macht so wie die Hans Wurste in ihren
Bauerntheatern. Und die Touristen, die werden eigentlich beschissen. Die
kriegen doch nie mit, wie es eigentlich wirklich ist. Doch die wollen das eh
nicht anders. Denn wie es wirklich ist, das ist gar nicht immer so schön und
lustig."
Sie nickten
und schauten grätig vor sich hin.
"Bloß,
wie ich den Xari einschätze", meinte der Marxer dann und trat seinen
Zigarettenstummel aus, "da geht der auf Rente. Alt genug ist er wahrscheinlich
eh, und dann raucht der seinen Stumpen und sauft seine Maß und lässt sich
kreuzweise lecken!"
"Herrgott,
den Rentner machen", murmelte der Müller vor sich hin, "das wäre eine
Sache! Nichts mehr tun müssen und den andern zuschauen, wie sie sich abrackern
für das lumpige Geld!"
"Und
den anderen schlaue Ratschläge geben", wollte Bärlapper eigentlich beisteuern,
er ließ es jedoch, weil eh genug rumgeredet war.
Sie gingen
zu ihrer Arbeit zurück.
Dann stand
Bärlapper wieder an seinem Band, und die Flaschen zogen wie immer an ihm
vorbei.
Als später
der Braumeister einmal vorbeischaute, merkte Bärlapper, dass sein Gesicht immer
noch so fad war wie am Morgen. Um ihm eine Freude zu machen, fragte Bärlapper,
ob er denn nun die Kästen von den Apparaten anstreichen soll. Weil er nicht
sofort Antwort erhielt, fing er wieder damit an, dass die Maschinen noch so
tadellos in Schuss seien und nur so schäbig aussähen, was aber täusche. Der
Braumeister wandte sich beinahe ruckartig von Bärlapper ab und redete im
Weggehen etwas von Farbgeruch und dass zu befürchten sei, dass der aufs Bier
übergeht und dass man deswegen das Zeug nur scheinbar hat vergammeln lassen,
aber eben nicht in Wirklichkeit. Dann war er verschwunden.
"Der
hat halt einen Grant", entschuldigte ihn Bärlapper bei sich. "Oder
der hat gerade einen Spinnerten. Warum soll so einer, der die ganze Verantwortung
trägt, nicht auch mal durchhängen dürfen. Denn von denen da ganz oben lässt
sich ja doch keiner sehen. Die kommen doch nur zum Abkassieren für ihr teures
Leben, weil sie so nobel sind. Und wenn das Bier mal nicht schmeckt und die
Leute mäkeln, dann muss der Braumeister den Kopf hinhalten. Die arme Sau."
Darauf war
alles wieder gut für Bärlapper.
Die Tage
vergingen dann im gewöhnlichen Einerlei. In einer Pause hatte lediglich mal
einer berichtet, dass man einen Betriebsrat gründen wollte, ja, dass man
bereits daran bastelte. Die Männer wussten mit Betriebsrat nichts anzufangen.
Es klang auch so fremd oder geschraubt oder ungemütlich oder sonst irgendwie
so, dass man nichts darüber wissen wollte. Aber es war allen gleich klar, wer
das nur wieder sein konnte, der so was anzettelte, nämlich der Müller Seppl und
seine Politischen, "die windigen Hunde", von denen alle längst wussten,
dass sie was aufmachen wollten im Ort. Dass das nichts Rechtes war, wo man
hingehen könnte, um seine Unterhaltung zu haben oder essen und trinken und ein
bissl ratschen und so was.
"Aha,
Betriebsrat heißt das", hat sich Bärlapper gedacht, "neulich in der
Wirtschaft haben sie es nicht gewusst, nur dass was kommt im Dorf zu den vielen
Vereinen dazu. Als ob es nicht eh reicht, was man hat und mit dem die Leute ja
zufrieden sind."
Niemand hat
dann weiter nach dem Betriebsrat gefragt. So war auch Bärlapper still.
Vielleicht wussten die anderen doch bereits mehr darüber, gab er sich
zufrieden. Bärlapper glaubte jedoch, dass es da auch welche gab, die so etwa
dachten wie er: "Betrieb haben wir genug. Und Rat brauchen doch nur die
vom Büro, die nur die Kissen furzen und gescheit tun und sich die Hände nicht
dreckig machen wollen, aber eigentlich gar nichts wissen – wenigstens von der
richtigen Arbeit. Die da droben bräuchten einen Rat. Denn als Arbeiter macht
man anständig seine Arbeit und die ist schwer genug, da muss man nicht auch
noch rumraten und daherreden. Es ist komisch, dass die ganz Schlauen immer noch
einen Rat brauchen zu ihrer ganzen Gescheitheit dazu und obendrauf und sogar
ein Buch lesen. Man möchte ja glauben, die sind gar nicht so schlau, wie sie
immer tun, sondern tun bloß so." Das Thema war für ihn jedenfalls vom
Tisch.
Es rührte
sich die ganzen Tage nichts, und es war fast ein bisschen langweilig. Deswegen
auch, weil Bärlapper seine Donnerstagreise seit seinem missglückten Ausflug in
die Stadt immer wieder in Frage stellte. "So lässt man mit sich nicht
umspringen von den Weibern", bestimmte er sich dauernd in seinem Stolz,
den er über sein Herzeleid geschichtet hatte, dass es ihm nicht dauernd
hochkam. "Mit mir nicht, wo käme ich da hin, wenn ich dann verheiratet bin
und die mich zum Lappgirgl machte?"
Als dann
der Donnerstag kam, sah die Welt für ihn doch wieder anders aus. Er hatte sich
durchgerungen, die Kratzer an seinem Mannesstolz dadurch zu überdecken, dass er
seiner Michi großherzig verzieh. "Wenn man verheiratet ist, dann zieht man
sich das Ehegespons schon."
So beeilte
er sich, nach der Arbeit nach Hause zu kommen und dort so schnell wie möglich
die Stallarbeit zu erledigen.
Allerdings
ganz so ohne einen Denkzettel sollte die Michi nicht davonkommen, plante er
beim Ausmisten. "Denn ein wenig muss schon sein. Wenn du nämlich jetzt
bereits so gleich nachgibst", meinte er, "wo du ja noch gar nicht
verheiratet bist, wie soll das dann erst werden. Die tanzt dir ja auf der Nase
rum. Und im Dorf schauen sie dich für einen Lali an."
Deshalb
sollte sie etwas schmoren. Er hatte vor, heute nicht so pünktlich zu sein wie
sonst. Er wollte erst den Müll in die Grube fahren. "Warten soll sie, ohne
dass sie weiß, ob ich überhaupt komme."
Mit Traktor
und Anhänger tuckerte er dann zur Müllgrube. Die lag am Ortsrand gegen Süden
hin, an der Straße zur Stadt. Am liebsten wäre er geradeaus zu seiner Michi
gefahren, aber es durfte nun mal laut Vorsatz nicht sein "und mit dem Müll
hinten drauf, mein Gott, da täten sie dich ja verhaften, wenn du in die Stadt
hinein fährst damit." Um sich abzulenken, dachte Bärlapper während der
Fahrt nach, was man ihnen in der Schule über die Kiesgrube, in die jetzt noch
Müll gekippt wurde, erzählt hatte und was die Leute so ab und zu rausließen.
Aber die redeten eigentlich gar nicht oft – und gern schon gleich gar nicht
darüber. "Es wurde da über Jahrzehnte jede Menge Kies rausgeholt, früher
für die Straßen", erinnerte er sich. Zweimal im Jahr war Schararbeit,
erzählten die Alten, da mussten alle antreten. Sie haben die Löcher auf der Straße
mit dem Kies zugemacht. Aber dann in der Nazizeit ... "Ja, ab da reden ja
die Leute nicht so gern oder gleich gar nicht. Die Braunen, die haben dann viel
mehr Kies rausgeholt, sagen die Alten. Weil die überall was mit Beton gemacht
haben, die Betondeppen. Das Loch ist in kurzer Zeit ganz tief und groß
geworden. Dann haben sie sogar Sträflinge hergelegt, gleich ganze Massen. Und
immer neue. Mit dem gelben Stern auf der Jacke, solche, zuerst und dann waren
sie gestreift wie im Schlafanzug, dass man gelacht hat und gesagt hat: Wie die
nur ausschauen, was sind denn das nur für Menschen, abgemagert und
runtergekommen. Die haben sie in den Baracken untergebracht und reingepfercht.
Da waren noch mehr Baracken, aber die hat man nach und nach weg. Die Bretter waren
gut zu gebrauchen. Als der Ami gekommen ist, war der ganze Spuk vorbei. Die
ausgemergelten Figuren wurden allerdings erst noch weggetrieben, wie Vieh, hat
es geheißen. Übrig geblieben sind das tiefe Loch und die Baracken – und etliche
Kreuze am Rand von dem Loch, so wie Grabkreuze, aber die haben irgendwelche
Leute von irgendwoher hin und sind dann wieder weg, und niemand weiß es so
genau ... Oder, Blödsinn, keine Kreuze, nein. Den kleinen Friedhof da hinten,
den sie damals danach gemacht haben, wo keiner vom Dorf liegt und hingeht. Ja,
da kommen auch ab und zu welche, heut noch, Fremde. Klar, komisch, die legen
dann Kieselsteine auf die Steine mit der Schrift drauf, die keiner lesen kann.
Als Buben haben wir die Kiesel immer wieder runter, wir haben nicht gewusst, warum,
aber haben es halt gemacht. Ich muss vielleicht wieder mal hin. Den Kies aus
der Grube hat die Gemeinde jedenfalls wieder nur für die eigenen Straßen
geholt. – Ach ja, da sind ja an der Straße die Schilder aufgestellt, wo
KZ-Friedhof draufsteht. – Aber jetzt, wo der Bürgermeister alle Feldwege hat
teeren lassen und wo sie zum Bauen Fertigbeton kommen lassen, da wird nicht
mehr so viel Kies gebraucht. Der Bürgermeister hat wieder einen schlauen
Einfall gehabt: In das große Loch wird Abfall gekippt, der ganze Dreck. Weil
die Stadt kein so großes Loch hat, jedoch viel mehr Dreck, wird auch gleich der
ganze Abfall noch von der Stadt dazu gekippt. Das bringt der Gemeinde Geld. Und
das Loch wird langsam zu. Auch gut. Ein schlauer Hund ist er halt, der
Bürgermeister, das muss man ihm lassen. Allerdings reden sie jetzt darüber,
dass das auch sein Ende haben wird. Dass der Müll anders weggetan werden muss,
als ihn einfach nur zu vergraben."
Bärlapper
fiel plötzlich das mit den neuen Fässern ein. Er erinnerte sich, dass die Leute
da in der Grube ja Alteisen sammelten. Er nahm sich vor, denen den alten
Bulldog, der nutzlos in der Scheune stand, anzudrehen. "Dem Vater sein
alter Schwungscheibenrenner", lachte er, "ein 'Fendt Dieselross' –
immer schon ein Fendt ... Freilich, die kriegen den alten Bock, das versuchst
du, ein paar Mark sind es dann auch!"
Bei der
Grube angekommen, beeilte er sich, das Zeug abzuladen. Trotzdem schaute er
jedem Stück nach, das da den Abhang hinunterpurzelte: die Traktorbatterie,
zwei Reifen, eine Reihe alter Töpfe, ein paar rostige Rollen Stacheldraht ...
"Geld hat es gekostet", fand er – und dann auch wieder: "Ob man
es nicht doch noch hätte aufheben sollen?"
Ganz unten
entdeckte er eine Autokarosserie ... "Warum die der Iwan noch nicht rauf
hat? – Ach ja, dem willst du ja was andrehen, und vielleicht kann er das
Autowrack mit dem alten Bulldog raufziehen!
Jedenfalls mache ich ihn damit scharf darauf!"
Erst jetzt
wurde Bärlapper auf das laute Reden, das aus der Baracke kam, aufmerksam. Er
stellte den Motor ab und versuchte etwas von dem Wortwechsel aufzuschnappen. Er
wollte hören, ob die es wirklich so schlimm trieben, wie die Leute immer
behaupteten. Er konnte allerdings nichts richtig verstehen. Es kam ihm so vor,
als keiften sich da zwei Frauen in einer fremden Sprache an.
"Na
ja, klar, Russen!", meinte er, ging jedoch auf die Baracke zu:
"Iwan!", rief er. "He, Iwan!" Die Frauenstimmen waren
plötzlich verstummt, dafür hatten Hunde angeschlagen. Bärlapper war erschrocken
zurückgesprungen. Als er zur Seite blickte, war da eine Gestalt wie ein
Gespenst. Wieder fuhr Bärlapper erschrocken zusammen. Ein dünner, langer Mann
mit struppigem schwarzen Haar und borstigem Schnurrbart war aufgetaucht, stand
plötzlich wie hergezaubert neben Bärlapper. Der Mann schrie: "Ha? Was
willst?" Er machte einen Schritt auf Bärlapper zu. Bärlapper riss unwillkürlich
die geballten Fäuste hoch.
Der
struppige Mensch sprang lachend zur Seite.
Bärlapper
fing sich sofort wieder: "He, Iwan – du bist doch der Iwan? – grüß
dich!", presste er etwas verlegen hervor. "Magst du was Gutes
kaufen?"
"Hab
kein Fennich Jeld! Woher, bitte, soll ick Jeld kriejn? Unsereins hier!
Ha?" Dabei beugte sich Iwan zur Seite und schnäuzte sich mit den Fingern, die
er dann an der Hose abwischte.
Bärlapper
ekelte es. Obwohl er selber auch diese Technik beherrschte und bei der
Bauernarbeit im Freien zur Schonung des Taschentuchs anwandte: "So ein
Saubär", dachte er, "das ist ja doch typisch für die hier heraußen!"
Er sagte dann: "Mag sein, aber was fragst du mich, Iwan, woher du ein Geld
kriegen sollst?" Er fügte grinsend hinzu: "Ich habe auch keins!"
"Oh,
da komm mir jleich die Tränen. Du bist doch ein rejcher Baur!"
Bärlapper
lachte trocken: "Das meinst auch bloß du! Bloß fürs Fressen langt's gerade
so. Das schon."
"Na,
ick kenn dat. Jehst arbejten und hast Kühje Stucker viere?" Iwan schaute
sein Gegenüber irgendwie treuherzig an.
Bärlapper
wunderte sich über diesen Ausdruck, hielt es jedoch auch gleich für Theater. Er
fand es jedoch ganz lustig – und war da eben noch so etwas wie eine Grenze
zwischen ihm und dem anderen, so bildete er sich jetzt ein, dass der Kerl da
möglicherweise gar nicht so übel war. Über diesen Wandel wunderte er sich
allerdings nicht wenig. "Ja, da schau her", dachte er sich, "zum
Schluss kannst die Dreckbären auch noch leiden."
"...
oder jar a Stückerer sechse, ha, Baur?", steigerte Iwan und legte diesen
sonderbaren Blick noch einmal auf.
"Lasse
es gut sein, Iwan!", wehrte Bärlapper geschmeichelt ab und meinte bei
sich, "so ein gerissener Hund." Doch der unterwürfige Klang, allein
der Titel Bauer, wirkten nach.
"Na,
wat jibt's bei dir zu kaufn, Bauer?"
"Also
ich habe da einen alten Bulldog, einen Fendt Dieselross ..."
"Oh,
kenn ick, ist der Herr Papa ja immer jefahrn!"
"Also,
dass ich weitermache, den kannst du haben, hat einen schweren Motorblock! Nicht
so billiges Blech mit einem bissl Lack drauf waren die Karren früher, alles
solide! Prima schwerer Gussbrocken!"
Mit
verkniffenen Zügen wiegte Iwan sorgenvoll den Kopf, während Bärlapper Skelett
und Innenleben seines landtechnischen Veteranen hochlobte.
Da wurde
die Tür zur Baracke aufgerissen, heraus sprang ein kugelrunder, kahler Mensch.
Hinter ihm her keifte eine weibliche Vogelscheuche und warf ihm eine Flasche
nach.
Lachend kam
der Flüchtige auf das Handelsduo zu. Da war Iwan offenbar aus seinen Sorgen
gerissen, er hielt seinen Kopf ruhig und sagte kurz: "Also, dat olle
Fahrzeug musste bringen, dat Dingchen muss ick erst sehn und hörn, ob es noch
ordentlich Musik macht!"
"Holla,
so'n noblijer Besuch!", rief der Kahlkopf. "Mecht der Herr Baur nich
rejnkomm aufn Schlückjen?"
"Trauste
dir nimmer allejne in die Kate, wa? Sonst haut dich die Alte die Hucke
voll!", grinste Iwan seinen Genossen an und sagte dann zu Bärlapper
gewandt: "Aber komm nur, Bauerjchen, lasse uns ein heben, da redt sich's
besser!"
Bärlapper
konnte sich nicht gleich entscheiden, die Einladung anzunehmen. "Mache es
bloß nicht!", warnte er sich. "Wenn es jemand vom Dorf erfährt – und
du musst ja auch noch in die Stadt! – Aber sehen möchte ich es doch, wie die da
hausen!"
Bärlapper
war sich unschlüssig. "Aber wenn es wer sieht! – Aber der Handel, wenn du
den alten Karren losbringen willst ..." Er zögerte noch, klopfte mit der
Schuhspitze an den Reifen seines Traktors. "Die Michi soll nur warten! Der
geschieht es ganz recht, wenn sie warten muss ..." Das war es dann auch
schon fast. Nach einigem Zureden – die Frauen waren jetzt auch heraußen – ging
Bärlapper mit: "Denn so übel sind die ja auch vielleicht nicht, wenigstens
bis jetzt nicht", dachte er sich – und dass die ihn ja nicht gleich
umbringen würden. Warum auch? Jedenfalls wüsste ja die Mutter, wo er hingefahren
war. Da könnte ihn die Polizei ja gleich suchen. Irgendwelche juckenden
Kleinsttiere würde er sich vielleicht auch nicht gleich holen, weil man so was
heutzutag gar nicht mehr hat, auch die nicht. Und die Gläser oder Flaschen, aus
denen man trinkt, wenn du mitgehst, auf denen hat ja der Alkohol die Bakterien
kaputt gemacht ..."
Als sie im
Wohnraum waren, verschwanden die beiden Frauen ins Nebenzimmer. Kurz darauf, Bärlapper
hatte sich kaum etwas umgesehen, erschienen sie wieder, proper, wenn auch nicht
gerade nach der neuesten Mode gekleidet – und mit Flaschen und Gläsern. Als die
eine einschenkte, bemerkte Bärlapper, dass ihre Perücke etwas schief saß. Die
anderen mochten es im selben Augenblick bemerkt haben. Sie begannen, die Frau
mit spitzen Bemerkungen zu traktieren. Sie verließ laut schimpfend den Raum:
"Peronje" – oder so ähnlich hatte es geklungen.
Als sie
wieder erschien, prostete man sich zu, als wäre nichts gewesen. Ein paar
Schnäpse, die viel Charakter hatten und Bärlapper beim ersten Schluck gehörig
auf der Zunge brannten, wurden gekippt. Sie wussten nicht recht, wie ein
Gespräch zustande zu bringen wäre und kippte deshalb immer noch einen oder
lächelten sich verlegen zu, wenn sich die Blicke begegneten. Da fiel ihm ein,
dass er eigentlich sagen könnte, wie nett sie es hier doch haben und dass das
gar nicht zu vermuten sei bei der Umgebung und der Vergangenheit dieser
Behausung und und. Er zögerte und goss sich noch einen hinunter.
"Eigentlich seid ihr keine unrechten Leute!", rutschte ihm dann doch
heraus. Es hatte etwas zögerlich, doch darum vielleicht den anderen umso echter
geklungen. Er wunderte sich selber, und es wurde ihm heiß im Gesicht. War
bereits sein Erscheinen in der Behausung etwas ganz Besonderes, so hatte er mit
diesen Worten seine Gastgeber zu einem Überschwang sondergleichen gebracht. Sie
waren alle aufgesprungen und redeten in deutscher und fremder Zunge in den Raum
und auf sich ein, breiteten bei ihren sprachlichen Kaskaden immer wieder die
Arme auch gegen ihn hin aus. Gerade, dass sie ihn nicht zu herzen und zu
drücken begannen. "Ja das fehlte noch!", staunte Bärlapper und war
ein wenig in sich zusammengesunken, wie um Deckung zu nehmen. Er schaute
gebannt auf das Schauspiel. Anstatt ihn anzufallen, sanken sie sich nun
gegenseitig in die Arme, entwanden sich, griffen sich in anderer Kombination.
Die Frauen brachen schließlich in Tränen aus, dass die Farbe in ihrem Gesicht
verwischte und sie am Ende eine Maske hatten, die das ganze Drama noch mehr ins
Verwunderliche rückte.
Bärlapper
hätte sich fast anstecken lassen. Er griff sich an die Stirn und floh nach
draußen. "Ja, so was Verrücktes hast du in deinem ganzen Leben noch nicht
erlebt", wunderte er sich, stieg auf sein Gefährt und ließ den Motor
an.
Sie winkten
ihm hinterher, riefen ihm gute Wünsche nach, so als ob es ein Abschied für
immer wäre.
"Ja,
Menschenskind, das glaubst du ja nicht, obwohl du es ja erlebt hast!",
murmelte Bärlapper auf dem Nachhauseweg immer wieder vor sich hin. "Und
wenn das einer mitkriegt vom Dorf. Oder der Jäger und das wieder
rumerzählt!", befürchtete er. "Doch vielleicht ist es auch nur der
Suff, den du jetzt erst richtig spürst von dem scharfen Zeug da", versuchte
er sich zu beruhigen, " dass du sie dir nur zusammengesponnen hast, die
ganze irre Show!"
Daheim
stellte er den Schlepper ab.
"Ja,
Mensch, das sind ja richtige Leute!", redete er laut vor sich hin.
Er beeilte
sich, den Zeitverzug einigermaßen wieder wettzumachen. Denn seiner Michi hatte
er jetzt nach diesem Erlebnis und unter der Leichtigkeit seines doch immerhin
angesäuselten Zustandes fast ganz vergeben.
Als Hans
dann in der Stadt war und schließlich bei ihr eintrat, schien alles in bester
Ordnung. Nichts von einem Vorwurf wegen der Verspätung. Trotzdem brachte er
eine Story von einer Kuh vor, die gekalbt hätte.
"Süß,
ein Kälbchen, die habe ich auch gern", strahlte Michi.
Das freute
ihn – und machte ihm wieder Hoffnung.
"Wie
ist denn das, wenn eine Kuh ein Kalb bekommt", wollte sie wissen. Und er
erzählte ihr begeistert davon, dass man die Trächtigkeit mit der Formel: zwölf
Monate dazu, drei wieder weg und am Ende zehn Tage dazu, ausrechnen müsse. Er
fühlte sich ganz gescheit bei dieser Erklärung. Dann begann er zu berichten,
dass zuerst die Eröffnungswehen kämen, dass da noch nichts zu machen sei,
sondern es ist erst nach dem Platzen der Wasserblase hineinzugreifen. In ihr
Staunen hinein erzählte er von der Hebammentätigkeit in rindviehlichen
Tragsäcken: Wie er einmal eine Steißlage korrigiert hatte und das alles während
der Presswehen der Kuh. "Mein lieber Schwan, da brauchst du Kraft, sage
ich dir, und ein Geschick brauchst du dazu!"
Er legte
eine Pause ein, nachdem er etwa einem halben Dutzend Kälber geholfen hatte, das
Licht der Welt zu erblicken. Sein Mund war durch das Reden trocken geworden.
Während er dann seinen Tee schürfte, genoss er es, so einen einzigartigen Beruf
zu haben. "Ja, Bauer", hätte er am liebsten noch gesagt, "das ist
ein Beruf für ganze Kerle, und da hat man mit dem Leben zu tun."
Allerdings behielt er es für sich.
Sie seufzte
noch etwas von süßen Kälbchen, darauf trat wieder eine Gesprächspause ein.
"Sie hat vergessen, die Musik anzumachen", dachte sich Hans. Er ging
und wollte im Radio etwas hersuchen.
"Muss
das sein?", fragte sie sofort.
Hans
wunderte sich und schaltete den Apparat wieder ab.
Als sie
dann mit frischem Tee kam, dachte er: "Wenigstens Tee bei Kerzenschein –
das nicht auch noch anders."
Sie nahmen
die erste Tasse wieder im gewohnten Ritual: erst den braunen Zucker in die
Schale, dann Tee darauf, umrühren, danach einen Schuss Milch, die Schale mit
beiden Handtellern umschließen und in kleinen Schlückchen schlürfen.
Doch heute
wollte das Gespräch nicht so richtig in Gang kommen. Früher – "um Gottes
willen, früher!" – hätten sie das ja irgendwie überbrückt, doch heute
traute er sich nicht mal, näher zu ihr zu rücken. Da war doch etwas zwischen
ihnen, aber er wusste nicht, was es war.
In dieser
Verlegenheit langte er sich die Kanne herüber und goss sich noch einmal ein. Da
fragte sie ihn, ob er die Geschichte kenne, wo die Jünger auf dem stürmischen
See sind?
"Ha?
Jünger?", platzte sein Erstaunen heraus. Hans schaute sie groß an und
hätte beinahe den Tee überlaufen lassen.
Sie
forderte ihn auf nachzudenken: "Weißt du, wo sie so Angst haben im Sturm
auf dem See, ha? Noch nicht? Also, und der Herr Jesus schläft im Boot, so als
wäre überhaupt nichts!"
"Ja
freilich ..., ja, ... kenn ich das", kam von Hans zögernd und er war ganz
durcheinander, wusste überhaupt nicht, worauf es hinaussollte.
Sie fuhr
fort und verriet ihm, dass sie von der Geschichte total begeistert sei:
"Da werken die Jünger herum, holen die Segel ein, werfen sich in die Ruder,
schöpfen Wasser und haben Angst um ihr Leben. Und da schläft Er im Boot. Also
das ist ja – wie soll ich es nur nennen? – das ist ja irre stark, so was von
stark, glaube ich, anders kann man dazu gar nicht sagen!" Michi glühte vor
Eifer.
