TRAUMGALERIE
Drei Räume der
versammelten
Wunderlichkeiten
"Und heißt das, es
sei unsinnig, je die Frage zu stellen: ob der Traum wirklich während des
Schlafes vor sich gehe oder ein Gedächtnisphänomen des Erwachens sei? Es wird
auf die Verwendung der Frage ankommen."
Ludwig Wittgenstein
Inhalt
Von
Ausreißern und ihren Umständen.
Er hatte so
einiges gehört, als es ihm ums Nachttheater ging.
Zunächst
war da behauptet worden, dass der Traum eine Art Selbstverrat sein könnte.
Na schön,
dachte er sich, gleich zu Beginn so eine Ansage. Abbringen ließ er sich dennoch
nicht. Das Wesen der häufig sehr lebendigen Schlafereignisse war seinen
Informanten zu erörtern gewesen. Dass wir uns im Traum in einer Nebenwelt
bewegten. Was da gelegentlich abläuft hinter dem dunklen Teil der Grenze
zwischen Wachsein und Schlafen schien ihm nun von Interesse. Die
Auseinandersetzung zwischen dem schier haltlos kreativen Tiefbewussten und
seiner Bändigung durch Denkvorgänge beim Erwachen war besprochen worden. Zu
besagter Zügelung im Allgemeinen sei immerhin die aus dem Munde eines gewissen
Adorno, einer Ikone der berüchtigten 68er Jugend, stammende Anmerkung zu zitieren, wusste er, dass die
persönliche Form geradezu der verinnerlichte gesellschaftliche Zwang sei. Wer
diese Grenze nicht wenigstens zu überschreiten versuche, war er gleich überzeugt,
veröde sich selber in seiner Zwangsweste.
Gewöhnlich verschwinde eben ein
Traum im Verschweigen. Denn wer berichtete – auch sich selber! – ganz ungeniert
von seiner ureigenen quasi Anderalltäglichkeit?
Weiter ging es ihm zu allem bisher
Wahrgenommenem damit, dass die Mitteilungsart des Traums nicht die Sprache sei.
Als Instrument wirke die szenische Aufführung. Das Auftreten in der Regel in
Unschärfe des Details und in beziehungsloser, willkürlicher Kombination. Träume
ließen Personen ohne nähere Begründung auf- und wieder abtreten und wechselten
beliebig den Handlungsort. Das war ihm nichts Neues. So treibt es eben die
etwas lockere Dame Freiheit, kommentierte er sich, um die bis hierher gefasste
Fülle und Strenge der Darlegungen ein bisschen aufzulockern. Da war gleichwohl
noch etwas festzustellen: Der die Traumwirklichkeit beinahe verfremdende Bruch
werde durch ordnende und ergänzende Sprachelemente hervorgerufen. Trotz dieses
eigentlich gar nicht zu vermeidenden Eingriffs habe man von einem sehr bedeutenden
Moment auszugehen: Der Traum verriete einem sein aus der Tiefe wirkendes
Vor-Ich! Dieses ziehe die Fäden, an denen jeder hinge und über die jeder
fortwährend gesteuert werde.
Ist die Freiheit der
Selbstbestimmung mithilfe klaren Bewusstseins eine Illusion?, erschreckte ihn.
Ein Schock, ja, bereits eine richtige Verwundung seines Denkvermögens! Er
fühlte sich nun in seiner ursprünglichen Rolle ertappt! Und er sah sich selber
gegenüber geoutet als Marionette. Was volksmündlich mit Schnürlhanswurst zu
übersetzen sei, mit Hampelmann – allerdings wenig charmant klingend! Trotzdem
sah er sich schier gezwungen zu bekennen: Ein jeder ist Puppe an von tief innen
gezogenen Schnüren – wie das jener bereits erinnerte Adorno mit Blick auf die
verinnerlichten äußeren Zwänge verdeutlicht hatte.
Er war bereit, das auf seine Weise
abzurunden: Alle Leute hängen am Gängelband vieler tiefgreifender, geradezu
ausufernder digitaler Spionage. Alles sei nur dann richtig peinlich, wenn wer
damit als ein Einzelner dastände. Da jedoch alle in dieser Rolle steckten, war
er überzeugt, neutralisiere das jeden in der Schwarmdummheit.
Er war also mit den zunächst
unbehaglichen Umständen des Seins wieder im Lot. In diesem ausgeglichenen
Befinden war er in der Lage, sich noch zu erinnern, gehört zu haben, dass der
Traum sich aus einer unbestimmten Faktensammlung speise.
Dass das Wesen des Traums die
Ballung, Mischung und Bewegung von im Tiefen Vorhandenem sei. Da fügte er noch an,
dass der Traum ein Aufleuchtenlassen von Bruchstücken aufgefundener oder eben
erzeugter Gegebenheiten im Zusammenspiel der Elemente sei ...
Jetzt genügte es ihm allerdings. Er
– nämlich endlich: Cassian Bacher! Er wollte sich damit begnügen, erkannt zu
haben, was es bedeutet, sich eines Traumes zu erinnern: Auch wenn dieser damit
seiner meist tollen Ungebundenheit beraubt werde, sei daraus doch eine
Geschichte zu gestalten und festzuhalten. Ein Aufschreiben, vollführt mit dem
Beiklang von Überraschung, Erstaunen, Rührung und ähnlichen wie auch immer gearteten,
häufig gar nicht so unwillkommenen Unwägbarkeiten.
Wenn es Bacher einige Zeit darauf
dann doch wieder grundsätzlich um diese Sache ging, tauchten ihm eher die alten
Bilder auf – ohne sich freilich darauf festlegen zu wollen! Er erinnerte, dass
es sich bei Träumen vielleicht um Nachrichten aus dem Jenseitigen handeln
könnte; dass Götter im Schlaf der Menschen ihre Botschaften inszenierten. Da
sie sich im Allgemeinen nicht so einfach wie etwa im frühen Griechenland in
persona herbeiließen.
Auch dass Träume in die Zukunft
weisen könnten, sei schon behauptet worden. Was allerdings durchaus Sinn mache,
meinte Bacher. Besonders dann, wenn er ihnen zubilligte, dass sie Vergangenes –
auf ihre bunt gewürfelte Weise natürlich – vorführten. So verkörperten sie
immerhin Ganzheit, der er doch zugestehen wollte, dass sich Gegenwart und
Zukunft auch aus der Vergangenheit speisten.
Cassian Bacher malte sich künftig
seine Bilder aus den Landschaften, die er im Schlaf durchwandert hatte. Das tat
er allmählich immer intensiver. Endlich beschloss er, sich eine Traumgalerie zu
schaffen.
