Zeitennehmer
Rezension am 4.
Februar 2016
Keine schnurstracks erzählte Kriminalstroy,
vielmehr ein kunstvoll gefügtes Konstrukt literarischer Erörterung eines
Kriminalfalles mit existenzphilosophischem Schlussakkord. Die Absätze des
Textes von Dietrich Kothe erscheinen wie monolithische Blöcke, fest ineinander
gefügt sind Vorgänge, Dialoge und Monologe. Diese auffallende Vordergründigkeit des Formalen überrascht nicht bei einem
Autor, der zugleich Bildender Künstler ist. Sein Zugriff auf Realität und deren
literarische Formung erinnert mich an Barlach, dessen wunderliche Skurrilität
in Sachen menschlichen Daseins Kothe meines Erachtens wohl gar überbietet. Wir
leben halt in erbarmungslos perversen Zeiten.
Der des Lebens kundige Autor entwirft mit launiger Ironie akribisch das Porträt
eines Jounalisten, Tom geheißen - ein Mensch, der
gleichsam ständig neben sich steht, um sein Tun und Denken analysieren zu
können. Anfangs liegt er allerdings wie eine Mumie eingewickelt im Bett eines
Krankenhauses. Er ist nämlich brutal überfallen worden, wahrscheinlich weil
Fotos, die er beim Brand des Schlosses eines Super-Reichen geschossen hat,
Beweismaterial für Brandstiftung des Schlossherrn sein könnten – eines
ehemaligen Schulfreundes.
Ausgehend von diesem offensichtlich kriminellen Tatbestand bedient der Autor
psychologisch feinfühlig als „seelischen Stuhlgang“ zwei Erzähllinien – einmal
das stupide Dasein Toms in der „Gesundheitsfabrik“ mit einem todkranken
Bettnachbarn und zum anderen Toms Bemühung um Ablenkung, nämlich Kramen in den
Erinnerungen an den „Edelfaulpelz“ Karl bzw. Charly bzw. Charles. Die Reminiszensen
an diesen ehemaligen Mitschüler aus der Klosterschule, wo „fortwährend der
Himmel auf dem Spiel stand“, bezieht Tom aus Notizen aus jener Zeit. Fazit der
umfangreichen Einleitung: Charles hatte sich Ende der Sechziger im beharrlichen
Widerstand gegen die schulischen „Dompteure“ zum „Gentleman“ entwickelt.
Nun also steht fest: Dieser Tom ist ein gründlicher, gewissenhafter Journalist
und pflegt die Lebensprobleme, die ihm widerfahren, zwecks möglicher Klärung
mehrfach hin und her zu wenden - ob nun live oder in der Erinnerung. Das ist
vom Autor mit reizvollen Apercus garniert. Etwa: „…du
hast dir bald gesagt, in diesem Job darf einen überhaupt nichts wundern.“ Oder:
„Dieser Vakuumgesellschaft stopfen wir die Löcher.“ Oder: „Elsbeth – die
wandelnde Gesprächsbereitschaft“. Oder: „Der kleine Mann hat eben nicht den
Eierkopf für die Philosophie.“ Leider aber hält diese zu Ausführlichkeit
verleitende poetische Struktur merklich auf. Das Geschehen zieht sich hin.
Auch Toms weiteres Schicksal behandelt der Autor mittels zweier Erzähllinien.
Er schildert dessen anfängliche Genesung, während welcher er seinenHelden wieder in skizzierte Erinnerungen abtauchen
lässt. Wie nämlich der ominöse Fall in den Achtzigern in Gang kam, wie der
Chefredakteur ihn in tiefstem Vertrauen auftrug, einem vermeintlichen“Lustknäuel“
irgendwo am Starnberger See, festgehalten vom Fotografen Dittle,
nachzugehen. Fürs Archiv, versteht sich. Und wie bei der Recherche vor Ort, bei
der „verwöhnten Meute“ der „Scheckheft-Aristokratie“, unerwartet Karl
auftauchte. Und wie er Kontakt mit seinem einstigen Freund suchte, der „mittels
Heirat“ wohlhabend geworden war.
Immer wieder meiselt der Autor an den Situationen,
verweilt bei den Umständen – und die Handlung scheint still zu stehen.
Situation Brand des Schlosses anläßlich seiner
Wiedereröffnung nach aufwendiger Restaurierung: Unter den illustren Gästen
plötzlich ein sonderbarer Typ mit Sonnenbrille, Schlapphut und Koffer! Wenig
später „Feuer!“ Und die Gäste als erste und coole Zuschauer. Und inmitten der
angesichts der Feuersbrunst jauchzenden und klatschenden Menge der noch coolere
Schloßherr. Seltsame Umstände. Tom vermag sie nicht
zu kompensieren. Er begreift sich als journalistischen Lakai
eines cleveren Machers, der mit Hilfe der Treuhand bei der Abwicklung des vereinnamten Ostens reich geworden ist. Noch träumt Tom
davon, dem Staatsanwalt zuvor zu kommen. Doch statt zu genesen, gleitet er ab
in den Wahnsinn und landet im Irrenhaus.
Wer gedankendichten, sezierenden sozialen Realismus mag, wird absolut auf seine
Kosten kommen. Ein Buch von philosophischem Anspruch und origineller Spannung.
Vom schließlichen Verlauf wird hier nichts
ausgeplaudert. Es handelt sich wirklich um einen delikaten Kriminalfall, einen
Aufreger von ganz eigener Art.