"Ja,
was ist denn das?", fragte er sich und schaute sie groß an, "die hat
es ja scheinbar richtig erwischt, richtig biblisch!"
"Total
cool lag Er da im Boot, hörte Hans wieder, "und das bei Sturm, wo die
andern zittern, um ihr Leben bangen und zu ersaufen fürchteten!"
Hans
fühlte, dass da wieder etwas von der Stimmung vom letzten Samstag in ihm
hochkam, irgendwas Abständliches. "Die mit ihrer Bibel, die sie plötzlich
entdeckt hat!", klagte er sich fast. "Das sind mir schon die
Richtigen, die Spätbekehrten oder solche durchgedrehten Heiden! Wenn es die
erwischt, dann erwischt es sie richtig. Und sie müssen in ihrer Erwecktheit
alles nachholen von dem, was sie bis dahin versäumt haben!"
"Doch
Du bist bei uns!", schwärmte Michi. "Das sind so simple, jedoch auch
so unwahrscheinlich tiefe Worte!"
"Sakra,
die Michi, die Michaela! Das darf doch nicht wahr sein! Ob sie mich nicht doch
eher auf den Arm nimmt?", ging es ihm durch den Kopf.
"Herr,
bleibe bei uns!", hörte er in feierlichem Ton. "So heißt es an einer
anderen Stelle. Das finde ich auch unbändig gut, und das klingt auch echt
tief!"
Hans zog
sich auf die Toilette zurück. Nachdem er zurück war, setzte er sich ganz nahe
zu ihr hin. "Ja, Michi", brachte er so liebevoll heraus, wie es ihm
nur immer möglich war, "ja, das freut mich ja so, was du dir da so alles
ausdenkst. Wer gibt sich denn heute noch so eine Mühe mit der Bibel, wo sie
einem ja in der Kirche alles vorsagen, dass du eigentlich gar nicht so viel denken
musst oder eigentlich überhaupt nicht – sondern tun, was sie dir sagen in der
Kirche, das musst du tun, dann passt es, sagen sie. Oder du musst es wenigstens
ein wenig versuchen zu tun. Dann ist es ja auch ziemlich richtig – oder auf dem
Weg dorthin, nämlich in die Richtigkeit."
Er fuhr ihr
mit der Hand ganz sanft über den Kopf und den Rücken hinunter und hatte bereits
die zweite Hand erhoben, und zwar zur Unterstützung der ersten auf Michis
Vorderseite. Da rückte sie ein wenig, jedoch merklich energisch zur Seite und
verkündete mit fester Stimme, dass sie den Entschluss gefasst habe, katholisch
zu werden.
Hans
stockte erst der Atem und dann musste er natürlich tief Luft holen. Er wusste
überhaupt nicht, was er dazu sagen sollte, er wusste nicht einmal, ob er
überhaupt etwas sagen sollte. Er nickte jedoch zustimmend mit dem Kopf, denn
was sie vorhatte, war ja schließlich gar nicht so übel. "Und passen würde
es dann ja auch, denn bei uns ist fast jeder eben meistens so – und eine
Bäuerin ...", kam ihm schließlich.
Michaela
fügte ihrer Erklärung eine weitere hinzu, um Glaubenstiefe ging es da und
solche ernsten Sachen und um Rituale, denen sie schließlich einige
Aufmerksamkeit widmen wolle. Die ganze schöne Hülle um den Glauben, das packe
ja bei den Katholen den Glauben so wunderbar ein, bekannte sie, dass sich der
Gläubige in ihm immer so sehr geborgen fühlen könne ...
"Ja,
prima, so passt du ja noch besser nach Ritzling", brachte Hans nur heraus.
Sie bedeutete ihm, dass sie in der Vorbereitungszeit zu ihrer Konversion ganz
keusch bleiben wolle. Denn bei den Katholischen sei ja sowieso alles vor der
Ehe verboten. Und wenn man nicht heiratet, dann sei es überhaupt nicht
gestattet. Überhaupt sei ja auch bald Fastenzeit, da müsse sich jeder
grundsätzlich zurückhalten. Dass das alles seinen guten Sinn habe, zum Beispiel
zur Stärkung der Seele gegen die alltägliche Versuchung, die immer eine
Heimsuchung sei.
Sie blickte
ihm entschlossen in die Augen.
"Mensch",
durchfuhr es ihn, "das ist ein Blick! Wo hat sie denn das Geschaue her? Da
wird es mir ja ganz kalt. Die frommen Vorsätze auch! Die steht ja bereits auf
so einem Sockel in der Kirche wie die Heiligen. Die Michi, Michaela! Mensch!"
Dann fiel
ihm etwas ein: "Vom Heiraten hast geredet! Freilich, jetzt erst ist mir
das richtig aufgegangen!" Hans legte richtig los: "Ja, dann heiraten
wir eben! Klar, du wirst erst auch schön fromm", lachte er, "da freut
sich der Pfarrer – ein Inder im Übrigen. Gerade die freuen sich besonders, weil
es dort noch jede Menge Heiden gibt. Und dass nicht bloß immer die Schwarzen
bekehrt werden, sondern auch einmal welche von den weißen Unfrommen, die eh
immer mehr werden!", versuchte er es in seiner Aufregung auf die heitere
Tour. "Wir heiraten! Machst du mit? Die Mutter hat dann auch eine Freude.
Ja, die erst recht!"
Wenn
Michaela auch nicht zustimmte, so widersprach sie wenigstens nicht. Hans musste
sich dann allerdings noch etwas über die Bedeutung und Reihenfolge der heiligen
Sakramente anhören. Er ließ es geduldig über sich ergehen, in der Hoffnung,
dass sich alles einrenken werde. Als Michis Lektion vorüber war,
verabschiedeten sie sich und Hans machte sich einigermaßen guter Dinge, wenn
auch ziemlich baff auf den Weg nach Hause.
"Die
wird wieder normal", redete er sich gut zu, "wenn sie erst einmal
richtig dazu gehört, dann sieht sie das alles nimmer so eng! Unsereiner kommt
ja auch ganz gut damit zurecht, dass man einen Glauben hat. Der halt zu einem
richtigen Menschen gehört wie alles andere auch, was ihn vom Vieh unterscheidet
im Leben", grübelte er vor sich hin.
9
"So,
Bärlapper, hast dir heute deine Hände gut gewaschen?", fragte der Marxer
Seppl am Montag in der Früh. Bärlapper, aber auch die anderen, die im
Brotzeitraum waren, wussten nicht gleich, worauf das hinaus sollte. Sie
schauten den Marxer fragend an. Der lachte nur gekünstelt und ließ mit beiden Daumen
den Flaschenverschluss aufschnellen, dass es richtig blubbte.
"Hinter
der öden Frage steckt mit Sicherheit was Hinterfotziges", dachte sich
Bärlapper und schnitt sich ein Stück von der Wurst ab.
"Hast
du dir deine Hände abgewaschen, Bärlapper?", stichelte der Marxer dann
noch mal. Er würgte einen Brocken hinunter und koppte dann laut auf.
"Wieso?",
fragte Bärlapper und steckte die Scheibe Wurst in den Mund. "Wieso,
Marxer?", setzte er mit vollem Mund drauf, "wieso soll ich mir die
Hände waschen? Habe ich dich heute schon einmal angelangt und habe ich dir die
Hand gegeben, dass ich sie mir waschen muss?"
Jetzt
lachten die anderen und waren gespannt darauf, was da in der dicken Luft alles
in Gang kommen könnte.
In dieser
Stimmung verdrückten sie ihre Brotzeit eine Zeit lang schweigend. Bis der
Marxer mit der Faust auf den Tisch schlug: "So was muss ich mir auch noch
gefallen lassen von so einem mit diesem sauberen Umgang!"
Bärlapper
trieb es zwar richtig um, er verzog jedoch keine Miene. Er fing an, seinen
Platz aufzuräumen. Bevor er das Messer zusammenklappte, führte er es in seinen
Händen ein paarmal hin und her. Er schaute den Marxer verächtlich an und
steckte das Messer in die Hosentasche. Der Rest Wurst war auch wegzupacken.
Dabei überlegte er jedoch, was der Marxer eigentlich im Schilde führen konnte –
wollte es allerdings nicht klären, sondern alles einfach bei seiner Drohgebärde
belassen.
Die anderen
waren einstweilen weggegangen, weil sie gemerkt hatten, dass da vorerst nichts
weiter zu erwarten war. Der Marxer stand dann wieder am Ende des Bandes, wo er
die Flaschen in die Steigen geben musste, der Rohrer Beni war in die Waschanlage
gegangen, wo er die Flaschen auf Sauberkeit zu untersuchen und dann aufs Band
zu stellen hatte.
Mittag
saßen sie wieder beieinander und waren neugierig, weil sie ja fest annahmen,
dass da noch etwas fällig war.
"Na,
wie ist es jetzt, Bärlapper", bohrte der Marxer auch schon, "hast du
dir die Hände gewaschen?"
Die anderen
horchten auf, taten aber so, als wäre es ihnen lästig, jedenfalls tönte es
sofort wie aus einem Mund: "Mein Gott, geht das jetzt wieder los."
Dabei schauten sie Bärlapper beinahe vorwurfsvoll an, so als wollten sie sagen,
er solle den Mund aufmachen und reagieren, damit endlich rauskommt, was es da
gibt.
"Wenn
es dich gar so interessiert, Marxer", kam dann von Bärlapper ganz
gelassen, während er sein Mittagsbrot auspackte, "dann tue ich dir eben
den Gefallen und denke nach." Er machte eine Pause, holte sein Messer aus
der Hosentasche, hielt es eine Weile im offenen Handteller und betrachtete es,
klappte dann die bald zwei Finger lange Klinge aus, hielt sie hoch, musterte
sie eine Weile, prüfte die Schneide mit dem Daumen – und schnitt sich dann
einen Bissen von der Wurst ab. Die Anderen hatten die Szene aufmerksam
beobachtet. Sie wussten zwar, dass der Bärlapper, der da jetzt noch auffälliger
als bei der Brotzeit mit dem Messer hantierte, eigentlich ein friedlicher
Mensch war. Doch "nichts Gewisses weiß man halt nie nicht" heißt es
ja. Außerdem war ihnen noch ganz unklar, um was es da eigentlich ging. Bereits
das machte sie richtig begierig. Es hätte allerdings auch sein können, dass der
Bärlapper ganz genau wusste, worauf der Marxer hinauswollte. Dass es was
Ungutes sei und er nur wartete, dass es der Marxer rausließ, dass er draufhauen
könnte. Sie lauerten richtig.
"Jetzt,
Marxer, jetzt ist es mir eingefallen", brachte Bärlapper mit vollem Mund
gerade noch heraus. Es konnte kaum verstanden werden. Er würgte den Bissen
hinunter und nahm einen Schluck Bier aus der Flasche. Dann brummelte er eher so
vor sich hin: "Wie ich so nachdenke, da ist es mir eingefallen, dass ich
glatt vergessen habe, was der Marxer gefragt hat! Macht nichts. Das wird dann
ja so blöd gewesen sein, dass es gleich vergessen war."
Der Marxer
wusste jetzt nicht, ob er sich ärgern oder nur wundern sollte. Er schaute die
anderen an. Die grinsten nur und zuckten die Achsel.
"Ob du
dich abgewaschen hast, habe ich dich gefragt!", platzte der Marxer heraus.
"Aha,
so so!", tat Bärlapper überrascht und weiter nichts.
Den anderen
wurde es allmählich fad. Aber sie warteten noch, denn es hätte leicht auch eine
Gaudi hinter der Fragerei stecken können, und die wollte keiner auslassen.
Bärlapper
schaute jetzt den Marxer an. "Ja!", kam von ihm nur. Als der Marxer
nicht gleich kapierte und ihn anglotzte, wiederholte Bärlapper: "Ja!"
Die anderen
schüttelten eine Weile enttäuscht den Kopf. "Macht euren Blödsinn
spannend!", schimpfte der Rohrer Beni.
"Aha!
Dann ist es ja in Ordnung, dass du dich richtig ausgewaschen hast", hatte
sich der Marxer wieder gefangen. Er hob den Zeigefinger und machte weiter:
"Deswegen ist das sogar wichtig, weil du ja jetzt in der Müllgrube
verkehrst! Mit dem Abfall und den Abfall-Leuten und dem Ungeziefer!" Jetzt
war es heraus. Er lachte überlegen.
"Bei
denen in der Grube? Ja, da legst dich nieder!", waren jetzt die anderen
mit von der Partie. "Ja, was ist dann das jetzt? Und so was du, Bärlapper,
wo du früher so ordentlich gewesen bist?"
Der Marxer
fühlte sich obenauf. Er machte weiter: "Wegen dem Bier nämlich! Gut
waschen, verstehst du, Bärlapper!" Er nahm einen Schluck, nachdem er die
Öffnung auffallend gründlich mit dem Ärmel abgerieben hatte. "Überhaupt,
wenn du zu uns her willst, dann musst dich überhaupt gut, oh ja, gut abwaschen!
Damit das klar ist!" Er rieb wieder, diesmal noch angestrengter, nahm
einen Schluck und setzte drauf: "Wanzen und Bakterien und so ein Zeug will
keiner von uns haben, wenn du so was von dort unten raufschleppst!"
Die anderen
wollten mehr wissen. Der Marxer sah es ihnen an und redete zu Bärlapper hin:
"Dann ist es ja in Ordnung, wenn du dich gewaschen hast! Ich habe nämlich
bereits geglaubt, dass du mit deinen Händen, wo du die Dreckigen da von der Abfallgrube
angelangt hast, jetzt, wo du dich da drunten rumdrückst bei denen, dass du mit
deinen Händen unsere, verstehst du, unsere Bierflaschen anlangst und zumachst
und genau da anlangst, wo ein jeder dann seine Goschen hintut und sauft!"
Dann erzählte er den anderen, was er vom Jägerbartel gehört hatte, dass der den
Bärlapper in der Grube gesehen haben wollte, wie er in die Baracke hinein
gegangen ist und erst in der Früh wieder raus und wie es zugegangen sein soll
in dem Saustall da unten.
Das hatte
die anderen aufgeregt: "Oben anfassen tut der unsere Flaschen mit seinen
dreckigen Pratzen", schrie der Rohrer Beni, "oben, wo man das Maul
hintut!"
Sie
schauten angewidert. Der Rohrer Beni von der Wäscherei hob seine Flasche in
Augenhöhe und prüfte sie mit fachmännischem Blick.
Bärlapper
biss in sein Brot und tat so, als interessiere ihn das alles gar nicht.
"Klar, das haben die vom Dorf freilich gespannt", ging ihm durch den
Kopf, "du weißt ja, wie es im Ort halt so ist. Irgendwer sieht irgendwas
immer einmal. Dann gibt es die Geschichten, die sie daraus machen." Er
biss wieder in sein Brot und nahm einen Schluck. "Sonst wäre es ja noch
langweiliger auf dem Dorf, trotzdem es das Fernsehen gibt. Denn das Fernsehen
langt keinem, weil es eigentlich gar nichts ist oder höchstens wie der Furz,
der verfliegt, mehr ist das Fernsehen nicht. Dem Marxer sein Schmarren und der
Furz von Fernsehen passen ja zueinander."
Der Rohrer
Beni hob seine Bierflasche noch einmal in Augenhöhe und starrte auf die
Öffnung: "Pfui Teufel, wenn ich denke mit den Bakterien da umeinander und
übereinander!" Er hielt die Flasche hoch und stierte auf die Öffnung.
Die anderen
schauten auf das 'lebende Bild' und freuten sich: Mann mit Flasche in Ekel. Die
anderen fanden das so eindrucksvoll, dass sie es nachstellten.
"Ist
richtig komisch, das alles", amüsierte sich Bärlapper jetzt beinahe.
"Dass die Blödlinge sich so plagen, um mich anzufegen. Das muss ja ganz
was Fürchterliches gewesen sein, was ich da gemacht habe, dass ich mit den
Leuten da unten geredet habe. Aber weiter zuhören", kam ihm dann,
"denn es ist doch interessant zu erfahren, wie sie im Ort darüber
denken."
"Ja,
wie kann sich einer mit so einem Gesindel abgeben?", fragte der Marxer in
die Runde.
"Ja,
wie es nur sein darf!", tönte es zurück. "Ein Kerl von hier und einer
von uns, hier aufgewachsen, einer von uns ... und mit denen, die gar nicht
hergehören, sondern sich nur eingeschlichen haben!"
Bärlapper
wunderte sich in ihre gespielte Entrüstung hinein: "Wo du dem Iwan gestern
bloß noch den alten Bulldog runtergefahren hast. So ein Geschiss machen die
Hanswurste da. Schließlich habe ich eh nur noch ein paar Stamperl von ihrem
scharfen Zeug da getrunken. Mehr bringt ein normaler Mensch gar nicht runter
davon."
Die anderen
kramten eifrig weiter in ihrer Dummheit.
"Wer
hätte es gedacht, ein netter Kerl, der Iwan", lenkte Bärlapper sich ab.
"Fünf Blaue, sagt er, und ich sage, noch einen halben Blauen drauf. Da
sagt er, also gut – jut –, aber erst, wenn ick dat jute Stück hier los bin! –
Werde ihm sagen, er soll den Bulldog nicht hergeben und ihm so ein Räumschild
vorn anbauen. Dann kann er im Winter den Schnee wegschieben. Denn jetzt schneit
es bald. Das sieht wenigstens ganz so aus, dass das Wetter umschlägt."
"Und
die Barackenweiber!", unkte der Rohrer – und schwieg darauf
bedeutungsvoll. Die anderen merkten auf und warteten auf die Fortsetzung. Der
Rohrer machte gleich weiter: "Schlau muss man sein!" Dabei deutete er
mit dem Daumen auf Bärlapper. "Der Bärlapper Hans holt sich kein Weib ins
Haus! Nein, nein! Weiber findet man ja überall umeinander. Jetzt wisst ihr es,
wo man bei uns hier hingehen kann, wenn ..." Er holte tief Luft. "Man
findet es bei uns da in Ritzling sogar auf dem Müll in der nämlichen
Grube!" Die Männer lachten angewidert.
Bärlapper
hatte aufgehorcht und überlegte, ob er nicht dazwischengehen solle.
Sie waren
jedoch bereits aufgestanden, um sich wieder an die Arbeit zu machen, da schrie
der Marxer Bärlapper an, dass sie hier vor Ekel fast kotzten und er nur dahocke
und dass ihm das alles wohl ganz egal sei. "Man muss dich ja nur
anschauen, wie ein Ölgötze hockst du da!"
"Wo
hast du denn den tollen Ölgötzen her? Ist der bei dir im Herrgottswinkel, du
Rauchzeichengeber, du ganz tatarischer?", spottete Bärlapper.
Der Marxer
war hochgefahren, hatte aber keine Antwort parat. So stakte er mit auf dem
Rücken verschränkten Händen im Raum auf und ab. Nach ein paar Mal hin und her,
das die anderen kopfschüttelnd begleitet hatten, fing er wieder an: "Jetzt
haben alle bereits gemeint, dass wir die dreckigen Banditen loskriegen
irgendwann. Wer weiß denn, was die da alles treiben? Gehört hat niemand was von
denen. Eigentlich weiß keiner nichts, und das ist immer gefährlich, wenn man
nichts weiß. Denn dann kommt es plötzlich über uns, mein lieber Schwan, was
noch keiner weiß. Da geht aber der Bärlapper, dieser ganz kreuzbrave Mensch,
wie alle immer gemeint haben, her und hält womöglich das Gesindel hier im Ort!
Indem er sich mit denen abgibt, dass sie meinen, sie gehören dazu zu
uns."
"Jetzt
reicht es", durchfuhr es Bärlapper, "dem Marxer schmierst du ein
paar, dass Ruhe wird!" Er erhob sich langsam von seinem Platz, machte
einen Schritt auf den Marxer zu.
Der war
erschrocken zurückgewichen.
"Sakra,
jetzt kracht es endlich!", funkte es bei den andern.
Bärlapper
machte noch einen Schritt auf den Marxer zu – und ging verächtlich grinsend an
ihm vorbei. Er streifte ihn dabei allerdings und versetzte ihm einen gehörigen
Rempler mit dem Ellbogen. Der Marxer musste sich vor Schmerzen den Bauch halten
und stützte sich an der Wand. Bärlapper ging zum Tisch. Als er dem Marxer
bereits den Rücken zuwendete, machte der Anstalten, Bärlapper von hinten anzufallen.
Bärlapper ahnte das. Er blieb am Tisch stehen und griff nach seinem Messer. Die
Männer zuckten erschrocken zusammen. Der Rohrer, der ganz nahe bei Bärlapper
stand, sprang zur Seite. Der Marxer stellte jedoch augenblicklich seine Aktion
ein. Bärlapper tat so, als ließe ihn das alles hier kalt. Er klappte die Klinge
ein und packte den Rest seines Brotes in die Tasche. Dann sagte er ruhig:
"Du weißt schon, Seppl, wen das überhaupt nicht interessiert. Das saublöde
Geschwätz von einem, der seinen Arsch auf dem Hals hat statt einem Kopf!"
Bärlapper schaute den Marxer kurz an. "Und die andern, die sich so einen
Mist anhören und ihre idiotischen Faxen dazu machen, die sind um nichts
besser!", ergänzte er zu diesen hin. Die merkten an seinem starren Gesichtsausdruck
um die funkelnden Augen, dass sie jetzt besser den Mund hielten.
Als er den
Raum verließ, spürte er direkt, dass da hinter ihm ein paar Flaschen in seiner
Richtung wurfbereit gehalten wurden. Er wünschte sich jetzt, dass es wenigstens
einer wagte. Dann hätte er sich die ganze Bande vorgeknöpft, war sein Vorsatz,
und zwar gleich ergiebig. "Denn die zwei rauche ich ja in der Pfeife, und
den anderen schnaufe ich ein", bekräftigte er sich mit einem gehörigen
Rest von Zorn. Er blieb noch einen Augenblick stehen, bevor er aus dem Raum
ging. Sein Blick war auf den Stuhl am Eingang gerichtet. "Den Stuhl greife
ich mir und zerlege ihn auf ihren hohlen Schädeln. Wenn sie noch einen falschen
Schnaufer tun."
Als er
draußen war, überkam es ihn, als hätte er mit dieser Bande gleich das ganze
Dorf hinter sich gelassen. Das überraschte ihn nicht wenig.
Er grübelte
jedoch nicht weiter, denn hinter sich hörte er, wie der Marxer aufgeregt
daherredete: "Der Bärlapper ist fei in der Baracke drinnen gewesen. Nicht nur
davor! Der hat nicht nur geratscht mit dem Iwan! Jetzt müssen wir aufpassen,
weil der vielleicht mit denen ihrer Verwahrlosung mit dem Zuhauen und Raufen
und allem angesteckt ist wie mit einer Seuche!"
Bärlapper
war stehen geblieben, um alles mitzubekommen, was möglicherweise an seinem Ruf
kratzen würde.
"Die
ganze Nacht oder etliche Stunden wenigstens hat er mit den Russen rumgesoffen!
Hoch her ist es dabei gegangen, dass die Fetzen geflogen sind! Es muss
zugegangen sein wie bei den Säuen, bevor das Futter kommt." "Ausgeschaut hat es bestimmt wie in
einem Stall!", war sich der Rohrer sicher.
"Aber
reinschauen kannst du ja nicht, wegen den scharfen Schäferhunden, die da auch
in der Nacht rumlaufen und dir die Hosen ausziehen mit einem Fetzen Fleisch
gleich mit. Solche Bestien von Hunden sind das!", lachte der Marxer
bitter.
"Aber
wenn der Bärlapper da rein kann, ohne dass sie ihm was wegbeißen, dann ist der
da bereits öfter gewesen und die Hunde, die kennen ihn und wir haben das gar
nicht gewusst, was der Bärlapper da immer getrieben hat!", folgerte der
Rohrer. "Ja, so einer ist das, und alle haben ihn für einen guten Menschen
gehalten!"
Bärlapper
spielte einen Augenblick mit dem Gedanken umzukehren und nun doch richtig hinzugreifen,
um sie gehörig aufzumischen. Er spürte allerdings, dass er gar keine Wut mehr
hatte, die sich an ihnen hätte entladen können. So ging er weiter und meinte
bei sich, "wenn du da noch dreinredest oder gar richtig hinlangst, dann
meinen sie, dass du das machst, weil es ja wahr ist, was die Deppen sich da
zusammengedichtet haben. So nach dem Spruch: Wer sich verteidigt, klagt sich
an." Er ging zu seinem Arbeitsplatz, schaltete das Band an und lenkte sich
mit der Frage ab, ob man den alten Bulldog nicht doch wieder aufmöbeln sollte.
"Rost weg", meinte er, "und anstreichen, vielleicht richtig
scheckig bunt für den Faschingszug."
Wenn er
dann in den nächsten Tagen in den Pausen bei den anderen war, herrschte immer
noch Spannung. Sie überlegten, ob sie es nicht doch wieder versuchen sollten,
das Gespräch auf die Müllgrubenleute zu bringen. Jetzt war es die Neugier, die
sie umtrieb. Vielleicht könnte man etwas in Erfahrung bringen, irgendwas, weil
man eigentlich überhaupt nichts wusste von denen. Es musste ja nicht wieder
gestänkert werden, und dem Marxer könnte ja gesagt werden, dass er ruhig sein
solle. Der Bärlapper wusste was über die Leute da unten, klar, was sie
schließlich auch wissen wollten und das ganze Dorf, und eigentlich hatten alle
ja auch ein Recht darauf, wenn die von da unten hier bereits so lange sind.