(Um das Wesen von unserem C. B.
noch etwas zu beleuchten, sei verraten, dass er seinen Vornamen Cassian seinen
Eltern lange Zeit übelgenommen hatte. Er fand allerdings irgendwann heraus,
dass es sich dabei um einen frühen Kirchenmann gehandelt hatte. Dieser habe als
Bischof in Säben, oberhalb Klausens in Tirol residiert und gelehrt. Was Bacher
geradezu bizarr vorkam, das war die Legende, dieser Frühchrist sei von seinen
Schülern mit Schreibwerkzeugen zu Tode gebracht worden. Vermutlich war Sankt
Cassian zunächst – nur von einem Schüler wie aus Versehen – etwas gepikst
worden. Dann war Cassian – da er das pädagogisch heiter, allerdings vielleicht
ein wenig ungeschickt wegzuspielen versucht hatte und das eher lustig rüberkam
– bereits von mehreren gestochen worden. Plötzlich wurden wohl alle Schüler vom
Satan erfasst und gerieten in eine bestialische Laune. Sie rannten Cassian die
spitzen Griffel als nun Mordwerkzeuge tiefer und tiefer und schließlich final
in den Leib. Bacher malte sich diese Geschichte in seinem Hang zum Bildlichen
ergreifend aus. Er hängte sich sozusagen mit seinem eigenen Cassian daran. Die
daraus entstandene Bilderfolge überkam Bacher häufig, wenn es im Dienst wieder
so unfriedlich gewesen war. Am Ende konnte er über Mitleid – natürlich nicht
zuletzt auch mit sich – seinen Frieden mit dem Cassian schließen, der ihm dem
Familiennamen vorangestellt worden war. Um das mit seiner Benennung zu
vervollständigen, schenkte er auch seinem Familiennamen Bacher einen tieferen
Sinn. Er brachte ihn gewissermaßen zum Sprechen – den alten Griechen zitierend
–, dass alles fließe. Er verliebte sich geradezu in die Aussage dieses
Heraklits –, was ihn zur eigentlichen Formulierung führte: Du kannst dich zwar
immer wieder an derselben Stelle des Ufers in den Fluss begeben. Dich wird aber
nie dasselbe Wasser umspülen, denn ...)
Es ist jedoch allmählich Zeit, ans Werk zu gehen, um Cassian
Bachers Bilderwelt auszustellen:
Es hatte sich in der Nacht vom 11.
Januar ereignet. Da war auf Cassian Bacher im Schlaf eine Bilderfolge
eingeströmt. Wie er später meinte, hatte sich ihm das in einer von ihm noch nie
wahrgenommenen Klarheit ereignet:
Ein großes, langgestrecktes Haus
war ihm da aufgetaucht. Einige Jugendstilgirlanden um das Portal und um die
Fenster. Mehrere Geschosse. Ein Heim etwa. Durchaus, dem Publikum nach, das
sich darin aneinander vorbei bewegte, eine Seniorenresidenz. Die Baumschatten,
die über dem aufgekiesten Umgriff lagen, deuteten einen in geringer Entfernung
liegenden Park an.
Sonderbare, eigentlich doch eher
gestaltenlose Bewegung herrschte in den Gängen.
Bachers Suchen dann nach einer
Toilette. Öffnen von Türen, deren Aufschrift die Möglichkeit zur Erleichterung
verhieß: "Herren". Rückzug. Allerdings unverrichteter Dinge. Stets
war der Raum, den er betrat, umfunktioniert: Bacher fand ihn immer als
Putzkammer eingerichtet vor – neben den Reinigungsutensilien jeweils mit einem
Bett ausgestattet. Weitersuchen, hieß das für ihn.
Dann entschloss er sich, das
Gebäude zu verlassen. Die Natur des Parks, bildete er sich ein, würde seine
Absonderung als Geschenk aufnehmen. Etliche Personen waren da draußen. Jemand
deutete den Namen eines älteren Herren an. Cassian Bacher erinnerte ihn als
einen Bekannten. Jetzt sah er ihn. Dieser Mann saß auf so einem Motorroller,
wie er früher in Mode war, einen Fuß auf dem Boden. Während er mit den Fingern
der linken Hand am Kupplungshebel herumspielte, hatte er die Rechte lässig in
der Hosentasche.
Da gab irgendwer zu verstehen,
dieser Herr habe mit seinen gut siebzig Jahren noch geheiratet. Es war
verwundert, sogar beinahe vorwurfsvoll rübergekommen.
Bacher fühlte sich entgegnen, dass
der alte Herr in diesem Fall der späten Verehelichung eben nicht so viel von
seiner natürlichen Lebenszeit verloren habe.
Fragende Blicke waren gleich auf
ihn gerichtet, erinnerte sich Bacher noch, als er erwachte. Wegen der Sache um
die Lebenszeit war das vermutlich. Da er auch nicht gleich wusste, wie er zu
dieser Darstellung hatte kommen können, holte er sich selber gegenüber zu einer
Erläuterung aus: Das sei dann der Fall, dachte er sich, wenn sich eine Holde
zur Unholden wandle. Dass sie ihren Angetrauten in dieser gewandelten Rolle
schließlich durchaus umzubringen imstande sei. Wie es auch gelegentlich in der
Zeitung stand. Bacher bestätigte sich, dass daher mit dieser späten Bindung
eben auch die Möglichkeit eines wesentlich späteren Zu-Tode-Kommens zu Buche
schlage. Er wollte gleich dazu ansetzen, dass einer wegen seiner Lebenszeit gar
nicht spät genug ..., versagte sich allerdings, den Gedanken zu Ende zu
bringen. Er räumte jedoch dem Traum als solchem ein, durchaus gemein und platt
sein zu dürfen. Ein Traum zehre bekanntermaßen vom Leben, galt Bacher als Beleg
dafür. Cassian Bacher unterließ es zwar, diesen Einfall weiter zu verfolgen. Er
war gleichwohl entschlossen, der nächtlichen Erlebniswelt weiter Aufmerksamkeit
zu widmen.
Etliche Tage, besser Nächte
vergingen. Bacher hatte beinahe nicht mehr an seinen Plan der Pflege der
Traumerinnerung gedacht. Denn sein Schlaf war in dieser Zeit ereignislos
gewesen.
Anfang Februar fand er sich
immerhin in seiner Nachtwelt in einer Arztpraxis wieder.