Doch der Bärlapper war vielleicht noch sauer. So wusste niemand, wie es
anzupacken wäre, ohne was zu riskieren. "Gerade die Ruhigen, wie der Hans
einer ist", war ihnen geläufig, "die haben manchmal eine sakrische
Ladung." Und niemand wollte selber das Ziel abgeben, wenn die losging.
So blieb in
den Köpfen alles um die Leute da in der Müllgrube, wie es immer war, nämlich
nur ein bisschen Beobachtung, die sich jeder selber mit Fantasie ausfüttern
musste. Allerdings war der Bärlapper jetzt dazu zu denken.
"Das
kommt wieder alles ins Lot", war sich Bärlapper sicher, wenn er doch dann
und wann etwas mitbekam, was da gemunkelt wurde. Manchmal allerdings bereute er
auch, dass er damals bei dieser Sache im Brotzeitraum nicht hingelangt hatte.
"Vielleicht wäre Ruhe geworden und ich hätte aufgeräumt gehabt. Eigentlich
habe ich ja früher gerade so gedacht wie die über die Leute da unten",
musste er sich zugeben. "Komisch ist es halt, wie sich das alles rumdrehen
kann, wenn man miteinander redet. Was Einfacheres gibt es ja nicht, als
miteinander reden."
Gelegentlich
fing aber die Mutter auch noch damit an: Dass jeder sehen muss, wie er unter
seinesgleichen zurechtkommt, "hier brauchen wir solche Fremden nicht. Die
sollen hingehen, wo sie hergekommen sind. Denn wenn sich jemand anständig
aufführt, dann kann er auch bleiben, wo er ist. So einfach ist das!"
Er verstand
sie, trotz dieser eigenartigen Denkweise – und doch auch wieder nicht: "Es
ist doch egal, was einer tut und wo er herkommt ", war er sich sicher.
"Hauptsache ist, wie er ist und eigentlich auch bloß, dass er gut ist und
was taugt."
Dabei sprangen
seine Gedanken regelmäßig zu seiner Michaela – zu der Michi von früher.
"Sakra, die Russen und die Michi gleichzeitig im Hirn. Wie das
zusammengeht?" Er ließ sie allerdings dort beisammen. Michi wusste er
jetzt auf einem ganz besonderen Weg, immerhin hatte sie ihm das deutlich genug
zu verstehen gegeben. Einen Weg, den er auch gar nicht mehr kreuzen sollte,
wenigstens die nächste Zeit nicht, wusste er. "Das mit der Bibel und mit
der Keuschheit, du lieber Himmel!" Wenn er es genau besah, tat es eigentlich
gar nicht mehr so weh. Das war auch gleich wieder zum Wundern. "Das ist
gar nicht so", dachte er, "wie dortmals bei deiner Rita, die dann den
Sendner Kurtl geheiratet hatte. Herrgott, das hat mich umgetrieben, und das hat
bedrückt, wahnsinnig! Jetzt bei der Michaela eigentlich überhaupt nicht so arg.
Ja, aber mögen hast du sie doch freilich, die Michaela, und wie du sie mögen
hast, schier gar zum Auffressen. Und eigentlich magst du sie ja immer noch.
Doch jetzt irgendwie anders!"
Weil es in
der Angelegenheit mit Michaela doch auch um die Frömmigkeit oder gleich
überhaupt um die Religion ging, glaubte er ein bisschen, "dass es ja
leicht ein wenig ein Wunder sein hat können, um das die Michaela gebetet hat.
Nämlich, dass ich bei ihr mit dem Herz jetzt so verschont bin und mit dem
inwendigen Wehtun. Oder ein bissl eine Gnade nachher doch schon. Und überhaupt,
dem ganzen Durcheinander da in meinem Kopf!"
Dann kündigte
sich die Zeit der Weihnachtsfeiern an. Es war zwar noch eine Weile hin. Aber
bei der Krämerin, die seit ein paar Jahren Edeka hatte, lag bereits der süße
Himmel in den Regalen: Es gab den schokoladenen Nikolaus, Engel und Sterne dazu.
Manche Mutter traute sich gar nicht mehr, die Kleinen mitzunehmen, nämlich
wegen der Quengelei. Wenn sie dann doch mürbe geworden war, musste sie die
Kinder sogar noch auffordern, alles gleich hineinzufuttern. Sonst hätte ihr zu
Hause die Oma in den Ohren gelegen: So eine Schleckerei habe es früher bei
ihnen vor Weihnachten nicht gegeben.
Auch in der
Stadt drinnen und im Fernsehen war Advent längst mit Hilfe von Santa Claus,
diesem liebenswürdigen Trottel aus Übersee, zur Marktgeschrei geworden. Der
Manger Matthies schickte zwar seine Trachtler-Kinder zum Klöpfeln von Haus zu
Haus: Ein Lied, ein Segenswunsch für die Hausleute – und dafür gab es dann
Naturalien, lieber natürlich hörten sie es im Beutel metallen klimpern. Aber
diese Aktion war nur ein bunter Tupfen. Gegenüber der Stadt konnte man auf dem
Dorf – Pfarrers Mahnungen zwar im Ohr, dass der Advent eine ruhige, ja sogar
Fastenzeit sei – nicht zurückstehen. Denn man wollte sich nicht für rückständig
und damit für blöd verkaufen lassen. Alle Vereine bemühten sich sodann und
legten ihren Termin fest – und sich ins Zeug. Die Tradition gebot den Vorständen,
unbedingt auch etwas für die geistige Erbauung zwischen dem Hunger nach
Unterhaltung und den schieren Ansprüchen des Leibes zu landen. Das musste gut,
ja raffiniert kombiniert werden. Denn es hatte sich auch mal gezeigt, dass
gerade in der Weihnachtszeit selbst die beste Darbietung in Kritik ersäuft
worden war. Und zwar genau dann, wenn den Leuten die Kultur bei leerem Magen
und im wahren Sinn des Wortes, nämlich trocken, zugemutet worden war. So
erwärmte man sich beim Krippenspiel gerne mit Glühwein, und die Lesung des
Weihnachtsevangeliums konnte durchaus mit Gebäck versüßt werden. Lediglich so
etwas wie Stille-Nacht, vom Schlager und der Folklore noch süßer und herzergreifender
getrimmt, ging immer so ans Gemüt, dass es ohne Beilagen geboten werden konnte.
Dann folgte jedoch die Christbaumversteigerung, die die Stimmung aufhellte
und Geld in die Vereinskasse brachte. Abgeschlossen wurde dieser Teil sinnigerweise
durch das Absingen von Oh-Tannenbaum. Worauf die Ehrung verdienter Mitglieder
folgen konnte. Was natürlich unter Ausschank von Freibier geschah, welches die
Geehrten zu stiften hatten. Die mussten richtig hergesoffen werden, damit sie
nicht hoffärtig wurden, auch damit sie merkten, dass alles seinen Preis hat. Am
schwierigsten war es jeweils, irgendwo auch das Gedenken an die Verstorbenen
unterzubringen, denn am Anfang stand ja immerhin Die Geburt, und am Ende der
Feier gab es zu viele, die ihren Durst schon zu eifrig gelöscht hatten, so dass
die Gefahr bestand, dass da wer nicht an sich halten konnte.
Einladung
zu diesen Feiern erfolgte erst, nachdem die Termine im Dorf sorgfältig
abgestimmt worden waren. Wobei alle Prominenten, auch der Bürgermeister mit
seinem Gemeindeschreiber stets ihre ohnedies aufopfernden Dienste anboten. Denn
niemand, der guten Willens war, sollte doch auch nur eine dieser dörflichen
Herz- und Seeleausschüttungen – etwa wegen unzureichender Planung – versäumen
müssen. Das wäre ein echtes, obendrein unverzeihliches Armutszeugnis für die
führenden Köpfe im Dorf gewesen und hätte mit Sicherheit bei Wahlen seinen
unerbittlichen Niederschlag gefunden. "Denn da siehst du es ja, was einer
kann. Nach was solltest du sonst gehen, wenn du deine Kreuzel machst? Denn
politisch und so sind wir eh nicht hier heraußen bei uns. Weil es das nicht
braucht."
So aber
klappte auch heuer wieder alles.
Alle hatten
dann bereits einige dieser Feiern hinter sich gebracht. Von denen etliche auch
mal erst zur Stallzeit, jedenfalls sehr erfüllt und wieder um sein Menschsein
wissend, nach Hause gingen.
Da wurde in
der Schlossbrauerei eines Tages bekannt gegeben – die ganze Belegschaft war
nach Arbeitsschluss in das Fasslager bestellt worden –, dass heuer sogar die
Brauereiverwaltung zu einer Weihnachtsfeier laden würde. Das erweckte Freude
und gab Gesprächsstoff. Es wurde von den Arbeitern beinahe ausnahmslos als eine
echte und längst fällige Neuerung begrüßt. Man übernahm, je nach Merkfähigkeit
ganz oder nur bruchstückhaft, die Formel, mit welcher der Entschluss verkündet
worden war: "Dass dieses doch die gewachsene, traditionelle und über
Jahrhunderte bewährte und gefestigte Verbundenheit der Eigentümer mit der Ortschaft
und der Umgebung und selbstverständlich auch den Mitarbeitern in deutlicher und
eindrucksvoller Weise dokumentieren soll ... oder zum Ausdruck bringen wird ...
oder ..."
Man saß
nach der Bekanntgabe dann noch kurze Zeit auf den Bierzeltbänken, die eigens
zum Zwecke dieser Zusammenkunft aufgestellt worden waren, und plauderte, trank
und rauchte. Es war irgendwie gemütlich, denn es waren so moderne Heizstrahler
auf Gasflaschen aufgestellt, wo man nicht zu nah hinkommen durfte, aber sich
immerhin seine Zigarette anzünden konnte, wenn man es nur geschickt genug
anstellte. Der Sendner von der Mälzerei war gleich gespannt, ob da zu der Feier
auch die Herrschaften kommen würden, "eigentlich muss ich es doch heute
schon wissen, weil mir sonst die Alte daheim keine Ruhe mehr lässt", sagte
er zur Gaudi der anderen. Er hatte damit allerdings nicht nur Gelächter,
sondern auch eine Diskussion ausgelöst. "Nein", widersprach nämlich
die Bentlerin, die als Reinemachefrau sogar in der Chefetage tätig und auf das
Goldene Blatt abonniert war. "Nein, ihr lieben Leute! Solche Herrschaften
kommen nicht lediglich. Denn wenn welche nämlich so vornehm sind, dann heißt
das, sie erscheinen!"
"Oder
auch nicht!", funkte der Müller Seppl bissig dazwischen, bevor noch jemand
Gelegenheit hatte, die von der Bentlerin vorgebrachte Feinheit zu würdigen.
"Das
ist wieder typisch Müller Seppl. Dieser ungute Mensch, der doch irgendetwas
gründen will, einen Verein für die Zu-kurz-Gekommenen im Dorf – oder gleich
unter der ganzen Menschheit oder sonst wo. Der allerdings die Sau immer noch
nicht rausgelassen hat, der Müller Seppl", schimpfte der Sendner vor sich
hin.
"Nun
ja", versuchte es dann der Häuslmann, der Bulldogfahrer im Gut war,
versöhnlich. Es war jetzt immerhin bald Weihnachten: "Vielleicht kommen
einige von denen von da ganz oben vielleicht nur. Denn alle Herrschaften kommen
da doch bestimmt nicht, denn die haben sicher was andres zu tun und ganz wo
anders, in Mallorca oder wo, als sich mit unsereinem hier in der Kälte abzugeben."
"Die
wollen ja doch nur verhindern, dass es einen Betriebsrat gibt!",
kritisierte der Müller gleich wieder, "und da wanzen sie sich mit so was
wie einer Betriebsversammlung an euch ran. Oder dass es so aussieht wie
eine!"
Obwohl die
anderen grantig abgewunken hatten und dabei waren wegzugehen, polterte er noch:
"Die wollen euch doch lediglich einlullen!"
"Einlullen?
Was ist denn das?", war zu hören.
"Einlullen,
das gibt es doch gar nicht bei uns da. Da siehst du es wieder", urteilte
der Sendner, "für dem Müller seinen Firlefanz, da gibt es bei uns gar
keine Sprache, die einer versteht."
Die Leute
machten sich jetzt davon, weil sie sich die vorweihnachtliche Stimmung nicht
verderben lassen wollten durch so etwas, was vielleicht sogar politisch war.
Bärlapper
war auch dagesessen, hatte aber nicht ganz aufgepasst, was alles gesprochen
wurde. Er hatte den Leuten eigentlich nur zugesehen, wie sie sich aufführten,
wenn sie redeten, was sie für ein Gesicht machten, Grimassen schnitten, wie sie
mit den Armen fuchtelten, wie sie sich vorbeugten, wie sie den anderen
anglotzten – oder wegschauten. Er hatte sich gerade eingebildet, dass er
daraus, wie jemand spricht, manchmal mehr erfährt, als wenn er jemand hört. Er
wunderte sich über diesen Gedankenblitz. "Eigentlich ist jede Menge
fremd", sinnierte er. "Das packe ich dann nimmer. Und dass eigentlich
jede Menge fremd ist, das merke ich eh erst, wenn ich hier ein wenig außerhalb stehe von den
anderen."
Auf dem
Nachhauseweg überlegte er, ob er nicht heute oder in den nächsten Tagen ein
Bäumchen aus seinem Wald holen und es dem Iwan und seinen Leuten bringen
sollte.
Dieser
Gedanke trieb ihn in den folgenden Tagen immer wieder um. Er wusste nicht, ob
diese Leute das nicht auch für aufdringlich halten könnten, wenn er mit einem
Weihnachtsbaum daherkomme. Auch wusste er gar nicht, ob die vier für solche
Bräuche um Weihnachten überhaupt einen Sinn hatten. "Vielleicht sind es
ganz Gottlose?" Sie hatten die wenigen Male, die er dort zu Besuch war,
zwar immer so viel und vielerlei geredet – und dass da irgendwo ein Kruzifix
gehangen wäre, konnte er nicht erinnern. Er kannte sie eben noch gar nicht so
richtig, ging ihm plötzlich auf. "Wen kennst du denn überhaupt
richtig?", überfiel ihn in dem Augenblick. Auch wie die sich immer fein
machten, wenn er kam, richtig wie zu einem Fest, schweifte er ab. Sie redeten
immer "echt, über die ganze Welt. Wo müssen die überall auf der Welt rumgekommen
sein? Obwohl sie ja die mehrere Zeit oder vielleicht immer sogar nur in
Ritzling gewesen sind! Fernseher haben sie auch keinen! Und wenn ihnen der
Stoff mal ausgegangen war, dann erzählte einer von denen irgendwas. Die haben
immer eine Geschichte – die sie alle miteinander erzählen und durcheinander.
So, wenn einer aufhört, weil er vergessen hat, wie es weitergeht. Dann macht
der andre weiter – irr! Und irr ist auch, dass wenn du kommst, irgendwer von
denen irgendwas hat: ein blaues Auge, die Hand eingebunden. Vielleicht raufen
sie, wenn du weg bist darum, wie die Geschichten, die sie immer haben, so
richtig erzählt worden waren. Weil sie eigentlich anders weitergangen wären,
als sie der andere erzählt hatte. Die sind alle ziemlich schnell auf
Hochtouren. Dann kann ja alles sein!"
"Hast
einen Brief gekriegt", empfing ihn die Mutter eines Tages, als er nach der
Arbeit nach Hause kam. Er sah nicht gleich danach und meinte, "wieder so
ein Fetzen von der Reklame oder was von einem Amt. Wer schreibt mir denn? Auch
wenn die Schwester mal schreibt, dann schreibt sie eh der Mutter – mit
freundlichen Grüßen auch an mich, und dass ich brav bleiben solle, immer der
gleiche Krampf. Mehr ist nie drin." Er konnte sich nicht erinnern, je
einen richtigen Brief, so einen handgeschriebenen, also irgendwas von einem
richtigen Menschen jedenfalls, nicht nur von einem Amt oder einer Firma
erhalten zu haben.
"Wie
der Postbote so den Brief da in den Fingern gehabt hat", fing die Mutter,
die es irgendwie nicht in Ruhe ließ, wieder an, "da hat er so ganz
gescheit dreingeschaut. Aha, habe ich mir gedacht, gib ihm ein Schnapsl, weil
er es immer kriegt, wenn er so schaut und ratschen will."
Nach einer
kurzen Pause fuhr sie fort: "Was zu trinken kriegt der immer, wenn er
einen echten Brief bringt – und wenn er so dreinschaut, wie er bei deinem Brief
dreingeschaut hat."
Hans
wunderte sich, dass die Mutter so viel redete und die Arbeit liegen ließ, die
sie zunächst am Herd verrichtet hatte. Er vermutete, dass da etwas Besonderes
dahinter steckte. Vielleicht war es der Brief? Doch er ließ ihn liegen, schaute
ihn gar nicht an: "Was kann es denn schon sein?"
"Ich
glaube", fing sie wieder an und nestelte an der Schürze herum, "der
alte Bazi von einem Postboten weiß immer, was in einem Brief drinsteht. Der
braucht einen Brief nur anzuschauen und zwischen den Fingern zu reiben
vielleicht, dann kann er sich denken, was drinnensteht. Ich glaube, was ein richtiger
Postbote ist im Dorf, der braucht das, sonst platzt der und geht drauf vor
Neugier!" Sie legte jetzt ein Trockentuch zum zweiten Mal zusammen,
schaute den Sohn an und wartete ab. Doch Hans biss von seinem Schmalzbrot ab,
kaute ruhig, trank sein Bier nach und war nicht aus der Ruhe zu bringen.
"So,
aha, hat der Postler dann gesagt, wo er das Schnapsl nunter hat", setzte
die Mutter drauf, "... soso, von einer Klosterfrau gleich kriegt der Hansl
einen Brief!" Sie schaute jetzt gespannt auf den Sohn.
Hans hatte
das wie ein Schlag getroffen, der Brocken war fast im Hals stecken geblieben.
"Der
Hans kennt eine Klosterfrau, soso!", machte die Mutter ruhig weiter und
ließ ihn nicht aus dem Auge. "Bald zerrissen hat es ihn vor Neugier. Dann
ist er doch gegangen. Ich glaube, morgen weiß es das ganze Dorf: Der Hans und
eine Klosterfrau. O mei!", seufzte sie dann, "O mei!" Und damit
wandte sie sich ihrer Arbeit zu.
Mit der
'Klosterfrau' hatte sie Hans völlig aus der Ruhe und beinahe aus der Fassung
gebracht. Er stand eilig auf, war fast aufgesprungen, griff sich den Brief,
steckte ihn in die Hosentasche und verschwand.
In seinem
Zimmer setzte er sich aufs Bett und zog mit einem tiefen Seufzer den Brief
heraus. "Michaela Brokhorst, Dießen am Ammersee", las er laut den
Absender. Es dauerte in seiner Aufregung sogar einen Augenblick, bis er
dahinter seine Michi erkannte. Dann riss er den Brief auf und begann zu
lesen:
"Lieber Hans,
sicher wunderst Du Dich, von
mir und noch dazu von hier einen Brief zu erhalten. Aber ich habe geglaubt, Dir
diese Mitteilung schuldig zu sein. Denn ich darf Dich auf keinen Fall in
falschen Vorstellungen lassen.
Ich möchte
Dir ohne Umschweife mitteilen, dass ich mich hier bei den Klosterfrauen, es
sind das Dominikanerinnen, im 'Kloster auf Zeit' befinde. Dies gehört zu
meinem Plan, mich auf meinen Übertritt zum katholischen Glauben, wovon ich Dir
ja berichtet hatte, vorzubereiten ..."
Hans legte
das Papier weg und holte tief Luft. "Ja, das schmeißt mich glatt um
", redete er laut vor sich hin. "Die Frau geht aufs Ganze! Ja, was
ist dann das? Ja, da schau her – oder hin – oder es ist ... ja was dann?"
Er lehnte
sich im Bett zurück und ließ seine Donnerstagsreisen in die Stadt in seiner
Erinnerung heraufziehen.
Nach einer
ganzen Weile griff er wieder nach dem Brief, während er noch an die Decke
starrte, bekam ihn zu fassen, rieb das Papier zwischen den Fingern. "Ich
möchte es nicht glauben, doch es ist so. Tatsache, unabänderliche", seine
Feststellung. "Einen Brief hast du gekriegt. Und was für einen. Einen
richtigen. Und gleich so einen!"
Dann richtete er sich
stöhnend auf und las weiter:
"Ich darf auch bereits
so ein langes Wollkleid tragen, weiß in der Grundfarbe. Es ist ja eine Kutte,
womit alle zwar etwas Dürftiges, Kratzendes verbinden, doch es ist sehr
angenehm und es ist praktisch obendrein. O ja, es ist ein ganz einfaches Gewand,
kein so schönes wie die richtigen Klosterfrauen, die in weiß-schwarz gehen und
Hauben oder besser Schleier tragen, jedoch ein solcher hinwiederum auch nicht,
was alle bei Hochzeiten unter Schleier verstehen, sondern etwas Schlichtes und
doch auch wieder kunstvoll Gefaltetes. Ich habe mir eine ganz einfache Frisur
machen lassen und trage jetzt mein Haar kurz und glatt ..."
Hans
behielt das Papier dieser Michaela Brokhorst in der Hand. Er sank wieder aufs
Bett zurück. Er schloss die Augen und fuhr Michi in Gedanken mit der Hand durch
die blonden Locken und den Rücken hinunter – da wurde ihm Michi plötzlich kalt,
eiskalt und starr – und zu so einer marmornen Statue ...
Nach einer
Zeit raffte er sich auf, erhob sich und ging zur Kommode. Er legte das Blatt
darauf und strich es glatt, las noch den Satz:
"Ich
glaube fest, lieber Hans, endlich die Heimat gefunden zu haben, nach der ich
die ganze Zeit so sehr suchte. Heimat, nicht als geographisch zu fassender Ort,
es sei denn, es gibt so etwas wie eine Geographie der Seele. Dort hätte ein
jeder die wahre Erfüllung zu suchen ..."
"Aha,
da ist sie ja wieder, die 'wahre Erfüllung'!", stellte er fest und musste
verbittert lachen: "Und wer diese 'Erfüllung' alles in den Mund nimmt: Der
Stierhalter vom Dorf neulich und jetzt die Klosterfrau auf Zeit – oder Nonne
auf Ewigkeit meinetwegen!", setzte er böse hinzu. Er holte tief Luft.
"So, lieber Hans, jetzt reicht es", trotzte er, "das war es
eben! Mehr brauchst du ja eigentlich nicht zu wissen. Vielleicht, dass ich mir
den Brief einrahme. Denn diese Nonne hat ja eine so schöne Schrift, diese
Michaela Brokhorst vom Kloster", war er bissig, um seinen Schmerz etwas
wegzuätzen. "Wenigstens das weiß ich gewiss, dass sie schön schreibt. Denn
aus den Weibern wirst eh nicht schlau. Michaela, Resi, Michi. Welche bist du
denn wirklich und was für eine?" Er ging kopfschüttelnd nach unten.
Kaum war er
in der Küche, fing die Mutter zu jammern an, dass sie im Dorf schon redeten.
Die Nachbarin habe ihr zugetragen, dass sie, die Nachbarin, aufgefangen habe –
was sie, die Nachbarin, ja nicht geglaubt habe, aber sich doch direkt verpflichtet
fühle, es ihr, der Mutter Bärlapperin, zu berichten. "Nämlich, dass die
Leute reden und sich wundern täten, was für einen Umgang der Bärlapper Hansl
denn hat mit den Leuten da von der Grube – du lieber Gott! Und warum er nicht
heiratet? So ein ordentliches Mannsbild, wie der Hansl eins ist, sollen die
Leute reden, das doch leicht irgendwo einheiraten könnte, in einen schönen großen
Bauernhof. Da könnte sich ja eine die Hände abschlecken, hat die Nachbarin
gesagt, dass es ihr die Hemigerin gesagt hat. Und da tät es ja Bauernhöfe
geben, die bloß Mädeln zum Erben haben! Sogar hier im Dorf tät es welche geben.
Eine besonders, bei der das Heiraten wegen ihrem Alter bereits nottäte."
Die Mutter holte tief Luft.
"So,
Gott sei Dank, jetzt ist es endlich raus, ha?", knurrte Hans – allerdings
war diese Tonlage eher gespielt, denn diese Mitteilung konnte seinen Kummer
nicht überdecken. Um sich dennoch wenigstens etwas abzulenken, überlegte er,
wann er die Mutter zuletzt hatte so viel reden hören. "Klar damals, als
ich den Sendner Kurtl verprügelt hatte", fiel ihm zu seinem Erstaunen ein,
da diese Erinnerung sich ja genau zu seinem Problem fügte, "nämlich, weil
der mir die Rita ausgespannt hatte. Ins Krankenhaus hat der müssen, und so
ziemlich das ganze Dorf hat es richtig gefunden, dass sich ein Kerl wehrt, wenn
ihm das Mädel weggenommen wird, das ihm allein gehört", erinnerte sich
Hans. "So einundzwanzig bin ich gewesen. Aber die Mutter hatte es anders
gesehen als die meisten Leute vom Ort und unbändig geschimpft. Dass das nur
Viecher machen, hat sie gewettert, Hirschen, blöde Stiere, Hunde. Bist du ein
Hirsch, ein Stier, ein Hund? Dann haust du ab in den Stall! Saugrantig war sie,
die Mutter damals. Aber wen soll ich jetzt verhauen wegen der Michi, weil die
fort ist? Den Herrgott vielleicht, der mir die Michi weggenommen
hat?"
"Ja,
mei, rede halt was!", jammerte die Mutter.
Hans
brachte nichts heraus. Während er so vor sich hinbrütete, stellte er sich vor,
wie das Getratsche die Runde machte, wie sie sich im Dorf wieder in dieser ganz
verzwickten Art öffentlicher Geheimhaltung Mitteilung machten. Wie sie sich
gegenseitig versicherten, dass sie ja eigentlich gar nichts sagen wollten,
"aber dass man durch das, weil es halt mal ist, direkt gezwungen ist,
hinzuschauen und zu hören. Obwohl man es sowieso nicht ändern kann, trotzdem
auch nicht darüber wegschauen kann, ohne was zu sagen. Die anderen Leute im
Dunkeln tappen lassen, das darf man ja nicht, was ja auch direkt auch ein wenig
gemeinschaftsschädlich wäre, wo man doch alles weiß von den anderen und doch
ohne eigenes Dazutun. Schade ist es doch irgendwie, aber man darf ganz einfach
nicht für sich behalten, was alle angeht, dass da kein Schaden wird!"
"Den
Buckel sollen sie mir runterrutschen", murmelte Hans zornig vor sich hin,
dass sich die Mutter wunderte. "Das ganze Pack da kann mich mal, die
besorgten Nachbarn und die Daherreder, die ganz die schönen! Den Brief da von
der Klosterfrau da, den kannst du ruhig lesen, Mutter, der liegt auf meiner
Kommode! Sagst mir dann, wie er ausgeht! Denn ich habe ihn nicht ganz gelesen,
weil es mir saumäßig fad ist, alles umeinander und mit den Mädeln jetzt schon
gleich gar!" "Ach, Hansl!", seufzte die Mutter.
Er ging
hinaus. "Jetzt gerade mit Fleiß! Der Iwan kriegt jetzt einen
Christbaum!" Er griff sich eine Säge und machte sich auf den Weg in
Richtung Wald.
Er atmete
tief durch. Die kalte Luft tat ihm gut.
Es hatte
die vorige Nacht über geschneit. Die Feldwege waren nicht geräumt, so sank
Bärlapper bei jedem Schritt an manchen Stellen fast bis zu den Knien ein. Da
machte es einige Mühe, sich zuerst durch den Schnee und dann durch das
Unterholz bis zur Dickung vorzukämpfen. Allerdings lenkte es ihn von seinem
Kummer ab und machte den Kopf frei. Dann hatte er die Stelle in seinem kleinen
Wald erreicht, an der so vor zehn Jahren Anflug von Fichten aufgegangen war. Er
verschnaufte und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Er
schaute umher. "Ist das schön hier!", sagte er laut vor sich hin und
holte tief Luft. Es war eine helle Mondnacht, die ihr Licht auf den Schnee
warf, dass es glitzerte, und Bärlapper konnte alles gut erkennen. Er suchte
eine Weile. Fast tat es ihm leid, sich zu entscheiden und zwei Bäumchen abschneiden
zu sollen. Dann rang er sich jedoch durch: "Raus müssen sie eh, denn die
stehen zu dicht. Einen für uns, einen für den Iwan – verrückt!" Er
kicherte läppisch: "Eins ins Kröpfchen, ein ins Töpfchen! – kindischer
Depp!", grinste er vor sich hin.
Dann hatte
er seine Wahl getroffen. Er räumte den Schnee mit der Hand zur Seite, bückte
sich, setzte die Bügelsäge an und begann mit seiner Arbeit, Stille-Nacht im
Arbeitstakt summend.
Als er nach
den ersten Zügen einmal etwas zur Seite blickte, stutzte er. Da war doch was!
Er schielte noch einmal hin und zuckte zusammen: ein Schatten! Er wollte sich
aber nichts anmerken lassen, tat so, als wäre nichts und sägte weiter – jetzt
ohne sein Lied –, war aufs Äußerste gespannt, dachte nach, wie er sich wehren,
wie er angreifen oder sich wenigstens verteidigen könnte. Noch mal schielte er
zur Seite. Richtig, das von vorhin war da immer noch. Keine Bewegung mehr:
"Klar, da ist einer", fuhr es ihm durch den Kopf. Dann schnellte er
aus seiner gebeugten Haltung hoch, hatte die Säge mit beiden Händen gepackt,
machte eine Wendung zu diesem dunklen Fleck, holte schon mit dem Werkzeug aus
...
"Na,
na!", hörte er eine heisere Stimme, "nicht gleich so wild!" Der
alte Oberlehrer war da, war in Deckung gegangen, hatte in Erwartung des Hiebes
noch den Arm vor dem Kopf und sah jetzt wie ein Häufchen Elend recht kärglich
aus. Bärlapper musste lachen. "Ach so, du bist es, Schulmeister!",
sagte er erleichtert. Er hielt die Säge noch schlagbereit und schaute jetzt
darauf. Lachend ließ er die Arme sinken und stützte sich auf die Säge.
"Habe
ich dich erschreckt?", fragte der Lehrer und musste nach Luft schnappen.
Bärlapper
zuckte die Achsel und bückte sich wieder, um weiterzusägen.
Der Alte
schaute ihm eine Weile zu, dann fragte er erstaunt: "Gleich zwei? Noch
dazu in deinem eigenen Wald – hoffe ich wenigstens!"
"Das
möchte ich wohl glauben!", war Bärlapper fast entrüstet und richtete sich
mit dem Bäumchen in der Hand auf. Er schaute stolz auf den Alten hinunter.
"Denn wir sind zwar kleine Leute und haben gewiss nicht viel, doch
immerhin ist es unser eigenes Sachl!", erklärte er.
"Na, du musst dich
nicht gleich aufregen! Von dir, Hans, hätte ich sowieso nichts anderes
erwartet, als dass du nur bei dir einen Weihnachtsbaum umschneidest. Aber du
weißt ja, man sagt halt, dass einer seinen Christbaum im Wald von seinem Nachbarn
oder noch besser im Wald von seinem Feind holt. Es heißt ja, die geklauten
Christbäume, das sollen die Christbäume sein, die am Heiligen
Abend die größte Freude
bereiten."
Bärlapper
packte die Bäumchen und drückte dem Alten die Säge in die Hand: "Da, dass
du auch was tust und nicht nur schwätzt!"
"Bärlapper,
du reiner Tor", lachte der Alte, "du kennst eben nicht die so viele
kleine Freuden spendende Kraft der Niedertracht!"
Bärlapper
wusste damit gar nichts anzufangen.
Sie machten
sich auf den Weg. Bärlapper stapfte mit seinen großen Füßen voraus. Der Alte
bemühte sich, die Spur von Bärlapper zu nutzen. Er hatte sich jedoch sehr
anzustrengen, und es musste komisch aussehen, wie der kleine Mann hinter der
massigen Gestalt seine Verrenkungen machte.
"Ja,
ja", stöhnte der Lehrer und blieb schwer atmend stehen. Bärlapper ging
weiter. Er meinte, "wenn ich stehen bleibe, dann darf ich mir wieder so
einen Krampf anhören wie vorhin."
Als der
Alte wieder genügend Puste hatte, rief er Bärlapper nach: "Wo ein Weg ist,
da ist auch ein Wille, Hans!"
"Geht
es trotzdem wieder los? So ein Blödsinn noch dazu", murmelte Bärlapper vor
sich hin und legte an Tempo zu. "Dir zeig ich es schon!", dachte er
sich. Dann rief er doch zurück: "Das stimmt ja überhaupt nicht, Lehrer!
Ich glaube, du bringst wieder alles durcheinander!" Und er redete weiter
vor sich hin: "So dem Gespür nach stimmt es nicht: Wo ein Weg ist, da ist
auch ... – Quatsch!" Er blieb stehen und überlegte jetzt doch, wie es
richtig heißt. Da war sein Begleiter bereits wieder in seiner Nähe und stand
keuchend neben ihm.
"Das
heißt doch genau andersrum: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!", triumphierte
Bärlapper.
"Ja,
siehst du, Bärlapper Hans, das kann man so herum und auch anders sehen",
behauptete der Oberlehrer und rang wieder nach Luft. "Ja, das ist nämlich
so wie mit dem Essen", keuchte er, "da ist manchmal auch erst das
Essen da, und der Appetit, der kommt dann später."
"Was
soll jetzt das wieder sein?", fragte Bärlapper ärgerlich. "Na ja, das
habe ich auch schon gehört, das mit dem Appetit und dem Essen", gab er
nach und ging weiter.
"So,
siehst du es also ein", freute sich der Oberlehrer und folgte Bärlapper.
"Und ich sage dir gleich was, Bärlapper, du gehst jetzt erst einen Weg,
und ich wünsche dir, dass dir auch der Wille dazu kräftig gegeben und lange
erhalten wird ..." Der Alte hatte
sich damit wieder übernommen, keuchte und hustete und musste stehen bleiben, um
Atem zu holen.
Bärlapper
ließ sich nicht aufhalten. "Der wird schon wieder", war er überzeugt,
"und wenn nicht ..." Er dachte nicht weiter.
"Hansl",
rief ihm der Alte hinterher, "geh nur deinen Weg!" Und er musste
gleich wieder husten.
Dieses von
tief unten kommende Bellen, gefolgt von einem pfeifenden Japsen, das der Alte
da seinen Worten nachsandte, konnte einem Angst machen. Bärlapper blieb jetzt
doch stehen und sah sich um. "Wenn der hier abkratzt, muss ich ihn auch
noch ins Dorf schleppen", witzelte er bissig und wartete.
Da
schnaubte der Alte heran: "Bärlapper, weißt du ..." Er hatte seine
Not mit dem Atmen und machte wieder seine Geräusche damit. "Bärlapper,
weißt du, das ganze Leben habe ich mich mit der halben Weisheit abgeben müssen
...", da war auch gleich sein Überschuss an Luft verbraucht und in das folgende
Schnauben hinein klagte sich Bärlapper, dass ihm diese Begleitung äußerst
lästig sei. Da ging es jedoch weiter: "Ich habe sie, nämliche Weisheit,
auch noch den Kindern eingießen müssen ..."
Der Alte
ließ die Säge fallen und presste die Hände an die Brust und krümmte sich, als
ob er Schmerzen hätte. Bärlapper legte die Bäumchen weg und machte schnell ein
paar Schritte auf seinen Begleiter zu.
Der fuhr
allerdings in seiner gebeugten Stellung fort: "Und das mit diesen
Sprichwörtern ist so: Man muss sehen", keuchte er, "ob man sie auch
von hinten gebrauchen kann. Umdrehen muss man sie – und überhaupt alles,
verstehst du? Denn wenn du alles nur von einer, nämlich seiner ganz gewöhnlichen
Seite, nimmst, dann findest du dich ja freiwillig mit der Hälfte ab!"
Er lachte
heiser und setzte sein tiefes Husten nach.
"Dann
sei halt ruhig!", brummte Bärlapper vor sich hin, als er so daneben stand
und doch wartete. "Aber dem geht es ganz gut, dem alten Halunken. Der
macht dir bloß was vor, damit du stehen bleibst und sein Geschwätz
anhörst", schimpfte Bärlapper in sich hinein, hob die Säge auf und ging
wieder zu seinen Christbäumen. "Der mag wieder sein Theater treiben, das
er immer abzieht mit allen Leuten. Der weiß ganz genau, dass er einen Blödsinn
redet. Allerdings sind sich die Leute da doch nicht gleich so sicher, ob es
nicht vielleicht auch eine Gescheitheit ist. Das liegt ja alles manchmal ganz
eng beieinander."
Der Alte
richtete sich wieder auf und lief Bärlapper hinterher.
Sie waren
dann bei der Straße angelangt. Dort war der Schneepflug gefahren, und sie
mussten sich beim Gehen nicht mehr so abmühen. Der Alte trippelte nun neben
Bärlapper her. Er schien sich wieder erholt zu haben und bot Bärlapper sogar
an, eines der beiden Bäumchen zu tragen.
"Weißt
du, Hans, es ist mir vollkommen klar, wer das zweite Bäumchen da bekommt",
bekannte er, als sie ein Stück Weg zurückgelegt hatten.
Bärlapper
wunderte sich, schwieg jedoch.
"Weißt
du, Hans, ich fahre ja morgen nach Mallorca. Wie jedes Jahr. Renne doch nicht
so! Weihnachten ist nämlich für jeden Einschichtigen die absolute Zumutung. Das
gilt allerdings nur, wenn er sich, besagter Einsiedler, ein Quäntchen Geschmack
bewahrt hat. Wenn er dazu auch noch Gemüt besitzt. Welchselbiges ich mir
natürlich andichte. Weihnachten ist hierzulande ganz und gar unerträglich! Da
lobe ich mir den Ami. Denn der hat die Kurve zum Kitsch sofort und total
erwischt und bekennt sich auch erhobenen Hauptes dazu. Während man hier noch
versucht, das Christkind zu reklamieren. Das arme Wesen und die ganze Schose
wird mit einer Schlagrahmwolke von Innerlichkeit umgeben und mit Unmengen von
Gemütspaste zugeschmiert."
"Leicht
möglich", kam von Bärlapper ärgerlich. Er war überzeugt, dass der einmal
nicht an seinem Husten, sondern an seinem geballten Geschwafel erstickt.
"Aber
eines sage ich dir, Bärlapper Hans: Mein tiefer Respekt ist dir sicher!"
Dabei hatte sich seine Stimme ganz sonderbar angehört, irgendwie von ganz
unten. Bärlapper vermutete, dass der Alte schon wieder Schwierigkeiten mit dem
Luftkriegen hatte. Aber es rührte ihn nicht sonderlich. "Der müsste nur
den Mund halten", meinte er, "dann verschnauft er es auch. Allerdings
kann halt ein Lehrer seine Klappe nicht halten."
"Respekt!",
hörte Bärlapper wieder, konnte damit jedoch immer noch nichts anfangen.
Der Alte
musste das spüren. Er klagte, dass man Bärlapper ja überhaupt nirgendwo mehr
treffen könne. Er setzte drauf: "Wenigstens nirgends, wo die anständigen
Leute sich herumtreiben!"
"Treiben
sich anständige Leute denn überhaupt herum?", fragte Bärlapper und fuhr
gleich fort, um eine möglicherweise lange Antwort zu verhindern, dass er eben
keiner sei, der viel unter die Leut gehe.
"Ja,
ja, du hast immer gesehen, dass du dich raushältst", erinnerte der Alte,
"allerdings warst du doch immer irgendwie überall dabei, wo man so dabei
sein muss, als Bub. Dann als Jungmann. Jetzt müsste in dieser Abfolge natürlich
der Mann kommen! Aber ich bin mit dem Jungmann noch nicht fertig! Man weiß
doch, dass es, vom Jungmann ausgehend, viele Möglichkeiten gibt. Da ist zum
Beispiel der bloße Kerl, der sich zum richtigen Kerl wandeln kann, von dem sich
jeder wünscht, der diese Entwicklung genommen hat, dass er, der ganze Kerl, ihm
das ganze Leben erhalten bleibt." Darauf musste der Redner natürlich
wieder nach Luft schnappen – allerdings schien es auch so, als ob er seinen
Gedankengang für sich weiterspann. Bärlapper war es egal. Sie gingen eine Zeit
schweigend nebeneinander her. Ihr Blick schweifte über die verschneiten Felder.
Am Horizont tauchte die Silhouette des Dorfes auf mit den kleinen Lichtpunkten
in den Hauswänden. Es sah aus wie auf den Postkarten, die um die Zeit
verschickt wurden.
"Das
ist jedes Jahr, als ob man es zum ersten Mal sähe!", sinnierte der Lehrer.
"Man bleibt in gewissen Dingen immer Kind." Er lachte trocken:
"Und man bleibt doch auch immer Lehrer, wenn man sich mal drauf
eingelassen hat!"
Bärlapper
ließ ihn reden.
Plötzlich
fasste ihn der Alte am Ärmel und hielt ihn fest, so dass er stehenblieb und
seinen Begleiter erstaunt anschaute. "Bärlapper, noch mal: Respekt!",
beteuerte der Alte und blickte ihm in die Augen.
"Was
soll das?", wunderte sich Bärlapper. "Immer das mit dem Respekt – und
jetzt auch noch das Anglotzen!"
"Bärlapper,
du gehst deinen Weg, auch wenn der schwer ist und vielleicht sogar noch
schwieriger wird, als er jetzt bereits ist. Doch wenn du diesen Weg gehst, dann
kommt der Wille bestimmt auch!", erklärte der Schulmeister.
"Bärlapper, dass du mit denen da ... – Na, du weißt ja!"
Er hatte
Bärlapper losgelassen. Er ging wieder weiter, jetzt folgte Bärlapper. Der
Lehrer tat so, als redete er nur so vor sich hin, allerdings wieder – nun wohl
durch seine Erregung – kurzatmig geworden: "Ich habe mir Jahrzehnte immer
wieder Gedanken gemacht wegen dieser Leute da an der Dreckgrube. Diese
Außenseiter, die – ja was denn? Und dann habe ich mir immer die Normalbürger
hier im Dorf, die Alteingesessenen, als Überbürger sozusagen
dagegengehalten."
Der Alte
ging jetzt schneller, und nun hatte Bärlapper richtig Mühe zu folgen.
"Was
habe ich mich die ganzen Jahre gefragt, wie ich denen helfen könnte!" Er
blieb stehen. "Mir ist nie etwas Richtiges eingefallen, wie ich oder irgendwer
denen da unten helfen könnte", fing er nach einer Weile wieder an.
"Wie ist jemandem zu helfen, den man ja gar nich kennt? Noch dazu, wenn
man gar nicht darum gebeten wurde? Herrgott, es ist ja andererseits auch so,
dass man manchmal jemanden vor sich selber in Schutz nehmen müsste! Was sage
ich, manchmal? Nein, das ist ja so, dass das sehr oft der Fall ist. Eigentlich
kommt jeder immer wieder in die Lage, dass man ihn vor sich selber schützen
müsste!"
Jetzt waren
sie bei den ersten Häusern angelangt, und der Alte blieb wieder stehen.
"Ich
habe immer überlegt, weißt du, Bärlapper!" Er setzte lachend hinzu, indem
er weiterging: "Das ist so in einem drin durch diesen Beruf. Da ist immer
so der Zwang zu helfen, das ist auch immer drin. Man tut es im Endeffekt
selten, aber der Zwang ist da, verstehst du? Eine dumme Situation!"
Ein
Hustenanfall bremste seinen Wortfluss aus.
Bärlapper
dachte sich dabei: "Da redet der Kerl immer um was herum und bringt es
nicht auf den Punkt." Er wartete zunächst. Als doch nichts mehr kam, ging
er weiter, gefolgt vom Lehrer, und bald waren sie mitten im Dorf und fast beim
Bärlapperhof.
"Also,
ich dachte immer an die da, und ich denke immer noch darüber nach. Plötzlich
kommst du daher, Bärlapper! Einer, der nicht überall mitmacht, der es aber doch
auch wieder jedem recht machen will! Man stelle sich das nur vor! Ich denke und
denke, Jahrzehnte, und ich tue nichts. Und du denkst nicht lang herum, sondern
du gehst auf diese Leute einfach zu. Das ist eben diese verdammte Stärke von
euch unkomplizierten Menschen! Ihr habt ein Gespür für die einfachen Dinge und
damit habt ihr euer Leben ja auch schon im Griff. Und wir Hirnidioten, was
haben wir denn?"
Sie hatten
jetzt den Hof erreicht. Bärlapper war nun froh, zu Hause zu sein. Denn er
meinte, dass es ja reicht, was er sonst noch von überall her gesteckt bekam in
dieser Sache da mit seinen paar Besuchen in der Baracke, die offenbar alle als
etwas ganz Besonderes sahen. "Der Lehrer kommt jetzt auch noch damit
daher, aber ganz anders – freilich wie halt immer! Aber warum haut er nicht
endlich ab?"
Bärlapper
stellte die Bäumchen gleich neben dem Hauseingang ab. Ergriffen nahm der Alte
mit beiden Händen Bärlappers Rechte und drückte sie: "Also, Hans
Bärlapper, das ist für mich das schönste Weihnachtsgeschenk überhaupt. Dass du
so handelst in dieser Sache und auf die Leute da drunten zugegangen
bist!", brachte er ergriffen, schier wie unter Tränen hervor. "Du
siehst, dass Weihnachten auch bei einem Menschen meines Schlages etwas an- und
ausrichten kann. Wenn es nur ohne den ganzen verdammten Kitsch daherkommt. Es beweist
sich hierin das Eigentliche, nämlich die Geburtsstunde der Ehrlichkeit und
Nächstenliebe!", setzte er kaum vernehmbar hinzu. Er ließ Bärlappers Hand
los und hustete sich frei. "Aber nun haue ich ab nach Mallorca", kam
fest, als er sich wieder gefangen hatte, "dort warten meine Frauen und
meine Kinder auf mich!"
Bärlapper
hielt seine Hand noch so, wie sie der Alte losgelassen hatte, und er wunderte
sich über alles und dass er dem Alten ein Geschenk gemacht haben solle. Am
meisten staunte er jedoch über dessen eben bekundete
Familienverhältnisse.
"Doch
frage mich nicht, mein Junge, warum ich in dieses elende Nest hier", er
lachte, "dieses unsägliche Ritzling, dem ich sogar noch die Chronik
schreibe mit immer wieder diesen Halbwahrheiten ... Frage mich nicht, warum ich
stets zurückkomme, mein Sohn!" Dann wandte er sich von Bärlapper ab und
ging.
"Es
kann einer anscheinend nur in Frieden leben ...", hörte ihn Bärlapper im
Weggehen noch vor sich hin reden.
Die anderen
Worte verloren sich aber im Knirschen seiner Schritte im Schnee.
1O
Nach Stall
und Abendessen teilte Hans der Mutter mit, dass er noch wegmüsse. Die ahnte,
was er vorhatte, denn da waren ja seit gestern die beiden Weihnachtsbäume vor
der Tür.
"Du
musst ja wissen, was du tust!", murmelte sie.
"Freilich
weiß ich das!", trotzte er und ging.
Draußen
nahm er ein Bäumchen und band es ein wenig zusammen. Dann machte er sich auf
den Weg. Nur ein paar Leute begegneten ihm, man nannte grüßend die Namen oder
rief sich irgendetwas zu, einen guten Abend, wie es einem gehe – ohne auf die
Antwort zu warten. Viele Ställe waren noch erleuchtet. Die Bauern hatten dort
noch zu tun. In den Häusern brannte in Küchen und Stuben das Licht, im
Vorübergehen war zu sehen, was es herzuzeigen gab.
Die Straßen
waren auch außerhalb des Dorfes wieder geräumt worden. Bärlapper kam gut voran.
Als er die Abzweigung zur Müllgrube einschlug, musste er durch den tiefen
Schnee. "Mistkerl!", schimpfte Bärlapper auf den Gemeindearbeiter.
"Der wird sich gedacht haben, die sollen nur drunten bleiben in ihrem
Loch! Oder der Bürgermeister hat es ihm angeschafft, dass er da nicht fährt!
Zuzutrauen
wäre es ihm – und möchte für alle der Bürgermeister sein, wie er vor der Wahl
immer sagt!"
Bärlapper
stapfte zornig durch den Schnee. Da kam er auch mal vom Weg ab und trat in den
verschneiten Graben. Er fiel der Länge nach hin. Er rappelte sich hoch und
klopfte den Schnee ab. Wütend fuchtelte er mit dem Christbaum gegen das Dorf
hin. "Ich kenne euch doch, wie ihr denkt, ihr Teufel, ihr kirchhausigen!"
Er kämpfte
sich schnaubend voran, dass es ihm heiß wurde. Dann stand er am Tor zur
Müllgrube und verschnaufte. Mit der flachen Hand fuhr er über die Stirn und
wischte sich den Schweiß ab.
Erst jetzt
merkte er, dass eine Totenstille herrschte. Er spähte durch den Maschendraht.
"Diese sternklare Nacht wieder, eine stille Nacht, vielleicht ist so eine
Heilige Nacht – oder irgendwas Besonderes", ging ihm so durch den Kopf. Er
dachte an die Worte des Lehrers von der verzauberten Landschaft "oder man bleibt
immer ein Kind oder so. Wie komme ich jetzt gerade auf diese Sprüche, wie verzauberte
... und so was für Nacht", überlegte er. "Nun ja, das hört man eben
so oft, so Dauerbrenner sind es, wenn es schneit."
Er sah
wieder zum klaren Himmel hinauf, zu den Sternen – ein paar hauchdünne Wölkchen.
Und diese Stille. Kein Laut.
"Alles
ist verschnieben / kein Steigerl is' 'blieben ... hat er uns in der Schule
lernen lassen", erinnerte sich Bärlapper. "Lauter solche Sachen gehen
mir jetzt durch den Kopf."
Dann ging
ihm auf, dass diese Stille hier eigentlich eher sehr ungewöhnlich war.
"Klar", lachte er, "die sind hier immer so laut, eben weil es so
still ist da heraußen!" Bärlapper ging ein paar Schritte am Zaun entlang
und hielt Ausschau.
"Wo
sind denn die Hunde", fragte er sich, "die haben mich doch immer von
ganz weit schon gewittert und gebellt haben sie dann und in der Nähe haben sie
gewinselt zum Gruß und vor Freude. Licht brennt auch keines in der Baracke
drinnen!"
Er machte
jetzt das Tor auf und ging auf die Behausung zu. Nach etlichen Metern blieb er
stehen und sah umher und lauschte wieder angestrengt.
"Irgendwas
stimmt doch da nicht!"
Er ging
ganz langsam auf die Baracke zu, trat ganz vorsichtig in den frischen Schnee,
so als müsse er schleichen und als ob es zu viel Geräusch machte, wenn er
entschieden aufgetreten wäre. Er blieb immer wieder stehen und wartete darauf,
dass sich irgendetwas regte, dass etwas zu sehen oder zu hören sei.
Doch da war
nichts!
Als er die
Baracke erreicht hatte, warf er einen Blick durchs Fenster, konnte jedoch
nichts erkennen. Er schlich weiter und versuchte es beim nächsten Fenster. So
machte er es der Reihe nach um die Behausung. Nirgends war etwas auszumachen. Alles
war dunkel und still.
"Nichts
rührt sich", stellte er fest, "schon gruselig, schier gar
Totenstille. Es ist schon komisch", sagte er sich, "fast gruselig ist
das!"