Er war dort behandelt worden: ein
Herummachen an ihm – nicht eben schmerzlich, allenfalls lästig. Schließlich
sollte er sich waschen, denn sein Rücken war von Blut verschmiert. Was
verursacht zu haben der Arzt nicht nur wort-, sondern vor allem gestenreich
energisch von sich wies, und zwar, noch bevor ihn jemand dessen bezichtigt
hätte. Von einem Vorhang halb verdeckt, kam Bacher der Weisung zur Reinigung
seines Oberkörpers nach.
Er bediente sich eines
Waschhandschuhs. Auch eine kleine weiße Schüssel war ihm gereicht worden. Deren
Überzug aus Emaile schien brüchig zu sein, jedenfalls waren rote Stellen zu
sehen. Bei denen konnte es sich allerdings auch um Blut gehandelt haben, bei
dieser Örtlichkeit dort. Bei seiner
Waschung setzte er das Behandlungszimmer völlig unter Wasser. Er war gezwungen,
sich auf den Medikamentenschrank zu retten. Von dort oben herabblickend, sah er
den Arzt auf dem Rücken der Krankenschwester, die in der Brühe umherschwamm.
Der Arzt war vielleicht Nichtschwimmer oder hatte einfach keine Lust, sich
eigenständig über Wasser zu halten. Er klammerte sich mit einer Hand an seine
Helferin und patschte mit der anderen auf die Blutbrühe ein. Bacher meinte, ihn
grinsen gesehen zu haben. Das Unterhemd sei ruiniert von dem vielen Blut,
diagnostizierte der Doktor, den Bacher plötzlich auf dem Schrank neben sich
hatte. Kopfschüttelnd reichte er Bacher das schwarze, ärmellose Trikot. Ein
kaum verhüllter Ekel war in seinen Zügen auszumachen. Bacher nahm das Knäuel an
sich, entfaltete es und streifte es sich über, erleichtert, nicht mehr so entblößt
zu sein.
Tagsüber musste Bacher wiederholt
an diese sonderbare Szene denken. Da kam ihm in den Sinn, darüber mit jemandem
zu sprechen. Wir erhalten diese Geschenke in unseren Schlaf hinein, widmen uns
ihnen jedoch nicht sonderlich, war er überzeugt. Wir fliehen sie geradezu,
besonders natürlich, wenn sie uns erschreckt hatten.
Also darüber reden, war er
überzeugt. Gleich fasste Bacher auch eine weibliche Person aus dem
Bekanntenkreis dazu ins Auge. Diese stand ihm bereits etliche Zeit unter dem
mitunter etwas verliebten Decknamen "Sonnenschein" im Kopf – was er
sich hingegen einigermaßen strikt weigerte, sich einzugestehen. Sie war etwa
Anfang dreißig und voll Temperament – jedenfalls im Verhältnis dazu, wie er
sich diesbezüglich selber einschätzte.
Nachts darauf dieses Bild:
"Nach hinten dankbar", wies eine ältere Frau allen, die ihr
begegneten, "nach vorne zuversichtlich und nach oben ..." Da war allerdings die Nacht auch bereits
vorüber gewesen, die Handlung war abgebrochen worden oder sie entzog sich der
Erinnerung. Jedenfalls erwachte Cassian Bacher nur damit und der Vorstellung
dieser beinahe vermummten Person im Gedächtnis. Die Frau hatte da auf dem
Flohmarkt gesessen und Gegenstände angeboten. Bacher schränkte ein, dass sich
dieses Ereignis wohl nicht in dem zurzeit kalten, verregnet-verschneiten
Februar zugetragen haben konnte. Denn wer setzte sich da stundenlang ins Freie.
Er kam dann darauf, dass es aus dem Fernsehen stammte. "Nach hinten
dankbar", hatte dort eine betagte Frau gesagt, "nach vorne
zuversichtlich und nach oben ..." Nach oben? Eben das war Bacher
entfallen. Oder er hatte es nicht richtig wahrgenommen. Wegen der
Beschäftigungen nebenbei, denen sich einer beim Fernsehen immer wieder widmet –
wenn er nicht sogar ab und zu einschläft.
Diese Leerstelle nistete sich ihm
allmählich richtig als Mangel ein. Er vermutete, dass es eine merkenswerte
Lebensauffassung sein könnte – eine Grundeinstellung, die vielleicht auch für
ihn von Vorteil sein könnte. Und das unter Umständen sogar mit dem schonenden
Begnügen, lediglich davon wissen zu sollen. "Denn keiner müsse die idealen
Dinge stets gleich selber vollführen und sich damit womöglich peinigen",
menschelte er vor sich hin.
Es ließ ihn jedenfalls nicht aus.
Er musste daran denken und überlegen, wie das Zitat zu Ende zu führen wäre.
Am Morgen des 9. Februar ging
Cassian Bacher durch den Kopf, dass er sich in der Nacht in einer Zelle
eingeschlossen gefühlt hatte. Eine selbst noch am Morgen beklemmende Situation
für ihn. Es war ihm gleich so vorgekommen, wusste er noch, als sei da noch
irgendwer. Dort hinter der Ecke seiner Traumzelle mochten sich noch etliche
mutmaßliche Schicksalsgenossen aufgehalten haben. Jedenfalls hatte er ein
gedämpftes Stimmengewirr wahrgenommen, das allerdings auch wieder so klang, als
komme es von viel weiter her. Ehe sich
Bacher versah, befand er sich in seinem bloßen Nachdenken darüber, sozusagen
wieder mitten in diesem Vorgang: Die Anderen hielten sich immerhin – wenn sie
denn wirklich in seiner Umgebung vorhanden waren – so weit von ihm entfernt
auf, dass sie nicht zu sehen waren. Die Örtlichkeit befand sich im Dachgeschoss
einer großen Anlage, war ihm gleich bewusst. Er stellte sie sich als ein, wenn
auch sonderbar kahles, jedenfalls kein verschnörkeltes barockes Kloster vor.
Ödnis, wenn er aus dem vergitterten Fenster in den Hof hinunter und zu dem
abgewinkelten Gebäudeteil hinübersah: Graue Wände mit Fenstern, wie
Schießscharten so schmal und klein, obendrein vergittert; auf dem Hof kein Halm
Grün; mannshohe Mauern umfingen das Gelände.
Gestalten, eher nur Schemen,
schatteten in der Zelle an ihm vorüber. Alles spielte sich immer noch in
einiger Entfernung ab und war kaum auszumachen.
Es konnte also eine Täuschung sein.
Dennoch kam es ihm so vor, als leerte sich der Raum allmählich. Als er dann
meinte, alleine zu sein, kam ihn Einsamkeit an.