"Vielleicht
wollen die mich verarschen!" Er lachte. "Klar, so ein Schlitzohr wie
der Iwan!" Er lachte, das befreite. Dann lachte er noch einmal, jetzt noch
lauter. "He, wo seid ihr denn, Bande?"
Keine
Antwort. Er wiederholte: "He!"
Bärlapper
versuchte es noch einmal: "He, Bande! Raus mit euch! Ich bin es, der
Bärlapper vom Dorf!"
Es regte
sich nichts. Bärlapper wollte noch nicht aufgeben: "He, rührt euch doch
endlich, jetzt reicht es ja. Ich habe was für euch!" Er hob den Christbaum
und winkte damit zur Baracke hin, ging zu der Behausung und noch einmal von
Fenster zu Fenster und winkte mit dem Baum in die Dunkelheit hinein. Umsonst,
keine Antwort. Jetzt wurde es ihm ärgerlich zumute. Er überlegte, ob sie ihm
den Buckel runterrutschen sollten – oder ob er einfach hineingehen und Licht
machen sollte oder ...
Er konnte
sich nicht gleich entscheiden und wartete.
Dann
versuchte er es wieder und schrie: "He, Iwan! Matuschka! Herrgott, rührt
euch endlich! Jetzt reicht es mit eurem Blödsinn, hört auf und rührt
euch!"
Immer noch
keine Antwort, nur so etwas wie ein verstümmeltes Echo von der steilen
Abbruchwand am anderen Ende der Kiesgrube. "Mensch", warnte er sich,
"mich hören sie ja bis ins Dorf hinunter!"
"Sollen
sie mich ruhig hören im Dorf", muckte er, "dann haben sie wieder was
zu ratschen und daherzureden."
Er zählte
jetzt so laut er nur konnte auf und hielt die Hände als Trichter an den Mund,
dass sein Rufen verstärkt wurde: "Matuschka! Lorenz! Iwan!
Anna!" Wieder nur dieses spärliche
Echo.
"Das
gibt es doch nicht! Die wollen mich auf den Arm nehmen! Ganz sicher!"
Er
versuchte es jetzt mit den Hunden: "Bismarck, na komm! Nazi, komm! Nazi,
he, Nazi!"
Das
wiederholte er so laut, dass sich seine Stimme überschlug: "Bismarck,
Lorenz, Nazi ...", bis ihm die Gurgel kratzte.
Wieder
Warten. Es wurde ihm sonderbar. "Es wird doch nichts sein!" Der
Schreck fuhr ihm durch die eigenen Gedanken in die Knochen, und er stand da wie
erstarrt.
"Ja,
Wahnsinn! Da könnte ich ja richtig Schiss kriegen!" "Schlicht und
einfach Angst habe ich jetzt doch", gestand er sich ein. Er überlegte, ob
er abhauen sollte. "Einfach den Christbaum hinschmeißen. Wenn sie kommen,
dann sehen sie ihn ja." Jetzt erst merkte er, dass er die kleine Fichte
mit beiden Händen vor sich hielt. Mit angewinkelten Armen stand er da und hielt
das Bäumchen wie eine Waffe und wie zur Abwehr.
Er ließ die
Arme sinken.
Nun hielt
er den Atem an, um noch besser hören zu können.
Aber da war
nichts, es bleib still. Nur die Geräusche der winterlichen Nacht, ein Vogel,
der aufflog, ein Stück Wild, das im nahen Wald durchs Unterholz brach ...
"Da
ist überhaupt nichts!", war er sich sicher.
"Die
sind weg. Abgehauen. Auf und davon. Sieht ihnen eh gleich, würden die Leute
sagen. Und da siehst du es wieder, was das für welche sind, kommen und gehen
einfach, wie es ihnen gerade passt."
Dann fasste
er Mut, ging zur Tür und drückte auf die Klinke.
Die Tür war
nur angelehnt.
"Abhauen.
Gleichsehen würde es ihnen ja. Waren irgendwann plötzlich da und sind halt
jetzt plötzlich weg.
Zigeuner,
schlampige. Oder vielleicht doch nicht oder sonst was ist mit denen!"
So ein
Hämmern im Kopf. Von der Anstrengung. "Oder ist es doch wieder
Schiss?"
Er riss
sich zusammen und schlich in den dunklen Flur. Es roch modrig. Die Diele
knarrte. Er trat noch vorsichtiger auf, ging an den Rand, wo die Bretter fester
auflagen. Ganz vorsichtig tastete er sich die Wand entlang. "Das
vergammelte Holz. Aus der Nazizeit." Ganz behutsam setzte er einen Fuß vor
den anderen und trat nur mit den Spitzen auf. "Wie das stinkt hier
herinnen. Sonst hat das denen ihr Zigarettengestank überstunken. Und was sie so
zusammengekocht haben für einen Fraß, ihren ausländischen."
Da knarrte
wieder ein Dielenbrett. Er blieb erschrocken stehen, holte tief Luft, hielt den
Atem an, lauschte, ob sich auf das Geräusch hin etwas rührte. Eine ganze Weile.
Aber wieder nichts. Er atmete wieder durch. "Heute stinkt es nicht mal
nach ihrem Rauch. Also sind sie doch weg!", kam es ihm fast erleichternd.
"Wenn niemand da ist, dann hau ich doch ab. Was soll ich dann da
noch?"
Doch
weiter. Noch vorsichtiger, "denn nichts ist gewiss! Und jetzt wo ich schon
da bin, muss ich es doch genau wissen!" Immer dicht die Wand entlang,
"denn da ist der Boden noch nicht so abgelatscht und da sind die Bretter
noch fester, dass sie nicht so knarren."
Dann ertastete
er einen Rahmen, hinter dem sich eine Einbuchtung ausmachen ließ. Es musste die
Tür zum Wohnraum sein.
"Reingehen!",
befahl er sich. "Dort drinnen die Streichhölzer holen, ich weiß ja, wo sie
die immer haben!"
"Der
verdammten Dunkelheit den Garaus machen! – Garaus, Mensch, schau zu, dass dir
keiner den Garaus macht. Denn bis jetzt sind sie bloß aufeinander losgegangen.
Aber wer weiß, ob ich nicht auch mal dran bin. Jetzt ..." Er stockte einen
Augenblick und überlegte, wie er reagieren würde. Dann nannte er sich aber
einen Idioten und schlich hinein und fingerte sich an den Gegenständen entlang.
Die Örtlichkeit war ihm fast vertraut: "Die Kommode ganz links. Dahinter
muss die Nähmaschine sein. Klar. Dann die Ecke. Auf der Anrichte die gerahmten
Fotografien. Gleich daneben müssten die Zünder liegen, dort hat sie der Iwan
immer runtergenommen, wenn er sich eine von seinen stinkenden Selbstgedrehten
anstecken wollte."
"Immer
ganz vorsichtig entlangtappen! Zur Sicherheit die Sachen ein wenig
abtasten!"
"Nur
nicht noch mehr Krach machen als mit diesem Knarren vorhin!"
"Nichts
umschmeißen!"
"Herrgott!
Mist, Fingerabdrücke!", schockte er sich selber. "Wenn jetzt doch was
ist, dann packen sie mich, weil ich alles angefasst habe!" Er fingerte
nach dem Taschentuch. Er holte sich aber aus dem Schock, in den er sich
versetzt hatte, gleich wieder heraus: "Wie im Krimi. Bin ich ein Spinner?
Das kommt von dem Fernsehen! Fingerabdrücke. Kripo."
"Da!
Richtig, die Zünder, endlich Licht machen!"
"Jetzt
rüber zum Petroleumleuchter. Wie das hier komisch stinkt! Die Augen haben sich
an die Dunkelheit gewöhnt, aber mehr als Umrisse kriege ich nicht mit. Und wie
das pappt beim Auftreten an etlichen Stellen! Da kann ich noch so in die Nacht
stieren. Was die hier herinnen für eine Nacht haben, wo es draußen so hell ist
vom Mond! Ein paar Schritte noch. Die haben anscheinend überall Pech, sogar mit
der Nacht! Die bei denen pechschwarz ist wie sonst nirgends."
"Mensch,
irgendwas stimmt hier nicht! Der Mief! Anders als sonst, Moder, Tabak, Fraß
..."
"Endlich,
da ist es!"
Bärlapper
strich ein Zündholz an. "Ich Blödmann, das hätte ich doch gleich machen
können!" Die kleine Flamme tat den Augen weh. Er musste eine Weile die
Lider zukneifen.
"Es
werde Licht!", rutschte ihm heraus, als er die Augen wieder öffnete.
Jetzt, da es heller wurde, fühlte er sich wie befreit von der ganzen Ungewissheit.
Seine Aufmerksamkeit galt noch der kleinen Flamme. "Ein Licht geht mir
auf", beruhigte er sich, "bei so was wie hier, da spüre ich so
richtig, wie das ist, wenn einem, wie es heißt, ein Licht aufgeht." Es
wurde bereits heiß an den Fingern, er fasste das Zündholz an der abgebrannten
Seite und zielte mit der Flamme auf den Docht der Lampe, die vor ihm stand.
"Jetzt noch die Flamme so aufdrehen, dass ich alles sehen kann. Die
verdammte Dunkelheit. Gut! Jetzt die andre Lampe noch. Und der beißende Rauch
vom Zündholz hat sogar den Mief von der Bude überdeckt. Und wenn das Petroleum
brennt, dann überstinkt das zusätzlich."
"He,
jetzt ist Schluss mit dem Blödsinn, Freunde!", rief er in den Raum.
"Jetzt geht her, dann kriegt ihr was von mir. Ich habe was
mitgebracht!"
Er atmete
auf, als es endlich einigermaßen hell war und er laut hatte sprechen können –
und er hielt doch gleich wieder den Atem an, vergaß einfach, Luft zu holen, war
starr, stand wie angewurzelt da, riss die Augen auf und fuhr sich ganz
mechanisch mit der Hand übers Gesicht, als wollte er einen Spuk wegwischen:
"Etwas Rotes an den Wänden, verdammt, gar nicht wenig, jede Menge, der
Boden rot, der Tisch ... Überall dieses Rot! Ja was ist denn das? Seid ihr
jetzt ganz durchgedreht oder gleich total verrückt und irr und
wahnsinnig?" Bärlapper stand wie versteinert vor Schrecken. Er glotzte in
den Raum. Er konnte es nicht fassen: "Ja, Mensch, das darf nicht wahr
sein!" Er holte ein paar Mal so tief Luft, dass es ihm fast schwindlig
wurde. "Ja, Wahnsinn: Blut, das ist doch Blut, helles, frisches Blut
überall umeinander, rumgespritzt, umeinander, ganz frisches Blut, da eine rote
Lache und dort eine. Und da. Und dort. Der Iwan. Und ... Körper, Leiber ...
Keiner rührt sich. Starre Leiber da und dort im Raum. Und die Augen. Diese
Glotzaugen. Sie stieren mit aufgerissenen Augen ins Leere ..." Bärlapper
klammerte sich an eine Stuhllehne und blickte ratlos umher. Seine Blicke fuhren
immer wieder über dieses Chaos. Er konnte es nicht fassen.
"Ja,
was ist das?", stammelte er, trat einen Schritt zurück, stieß an die
Kommode, dass es schmerzte, und hielt sich an ihr fest. "Das darf ja gar
nicht wahr sein. Denen traue ich es zu, denen trau ich es zu, dass sie mich
auch damit verarschen!" Dieser der Verwirrung entsprungene verrückte
Einfall befreite ihn sogar etwas und ließ ihn für einen Augenblick wieder
freier atmen. "Am Puls fühlen, ganz einfach! Das werde ich gleich
haben!" Er hatte die Kommode losgelassen und bewegte sich bereits auf den
ganz in seiner Nähe liegenden Iwan zu. Da wurde es ihm wieder ganz klar im Kopf
und er blieb stehen: "Unsinn! Das ist verdammt echt! Die brauche ich bloß
anzuschauen, die sind hin, abgemurkst, maustot. – Und ich bin hier, Mensch, was
mache ich hier noch und überhaupt!" Er bewegte sich ganz mechanisch
rückwärts zur Tür, Schritt für Schritt, sein Auge starr auf dieses Schlachtfeld
gerichtet. "Abhauen!", durchfuhr es ihn und riss ihn herum. Dann
blieb er wieder wie angewurzelt stehen. Zweifel überkamen ihn. "Das alles
ist doch eigentlich unmöglich", redete er laut und hatte bereits die Hand
ausgestreckt, sich zu einem der Hunde gebeugt, um ihn zu betasten, um die Echtheit
seiner Beobachtung zu prüfen. Wenigstens an einem Hund. Doch er zog die Hand
zurück und richtete sich wieder auf. "Abgemurkst. Alles. Da brauche ich
nichts anzufassen, so wie es da aussieht, ist es ganz verteufelt echt. Alles
ausgelöscht! Ein widerliches Schlachtfeld!" Seine Augen gingen wieder über
das Schreckensbild, fuhren über die Körper. Jetzt entdeckte er auch diese kleinen
wunden Punkte in den Körpern, die aussahen, als ob aus ihnen noch Blut
sickerte.
"Verdammt, ich habe ja
doch schon viel Blut gesehen", stammelte er und fasste sich an den Hals.
Beinahe wollten sich auch Gedanken an die abgestochenen Schweine der
Hausschlachtung einschleichen, das Blutrühren ... Dem floh er mit Blick auf
dieses Chaos vor seinen Augen. "Das hier, das packt mich jetzt total. Da
kriege ich mich nimmer mit dem allen hier. So muss Krieg sein, wie sie ihn
betreiben, wenn sie ihre eigene Todesangst in einen
Blutrausch gehetzt hat! So
was, ja wie es nur sein darf!" Er ging rückwärts zur Tür, ohne seinen
Blick von all dem abzuwenden. Es würgte ihn im Hals. Schritt um Schritt ging er
rückwärts. Es roch jetzt noch viel stärker, meinte er, so sonderbar und es war
ihm bald zum Kotzen. Er achtete gar nicht mehr darauf, wo er hintrat, ob er in
eine der vielen Blutlachen tappte. In seinem Kopf hatte es sich zu drehen
begonnen. Da waren auf einmal lauter so rote Punkte, die sich auch noch
auswuchsen, die sich zu lauter solchen wunden, roten Öffnungen auswuchsen und
sich allmählich zu drehen begannen, dass es ihm bald im Kopf tanzte, und er
hatte bereits das Gefühl, mit ihnen tanzen zu müssen ...
Bärlapper
versuchte noch, mit seinen Blicken in der Mitte des Raumes Halt zu finden.
"Vielleicht sind es die Blutspritzer an der Wand, dass mir so wirr
wird!" Aber da lag der Iwan mit einer Pistole in der Hand, und er lag da
mit dem Kopf auf der Tischplatte zwischen den vielen Flaschen ... Das kleine,
rotgerandete Loch in der Stirn ... Und der Kopf schwamm in seinem Blut ...
Bärlapper
musste sich jetzt doch übergeben. Er hielt sich am Türrahmen fest und spuckte
in den Raum, zwei, drei Mal.
"Ja so
was, das alles – und das jetzt auch noch!", stieß er laut aus, als er sich
wieder etwas gefasst hatte. Dann begann es jedoch im Kopf wieder mit dem
Kreisen ...
Er drehte
sich mit einem Ruck um und rannte hinaus. Draußen schrie er, während er
davonrannte, etwas von Irrsinn, Wahnsinn, Wahnsinn. Es tönte laut in die Nacht.
Er stieß, als die Stimme nicht mehr mitmachte, einfach Laute aus wie ein Tier.
Er rannte den Lichtern des Dorfes entgegen, stolperte immer wieder, fiel in den
Schnee, in den Graben, kroch dann ein paar Meter auf allen vieren ...
Dem
Bürgermeister fiel Bärlapper keuchend und hustend ins Haus.
"Was
ist denn Hans? Spinnst du? Hock dich doch erst einmal hin und verschnaufe
dich!", war der Bürgermeister verwundert. "Wie du stinkst! Los, wasch
dir erst mal dein Gesicht ab, du hast ja gekotzt und bist ganz verschmiert, ja,
pfui Teufel!"
Bärlapper
ließ sich auf einen Stuhl fallen und saß dann in sich versunken wortlos da,
glotzte vor sich hin, die Bilder noch vor Augen. Immer wieder einmal stöhnend,
hörte gar nicht auf die Frage, "ist dir eine Kuh krepiert oder gar der
Mutter was?"
Die
Bürgermeisterin kam mit einem Eimer Wasser und wischte ihm mit einem Lappen das
Gesicht ab. "So", sagte sie, "jetzt siehst du wenigstens nimmer
gar so arg aus, nur stinken tust du noch!", und ging wieder.
Der
Bürgermeister wollte immer noch wissen, was los war. Bärlapper reagierte nicht,
hatte das Grauen noch vor Augen. So gab der Bürgermeister vorerst auf und
verlegte sich darauf, ernst dreinzublicken und zu warten. "Irgendwann muss
der ja aufhören, so verstockt zu sein", meinte er, setzte sich aufs
Kanapee und steckte sich eine Zigarre an: "Damit es nimmer so mieft",
entschuldigte er sich zur Frau hin. "Irgendwas stimmt mit dem nicht!"
Als
allerdings auch nach längerer Zeit von Bärlapper nichts kam, beorderte der Bürgermeister
seine Frau zur Aufsicht. Er ging nach draußen, um nachzusehen, "vielleicht
weiß jemand im Dorf, was passiert ist, was den Bärlapper so aufgeregt hat – den
Bärlapper Hans, den so leicht nichts aufregt, wie ein jeder weiß."
Zeit
verging, während der Bärlapper reglos dasaß. Die Bürgermeisterin redete ihm
immer wieder zu, er solle doch endlich sagen, was los war. Es nützte ihr
nichts, denn außer einem Schlucken war nichts zu vernehmen. "Magst einen
Schnaps?" Sie beschwor ihn, endlich Rede und Antwort zu stehen: "Ich
habe doch noch deinen Vater gekannt und im Übrigen ja auch noch was andres zu
tun in Haus und Stall, als hier zu hocken mit so einem Kerl, der nichts redet
und einem die Zeit stiehlt!", schimpfte sie schließlich.
Dann kam
der Bürgermeister wieder herein, hatte die Tür aufgerissen und stand in einer
etwas komischen, doch auch wieder bedrohlich wirkenden Positur im Türrahmen. Er
warf seinen Blick auf Bärlapper. Er schien eine Nachricht erhalten zu haben und
in voller Kenntnis einer gefährlichen und eine Amtshandlung fordernden Sachlage
zu sein. Jetzt hob er ganz langsam und bedeutungsvoll die rechte Hand, richtete
den Zeigefinger auf Bärlapper und forderte diesen dazu auf, alles einzugestehen,
alles, und zwar restlos alles. Während er, nachdem er den Arm wieder hatte
sinken lassen, wartete, ruhte sein stechender Blick weiter auf Bärlapper.
Bärlapper
jedoch tat den Mund nicht auf.
Der
Bürgermeister ordnete dieses Schweigen, nach kurzem, erfolglosem Harren, als
für einen Verbrecher typisch ein. "So sind sie alle, die Halunken, die
unrechtmäßigen. Zuerst ein Verbrechen machen und dann das Maul nicht aufmachen
und alles für sich behalten wollen!" Er bewegte seine drei Zentner auf
Bärlapper zu, packte ihn an den Schultern und rüttelte ihn mit den Worten:
"Gib alles zu, du Haderlump, was du da bei denen da unten getrieben hast
und was jeder ja lange hat kommen sehen. Der Jäger hat dich nämlich gesehen,
wie du hinein bist in die Bruchbude, die schon lange weggeschoben hätte werden
müssen! Wie ihr umeinander geschrien habt, hat der Jäger gehört. Wie ihr
gestritten habt. Los, Kerl, sprich und gib es zu, da gibt es sowieso nichts
mehr abzuleugnen!"
Bärlapper
riss seinen Kopf hoch und starrte den Bürgermeister mit offenem Mund an. Der
jedoch wiederholte seine Aufforderung noch lauter und fügte hinzu, dass sogar
Einzelheiten wie Schimpfworte zu hören gewesen waren: "Einen Nazi hast du
den Russen geheißen und einen Bismarck dazu und lauter so politisches Zeug von
ganz früher! Du, einer aus meinem Dorf! Keiner hat gedacht, dass du so einer bist, der so was
radikal macht. Denn auf die Hucke hauen hätte auch gereicht, was dich nicht
gleich in den Knast gebracht hätte, sondern nur auf Bewährung!" Er musste
sich etwas verschnaufen und auch seine Zigarre auf Glut halten. Nach einigen
Zügen an dem braunen Prügel hatte sich der Bürgermeister wieder beruhigt. Jetzt
überkam ihn plötzlich ein Anrühren. Er stieß eine Tabakwolke aus, ließ von
seiner Amtspose, kam näher an Bärlapper heran und sagte fast weinerlich, dass
alles so saumäßig traurig sei, weil erstens bald Weihnachten sei und zweitens
er, Bärlapper, sich an dem Gesindel die Hände dreckig gemacht habe und gerade
ein so braver Bursche – der er ja gar nicht mehr ganz sei, erstens wegen seinen
mittedreißig Jahren und zweitens wegen dem Mord und Totschlag jetzt! "Aber
du, Hans, gerade so einer wie du! Wo ihr daheim doch anständige Leute seid.
Gleich alle und die Hunde mit!"
Bärlapper
schnappte nach Luft und würgte, dass der Bürgermeister Sorge um sein Gewand
bekam. Er bewegte seine Massen ruckartig zur Seite und brachte sich in sichere
Entfernung.
"Aber
nicht, dass du meinst", war er wieder bei der Sache, kam näher und klopfte
Bärlapper auf die Schulter. "Zu dir halten wir allesamt." Er qualmte
eine große Wolke ins Zimmer. "Du kommst eben ein wenig ins Loch nach
Landsberg oder Stadelheim. Wirst sehen, das ist heutzutage nicht so schlimm.
Der Simmerl vom Schmied war auch drin, du weißt ja, weil sie ihn besoffen ohne
Führerschein erwischt haben zum zweiten Mal. Der hat immer gesagt, dass er es
noch nie so gemütlich gehabt hat wie dort. Da kommt man dich besuchen. Wenn du
es dann abgesessen hast, bist du wieder bei uns. Wirst sehen, die Zeit vergeht,
allerdings zugeben musst du gleich alles. Denn die vom Gericht, die mögen das
nicht so, wenn einer so saumäßig verstockt ist oder gar noch lügt. Einem solchen
brummen sie gleich noch mehr drauf, dass er zu sich kommt und ein anständiger
Mensch werden kann hinter Gittern. Aber du bist ja schon ein anständiger
Mensch, das weiß jeder. Und jetzt machst du das Maul auf und gibst mir alles
zu!"
Doch der
Bürgermeister hatte kein Glück bei Bärlapper. Der war aufgestanden, stand stumm
vor dem Bürgermeister und schaute ihn, jetzt allerdings nicht mehr mit gar so
großen Augen an. Der Bürgermeister war einen Schritt zurück getreten. Denn er
konnte ja nicht wissen. Er stolperte
dabei beinahe über den Stuhl, der da hinter ihm war, hatte sich jedoch gleich
wieder gefangen. So standen sie sich gegenüber, wenn auch nun etwas entfernt
voneinander. Allerdings wusste zunächst keiner, wie es weitergehen sollte.
"Da
bleibst du jetzt, Bärlapper Hans. Hinhocken! Verstanden? Jetzt wird auf die
Polizei gewartet!"
Bärlapper
gehorchte und setzte sich wieder. Der Bürgermeister warf noch einen gestrengen
Blick auf diesen Haufen Elend dort, war sich sicher, dass da wenigstens im
Augenblick keine Gefahr zu befürchten sei und ging hinaus, um sich den Leuten
zu zeigen.
11
Der Bürgermeister
pflanzte sich im Rahmen seiner sperrangerweit geöffneten Haustüre auf, griff
mit den Daumen in die Westentaschen und stand in dieser Pose da, bis alle ruhig
waren. "Alles klar!", begann er. "Leider! Da wird nicht lang
rumgetan!" Mehr fiel ihm allerdings zunächst nicht ein. Er mochte diese
kargen Worte als diesem doch bedeutenden Ereignis nicht angemessen erachtet
haben – auch waren ja seine Zuhörer noch aufnahmebereit. So sah er sich
geradezu genötigt, sich mit dem Thema noch ein wenig und nun sogar tiefschürfender
zu befassen: "Eigentlich gäbe es ja eine Todesstrafe bei uns wie
früher", hub er an ...
"Mein
lieber Schwan!", staunte da der Huber Seppl. "Du steigst da ziemlich
krass ein – und außerdem spinnst du dir da was zusammen!"
"Bloß
dass ihr es wisst, liebe Mitbürger: Das steht so noch in der Verfassung drin,
dass der Ministerpräsident ein Begnadigungsrecht hat", schwang sich der
Bürgermeister wissend auf, "das kann ein jeder nachlesen."
"Sage
nur, du kannst lesen und wendest das auch noch in der Verfassung an!",
spottete jemand – freilich unter Deckung der Menge.
"Drauf
kannst du einen lassen!", schrie der Bürgermeister zornig in das
Gelächter. Gleich fing er sich jedoch wieder und reagierte sogar etwas spitzzüngig
auf den Einwurf: "Das tue ich allerdings nur, wenn es unbedingt sein muss
bei so was Wichtigem, wenn es ums Leben und die Moral geht, kann ich euch
beruhigen!" Er holte aus: "Also müsste es die Todesstrafe eigentlich
noch geben, wenn es ganz nach der Verfassung des Freistaates zugehen würde. Was
allerdings leider auch sonst und in anderen Angelegenheiten nicht immer ganz
gewiss ist. Allerdings Aug um Aug und so weiter, steht ja sogar in der Bibel,
wenn auch im Alten Testament. Doch an die Bibel hält sich ja heute auch kaum
noch jemand", schloss der Bürgermeister seinen Vortrag und blickte besorgt
drein.
"Den
Bärlapper Hans wirst du doch nicht gleich aufhängen wollen wegen dem, was er da
gemacht hat, auch wenn er es gemacht hat!", schrie der Metzger Lambert.
"Das ist einer von uns!"
Der
Bürgermeister hatte das gar nicht mehr richtig mitbekommen, weil er nach seinem
Auftritt gleich wieder verschwunden war. Die Leute gingen auch nicht weiter
darauf ein, nickten nur, dass sie einverstanden waren mit dem, was der
Bürgermeister erklärt und der Metzger Lambert sozusagen eingeschränkt hatte.
Sie waren jedoch unzufrieden damit, dass sie weiter herumrätseln mussten.
Dann war da
endlich Blaulicht in der Ferne auszumachen, die Köpfe fuhren herum und die
Hälse wurden länger. Die Polizei traf ein. Alle waren guter Dinge, dass sich
jetzt alles aufklären und einem jeden Information zuteilwerden würde.
Es verging
allerdings eine ganze Weile, und nichts drang zunächst nach draußen. Dann
sickerte doch etwas durch, weil die alte Philomena, die eine ledige Schwester
der Bürgermeisterin und die Hausmagd war, wieder gelauscht hatte. Die Polizei
habe den dorfrichterlichen Schuldspruch nicht gleich übernehmen wollen, obwohl
der mehrere Male und sehr laut und deutlich wiederholt worden sei. Ein Beamter
soll nur Bärlapper nach dem Namen gefragt haben, wollte wissen, wann er geboren
sei und wo er wohne und solche Sachen, die doch eh jeder weiß. Sie sollen noch
ein wenig versucht haben, etwas aus ihm herauszukriegen. Doch nicht einmal den
Uniformierten gegenüber habe der Mörder so viel Respekt aufgebracht und richtig
geredet. Nur dass er gesagt haben soll, wusste sie noch, "Das darf ja
nicht wahr sein." Diesen Satz habe Bärlapper dann immer wieder gebracht,
dass sicher alle gemeint haben, er sei jetzt nicht nur ein Mörder, sondern auch
noch verrückt.
Etliche
Ritzlinger standen noch eine Weile herum: "Da siehst du es wieder!",
war zu hören. "Wenn du es nicht bereits wüsstest – glauben kannst du es
eigentlich nicht!" – "Jetzt ist das Verbrechen auch bei uns da und
nicht nur in der Stadt und im Ausland!" – "Es ist ja kein Wunder,
dass die Gewalttat immer mehr wird. Weil die Leute immer weniger arbeiten und
immer mehr nichts tun und im Fernsehen lernen, wie es geht!" – "Dass
es den Bärlapper Hans erwischt hat, das ist doch nicht zu verstehen, den braven
Kerl." – "Obwohl es fast einen jeden erwischen kann, dass er was
anstellt." – "Heutzutage, wo die Leute nicht mehr immer in die Kirche
gehen, und überhaupt."
Einstweilen
waren die Polizisten, nachdem sie Bärlapper in der Obhut des Bürgermeisters
gelassen hatten, in Richtung Müllgrube und zur Baracke gefahren, "um dort
Spuren zu sichern", wussten die Leute sofort aus ihrer Krimi-Erfahrung.
Die informationshungrige
Schar vor dem Haus des Bürgermeisters nahm sich immer noch Zeit. Denn das
wollten sie genau wissen, wenn so was – gottlob nichts Alltägliches, aber
gerade deswegen – im Dorf passiert ist. Sie nutzten diese Zeit, um sich die
Sache weiter richtig durch den Kopf gehen zu lassen: "Nicht dass man es
jemandem wünscht – und dem Bärlapper Hans schon gleich gar nicht!", wurde
beteuert. "Da sieht man es wieder, wie einen ein schlechter Umgang
zugrunde richten kann!", wurde erkannt. Viele Bekundungen zum Problem des
Verbrechens im Allgemeinen und zu dem – eigentlich für aufgeklärt gehaltenen –
tragischen Vorfall hier, enthielten den Satz: "Was sein muss, muss
sein!" – "Abführen werden sie ihn, einen von uns hier. Gefesselt und
in den Knast zu den richtigen Verbrechern!", hieß es auch. "Der arme
Hans. Aber so was tut man halt nicht." – "Zuhauen, das ja. Auch mal
einen mit dem Messer stechen, kann passieren. Allerdings nicht gleich so arg,
wenn man aufpasst. Denn sogar, wenn einer eine Wut hat, muss er aufpassen. Das
haben sie früher auch, als der Großvater noch ein Bursche war und wo es um die
Mädel gegangen ist und um die Ehre. Doch nicht gleich abschießen wie tolle
Hunde! Machen müssen sie was, die von der Polizei, in unserer Zeit, wo sowieso
immer weniger streng durchgegriffen wird und die Zuchthäusler frei rumlaufen
dürfen." – "Wenn das Verbrechen einen guten Menschen packt, wie
unsern braven Hans, dann ist das noch viel schlimmer als bei einem Lumpen. Weil
ja der gute Mensch keine Übung hat mit dem Schlechtsein!"
Die
Polizisten erschienen nach einiger Zeit wieder im Dorf. Sie gingen ins Haus zu
Bärlapper. Draußen spitzten sie die Ohren. Sie waren ganz still, trotzdem
konnten sie nur Wortfetzen mitbekommen, die wenig Einblick schafften:
Tathergang ..., Dritttäterschaft ..., Spurensicherung ...
Da erschien
Bärlapper in der Tür. Ungefesselt und anscheinend gar nicht abgeführt. Er
durfte offenbar nach Hause gehen.
"Ja,
was ist denn das?", brachte der Weigler Simerl fast etwas enttäuscht noch
raus, dann war alles still. Alle schauten nur kurz hin, wollten jedoch Bärlappers
Blicken nicht begegnen. Ließ es sich nicht vermeiden, grüßten sie ihn verlegen.
Dann löste sich die Ansammlung auf. Ab und zu ein Kopfschütteln:
"Verstehst du das noch?" – "Jetzt lassen sie auch bei uns solche
laufen!" – "Kein Wunder, dass es immer gefährlicher wird und du dich
bald nimmer auf die Straße traust!"
Es
vergingen etliche Tage. Immer wieder einmal wurde ein Polizeifahrzeug
gesehen.
"Es
ist nicht so, dass man es ihm wünscht", war beinahe zur festen Redewendung
geworden, wenn Leute gerade beieinanderstanden. "Vielleicht nehmen sie den
Bärlapper Hans doch mal mit. Nein, wünschen tut es ihm keiner. Und die arme Mutter muss dann den
Stall alleine machen und das Feld!"
Jetzt kam
allerdings auch einmal – ganz zaghaft zwar, aber immerhin –, dass es sowieso niemand ganz hat glauben können
und immer noch nicht recht glaubt, dass der Bärlapper Hans so etwas gemacht
hat.
Die Fahrt
der Polizisten ging jedoch stets durch das Dorf und zur Müllgrube. Die
Spurensicherung hatte anscheinend immer noch in der Baracke zu tun.
Bärlapper
verließ das Haus nicht mehr. Dann war die Polizei ab und zu doch bei ihm. Er
musste etliche Verhöre über sich ergehen lassen. Zuerst waren sie in Uniform im
grün-weißen Dienstauto vorgefahren. Tags darauf kamen die Ziviler. Doch da
waren sich im Dorf bereits alle im Klaren, was es bedeutete, wenn ein Auto beim
Bärlapperhof vorfuhr und ein, zwei Männer ausstiegen. Es war bald nicht mehr so
interessant, weil das Urteil ja so ziemlich feststand.
Wenn
Bärlapper nicht gerade seine Bauernarbeit erledigte, saß er stumpfsinnig
brütend in der Küche herum.
Von seiner
Arbeit am Flaschenband war er sowieso weggeblieben.
"Das
will ja was heißen bei einem wie dem Bärlapper", war die Meinung. "Ob
es nicht doch gleich ein Geständnis ist?", machten sich einige auch wieder
Gedanken. "Wenn einer nämlich keinen Dreck am Stecken hat, dann muss er
auch nichts befürchten und kann unter die Leute gehen!", war zu hören.
"Kannst ihn ja auch gar nichts fragen, wenn er sich nicht sehen
lässt."
Die alte
Bärlapperin war nur noch mit dem Rosenkranz in der Hand zu sehen. Selbst wenn
sie zum Krämer ging, legte sie ihn nicht weg. Die wenigen, die ihr begegneten,
hatten nur mitleidige Blicke für sie und ein "Ja, mei!", oder
höchstens: "So ist es eben, aber das wird schon wieder!"
Schließlich
waren sich die meisten einig, "dass man da eigentlich nicht lang rumtun
muss und dem Staat sein Geld verschwenden mit dem Daherfahren von den
Polizisten, gleich immer zwei, die scheinbar sonst nichts zu tun haben. Auch
wenn es unser Bärlapper Hansl ist." Es gab keinen Zweifel. "Warum die
Richter immer so lang rumtun", wusste niemand. Dann mutmaßte der Huber
Girgl, dass es ja gar nicht ausgeschlossen sei, "dass diese Bluttat in
einen Film kommt in das Fernsehen. Weil es gleich so ganz verzwickt war wie
sonst kaum wo, wo sie einen umbringen. Freilich, heutzutage da schreiben ja die
Verbrecher ein Buch im Knast und das Fernsehen greift nach so etwas und die
Zeitschriften sind ganz scharf drauf. Das viele Geld dafür, das es dann gibt,
und die Burschen, die kommen stinkreich wieder raus aus dem Knast und lachen
uns aus. Da bist du deiner Lebtage lang anständig und musst dich dafür auch
noch auslachen lassen."
Damit hatte
der Huber Girgl etwas losgetreten, was dann auch einmal zu der Bemerkung
führte, dass ja auch niemand so großes
Mitleid haben müsse bei so was.
Alles
Vorweihnachtliche – mit Ausnahme des Geruchs der häuslichen Backbemühungen –
war für eine ganze Weile dahin: Mordtat
und Gefängnis – und der Bärlapper Hans.
Allmählich
hatten dann so ziemlich alle doch genug davon. Nur der Müller Martl probierte
es beim Wirt noch mal, weil er meinte, dass ihm was ganz Schlaues eingefallen
sei: "Horcht her, es wurde ja bei der Baracke ein Christbaum gefunden. Da
meine ich das Nämliche: Der Bärlapper hat einen von den Lumpen da erwischt, wie sie ihm den Baum aus dem Wald
rausgestohlen haben. Da ist er ihm nach, und dann ist es einfach passiert, dass
er sie umgelegt hat! Ein jeder von uns würde einen auch verfolgen, der ihm was
klaut! Wenn er nicht zu feig ist dazu. Aber der Bärlapper, der ist halt nicht
zu feig!"
Der Martl
kassierte für diesen Vorstoß nicht einmal einen Deppen. Sie schauten ihn erst
nur mitleidig an. Dann ließen sie doch raus, dass wohl ein jeder schon mal dem
Nachbarn so einen windigen Baum "an Weihnachten aus dem seinen Wald raus
hat". Sie grinsten wissend vor sich hin. "Wenn es da gleich immer
Mord und Totschlag gegeben hätte, mein lieber Schwan, da säße das halbe Dorf im
Knast oder wäre unter der Erde, je nachdem." Sie hatten am Ende ihren Spaß
und lachten. Da hat es der Martl in Zukunft sein lassen.
Es setzte
sich – wie es sich für ein intaktes Gemeinwesen gehört – annähernd der Gedanke
des Bürgermeisters durch, nämlich: "Gleich umbringen, das hätte nicht sein
müssen – und die Hunde dazu!" Wer mehr sagen wollte, konnte sich ja dem
Mesner-Damerl anschließen, der meinte: "Jeder ist ja auch irgendwie ein
Christenmensch. Getan haben die Russen nämlich niemand nichts, auch wenn sie
kein gutes Beispiel gegeben haben mit ihrem Hausen im Dreck. Einen Wert haben
sie ja sogar gehabt, weil sie am Müllplatz ein wenig das rausgeholt hatten, was
irgendwer noch benutzen hat können."
Um die
Bärlappers stand es gar nicht gut. Mutter und Sohn hatten sich in ihr Schicksal
verbissen. Waren sie sonst schon nicht gerade gesprächig, so herrschte jetzt
beinahe völliges Schweigen.
Beide
versuchten allerdings erst gar nicht, sich aus dem Weg zu gehen. Im Gegenteil,
es schien ihnen so, als suchte sich ihr Schweigen und sie hätten es einander
zuzutragen. Die Stunden verhockten ihnen in der Stube, als wollten sie sich als
Ewigkeit einrichten.
Kurz darauf
hatte sich dann die Heimatzeitung der Angelegenheit dort in Ritzling
angenommen. Zur Freude der Krämerin war die Zeitung bis Mittag ausverkauft. Und
Kundschaft hatte sie gesehen, die schon lange Zeit nicht mehr bei ihr war, weil
immer mehr in der Stadt im Großmarkt einkauften. Nicht nur die Zeitung hatten
die Leute mitgenommen, sondern irgendwie aus Verlegenheit auch noch dieses und
jenes an Ware. Die Krämerin hatte von der Zeitung einen Nachschlag bestellen
müssen und eine neue Sendung herbeitelefoniert. So zufrieden war sie lange
nicht mehr. Sie schnitt den Artikel sogar aus und klebte ihn ins Schaufenster –
nicht, ohne dieses zuvor zu putzen:
TRAGÖDIE IN
WELTKRIEGSBARACKE
Schrottsammler richtet Blutbad an. Drei Gefährten und zwei Hunde auf der
Strecke. Polizei ermittelt großkalibrige Wehrmachtswaffe als Tatwerkzeug.
Ritzling (gh). Die liebenswürdige Gemeinde in unserer Nachbarschaft, die
weit über die Landkreisgrenzen hinaus wegen ihrer Geselligkeit und der
Traditionsbrauerei bekannt ist, wurde zu nachtschlafender Zeit jäh aus dem
vorweihnachtlichen Frieden gerissen. Eine grauenvolle, bestialische Bluttat von
seltener Brutalität suchte die Bürger heim und versetzte sie in Angst,
Schrecken und Empörung.
Der hiesigen Polizei unter bewährter Leitung von Hauptkommissar Johann
Lechner gelang es jedoch, dank sofort eingeleiteter und zielstrebig vorangetriebener
Ermittlungen, bereits nach sechs Tagen den Johann Mirzwa (63), genannt Iwan,
aus Königsberg in Ostpreußen der Öffentlichkeit und Staatsanwaltschaft als
Täter zu präsentieren. Damit konnten alle Verdachtsmomente gegen den einheimischen,
ledigen Bauer H. B. (36), der ein treues und verdientes Mitglied des Trachtenvereins
seiner Heimatgemeinde ist, fallen gelassen werden.
Die dem Alkohol verfallenen und im ganzen Dorf als gefährlich
streitsüchtig eingestuften Außenseiter hatten sich Mitte der Fünfziger in der
kleinen, friedlichen Gemeinde eingenistet. Sie hatten sich ohne
Aufenthaltsgenehmigung in der Wehrmachtsbaracke an der Müllgrube festgesetzt.
Die Gemeinde musste diesen unzumutbaren Zustand zähneknirschend dulden. Das
Beamtenheer der zuständigen Bundesliegenschaftsverwaltung war nämlich bisher
untätig und unfähig, die Eigentumsverhältnisse eindeutig zu klären und für Ruhe
und Ordnung zu sorgen, worauf der steuerzahlende Bürger schließlich Anspruch
hat. Jetzt beendete das Schicksal, da das Beamtenheer dazu zu faul war, diese
unerträglichen Verhältnisse am Rande des idyllisch gelegenen Ortes in
Nachbarschaft der Kreisstadt und mit Blick auf das Gebirge tödlich in Hass,
Suff und Mord.
Der Täter hat zu nächtlicher Stunde mit der Waffe in der Faust seine
alkoholisierte Horde in dem apokalyptischen Milieu an der Abfallgrube kaltblütig,
gewissenlos und radikal ausgelöscht. Zwei Männer, zwei Frauen und zwei Hunde
sind seine Opfer und blieben auf der Strecke. Nach vollzogener skrupelloser
Bluttat an seinen Hausgenossen hat sich der erbarmungslose Mörder mit seiner
großkalibrigen Pistole, die aus Wehrmachtsbeständen stammt, selber eine Kugel
in den wahnsinnigen Kopf gejagt. Er hat sich damit den Garaus gemacht und feige
der irdischen Gerechtigkeit entzogen.
Bei ihrem Eintreffen fand die Polizei am Tatort überall, und zwar an
Wänden, auf dem Boden und an den Möbeln Blut. Die Beamten wateten voll Entsetzen
und Abscheu durch dieses Chaos. Und auf dem Tisch standen noch leere
Schnapsflaschen, mehrere davon waren umgeworfen, ja zertrümmert. Damit war auf
eindringliche und nicht so schnell zu vergessende Weise gezeigt, wohin ein
asoziales, unordentliches Verhalten unausweichlich führt.
Die
starren, fahlen Gesichtszüge der Mutter hatten sich belebt. Sie beendete eines
Morgens, während sie dem Sohn die Brennsuppe hinstellte, das Schweigen:
"Warum sagst du denn nichts, Hansl? Jetzt ist doch wieder alles gut. Und
der Herrgott hat es gerichtet, wie es sich gehört."
Dann fuhr
sie ihm mit der Hand über den Kopf. Das hatte sie zuletzt gemacht, als er zur
Bundeswehr musste.
"Ach
ja", kam zunächst nur von Hans. Er holte tief Luft und räusperte sich.
"Wo hätte ich da anfangen sollen, das ist ja so viel, so unbändig viel, wo
hätte ich da anfangen sollen?"
Mehr musste
gar nicht gesprochen werden.
Tags darauf
war der Braumeister da und drückte Bärlapper die Hand, ließ sie gar nicht mehr
los, unterstützte den Händedruck mit der Linken und beteuerte Bärlapper immer
wieder, "dass alle froh sind, aber gleich gar restlos alle. Jetzt rücken
die Leute auch damit raus, dass sie es gleich nicht haben richtig glauben
können. An deiner Unschuld hat jeder nur ganz kurz seine Zweifel gehabt. Da
sind immer gleich wieder die Zweifel an deiner Schuld gekommen!"
Bärlapper
ließ es über sich ergehen. "Wärst du nur gekommen, du guter Mensch, wo es
mir dreckig gegangen ist", dachte er sich.
Schließlich
gab der Braumeister zu, auch, allerdings für Augenblicke nur, an Bärlappers
Unschuld gezweifelt zu haben. "Aber mache dir nichts draus,
Bärlapper", meinte er, "es ist halt so."
"Bist
ein Schafskopf wie die andern", fand Bärlapper, "doch du bist
wenigstens ehrlich."
"Und",
redete der Braumeister weiter, "du musst unbedingt wieder zur Arbeit
kommen. Vor allen Dingen musst du morgen zur Weihnachtsfeier kommen, denn es
ist ja eine Überraschung für dich vorbereitet. Ich will dir verraten, dass ich
daran mitgewirkt habe. Weil ich dich eben sehr schätze als Mensch und Arbeiter
dazu! Ich möchte dich dem Betrieb als Arbeitskraft erhalten, komme auch immer,
was da kommen mag. Das darfst du mir glauben!"
Bärlapper
machte sich am nächsten Tag tatsächlich auf den Weg, um zum Schloss hinauf zu
gehen. So ungut hatte er sich bei diesem Gang überhaupt noch nie gefühlt. Es
war ihm so, als ob ihm da etwas mit ungeheurer Kraft den Brustkorb zuschnüren
wollte. Er musste immer wieder stehen bleiben und nach Luft schnappen.
Oben
angelangt, ging er zum Fasslager, das sie heute festlich geschmückt und beheizt
hatten. Die Leute grüßten ihn sonderbar, irgendwie verlegen, aber freundlich,
nickten und winkten ihm auch zu. Der Marxer hielt ihm sogar die Hand zum Gruß
hin und begann gleich zu erzählen, dass sich sein Kleiner zu Weihnachten nur
noch einen Streifenwagen und eine Pistole wünsche, "seit die Bullen so oft
im Dorf waren und den ganzen Irrsinn da um die Müllgrubenbande aufgeklärt
haben. Das ganze Zeug darf nicht etwa nur so aus Plastik sein. Das Auto muss
zum Fernsteuern sein." Sie hätten doch neulich erst Fußballschuhe für den
Jungen besorgt, doch die seien jetzt wohl nicht mehr so die große Sache, jetzt
wollten wohl alle Buben Polizist werden.
"Dann
ist es ja gut", murmelte Bärlapper und drängte den Marxer zur Seite.
"Dann ist ja alles in Ordnung hier", knurrte er vor sich hin, während
er weiterging, "wenn alle Polizei sind und wenn nur noch lauter
Gerechtigkeit ist. Dann brauchen auch die losen Mäuler nicht so saublöd
daherreden und einem gleich einen Mord anhängen."
Er suchte
sich einen Platz. Dabei wurde er immer wieder mal angesprochen. Stets ging es
ihnen natürlich um die leidige Sache da und dass alle sich gleich gedacht haben, dass er es gar
nicht gewesen sein konnte. Bärlapper war es lästig, auch wenn sich gerade die
Frauen Mühe gaben, so etwas wie Mitgefühl anzubringen. Für ihn waren es Schwätzer.
Er ließ sie einfach stehen und setzte sich dann ziemlich weit hinten.
"Wäre
ich lieber daheim geblieben", hielt er sich vor, "oder in die Stadt
rein. Aber da ist ja auch nichts mehr los. Vielleicht ist alles nichts mehr –
oder alles war auch noch nie was, und ich hab es eben nicht kapiert."
Immer mehr
Leute strömten herein. Ein Grüßen hierhin und dorthin, und der Geräuschpegel
wuchs ständig. Bald dröhnte es unentschlüsselbar in den Ohren. Das hinderte
allerdings niemanden, sich weiter auszuschütten. Sie mussten immer lauter
werden und fast schreien. Am Ende waren es wohl nur noch Selbstgespräche mit
dem guten Gefühl, alles losgeworden, aber auf keinen Widerspruch gestoßen zu
sein.
Bärlapper
drehte es sich im Kopf. An so viele Menschen, so viel Gerede und so einen Lärm war
er nach seinen stummen Tagen überhaupt nicht mehr gewöhnt. Er fühlte sich wie
in einem Rausch. Am liebsten hätte er sich wieder davongemacht. Doch da erhob
sich die Posaunengruppe der Blasmusik. Ein scharfer Fanfarenstoß zerschnitt die
Geräuschkulisse. Augenblicklich war Ruhe, und die Leute setzten sich. Dann
schmetterte das Blech einen weihnachtlichen Choral, dessen Klänge von der
metallenen Wandung der Fässer, die rundum bis zur Decke gestapelt waren,
zurückgeworfen und auf diese Weise vervielfacht, allerdings auch gehörig
durchmischt wurden. Die Leute saßen zwar brav da. So mancher war sich jedoch
wohl nicht sicher, ob er überrascht oder eher entsetzt sein sollte, "vielleicht
gehört sich das so, und die Jungen haben es auch so laut in der Disko, sagen
sie, vielleicht sogar noch lauter. Es ist nun mal heute so und es ist keine
leise Zeit."
Während das
dröhnende Blech noch in den Ohren schmerzte, marschierten die Akteure ein. Die
Zuschauer verrenkten sich fast den Hals: Da kamen lauter Krawattenträger, die
vom Büro zuerst, ein paar dann, die keiner kannte, irgendwie fremdländische
Typen, Ausländer, Exoten. "Allerdings ganz so wie Kanaken sehn sie nicht
aus", hörte Bärlapper neben sich. "Es konnte sein", meinte Bärlapper
bei sich, "dass die das Büro wieder aufgebläht haben, weil ja immer
weniger Menschen richtig arbeiten wollen und die mehreren nur an so einem
Schreibtisch rumhocken mögen. Dass sie dann gleich Ausländer geholt haben zu
der Faulenzerei und keine von hier?" Die Leute erhoben sich manchmal von
der Bank, um zu sehen, wer da noch alles daherkam. Ob die Herrschaften doch
wenigstens einen kleinen Prinzen schicken würden? Neben Bärlapper versuchte der
Hublbauer, das Blech zu überschreien, um seiner Frau etwas mitzuteilen. Da
waren die Musiker plötzlich fertig und das Geschmettere brach schlagartig ab.
Der Hublbauer war nun einmal in Fahrt, er schrie weiter: "Wartest du denn
auf einen von den Noblen? Denen gehört doch der ganze Laden nimmer! Kein Nagel
gehört denen hier noch! Das hat doch alles der Ölscheich eingekauft!" Alle
hatten aufgehorcht und schauten jetzt auf das Hublbauerpaar. Die Frau hätte
sich vor Scham am liebsten verkrochen, war ihr richtig anzusehen. Etliche
grinsten, einige nickten, andere waren empört und wieder andere lachten über den
Hublbauer, "den groben Lackel". Den meisten war ja das, was der
Hublbauer da gebrüllt hatte, als Gerücht, das bereits einige Zeit kursierte,
bekannt. Nur für Bärlapper war es ganz neu.
Dann war
die Aufmerksamkeit gleich wieder aufs Podium gerichtet. Der Abend konnte seinen
geplanten Lauf nehmen. Der Programmpunkt 'Ehrung verdienter Mitarbeiter' fiel
allerdings üppiger aus als sonst irgendwo, nämlich in den Vereinen. Das war
jedoch wenigstens zunächst verständlich, weil sie sich in den Vereinen immer sehr
davor hüten mussten, Eifersucht zu säen, um nicht nur Verstimmungen, sondern
sogar Austritte zu ernten. Ganz anders hier. "Die von der
Betriebsleitung", hatte der Müller Seppl voriges Jahr bereits behauptet,
"können es so richtig rauslassen mit den Ehrungen. Das ist verdammt
schlau, denn die wissen genau, dass sie mit Ehrung Konkurrenz schaffen unter
den Arbeitern und dann eine viel höhere Leistung kassieren."