Später wurde ihm von einer zwar
deutlich auszumachenden, allerdings und deswegen auch wieder erschreckend
körperlosen Hand ein Schlüssel gereicht. Er versuchte, mit einigem Schauder,
die zu der Extremität mit dem Schlüssel gehörende Gestalt zu erkennen.
Vergebens. So fiel sein Blick auf die Reichung: ein Miniaturschlüssel mit
schwarzem Kunststoffgriff, augenfällig für ein Zylinderschloss.
Dieses Ding sah gerade so aus wie
jenes zu dem Fach, in dem in seiner Dienststelle die Kasse weggeschlossen war.
Bei dieser handelte es sich immerhin um eine so genannte schwarze Kasse. Deren
Existenz bereitete einem stets ein wenig schlechtes Gewissen, wenn man auch nur
daran dachte. Diese Kassen enthielten Beträge, die an der Buchhaltung vorbei
irgendeinem Zweck, der ebenfalls außerhalb des Regulären lag, zugeführt wurden.
Man durfte nicht erwischt werden. Es war gnadenlose Ahndung zu befürchten.
Irgendetwas in ihm bedeutete ihm,
seinen Schlüssel einzuführen. Das war ein überaus wohltuender Akt, den er
mehrmals wiederholte. Er genoss das Hineingleiten des Schlüssels. Es bescherte
ihm ein angenehmes Gefühl, so etwas Märchenhaftes wie aus der Verheißung des
Sesam-öffne-Dich. Es erregte ihn.
Er konnte sich jetzt nach
vollführter Handlung aus dem Gebäudekomplex hinausbegeben – und das allerdings
mit einem verwirrenden Gefühlsmix aus Befreiung und Hilflosigkeit.
Eine ältere männliche Person
gesellte sich zu ihm. Ein Deut von Beziehung entstand sofort, sogar etwas
Vertrautheit war augenblicklich fühlbar, empfand er. Ein Hauch von Geborgenheit
kam auf. Es könne ja auf keinen Fall schaden, in Begleitung zu sein, meinte er
angenehm berührt.
Mit dieser Person befand er sich
vor dem Tor unversehens in einer Menge offenbar ebenfalls Befreiter. Alle zogen
an einer großen, schwarz bemantelten Gestalt vorbei. Diese sah so aus, wie sie
bei Don Giovanni gerne den Komtur als Wiedergänger darstellen.
Dieses im Grunde furchterregende
Gespenst hatte etwas zu verteilen. Es war wohl Geld, stellte Bacher fest.
Als sie an der Reihe waren, erhielt
sein Begleiter tatsächlich etwas. Bacher konnte es in dessen Hand klimpern
hören. Für sich hingegen war nur noch ein Stückchen Stanniol übrig. So eine
leere Geldimitation aus etwas stärkerem Blattzinn, wie sie zur Umhüllung von
Schokoladetalern verwendet wird.
Sie war nicht goldfarben, sondern
nur schnöde grau.
Ihre Wege trennten sich, da der
Andere vorgab, von seinen Angehörigen zu wissen und diese gleich aufsuchen zu
wollen. Bacher konnte nicht mit so etwas aufwarten. So irrte er umher und lief
im Grunde ins Leere.
Bacher verfolgten diese Eindrücke
über sein Frühstück hinaus. Auf dem Weg zum Dienst wurden sie aber von dem
Gedanken verdrängt, doch mit dieser Dame Sonnenschein über Träume zu sprechen.
Sein Planen an diesem privaten Vorhaben beflügelte ihn dann bei seiner Arbeit
ungewohnt. Ob es deren Qualität auch steigerte, mag dahingestellt sein – zumal
Cassian Bacher das mit der alten Frau da vom Flohmarkt auch noch verfolgte. Dem
wollte er jedoch später auf der Bahnfahrt während seines Nachhausewegs wieder
etwas weiter nachgehen. So ließ er sich dann darauf ein, dass es zwar allein
respektabel sei, dass diese Frau neben Vorausschau und Rückblick ein besonderes
Oben für gegeben hielt. Möglicherweise dieses vielzitierte, merkwürdige
Allesbeherrschende.
Dieses Oben jedoch aus heutiger
Sicht des Alls, des Orbits?, fragte sich Bacher. Kann da im Bewusstsein der
Zeitgenossen wie vielleicht ehedem eine Allsicht als Jenseitsbewusstsein
entstehen? Wohl keiner kann es sich so vorstellen bei all dem Gefühl von
Aufgeklärtheit über die Himmelskunde. Das hinwiederum auch ohne tiefere
Einblicke in die Astronomie, die freilich besser der Wissenschaft zu überlassen
ist. Bacher betrachtete es als überflüssig, seine Gedanken weiter auf etwas
Jenseitiges, noch dazu Unergründliches zu lenken. Lasse den Himmel doch besser
als jenen der kindlichen Sicht und den aus dem Gebet mit dem Vater im Himmel
sein, riet er sich. Diesen Himmel, dessen sich einer, wenn überhaupt, dann
meist nur in misslichen Lagen zu erinnern trachtet.
Obendrein sind da auch noch die
vielen Himmel, kam ihm später. Der Zug hatte gerade den kleinen Tunnel
durchfahren und das schöne Abendrot drang einem fast ins Herz. Diese Himmel,
die jeder, aus welchem Anlass auch immer, benennt und natürlich auch ersehnt.
Denkt einer nur an den so genannten siebten Himmel. Der Himmelsbegriff ist
bekanntermaßen dem Wertverlust unterworfen, einer Inflation. Schließlich ist da
das in weiten Kreisen sehr ernst genommene Angebot von mehr als einem halben
Dutzend Himmeln mit der Himmelsleiter irrwitziger Verheißungen.
Bacher fragte sich, was es solle –
wollte das allerdings ebenfalls in seinem geplanten Gespräch mit Sonnenschein
einbringen. Er war gespannt darauf, ob überhaupt und wenn doch, wie so etwas
wohl bei ihr, dieser Sonnenschein, ankommen würde. So ein wuchtiges Ding bei einer Frau, kicherte
er sich davon weg, als sozusagen Anmacheplauderei!
In der Nacht des 14. Februars
mochte es dann daran gelegen haben, dass Bacher vom Winter genug hatte und ihm
der Traum deswegen etwas Sommerliches bescherte:
Eben feixte da dieser Mensch – eine
als seriös eingeschätzte, stadtbekannte Person – noch am Straßencafé vorbei:
Aus einem sommerlich offenen Benz äugte er langhalsig hervor und bewegte sein
Schmuckstück mit einer Langsamkeit wie im Kriechgang.