Jetzt war
Bärlapper an der Reihe. Er wurde aufgerufen und erhob sich langsam – wenn auch
nicht gerade mit frohem Gesichtsausdruck. Der Weg zum Podium kam ihm elend lang
vor. Dort angekommen, wusste er nicht, wie und wo er sich hinstellen sollte und
tapste herum, dass er meinte, einige lachen zu hören. Der Chef wies ihm dann seinen
Platz zu, und zwei vom Büro flankierten ihn und richteten ihn aus, er solle
seine Hände auf dem Rücken zusammentun und aufrecht stehen und nicht so
schlaff. In seiner Verwirrung musste er erst nachdenken, wie 'schlaff' zu
vermeiden sei, um eine andere Haltung einnehmen zu können. "Stillgestanden!",
kam von irgendwo unten. Wenn auch wieder von Gelächter begleitet, wusste
Bärlapper nun doch, dass es Strammstehen bedeutete und gab sich einen Ruck.
Dann durfte er hören, dass er ein äußerst zuverlässiger, ungemein geschickter,
darin sogar rekordverdächtiger Arbeiter sei ... ein doch guter Mensch, der in
den vergangenen Tagen allerdings vom Hauch des Schicksals gestreift worden war,
aber nun, wie der Phönix aus der Asche auferstanden, wieder mit makellos reiner
Weste, die er ja nie abgelegt hatte ... – "Wir wissen es, wir wissen es,
mein lieber Bärlapper! Gott sei's gelobt, getrommelt und gepfiffen, dass Sie
wieder unter uns weilen dürfen ..." Dann versuchte der Lobredner noch,
einen Witz draufzusetzen: "Was hätten die in der Justizvollzugsanstalt für
einen guten Schnitt mit Ihnen, guter Bärlapper, gemacht!" Ein etwas zögerliches
Lachen, vermischt mit immerhin auch Geräuschen der Zustimmung war das Echo
darauf.
Bärlapper
stand wie begossen da und wäre am liebste davongerannt. Ein Tä-tä Tä-tä Tä-tä
der Blaskapelle, das sie sonst im Fasching machten, holte ihn wieder ein wenig
zurück. Applaus folgte, und der Redner hielt eine Weile den Mund und nippte an
seinem Glas.
"Nun
jedoch, mein lieber Bärlapper", ging die Tortur weiter, "will Ihnen
die Betriebsleitung nicht nur dieses Ehrengeschenk zukommen lassen, sondern sie
will Ihnen auch eine Erleichterung bescheren. Kommen Sie einmal näher, guter
Mann! Her da! Ich darf Ihnen – und im Übrigen Ihnen allen hier verraten, dass
unser Betrieb, den Erfordernissen, ja Zwängen der Zeit gehorchend, erhalten
allerdings eben umgestellt wird."
Ein Raunen
ging durch die Reihen.
Der Redner
nahm wieder einen Schluck und beeilte sich fortzufahren, da der Reaktion der
Zuhörer nach nicht auszuschließen war, dass Unruhe aufkommen und der Fortgang
gestört werden könnte: "Ich möchte, Bärlapper betreffend, mitteilen – die
anderen von diesen aufwändigen Maßnahmen Betroffenen mögen noch etwas Geduld
aufbringen –, dass wir diese harte Arbeit am Abfüllband, die ja in einer Zeit,
da Maschinen als des Menschen treue und zuverlässige Diener dem Menschen die
härteste Arbeit abnehmen –, dass wir diese harte Arbeit am Abfüllband also, die
zugegeben doch bereits auch rein menschlich nicht mehr ganz zu vertreten
war – ja, ja, wir sahen es immer mit
größter Sorge! –, dass wir also den guten Bärlapper von seiner Arbeit am Band
entbinden werden. Vom Band entbinden!", setzte er bedeutungsvoll nach und
grinste breit in die Menge, um seiner witzig gemeinten Wiederholung über die
Rampe zu helfen.
Das Gefeixe
zündete allerdings nicht, niemand lachte, allen ahnte vermutlich etwas Ungutes.
"Es
ist dieses einfach nicht mehr verantwortbar, aus humanen Gründen", nahm
der Redner wieder seinen Faden auf, "und zwar in dieser unserer Zeit, die
sich ja auch eine soziale nicht nur nennt, sondern laut Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland auch tatsächlich ist. Die Betriebsleitung sah sich
gehalten, auf Kronenverschlüsse umzustellen und damit – sowieso als eine der
allerletzten Brauereien – den guten alten, besonders im Bauhandwerk so
geschätzten Bügelverschluss leider, leider aufzugeben!" Er hielt kurz inne
und blickte mit flugs aufgesetzter Trauermiene in die Runde, dann versuchte er
noch etwas: "Und gleich ist die Klage zu vernehmen, dass unsere durstigen
Freunde vom Bau in Zukunft immer die ganze Flasche sofort austrinken müssten,
weil sie nicht mehr zu verschließen sei!" Nun hatte der Oberbuchhalter ein
breites Grinsen überm weißen Kragen, das eigentlich gar nicht in sein fahles,
lang gefurchtes Gesicht passte.
"Darfst
eh nichts mehr saufen bei der Arbeit!", schrie einer. "Sonst fliegst
du raus wegen der Nüchternheit!" Irgendwoher ertönte es sogar: "Der
Simpel weiß doch gar nicht, wie es zugeht in der richtigen Arbeitswelt!"
Die Grimasse
des Buchhalters fiel augenblicklich in die grauen Furchen zurück, weil er nun
wusste, dass er auch dieses Mal mit seiner Heiterkeit ganz allein geblieben war
und obendrein wohl etliche verärgert hatte. Er führte dann noch Verschiedenes
aus und beeilte sich, die Sache hinter sich zu bringen.
Bärlapper
war immer noch auf der Bühne und stand wie angewurzelt neben dem Redner. Er war
mit den Gedanken ganz woanders und nahm gar nicht richtig wahr, was sich da
alles abspielte. Als der Sprecher dann zu Ende gekommen war und Bärlapper die
Auszeichnung aushändigen wollte, reagierte der nicht. Das fanden die Leute nun
doch lustig, sie klatschten und riefen im Takt: "Bärlapper Hans!
Bärlapperhans!" Der grinste ganz mechanisch, aber völlig ratlos in die
Menge. Die beiden Ausrichter von vorhin sprangen wieder herbei und schoben
Bärlapper zum Rednerpult hin, wo der Oberbuchhalter nun doch etwas Farbe im
Gesicht hatte und aufgeregt mit einem Gegenstand herumfuchtelte. Dann lief
alles ganz routiniert ab: Überreichung, Handschlag, Zinnteller mit Gravur als
Ehrengabe.
"Hochheben!
Herzeigen! Hochheeeben! Hochheeeben!", klang es herauf.
Als er
begriff, machte er es wie von der Menge befohlen, hob das gute Stück mit beiden
Händen in die Höhe. Das Blitzlicht für die Betriebschronik traf das Objekt –
schmerzte, dass Bärlapper die Augen zukneifen musste.
Mit dem
Teller in der Hand stolperte Bärlapper durch die Reihen und suchte seinen
Platz, fand ihn nicht gleich, lief mal hierhin und wieder dorthin, irrte eine
Weile umher. Einige hatten ihn von verschiedenen Stellen aus seinen Namen
gerufen: "Bärlapper, hier!" – "He, Bärlapper, hier!",
fanden sie lustig. Er hörte bald auf zu suchen und blickte zornig in die Runde.
Er fühlte alle Augen auf sich gerichtet, hörte das Stimmengewirr, hörte Gekicher.
Da reichte
es ihm. "Verarschen kann ich mich alleine", schimpfte er laut,
"da brauche ich niemand dazu und euch schon gleich gar nicht!" Er
ging mit großen Schritten zum Ausgang und machte, dass er wegkam.
Die
Brauerei sollte bis über Neujahr geschlossen bleiben, und die Weihnachtszeit
verging fast im gewohnten Trott.
Bärlapper
blieb meistens daheim. Nur zum Kirchgang konnte er sich aufraffen. Selbst bei
seinem Trachtenverein ließ er sich nicht mehr sehen.
"Lasse
ihm doch eine Zeit seine Ruhe", riet die Krämerin der Bärlapper-Mutter.
"Der Hans wird schon wieder. Das hat ihn nun mal alles ziemlich
mitgenommen. Schön war es ja auch gar nicht. Du wirst sehen, dann kriegt er ein
Mädel, irgendwann, und alles hat seine Ordnung. Du wirst sehen. Ich gönne es
dir! – Da, vergiss deinen Leberkäs nicht! Und Kinder wird es geben,
Bärlapperin, dann kommt Leben ins Haus."
"Ja,
mei! Wenn das neue Leben kommt, bevor meines geht, das wäre dann ja ein
Segen!", antwortete die alte Bäuerin. "Da zünde ich in der Kirche
eine Kerze an oder zwei."
AUSKLANG
Als im
Februar die neue Anlage in der Brauerei installiert war, hatte Bärlapper den
Laster mit Bierkästen zu beladen und dann als Beifahrer mit auf Tour zu gehen.
Da sie die schweren alten Träger, die aus Holz waren, durch Plastikkästen
ersetzt hatten, kam ihm die Arbeit nicht gerade anstrengend vor. Die
Lieferfahrten zu den weitverstreuten Abnehmern waren im Vergleich zur früheren
Beschäftigung sogar eher Erholung. Es ging über Land. Er sah dabei wieder
vieles, was ihm von früher her vertraut war, wo er als Junge mit seinen
Freunden herumgestreunt oder allein mit dem Fahrrad durch die Gegend gefahren
war – wenn er nicht den Eltern auf dem Hof hatte helfen müssen.
Am liebsten
hockte er hinten auf der Ladepritsche bei den Kästen. Er strich manchmal mit
der Hand über die Flaschen, über die grünen, lieber noch über die braunen –
auch wenn jetzt alle diese Blechkappen hatten, die die Leute nach dem Öffnen
wegschmissen und die bereits überall herumlagen. Er dachte auch an die
Geschichten, die er erfunden hatte. Das tat ihm wohl – für kurze Zeit
wenigstens.
Dass
Bärlapper jetzt eine ruhige Kugel schiebe, wurde behauptet. Deshalb bekam er
auch mal zu hören – wenn er überhaupt hinhörte –, dass er sich einen ziemlich
schlauen Job unter den Nagel gerissen habe. Wenn Bärlapper nicht in der Nähe
war, stieg auch mal wer tiefer ein: "Nämlich mit seiner Radlfahrerei beim
Chef da an seinem Fließband hat der Bärlapper Eindruck geschunden. Wo er auf
den Putz gehauen hat und wie ein Irrer geschuftet hat, dass jeder den Kopf
geschüttelt hat." Jetzt sei es ja raus, dass er ein ganz ein schlauer Hund
war und das alles hatte kommen sehen und dass er Eindruck geschunden und
vorgebeugt hätte.
"Da
liegst du auf dem Auto rum und wirst spazieren gefahren. Während doch jetzt
jeder Dritte der alten Mannschaft irgendwohin zum Malochen fahren muss. In die
Stadt rein. Wenn einer nicht überhaupt arbeitslos ist", sagte der Marxer
einmal zu ihm. Der Huber Xari setzte drauf: "Na ja, die liegen halt dann
daheim bei ihrer Alten und machen sich einen faulen Lenz, derweil wir hier
schuften." Der Rohrer, der jetzt auch beim Beladen war, meinte: "Oder
die hocken beim Wirt rum und tun nichts und kriegen doch ein Stempelgeld. Ein
schönes noch dazu! Nämlich schier alles, von der Arbeitsversicherung, wo wir
reinzahlen und die kriegen es raus!" Sie waren überzeugt, dass es sich
dabei um eine Sauerei handelte. Bei der Heimatzeitung hatte sich sogar der
Redakteur in das Thema verbissen und wollte unter den Arbeitslosen jede Menge
Drückeberger und Sozialparasiten ausgemacht haben. Deren Faulheit führe dazu,
dass der ständig abnehmenden Zahl der arbeitenden Menschen immer mehr aus der
Tasche gezogen werde. Weil die Nichtstuer von der Stütze gut leben könnten, müssten
die Betriebe auch wieder Ausländer hereinholen für die Arbeit, die sonst liegen
bliebe. Immigranten, folgerte er scharfsinnig, die sich dann hier festsetzten.
Um all das
Gerede, erst recht um solches Geschreibe kümmerte sich Bärlapper nicht. Er
erledigte still seine Arbeit. Er hatte seine alten Geschichten, und er erlebte
immer neue. Während der Fahrt hörte er nämlich zu, wie sich seine Flaschen mit
ihrer klirrenden Glassprache, für die er ja das Ohr hatte, unterhielten und
sich ihre Dinge von Bedeutung mitteilten, ob sie etwa voll waren oder leer.
Doch das war noch lange nicht alles. Er wollte da noch viel mehr heraushören:
Was für Leute aus ihnen getrunken hatten, "was für ein Mund, eine Goschen
oder ein Maul das war; redlich durstig oder versoffen; vom frechen Daherreden
trocken oder von der Arbeit ausgedörrt." So redete er jetzt auf der Ladepritsche
hinten laut zu sich selber. Bärlapper meinte auch zu verstehen, was seine
Flaschen alles mitbekommen hatten, während sie irgendwo auf dem Tisch standen,
und was sie sich jetzt darüber berichteten. Manchmal kam es ihm auch vor, als
machten seine gläsernen Freunde sogar Musik. Besonders gute Laune und Lust dazu
schienen sie zu haben, wenn es über ein Kopfsteinpflaster ging. Da klang es
doch sehr gut, wenn auch fast aufgeregt. Anders auf holperigen Feldwegen,
"da hört es sich bald so an", meinte er, "wie die Musik heute
manchmal im Radio, wenn ich den falschen Sender erwischt hatte."
Irgendwann
war der Schrotthändler an der Brauerei vorgefahren. Er war mit seinem Kran
bestückten Laster gekommen, um die ausgemusterte Abfüllanlage abzuholen.
Darauf
hatte Bärlapper bereits die ganze Zeit über gewartet. Er hatte Glück, dass er
nicht gerade beim Bierausfahren unterwegs war.
Der
Alteisenmann begutachtete die gestapelten stählernen Kolosse erst noch und
mäkelte eine ganze Weile daran herum. Er klagte, eigentlich nicht zu wissen,
was er mit dem Schrott anfangen solle, der ja erst aufwändig zerlegt werden
müsse. Dass er total draufzahlen würde und nur aus Anhänglichkeit zur alten
Herrschaft, der das alles hier allerdings ja auch nicht mehr gehöre, wie
jedermann wisse. Den Krempel würde er nur mitnehmen, dass er weg ist und damit
Ruhe ist für den Braumeister, seinem Freund. Bärlapper konnte dieses Rumgenörgle
nur recht sein. Er war ins Verwaltungsgebäude gerannt.
Noch ganz
außer Atem, stammelte er etwas, woraus sich die Schreibdamen reimen konnten,
dass er wissen wolle, "was die Anlage, die jetzt weggeschmissen
wird", denn noch bringen müsse, nämlich was sie koste.
Alle waren
zunächst sehr erstaunt, weil Bärlapper so aufgeregt war, wie ihn niemand
kannte. Vor allem waren sie verwundert, weil er etwas wissen wollte, was ihn
doch eigentlich gar nichts anginge. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie mit
der Überraschung zurechtkamen. Während eine Angestellte zum Chef geeilt war,
versuchten es die anderen mit Fragen nach Bärlappers Gesundheit, nach dem Befinden
der Mutter, wie ihm das Bierausfahren tauge und solchen Sachen. Sie wollten ihn
beruhigen, weil er immer noch aufgeregt schnaubend in die Runde starrte – am
liebsten wären sie ihn natürlich losgeworden. Es dauerte, und den Frauen gingen
allmählich die Fragen aus, zumal er auf nichts einging. Sie fingen mit ihrem
Katalog bereits wieder von vorne an: Gesundheit, Mutter ... Bärlapper wurde
immer ungeduldiger, jetzt antwortete er wenigsten, wenn auch wirr, hätte ihnen
am liebsten gesagt, "haltet euren Mund, euren angestrichenen!"
Endlich schien der Oberbuchhalter ein Einsehen zu haben: "Sagen wir es ihm
eben, jedoch unter der Auflage, dass er still zu sein hat, bis das Zeug vom Hof
ist. Der Bärlapper darf nicht etwa das Geschäft kaputt machen", redete er
so laut, dass es vorne zu hören war, "sonst kann er alles berappen, auf Heller
und Pfennig, und es wird ihm gleich vom Lohn abgezogen". Er kam jetzt doch
nach vorne, heftig mit den Armen fuchtelnd. "Und Sie hier, die Damen, sind
alle meine Zeugen, allesamt!" Als er das herausgepoltert hatte, schaute er
auf den Hof hinunter, um zu sehen, wie weit der Alteisenhandel gediehen
war.
"Ausnahmsweise,
Bärlapper!", machte er nun auf freundlich. "Ausnahmsweise, weil Sie
so viele Jahre an dieser Apparatur stehen durften. Ich habe sie ja deswegen
neulich erst öffentlich belobigt, nicht wahr, was Sie ja wohl erinnern, guter
Mann! Ich hoffe doch wohl sehr, Sie empfanden dabei auch ein wenig Dankbarkeit,
Bärlapper, denn das wird einem doch nicht alle Tage zuteil, so etwas, und da
wäre mancher froh, wenn er überhaupt einmal in seinem ganzen Arbeitsleben auch
nur ein bisschen belobigt werden würde."
Eine der
Angestellten durfte dann die Unterlagen holen, nachsehen und Bärlapper den
erwarteten Preis mitteilen, den sie natürlich längst dem Braumeister als Limit
vorgegeben hatten. Allerdings war die Summe auf Geheiß des Buchhalters auf
einem Zettel notiert worden – wie dieser später begründete: "Niemand soll
mir vorwerfen können, ich hätte ihm den Preis gesagt und etwa mündlich
mitgeteilt!" Bärlapper bedankte sich nur mit einem flüchtigen Kopfnicken
und lief hinaus. Die vom Büro blickten ihm kopfschüttelnd nach und wunderten
sich auch über eine solche Eile. "Ein bisschen spinnt der Kerl und kriegt
sich seit damals nimmer, erzählen sie im Dorf", berichtete Frau Bertl, die
aus Bärlappers Nachbarschaft war.
Unten
angekommen, sah Bärlapper, dass bereits alles verladen war. Bärlapper rannte
zum Schrotthändler, der wieder im Führerhaus seines Transporters saß. Bärlapper
riss den Schlag auf und fixierte, tief schnaufend, den Mann dort oben.
Bärlapper fiel in der Aufregung nicht gleich ein, wie er sein doch reichlich
ungewöhnliches Anliegen vortragen sollte. Er hatte nur den Mund aufgerissen,
aus dem allerdings eine ganze Weile kein Laut drang. Der Mann drinnen fuhr
erschrocken herum und ging in Abwehrstellung, hatte flugs eine kurze
Eisenstange, ein Montiereisen, zur Hand und holte damit aus. Bärlapper sah das,
ließ die Tür los und machte einen Satz rückwärts. Der Eisenmann trat in Bärlappers
Richtung mit dem Fuß ins Leere und schaute grimmig drein.
Bärlapper hob
beschwichtigend die Hände und schrie, immer noch wegen seiner Aufregung mit dem
Atem ringend, dass er einen großen Blauen mehr biete, als dem Händler der
Schrott gekostet habe. "Einen großen Blauen", wiederholte er ein paar
Mal. "Das muss doch Eindruck machen", war er überzeugt. Bärlapper
setzte auch noch nach, dass der Schrotthändler die Apparate und alles, was dazugehöre
auch gar nicht mit zu seinem Lager nehmen, sondern bei ihm hier im Dorf und auf
seinem
Hof abladen könne.
"Mensch", wurde er eindringlich, "benütz dein Hirn: Mehr Moneten
und das Zeug ohne Risiko gleich los und ohne lang rumzutun!"
Der Mann im
Auto hatte plötzlich nicht mehr die Abwehr im Gesicht, legte die Eisenstange
auf den Sitz neben sich und schnaufte jetzt erleichtert tief durch. Er schaute
ganz verdutzt drein und wusste offensichtlich nicht recht, wie er dieses doch erstaunliche
Angebot einschätzen sollte. Dann blickte er mitleidig auf Bärlapper hinunter
und tippte sich an die Stirn. Bärlapper achtete nicht darauf, sondern fuchtelte
mit dem ausgelobten Lappen in der Luft herum und drückte ihn schließlich dem verblüfften
Händler in die Hand, die der gerade von der Stirn genommen hatte.
"Anzahlung!", brachte Bärlapper nur heraus, so erregt war er in
Erwartung einer bedeutenden Errungenschaft.
Inzwischen
war der Braumeister hinter Bärlapper ins Blickfeld des Händlers getreten und
hatte wohl sofort begriffen, was sein Bärlapper Hans plante. Der Mann auf dem
Laster hielt den großen Schein noch in der Hand und blickte den Braumeister fragend
und achselzuckend an. Der nickte beruhigend, legte den Arm auf Bärlappers
Schulter und begann, von ihm und seiner früheren Arbeit zu berichten, er tat es
so wie zu den Besuchszeiten ehedem und als ob ein Publikum zuhörte. Zum ersten
Mal hatte da Bärlapper das Gefühl, dass diese Rede einen Sinn machte und vor
allem ehrlich gemeint war.
Das
Geschäft war dann gelaufen.
Die Sachen
standen am gleichen Tag noch inmitten von Bärlappers Hof. Ein paar Buben liefen
herum, bestaunten die Apparate machten sich an den Hebeln zu schaffen und
fachsimpelten etwas von Raketenstümpfen und dass man die in den Himmel jagen
könnte mit ordentlichen Düsen und so was, spielten Astronaut und stritten. Es
ging schon auch mal laut her.
Um seine
Schulden beim Schrotthändler zu begleichen, verkaufte Bärlapper am Tag drauf
zwei Kühe.
Er war
richtig stolz, dass sein Arbeitsgerät nun wirklich ihm gehörte. Er freute sich
auch, dass er es, wenn er es genau nahm, nicht von diesen Leuten da vom
Schloss, sondern von jemand anderem hatte, wenn es auch nur der Alteisentändler
war. "Das ganze Gesindel da droben, das so schäbig damit umgegangen ist
und es wegschmeißen wollte", schimpfte er. "Die können mir den Buckel
runterrutschen", holte er noch aus, "das Pack da droben. Mich haben
die ja auch irgendwie gefrotzelt."
Im Dorf
wurde keiner schlau aus Bärlapper. "Der ist durchgedreht", war ab und
zu zu hören. "Das ist noch von der ganzen Sache da mit denen von der
Baracke", wurde er doch auch wieder entschuldigt. "Lasst ihn in Ruhe.
So lang er nicht gefährlich ist und Leute angreift oder Häuser anzündet, kannst
du ihn lassen. Es gibt so viele Verrückte auf der Welt, da kommt es auf einen
mehr auch nicht mehr an."
Bärlapper
konnte nur vermuten, was über ihn alles im Umlauf war. Es interessierte ihn
allerdings nicht.
Die Mutter
sagte gar nichts zu der Sache da mit der Sammlung von ausrangiertem Zeug auf
dem Hof. Auch dann schwieg sie und ließ nicht mal ihr Ja-mei heraus, wenn das
Thema bei der Krämerin vorsichtig angetippt wurde. Sie fragte auch den Sohn
nicht danach. Was er damit anfangen würde, wollte sie auch nicht unbedingt
wissen. Sie war froh, dass er da war, ohne Schuld an der widerwärtigen Sache da
in der Baracke und dass er vor allem gesund, wenn auch vielleicht doch ein
wenig wirr im Kopf war. Sie bekochte ihn aufmerksam, und es gab jetzt häufiger
den Schweinsbraten mit der knusprigen Kruste, den er so gern aß. Sie mochte
aber gar nicht hinschauen, wenn sie an dem alten Zeug da auf dem Hof
vorbeiging.
Dagegen
schwelgte Bärlapper in Besitzerstolz, betrachtete seine Errungenschaft durchs
Fenster oder indem er drum herumspazierte, immer wieder mal mit der Hand über
den Lack fuhr, kleinere Stücke vielleicht anders platzierte in seiner Sammlung
oder an einen Behälter klopfte, dass es aus ihm klang.
Es fiel ihm
jetzt immer schwerer, zur Arbeit in die Brauerei zu gehen. Sie war in seinen
Augen nun auch zur Bierfabrik verkommen. Es war ihm dort alles so fremd
geworden.
Wenn mal
wieder einer maulte, dass der Kronenverschluss das Blödeste sei, was je
erfunden worden ist, dann tat Bärlapper das wohl und er nickte zustimmend.
Der
Absatzbereich der Brauerei hatte sich allmählich ausgeweitet. Den neuen Herren
war es in kurzer Zeit gelungen, die meisten kleinen Landbrauereien im weiten
Umkreis aufzukaufen. Diese legten sie nach und nach still, nur die alte
Abnehmerschaft sollte zu Buche schlagen. So musste Bärlapper den Transport auf
immer ausgedehnteren Lieferfahrten begleiten – während es ihm bei dieser
Arbeit, die für ihn eigentlich keine richtige war, immer enger wurde. Wenn ihm
das wieder überkam, versuchte er es hinunterzuspülen. "Jetzt verstehst
du", sagte er sich dann, "was die da immer für einen Durst haben, für
einen abgedrehten, der Görer, der Socher, der Sacklbauer und der alte Lehrer
dazu. So ein ganz komischer Durst ist das, den du jetzt auch verstehst, weil es
ein Loch ist da im Leben – sakra, Leben! –, wo du immer was hineinschüttest
ohne Boden. Oder dass dir das Kotzen unten bleibt, schüttest du in dich was
hinein." Er machte die Kronenverschlüsse voll Verachtung an der Bordwand
weg oder schlug manchmal sogar gleich den Hals der Flasche ab. Wenn ihn seine
Abneigung wieder so richtig packte, schenkte er einen ganzen Kasten Bier mit
diesem Blech drauf weg. Er passte allerdings auf, dass sein neuer Chef, der
Kutscher, wie die Lastwagenfahrer noch genannt wurden, nichts davon merkte.