Eigentlich doch etwas extrem für
einen pensionierten Direktor, so eine Show, dachte sich Bacher hinter seinem
Cappuccino. Da war dieser alte Dandy natürlich auch gleich weg. Als Bacher nach
seiner Tasse greifen wollte, war der weiße, eigentlich kakaobetupfte Schaum auf
seinem Getränk beschriebenes Papier. Als er noch einmal und nun genauer hinsah,
fand er sich hinter seiner Steuererklärung wieder. Er blickte umher. Da war
sonst niemand. Also führte er das Gebilde ungläubig zum Mund. Und das in der
Absicht, den Zustand zu prüfen. Er wollte sehen, ob es sich um so eine Wandlung
handelte. Ähnlich der Annahme bei religiösen Vorgängen. Natürlich hätte es
Bacher als vorteilhafter empfunden, wenn doch noch ein Schluck zu nehmen
gewesen wäre. Er erkannte bei der Sinnenprobe jedoch tatsächlich auf Papier.
Siehe da, es stellte sich sofort die übliche Wirrsal ein, in die sich der
Steuererklärende stets geworfen fühlt.
Da bemerkte Bacher, dass der Herr, tatsächlich jener aus dem offenen,
sportlichen Luxusgefährt, an seinen Blättern saß. Bacher traute ihm sofort Ein-
und sogar Durchblick zu. Diese Erscheinung wollte gleich wissen, ob er denn mit
dem Rad unbedingt jene Strecke hatte fahren müssen. Ein Hund war Bacher vor
einiger Zeit, jedenfalls im darzustellenden Steuerjahr, an die Beine
gesprungen. Bacher war so auf äußerst unsanfte Weise vom Drahtesel gebracht
worden. Damals. Und Bacher – zur Erinnerung, die sich auch sofort einmischte –
hatte seit einiger Zeit geplant, die entstandenen Arztkosten von der Steuer
abzusetzen.
Bacher war durch das Ansinnen, das
immerhin auf sein Verhalten abzielte, irritiert und wusste nicht gleich, etwas
zu entgegnen. Als Bacher dann doch einfiel, dass es im Leben meistens mehrere
Möglichkeiten für Wegstrecken gebe, war der vermeintliche Helfer bereits wieder
verschwunden. Alles Wegliche führe nach Rom, heißt es, wollte Bacher noch
versichern. Es blieb ihm hingegen gewissermaßen im Kopf stecken.
Am nächsten Tag befand sich die
Steuererklärung unter Bachers Plänen. Er werde sich ihr widmen müssen, erkannte
er. Denn er erinnerte sich, gehört zu haben, dass eine Arbeit, die
hinausgezögert werde, so oft zu erledigen sei, wie sie einem in den Sinn komme
bei seinem ganzen Aufgeschiebe.
Am 20. Februar erschien Bacher in
seiner nachtschlafenden Zeit ein Gewirr von Straßen, Geleisen, Kanälen,
Unterführungen und Brücken. Züge rasten vorüber. Autos flitzten daher, um sich
bald an Schlangen ihresgleichen zu hängen. Schiffe durchpflügten das Wasser.
Weit darüber stachen Jetts ins Himmelsblau und
zeichneten ihre Flugbahn brüchig weiß. Es musste drüben in den Staaten gewesen
sein, wo sich Bacher gleich selber in einem Straßenkreuzer fand, einem
geräumigen, wohligen Käfig, der ihn so dahinschaukelte. Er fühlte sich mitten
in diesem ganzen Geflecht und dazu auf sonderbare Weise als einen Teil davon:
Ich bin die Straße, die Schiene, der Wasserweg und der Luftraum, wollte sich
Cassian Bacher zumessen. Ein Gefühl des Schwebens stellte sich ein. Er lauschte
dann, angeregt durch die wohltuend belebte Situation, den Einlassungen von
irgendwoher. Da konnte gut ein Mitfahrer sein oder auch nur das Radio, aber immerhin,
es rieselte angenehm auf ihn ein. Plötzlich stach er in einen Tunnel. Dieser
verjüngte sich auf den ersten Blick. Er schrumpfte gleich zum Schacht. Im Nu
von allem völlig entledigt, ganz allein, bewegte sich Bacher bald in dieser
ständig enger werdenden Mine, die sich finster und kaltwandig
dahinzog. Bacher kroch bereits auf den Knien voran. Die Röhre schloss ihn ein,
fühlte er entsetzt. Da, ein heller Punkt. Winzig. Ganz weit weg. Licht. Da
vorne. Von etwas weiter oben schien es auf. Eine Öffnung, ein Ausgang? Die
Freiheit? Erleichterung. Bacher, nun bereits auf allen Vieren. Schließlich
robbte er darauf zu. Ein unbändiger Drang trieb ihn voran, wie Angst im Nacken.
Die Röhre verjüngte sich indessen immer mehr, lief, immer enger werdend, auf
den verheißenen Ausgang zu. Die Schultern streiften bereits die Wandung. Am
Ende war da kaum noch Kopfesweite. Eingezwängt sein!
Höllisches Grauen! Das Licht – Weite, Breite, Raum verheißend. Unerreichbar?
Kein Durchkommen? Es muss doch gelingen! Raus hier! Wieder ein Versuch und
wieder. Ein Ruck vorwärts, auf die Befreiung, auf die Erlösung zu. Der Druck um
den Kopf. Steckenbleiben. Horror! Nachgedrückt, vielleicht ist ein Durchzwängen
zu schaffen! Alles riskieren. Noch fester eingeklemmt. Der Kopf, um Gottes
willen! Zurück!
Es gibt keine Umkehr ...
Bacher war ums Erwachen und um den
hellen Morgen froh. Die Beklemmung vermischte sich in ihrem Abklingen
versöhnlich mit der plötzlichen Befreiung. In diesem Zustand griff Bacher sich
mit beiden Händen an den Kopf und atmete tief durch.
Es tat wohl.
Die Tagesgeschäfte angehen, hieß er
sich. Ein Blick in den Kalender – und gleich dieses Herzklopfen: "Treffen
mit S.", stand dort. Ein lautes Lachen fuhr ihm heraus. "Ich gehe auf
die Vierzig zu – und immer noch dieser Pulsschlag bei dem ...", wunderte
er sich laut vor sich hin. Jung oder dumm geblieben?, fragte er sich und wich
sich aus, indem er feststellte, dass Verschiedenes so drin ist in einem, ein
Leben lang. Er setzte noch hinzu, dass dieses Angehäufe
kaum danach befragt wird, ob es jeweils noch Bedeutung habe. Letztlich empfand
er diesen Gedankengang jedoch in seinem Fall als wesentlich zu abgestanden und
wollte es sein lassen. Er setzte nur noch nach, dass es eben eine ganz
angenehme Dummheit sei.
Am 05. März hatten sich die beiden
dann getroffen. Ein schöner Abend im Kaffeehaus war daraus geworden. Bacher war
selbst, wenn auch eher nur am Rande, mit seinem Anliegen bei Sonnenschein, wie
es so schön heißt, durch offene Türen gegangen. Sie waren sich darüber – oder
vielleicht sogar überhaupt? – beinahe richtig nähergekommen. Die große
Überraschung beherrschte seine Stimmung eine ganze Weile. Er wünschte sich,
dass das Tage dauern möge!
Getragen von überaus guten
Gefühlen, überkamen
Bacher auch noch auf dem Heimweg
Szenen ihrer
Unterhaltung. Der Austausch
eigentlich belangloser
Alltäglichkeiten – wenn auch nicht
gerade nur auf Niveau vom Gespräch übers Wetter. Dazwischen allerdings
gelegentlich von ihm eingebrachte Anmerkungen zum Beispiel über die alten Römer
und ihre Träume als Bilder des Todes. Wobei ihn Sonnenscheins nüchterne
Entgegnung beeindruckte, Träume seien Sammlungen von Tagesresten. Er wollte
darauf sein Römerzitat heiter abrunden mit der Bemerkung, dass der Tod den
Alten allemal auch ein freundlicher Geselle gewesen sei. Einer, der ihnen am
Ende oder vielleicht zwischendurch, eben zu welcher schlafenden Zeit auch
immer, einen Lebensfilm in Kürzestfassung
vorführte. Ihr Date war ihnen also eine
sehr angenehme Veranstaltung gewesen, in der sie sich auch kleinere gesprächliche Ausrutscher nachsehen konnten. Der
beiderseitigen Aufgekratztheit wegen.
Nachts (auf seine Begegnung mit
Sonnenschein hin?) stellten sich bei Cassian Bacher diese Szenen ein:
Ein 2CV war da vorne abgestellt.
Diese Schachtel wackelte sonderbar. Da musste ein Parkplatz sein – und dort
diese Bewegungen? Das irritierte Bacher ausgesprochen. 2CV heute noch? Nur noch
was für Liebhaber und auch nur, wenn sie Bastler sind. "Döschöwo", fühlte er sich erklären. Wie das auch
klang! Dieser kessen Bescheidenheit auf vier Rädern trauten es alle zu, dass
sie sich irgendwie und auch aus keinem Grund bewegte. Das nicht nur geradeaus,
sondern auch zur Seite und sonst wie. Alle hatten ihr immer alles Sonderbare
nachgesehen – so er auch jetzt, wo sie im Stehen schwankte. Sie hatten das Ding
nicht Auto genannt. Ente sagten alle dazu. Gleich waren bei Bacher die späten
Sechziger wieder da. Als junger Mensch mit so etwas herumkurven, das war cool.
Das Schwanken war jetzt stärker
geworden. Es sah wunderlich und schier zum Lachen aus, wie dieses komische Ding
immer stärker wippte, gewissermaßen in die Knie ging und wieder emporsprang.
Bacher kam es so vor, als ob sich beim Aufschwung gar die Räder vom Pflaster
hoben.
Kopfschütteln über sich selber.
Offenbar misstraute er seiner Einbildung. Zum Ersatz war da wieder die
Erinnerung an früher: Kein Fahrzeug im engeren Sinne war es ja, hatte es
geheißen. Eher eine rollende Weltanschauung. Da waren tatsächlich die
Endsechziger wieder. Wo sich die alte und die heraufziehende Zeit in den Haaren
lagen. Diese Bilder, lange versteckt gehalten, kamen hervor. Die
Staatsanwaltschaft wachte sogar über die Tiefe der Dekolletés bei den
Evastöchtern in den Illustrierten. Justiz. Gericht ...
Bacher bewegte sich in die Nähe der
wackelnden Nuckelpinne. Dieses Wort von früher! Er wollte an sich selber
hinuntersehen, ob seine Kleidung auch aus der Zeit stammte. Alles verschwamm
für einen Augenblick. Er konnte an sich nichts erkennen. Jetzt war er so nahe, dass das Quietschen und
Ächzen der Federn zu vernehmen war. Er wagte einen neugierigen, wenn auch
unverfrorenen Blick durchs Fenster hinein. Oh, was ging denn da ab? Ein Staunen
überkam ihn. Ein enormes Kribbeln durchfuhr Bacher. In dem Wackelding lief ein
Film – und was für einer! Tief durchgeatmet! Den Blick nicht mehr abgewendet.
Ein blanker Rücken hob und senkte sich in so etwas wie beharrlicher,
unentwegter Genussarbeit. Dieser Eindruck bewegte Cassian Bacher tief. Er
fühlte diesen Takt sogar in sich. Das enthüllte Individuum war über einem
anderen, einem ebenso bloßen, aber in Vorderansicht, entdeckte er. Bebendes,
sich hebendes und sich senkendes Fleisch. Verschlungen und ineinander sein. Im
Augenblick vereinigten sich auch die Laute aus dem fast hüpfenden Behältnis mit
denen vorhin wahrgenommenen Geräuschen. Eine lustvolle Addition: Vierfaches
Federnquietschen plus zweifaches Stöhnen ist gleich Sextett, zählte er zusammen.
Sextett, drängte sich ihm wollüstig auf! Beide Hände gegen den immer wilder
auch zur Seite ausschlagenden Wonneraum gedrückt. Solidarisch als Außenhelfer
sein Umschlagen und die Störung dieser elementaren Besorgung zu verhindern.
Bald erhob sich ein hohes, steil ansteigendes Solo aus dem Sextett. Es
überschwebte alles, flatterte für wunderbar mitreißende Sekunden schier über
dem ganzen Zustand – und da stand auch gleich eine schwarze Robe neben der
immer noch wild bewegten Schnuckelpinne. Dieser
Schatten hatte die erhoben ausgestreckten Arme als Geste der Konfiskation über
das Corpus Delicti gebreitet: Der Staatsanwalt aus den Sechzigern war da. Genau
so, wie er zu erinnern war! Die geballte Wucht allen moralisierenden Über-Ichs,
die diese Vorstellung wohl zu fassen gedachte ...