Ehrlich, wie Bärlapper nun einmal war und auch blieb, zahlte er stets aus eigener
Tasche, was er so sonderbar verbraucht hatte.
Eines Tages
schmiss er allerdings diese ganze Beschwernis hin, die von dort oben auf ihn
gekommen war.
Bald drauf
verkaufte er – unter den Tränen der alten Mutter und trotz brieflicher Proteste
der Schwester – auch den Rest seiner Tiere. Kurz darauf räumte er den Stall mit
Spitzhacke und Presslufthammer aus, setzte neue Fenster, klopfte Putz weg, zog
neuen auf.
Großes Rätselraten
herrschte im Dorf. Gerüchte machten die Runde: "In den Bärlapper seinen
Stall kommt eine Fabrik oder auch nur eine Werkstatt." – "Es kann
auch leicht sein, dass eine von den ganz verrückten Musikhöhlen reinkommt mit
ihrem Lärmterror. So eine, wie sie jetzt wie Schwammerl aus dem Boden schießen.
Wo die Jungen hinrennen wie irr und sich taub machen lassen und noch bescheuerter
rauskommen, als sie hinein sind!" – "Und das alles mitten im Dorf
herinnen, wo dann alles anders wird und versaut und aus mit dem Dorfleben, um
das einen die ganzen Stadtdeppen neidisch sind, weil noch alles seine
Richtigkeit hat auf dem Dorf heraußen." – "Aber komisch ist das ja,
dass so was der Bärlapper Hansl macht, der doch im Trachtenverein ist." –
"Wenn es ums Geld geht, dann wird ein jeder schwach und aus ist es mit der
schönen Moral!" – "In der Müllgrube und der Baracke könnten sie so
einen Saustall machen für die Jungen, die heute so was brauchen, scheinbar."
– "Den Bürgermeister fragen, denn der müsste es ja wissen. Aber der lässt
nichts raus, weil der da drinnen steckt und schon wieder die Hände drin hat,
der Bazi, und nicht nur drin hat, sondern auch aufhält."
In seine
Halle, die auch noch einen gefliesten Boden bekam und mit wischfester Farbe
gestrichen wurde, baute sich Bärlapper die Abfüllanlage komplett ein. Bärlapper
machte das so, dass es die Leute nicht ohne weiteres mitbekamen. Er arbeitete
gerne daran, wenn es bereits dunkel war. So konnten sie sich nur wundern, dass
die Dinger nach und nach vom Hof verschwanden. Bärlapper hatte sich vom Müll
auch eine Menge alter hölzerner Kästen und aus der Glassammlung Flaschen mit
Bügelverschluss geholt. Braune Flaschen mussten es natürlich sein, für die
grünen hatte er sich nicht interessiert.
Bärlapper
werkte wochenlang wie besessen. Ob es nun um Maurerarbeit, das Einbauen von
Installationen oder sonst was ging, Bärlapper machte alles ohne Hilfe.
"Wenn du ein Bauer bist, auch wenn du es nimmer bist, dann kannst du eben
alles", bestärkte er sich, "auch wenn nicht alles ganz so richtig
wird wie bei den Gelernten." Die
Leute wurden allmählich ungeduldig, ja schier verunsichert, weil niemand
richtig wusste, was da vor sich geht, obwohl jeder ja sah, dass etwas ging.
"Bürgermeister, da musst du was tun, sonst gibt es vielleicht eine riesen
Schweinerei, und wir werden sie nicht mehr los, wenn sie einmal da ist."
Der Bürgermeister wusste nichts, behauptete er jedenfalls – und er versicherte
auch, dass er nicht noch einmal schnell hinlangen wollte wegen dem Bärlapper
und dann den Kürzeren ziehen würde, weil die Polizei alles besser wisse,
"so wie damals, wo ihr mich geheißen habt, dass ich hinlangen soll und wo
es dann nichts war. Bärlapper macht ja immer noch einen harmlosen Eindruck,
meistens", spielte es der Bürgermeister herunter, wenn er wieder einmal
angetrieben werden sollte. "Der ist ja noch nicht so gefährlich. Erst wenn
er richtig gefährlich wird, so dass man es deutlich merkt, dann packen wir ihn.
Jetzt haltet euren Mund, denn das habe ich ja bereits veranlasst, dass er erst
kriminalpolizeilich auf Herz und Nieren geprüft worden ist. Das verdankt ihr
mir. Ihr braucht euch ja nur einmal in der Nacht hinschleichen und
reinschauen", meinte er noch, "oder packt ihn, wenn ihr eine Schneid
habt, und haut ihn aufs Maul, bis er es aufmacht. Allerdings habe ich das
überhaupt nicht gesagt! Verstanden? Weil ihr es gar nicht gehört habt! Wenn ihr
verstanden habt, wie ich das meine."
Ein paar
Burschen befolgten diesen Rat sogar – bis zu dem Punkt allerdings nur, der
ihnen das Anschleichen und das Ausspionieren riet. "Denn wenn es der
Bürgermeister sagt, dann kann dir nichts passieren, das ist so gut, wie wenn es
der Richter sagt, jedenfalls fast so gut. Klar, aufpassen musst du bei dem,
weil wenn es sein muss, dann lügt der Bürgermeister auf Teufel komm raus, wie
er es schon oft gemacht hat, und er weiß dann von nichts." Sie gingen,
allerdings hatten sie Pech. Bärlapper hatte immer alle Fenster verhängt und die
Türen fest verschlossen. Am nächsten Tag hing allerdings ein Schild aus
Pappendeckel am Tor: "Nichts zum Sehen! Abhauen!" Etwas kleiner stand
darunter: "Wenn du was willst, gehst du ins Haus, wenn du eine Watschen
brauchst!"
Nach Wochen
war es dann so weit: Bärlapper hatte die Außentünche fertig und ging von Haus
zu Haus, um einzusagen, dass es bei ihm "am Samstag auf Nachmittag um fünf
was zum Anschauen und mit Freibier gibt" und dass jeder, der Lust hat,
kommen oder auch daheimbleiben soll, wenn er keine hat.
"Auch
wenn der Bärlapper jetzt im Kopf nicht ganz richtig ist, was könnte überhaupt
passieren?" – "Da sind ein Haufen Mannsbilder dort, dann packen sie
ihn, wenn er durchdreht und einem was tun will! Da lassen sie ihn richtig
durch, bis er wieder normal wird, weil er das vielleicht braucht." –
"Das Freibier darf man freilich nicht auslassen. Der Bärlapper hat sein
ganzes Vieh verkauft und jede Menge Geld jetzt. Da muss man ihn freilich
richtig hersaufen, wenn er einem was schenkt, denn sonst ist er einem auch noch
beleidigt, wenn man es nicht tut und zulangt bei ihm." – "Vielleicht
ist doch endlich zu sehen, was er da dauernd angestellt hat in seinem Stall drin.
Wenn es arg wird, dann kann man ja immer noch ganz schnell abhauen und die
Polizei oder gleich die vom Irrenhaus rufen."
Die Leute
kamen also zur angegebenen Zeit und warteten artig auf Bärlappers Hof vor dem
rätselhaften Umbau.
Als die
meisten da waren, tauchten zwei Typen auf, die im Ort niemand kannte. Alle
staunten nicht schlecht und fragten sich, was denn das wieder "für welche
sind und ob das mit den zweifelhaften Dahergelaufenen im Dorf wieder losgeht.
Wo man doch die von der Müllgrube erst losgekriegt hat, und zwar gut
verpackt."
Die beiden
tatsächlich etwas abgerissen aussehenden Kerle machten sich daran, die Tore zu
öffnen. "Na ja, wenigstens machen sie was Nützliches und arbeiten",
wurde geflüstert. Es dauerte allerdings eine Weile, bis der Verschlag abgebaut
war. Alle schauten zu und einige gaben Ratschläge: "Da ist noch ein
Nagl!" – "Nimm das Brecheisen!"
Auch der
Bürgermeister war da – ganz entgegen seiner sonstigen Übung. Da kam er immer
etwas später, um auf diese abständliche Weise die Aufmerksamkeit auf sich zu
lenken und bei seinem Einzug möglichst auch noch irgendeine Form von Beifall zu
kassieren. Heute stand er also sozusagen vorzeitig und in der ersten Reihe der
Wartenden, wie es ihm natürlich auch zukam. Mit Fortschreiten der Arbeit der
beiden und in Erwartung der Öffnung und vielleicht sogar einer feierlichen Eröffnung
unter seiner Regie wurde sein Gesichtsausdruck immer bedeutungsvoller. Dann war
es geschafft. Der Bürgermeister wurde von den beiden mit übertrieben tiefer Verbeugung
aufgefordert einzutreten. Seine Brust weitete sich: "So, so, so!",
brachte er hervor, sog an seiner Zigarre und schritt würdig drauflos. Dicht
hinter ihm drängten sich die Leute hinein.
Ein Ah und
Oh erklang. Erst standen alle beinahe wie angewurzelt da. Dann löste sich die
Starre. Staunend liefen sie schließlich umher und nahmen alles in Augenschein:
Im Weiß des großen Raumes, das im Licht der Neonröhren hell erstrahlte, prangte
eine Apparatur, deren zwei übermannshohe senkrechte Teile in einem tiefen
Schwarz gehalten waren und in der Waagrechten von knallgelben Aggregaten
durchquert wurden. Das lange Förderband, jede einzelne Rolle davon, die Lager,
das Gestell, alles war mit einer Sorgfalt sondergleichen bearbeitet. "Wie
neu", war immer wieder zu hören, da und dort auch zu "nagelneu"
gesteigert. Einige wagten es, mit der Hand drüber zu streichen, ganz behutsam
wie über lebende Körper, dieser frische Lack, der Glanz der Farben und was
sonst noch dazu verleitete. Die ganze Spannung der letzten Wochen löste sich in
Wohlgefallen, niemand konnte widerstehen und musste die Sachen im wahren Sinn
des Wortes begreifen. "Ja, so was, und das wollten die Armleuchter vom
Schloss wegschmeißen! Und zusammenhauen, plattmachen haben sie es wollen!"
– "So irr ist der Bärlapper Hansl gar nicht, wie etliche immer gemeint haben die ganze Zeit über,
sondern saumäßig schlau ist er, dass er sich das alles unter den Nagel gerissen
hat!"
"Ja,
ja, wer sagt es denn, der Bärlapper! Da wird es sie reuen, die von der Brauerei,
dass sie das ganze Zeug hergegeben haben, jetzt, wo es so sauber und nagelneu
herschaut!" – "Und der Stall, mein lieber Spitz, da traust du dich ja
gar nicht mehr Stall sagen! Da müsstest du ja Madame Kuh sagen, wenn da noch
ein Rindvieh herinnen stünde!"
Kleine
Gruppen hatten sich gebildet und fachsimpelten oder ratschten einfach. Sie
schauten immer wieder zu Bärlapper hin. Irgendwie mussten sie sich ja versichern, ob er nun wirklich ganz
normal war, so normal wie es sich eben gehört. Dann war ja auch sicher noch
nicht alles raus von dem, was da noch kommen könnte, das Freibier wenigstens
hat er ja noch gar nicht angezapft!
Fast in der
Mitte seines Werkes stand er stolz, der Bärlapper Hans. Er stand da an seinem
Fließband in seiner schönen bayrischen Tracht mit der bestickten Lederhose, dem
bestickten Hemd und dem fesch befederten Hut, den er lässig ein wenig ins
Genick geschoben hatte, dass vorne seine dunklen Locken herausspitzten.
Immer noch
machte sich gelegentlich ein Ah und Oh und ein Ja-da-schau-Her aus den
gedämpften Gesprächen der Leute selbständig und hallte im hohen Raum
wider.
"Nachgerade
ein Kunstwerk ist das alles!", war von einem zu hören, den allerdings
niemand hier kannte. Der hatte nach der Schrift gesprochen und konnte leicht
von der Zeitung sein.
"Aus
dem größten Schrott machen sie ja heutzutage eine Kunst", urteilte der
Simerl vom Nachbarhof. "Eine Kunst heißen sie es, was kein normaler Mensch
versteht, die sie dann sündteuer verkaufen", wusste er noch. Die Leute
nickten und lachten dazu, weil ein jeder freilich eine blasse Ahnung davon
hatte.
Alle waren
natürlich darauf gespannt, ob "der alte Krempel, den der Hans so schön
hergerichtet hat", denn überhaupt noch funktioniert. "Oder ob es doch
ein richtiger Ramsch ist, der nicht geht, auch wenn er schön aussieht." –
"Und wenn es nur irgendwie gehen würde, Hans, möchten wir uns das Abfüllen
und Zumachen von den Flaschen noch einmal zeigen lassen. Wenn es auch nur zur
Erinnerung wäre." Denn hatten sie es nicht selber gesehen, wie er früher
mit diesen schier gar eleganten Handbewegungen sein Geschäft erledigte, so war
davon zumindest ab und zu die Rede gewesen – spätestens während des Wartens,
als die beiden struppigen Kerle hier aufgemacht haben. Jetzt wollten sie es
richtig sehen. "Also los, Hans, lasse dich nicht betteln!"
Auf ein
Handzeichen von Bärlapper stellte einer der Helfer den Mechanismus an: In einem
der schwarzen Türme rührte es sich. Alle hatten flugs den Kopf in die Richtung
der Geräusche gewendet. Staunen stand den Leuten im Gesicht. Die Spannung
machte sich Luft: "Ja da schau her, jetzt geht es los!" Alle traten
aber vorsorglich ein paar Schritte zurück, denn es hätte ja was krachen können,
"weil es ja vielleicht doch nur Schrott ist und die vom Schloss doch nicht
gar so behämmert waren, dass sie es rausgehauen haben."
Der Turm
pustete sich frei, es zischte und stampfte – noch ein paar Schritte zurück! –
und der Apparat erreichte bald schnaufend seinen Rhythmus. Der zweite machte es
ihm nach. Es plätscherte und zischte. Die Leute mussten hierhin und dorthin sehen
und kamen mit dem Zuschauen gar nicht mehr richtig nach, sie wollten freilich
nichts versäumen, ihre Blicke gingen eilig umher. Jetzt begann die
Flaschenreihe zu kreisen. "Lauter Braune!", rief jemand. Gleich
wanderte die Reihe schaumgekrönt, klirrend auf ihren Meister zu. "Ja, da
drehst du total durch! Das ist ja pfeilgrad wie echt! Ja so ein Hund, der Hans!"
Bärlapper
stand zufrieden lächelnd da und machte, bis die Kolonne ihn erreicht hatte,
Fingerübungen wie ein Klavierspieler. Dann langte er hin und alle sahen die
Griffe aus seinen Händen gleiten, "schier gar, ganz geschickt, mit dem
seinen Pratzen, ja das glaubst du ja nicht."
Die
gefüllten und von Hans verschlossenen Flaschen zogen darauf durch den
Etikettierautomat hindurch zum Abkisten. Aus amtlichen, sprich gesundheitspolizeilichen
Bedenken heraus musste bei dieser Aktion das Bier leider durch ein gefärbtes
und jedenfalls äußerst trickreich zum Schäumen gebrachtes Wasser ersetzt
werden. Der brave Bärlapper hatte nämlich nicht versäumt, beim Landratsamt
nachzufragen. Aber alles sah ganz echt aus und die Leute staunten nicht
schlecht, verrenkten sich fast den Hals, so viel gab es zu sehen, stupsten sich
immer wieder an: "Da schau hin und dort und die Wapperl, die hat sich der
Bärlapper vielleicht in der Stadt drinnen machen lassen." – "Oder
doch ganz gewiss, wo hätte er sie sonst her. Beim Drucker. Meinst du, die hat
er vielleicht selber gemalt?" – "Ja schön mit einem Bild vom Dorf,
die Häuser, ein paar wenigstens. Ja freilich. Da siehst du es ja, wenn du
genauer hinschaust: Die Kirche und das Feuerwehrhaus mit dem Schläucheturm, das
ausschaut wie nochmal eine Kirche ..."
"Pratzen
weg!", war Bärlapper einmal zu hören, als der Huber Michl nach einer
Flasche greifen wollte, "nichts zum Saufen! Gleich gibt es aber was! Nicht
dass mir einer verdörrt bei mir da herinnen!"
Dann stand
ein Fass, ein ganzer Hirsch Freibier bereit, nämlich satte zweihundert Maß.
Kein Geringerer als der Bürgermeister hatte anzuzapfen. Um diesen Dienst musste
ihn auch niemand bitten. Der Bürgermeister hatte längst erkannt, dass alles
hier durch die allgemeine Zustimmung bereits zu einer öffentlichen und damit
wichtigen, ja schier gar amtlichen Angelegenheit gediehen war. Einer solchen
musste er sich in diesem seinem Amte und im Hinblick auf die Wiederwahl
selbstverständlich widmen. Er stellte sich in Positur. "Auf geht's, Bürgermeister!",
befahl der Bärlapper, doch eigentlich nur wegen der Form, weil er ja der
Hausherr war und es sich so gehörte. "Einen Durst gibt es!" Der
Bürgermeister hatte sich die bereitliegende Schürze vorgebunden, wobei ihm der
Gemeindediener half, sodann den Wechsel ans Spundloch gesetzt und führte jetzt
mit dem Schlägel drei kräftige Hiebe aus. "Siehst du, das kann er wie so
schnell kein andrer!", war zu hören. "Bravo! Kein Tropfen ging
daneben!" Alle klatschten. Der Bürgermeister feixte fett in die Runde.
Dann schäumten die ersten Gläser voll. Obwohl noch zwei kleinere Fässer angezapft
wurden, dauerte es eine Weile, bis alle ihr Glas hatten. Das Warten machte
freilich noch durstiger. Dann rann der Gerstensaft. Die Stimmung stieg an und
auch die Lautstärke. Die Ritzlinger und wer sich sonst noch dazugesellt hatte,
waren heiter und gelöst, ob des Ereignisses und wurden immer lustiger.
Die
Bärlapper-Mutter schaute später einmal ganz scheu herein. Sie hatte die Tür zum
Haus nur einen Spalt weit geöffnet, so wie sie es immer zu Stallzeiten gemacht
hatte, damit nicht zu viel von der gülligen Stallluft ins Haus kam. Sie zählte
die vielen Leute, die da mit ihren Bierkrügen in der Hand unbeschwert
schwatzend und lachend herumstanden – wo doch früher die Rindviecher waren,
"die auch gefressen und gesoffen haben, was ihnen auch zustand. Aber die
Milch und Kälber gegeben haben und Mist und einen Odel. Lauter Sachen früher,
die einen Wert gehabt haben und von denen wir das Auskommen gehabt haben. Und
jetzt das ganze Dorf, das bloß rumsteht und nichts tut und dem Hansl sein Bier
sauft." Aber ein Lächeln huschte doch über das von ihrem harten Leben so
tief gefurchte Gesicht. "O mei, was macht denn der Hansl mit den Leuten
und was soll es denn für einen Wert haben?", murmelte sie vor sich hin:
"Aber vielleicht hat es dann doch einen Wert! Der Herrgott wird es schon
wissen und richten." Dann war sie auch gleich wieder verschwunden.
Es war
alles in bester Ordnung. Die Leute waren zufrieden und gut gelaunt, weil es so
etwas noch gar nie im Dorf gegeben hat, ja nicht einmal gedacht worden ist,
dass es so etwas geben könnte, was sonst kein Ort in der ganzen Gegend je hatte
und wohl auch haben wird. "Und dass der Bärlapper wieder unter den Leuten
ist. Wo doch viele den ganzen Verdacht
gehabt haben." Alle sahen dem Bärlapper jetzt sogar die beiden vermutlich
in der Stadt angeheuerten Landstreicher nach, die ihm zur Hand gingen. Die
soffen zwar selber wie die Bürstenbinder, waren jedoch immerhin ehrlich und ausdauernd
darum besorgt, dass keiner mit leerem Maßkrug herumstand. "Bloß ...
", schrie der junge Jackl vom Huber zum Bärlapper hin, "... bloß
denen musst du auch noch irgendwann ein Trachtengewand drüberziehen und zuvor
gescheit waschen musst du sie, verstehst? Abschrubben mit der Wurzelbürste
darfst du die, denn ganz astrein sind die nicht."
Der
Messner-Damerl lief herum und sagte ein: "Morgen kommt ihr bestimmt auch
und da wird nichts gesoffen, zuerst, weil da der Herr Hochwürden Bahtiar kommt.
Da wird das alles da herinnen ausgeweiht, das ganze saubere Zeug und der gewesene
Kuhstall. Nämlich, dann liegt ein Segen drauf auf allem, obwohl es kein Vieh
ist, das den Segen freilich nötiger hat, indem dass es Geschöpfe Gottes sind
wie der Mensch. Und ihr kriegt auch ein paar Spritzer Weihbrunnen ab, was euch
nicht schadet bei euren Sünden. Und eine Klosterfrau kommt auch mit, die den
Hansl kennen soll, wie es heißt. Da führt ihr euch anständig auf und redet nicht so schlampig
daher. Und keine Sauereien schon gleich gar nicht!"
Der Damerl
machte sich mit seiner Mission allmählich einen trockenen Mund, so dass er
ordentlich nachfeuchten musste. Das Bier aber verzog ihm das Maß und er hielt
sich bald an den Sünden und an der Klosterfrau aus seiner Botschaft fest.
"Klosterfrau-Sünden-Weihbrunn", prosteten sie ihm zu, wenn er wieder
ankam und zu seinen Worten ansetzte. Denn auch das hatte er vergessen, wo er
bereits war. "Jetzt bist du aber still!", wurde ihm schließlich
befohlen. Denn der Herr Rektor aus dem Nachbardorf, wo sie die Ritzlinger
Kinder immer hinfuhren, hatte sich durch Händeklatschen bemerkbar gemacht. Er
erhob seine Stimme: "Grüß Gott, hochverehrter Herr Bürgermeister und ihr
lieben Leute alle!" Alle wussten, was einen jetzt erwartete, waren jedoch
bereit, es geduldig über sich ergehen lassen. Nachdem der Herr Rektor seiner
Freude über das schöne Wetter und der Freundlichkeit hier Ausdruck verliehen
hatte, kündigte er in seiner Rede, in der er auch die Idee als solche und die
realisierte Privatinitiative als Motor der Marktwirtschaft im Allgemeinen
lobend hervorhob, an, dass er seine Lehrer umgehend anweisen wolle, "mit
ihren Klassen diese wohl gelungene, nachgerade hervorragende Rekonstruktion,
respektive Restauration eines Industriedenkmals sondergleich zu besichtigen und
eingehend zu erkunden. Um aus einem gedeihlichen historischen Erziehungsansatz
heraus den Kindern die Zeit der Eltern nicht nur vor Augen zu führen, sondern
gewissermaßen auch zu erhalten und den Respekt vor der Leistung der Vorfahren
zu aktivieren. An dieser Stelle und zu guter Letzt, aber nicht zuletzt, nicht
zu vergessen die edlen Brotgeber auf dem Schlosse und weitsichtigen Urheber
dieser wertvollen Gegenstände hier, denen alle Bürger so viel im ganzen Umkreise,
wenn auch nun unter etwas anderen Voraussetzungen verdanken und verdankten all
die Jahrhunderte hindurch." Der Herr Rektor schloss mit einer Verneigung
in Richtung des Schlosses, darauf zu den Zuhörern hin, dann vor den Maschinen
und nickte schließlich auch zu Bärlapper hinüber.
Mit seinem
Auftritt hatte der gebildete Herr alle für einige Augenblicke in Schweigen
versetzt, sozusagen als stummes Echo. Bis der Görer zum Socher hin meinte:
"Mein lieber Schwan, da kommen Leute, jede Menge, wirst du sehen. Und der
Hansl kriegt einen Eintritt, und dann kann der leben davon wie der King, weil
der gewiss auch noch zu brauen anfängt und mit der Konkurrenz dann die da
droben total fertig macht. Von seinem Zeug da, musst du ja sagen von seiner so
was wie einer modernen Kunst. Dann lacht der uns noch alle aus! Das hättest du
nicht gedacht! Ein Sauhund ist der, ein ganz ein gerissener noch dazu, und für
einen Blöden haben sie ihn gehalten. Ein bissl wenigstens, wenn du ehrlich
bist!"
Alle hatten
mitgehört, und der Socher sagte laut in den Beifall hinein: "Den
Bärlapper, den musst du jetzt noch richtig hersaufen, bevor der richtig viel
Geld hat! Denn wenn einer reich ist, dann gibt der nichts mehr so leicht
her!"
"Eigentlich
traurig ist es ja, dass immer alles anders wird und gleich gar nichts bleibt,
wie es ist!", hörte Bärlapper den Brenner Hans zu seinem Nachbarn sagen.
"Überhaupt, das mit der Tradition, das ist ja so, und da siehst du es ja
wieder! Immer muss man sich erst dran gewöhnen, dann wird es eine Tradition.
Wirst sehen, dass der Bärlapper mit seinem alten Schrott, der ja jetzt gar
keiner mehr ist, den er hergerichtet hat wie neu, da auch eine Tradition
macht. Ein Museum da bei uns heraußen,
da werden sie einen Neid haben in der Stadt drinnen, wo sie uns gern auch mal
für Dorftrottel halten. Dem Lehrer, dem alten Bazi, der doch bald wieder hier
auftauchen muss, dem wird man es sagen, dass er das hier vom Bärlapper in die
Chronik schreibt. Dann schreibt er sie vielleicht bald, weil niemand bis jetzt
noch nichts davon gehört hat, dass er eine macht."