Schließlich die Flucht Cassian
Bachers in den Tag.
Ein schweißgebadetes Erwachen auf
eindringliches Geheiß des Weckers hin und dann prüfendes Tasten nach dem
Zustand der vielleicht ausgeworfenen Körperflüssigkeiten.
Beim Rasiergeschäft und beim dabei
nicht zu vermeidenden Blick in den Spiegel kam es Bacher unvermittelt sonderbar
an. Er stellte sich vor, wie sein Schädel ohne sozusagen Befleischung
aussähe – aussehen werde. Es graute ihm allein bei dem Gedanken, seines jetzt
noch die Kopfhaut deckenden brünetten Haares entledigt zu sein. Er schämte sich
allerdings sofort, sich diese Betrachtung überhaupt gestattet zu haben.
Allerdings war er auch gleich wieder bei der Ursache dieses Einfalls, etwa dem
Teil des Gespräches mit Sonnenschein, in welchem es um die Träume als die
Bilder des Todes gegangen war. Er wollte sich da wieder heiter herauswinden. Er
wolle dem Knochenmann in Zukunft dadurch Respekt erweisen, dass er ihn nicht
mehr für jemanden halte, der nur wegnehme, nämlich das Leben, sondern der auch
gebe, nämlich die besagten Bilderfolgen vom Leben. Und wohlgelaunt bekräftigte
Bacher seinen Vorsatz dadurch, dass er sich seiner Nachterlebnisse weiterhin
mit Sorgfalt annehmen wolle.
Irgendwann, gegen Mittag mochte es
gewesen sein, war Cassian Bacher wieder mit Gedanken an diese Frau mit dem
entgangenen "Oben" ihres Ausspruchs beschäftigt.
Im Grunde neide er ihr diese allein
durch jene Blickrichtung gegebene geistige Haltung. Die sich gewiss auch
körperlich darstellte und das Rückgrat entlaste – wollte er sich davon
wegblödeln. Vielleicht vermute sie in diesem Oben die ganze Palette von idealen
Werten hängen, holte er sich zurück. Diese idealen Werte, die ja wegen ihrer
Entfernung vom Menschen, dem man sie dort hinauf philosophiert hatte, nie ganz
zu erreichen sind? Aber dass sie ihm doch als leitender Ausblick erforderlich
seien, die Werte. Diese Frau kann jedenfalls mit erhobenem Haupt, eben mit dem
Blick nach oben, durchs Leben schreiten. Wenn sie es geschickt anstellte,
abwechselnd mit dem von ihr auch zitierten Blick nach rückwärts und voraus,
gewänne sie zum einen Umsicht und käme andererseits auch nicht wie der im
Märchen zitierte Hans-guck-in-die-Luft daher, packte ihn wieder die Laune. Das
ist selbstredend bildlich gemeint, holte Bacher seinen Einfall aus der
anklingenden Wunderlichkeit zurück – und wollte es damit für heute sein
Bewenden haben lassen. Allerdings überkam es ihn dann doch noch, dass alles
seine ganz persönliche Bewandtnis habe mit diesen Dingen, dass alles zunächst
innere Schau sei. Ach ja, "Schau - Show"!, rutschte ihm vernehmbar in
diese Betrachtung. Was geht es die Anderen an? "Höre auf die Anderen
nicht. / Tue redlich deine Pflicht. / Gott fragt auch die Andern nicht, / wenn
er das Urteil über dich spricht.", hatte jemand groß und in schönen
Lettern an seine Hauswand gepinselt, fiel Bacher ein. Er wunderte sich darüber
– und wollte nun wirklich von diesen hochfliegenden Gedanken lassen.
In der Kantine begegnete er zu
Mittag Sonnenschein, die zufällig gekommen war, um ein paar Happen zu sich zu
nehmen. Die Überraschung hatte Bacher schier die Sprache verschlagen. In dieser
Verlegenheit griff er auf,
was er vorhin sein lassen wollte. Er skizzierte Sonnenschein die bloße
Geschichte um die alte Frau, ohne tiefer in das einzusteigen, was ihn eigentlich
umtrieb. Sonnenschein revanchierte sich mit der Erzählung von einem Mann, der
Schafe gehalten habe – bis ihn ein schweres Rückenleiden heimsuchte. Er habe
die Schafe schweren Herzens weggegeben und sich fortan der Taubenzucht
gewidmet, des den Rücken entlastenden Blickes nach oben wegen.
Tage vergingen. Am 16. März hatte
Cassian Bacher wieder so ein – wenigstens in eigener Einschätzung –
bemerkenswertes Nachterlebnis: Ihn fröstelte. Bald schritt er, immer noch von
diesem unangenehmen Gefühl begleitet, einen Feldweg entlang. Rechts stand üppiger
Klee. Von Weitem sah er, dass ihn der Weg vom Ende dieses Flurstücks an
rechtwinklig weiterführen würde. Er war damit zufrieden. Die Strecke jedoch
nicht ausgehend, wählte er gleichsam eine Hypotenuse, um ein wenig abzukürzen.
Er stapfte durch den hohen Klee. Der morgendliche Tau haftete noch an den
Pflanzen, so dass Bacher es an den Beinen feucht werden fühlte. Während er noch
zweifelte, ob er darüber erst nur erstaunt oder doch gleich verärgert sein
sollte, vernahm er hinter sich etwas. Stimmen? Es tönte gar nicht, war aber
eigenartig deutlich. Es war nur einfach in ihm. Es hatte den Charakter eines
gleichsam vielsagenden Gefühls. Ihm ging gleich auf, dass es die Sprache des
Gewissens war. Eine sogar mehrschichtige Rüge! Ja so war es, ein Gefährte des
kindlich erinnerten Schutzengels ist ja das Gewissen, fiel ihm ein. Da Bacher
annehmen konnte, dass die beiden, Engel und Gewissen, hinter ihm waren, fühlte
er den Tadel im Nacken: dass es nicht in Ordnung sei, was er da unternommen
habe. Dass er die Pflanzen niedertrampelte, wurde ihm in den Kopf gesetzt. Von
diesem geflügeltem Hemdträger, wie er ihm eben seit Kindertagen bisweilen
gegenwärtig war, und seinem gestaltlosem, aber gleichwohl durchweg schlecht
aufgelegtem Begleiter, dem Gewissen. Ohne sich umzusehen, trotzte Bacher in
sich hinein, dass das Grünleben nicht tot sei, wenngleich es unter seinem Tritt
auch zu Boden gedrückt werde. Dass es sich nach seinem Passieren gewiss wieder
erhebe. Alle müssten eben an die schier unerschöpfliche Kraft der Natur
glauben, ergänzte er sich noch.
Die ohnedies zwar kaum voneinander
zu unterscheidenden, allerdings sich nicht ganz im Gleichklang artikulierenden
inneren Stimmen sanken zum bloßen Befinden herab. Das fühlte sich mit der Ge-
wöhnung daran
endlich kaum mehr unangenehm an, sondern war nur schlicht da. Auch das war
Bacher altbekannt.
Am Ende schwang es sich hinter ihm
doch wieder auf, sich mit dem Nass am Beinwerk
vereinigend. Es schrumpfte zu einem dann allerdings wenig spürbarem, geschweige
denn beeinträchtigendem Unbehagen.
Bacher sehnte sich jetzt
richtiggehend nach Wärme. Er erwachte und tastete nach der Bettdecke. Da
bemerkte er, dass diese ihm aus dem Bett und auf den Boden gerutscht war. Aha,
dachte er und witzelte sich: Die Decke war weg und ein gewisser Sigmund F. war
da. Mit seiner Vorstellung vom Über-Ich, womit S. F. einen ja unbestritten
bisweilen bedrängt. S. F. hatte mich also nackt und unbedeckt auf seine
bekannte Couch gelegt, freute sich Bacher. Er verkroch sich unter dem Plumeau, um
sich wieder etwas aufzuwärmen. Lebtest du nicht so schrecklich singelig, fantasierte er ... Da tauchte ihm Sonnenscheins
Bild auf. Das förderte seine Erwärmung. Er schlief noch für kurze Zeit ein.
Weit weg und doch so nah. Cassian
Bacher war anscheinend in der Nacht vom 17. März im fernen China:
Er hatte eine gute Reise gehabt.
Historische Stätten waren zu sehen gewesen. Dabei beschlich ihn das Gefühl, das
alles bereits gesehen und sogar kennengelernt zu haben. Dagegen kamen
natürlich Zweifel auf.
Es erleichterte ihn dagegen
ungemein, sich auf seine Mutmaßung darüber einzulassen. Es leuchtete ihm ein,
dass es gerade in diesen fernöstlichen Gegenden der Erde durchaus seine
Bewandtnis damit haben könnte, ein Wiedergeborener zu sein. Er genoss schließlich,
was sich alles von da an in seiner als Erinnerung Auftretende auszubreiten
begann. Eine wunderbare, die Sinne verwirrende Verschleierung war dem zu eigen.
Dass das so sein müsse, leuchtete ihm sofort ein, damit alles mit den weiteren,
sprich folgenden Leben reibungslos und also unbefrachtet
funktioniere. Denn welch eine Last wäre es, auch noch mit dem ganzen Ballast
aller vorangegangenen Leben existieren zu müssen? Ein Bild seiner Reise war jedoch deutlicher
als all die anderen, die sein Denken an die Fahrt begleiteten: Wie ein
seidenumhüllter Mandarin sich fühlend, lustwandelte er vorüber an fleißig
(natürlich gebeugt) arbeitenden, breitkrempig behüteten Feldsklaven im
Reissumpf. Er versäumte keinesfalls, in wohlwollender Geste nach links und
rechts zu grüßen. Nach einiger Zeit (und mit bereits grußmüdem Arm) gelangte er
an einen sanften Abhang, der zu einem Hügel zu rechnen war. Dieser schien durch
Menschenhand aufgeschüttet worden zu sein. Wofür er allerdings über keine
anderen Indizien verfügen konnte, als seinem bloßem und noch dazu eher
flüchtigem Eindruck. Wie er diese Erhebung fast umkreist hatte, bemerkte er
eine Gestalt am Boden zu Füßen des kleinen Berges liegen. Er blieb stehen und
überlegte, ob er sich zu erkennen geben oder sich doch eher diskret
zurückziehen solle. Er konnte keine Regung dieser Figur da vor sich ausmachen.
So stellte er aus seinen eben angeführten Überlegungen heraus Betrachtungen
an: Das prächtige Seidengewand, welches die Erscheinung umhüllte, strahlte so
etwas wie eine finale, jedenfalls nicht wieder zu kreierende Erhabenheit aus.
Er riss sich von diesem Einfall los und ließ seine Gedanken über die freien
Körperstellen der Figur gleiten. Er erblickte die landesübliche gelbliche Haut
von Antlitz und Händen, den Körperteilen eben, die schicklicherweise nur
entblößt waren. Seine Versenkung stockte. Erschrocken trat er der Person
näher, stellte sich vor:
"Pu Tung", dachte Bacher nur. Er
entschuldigte sich für sein Eindringen in ihre Aura und nahm ihre Hand: weich,
beweglich – kalt. Pu Tung stand vor Schrecken wie
versteinert da: Dieses Gefühl – und seine eigene Namensgebung, die ihm in seine
Starre blitzte: Pu Tung! Beim nächsten Atemzug (der
sehr dringlich war, denn Bacher hatte es in seiner Schockstarre ziemlich lange
unterlassen, Luft zu holen) befand sich Pu Tung in
den Gespinsten dieser Mumie, deren Hand er immer noch hielt. Pu Tung wollte spüren: "Sie haben mir die Eingeweide
gelassen. Sie waren somit geschickter, als die Ägypter es mit den Ihren taten.
Sie haben mich in meine besten Gewänder gehüllt und mit den vorzüglichsten
Ingredienzien umgeben. So gut, dass meine Hülle sich erhalte und ich, derart
ausgestattet, mein gutes – und wohlgemerkt das Leben eines göttlich
Auserkorenen – im Jenseits weiterzuführen imstande sei. Doch sie haben
vergessen, mir Speise und Trank mitzugeben und eine der Gepflogenheit
entsprechende tönerne Diener- und Kriegerschar. So muss ich Unglücklicher mich
damit begnügen, wenigstens gelegentlich, mich aus meiner Behütung zu begeben
und mich im hellen Lichte liegend zu präsentieren. Selbst wenn so ein Wandler
wie Ihr da vorbeikommt. In der Hoffnung, dass mir die gute Sonne
die Nahrung ersetze."
Pu Tung
wusste nichts zu entgegnen, obgleich er den im Nu Vertrauten wohl gerne
getröstet hätte. Es blitzte Pu Tung noch auf (da war
seine Reise allerdings fast vorüber), dass gewiss kein Lebewesen vollständig
vergehe. Dass es doch das Vorrecht des Menschen sei, sich mit der Wahl seiner
Religion die Zukunft zu bestimmen, ob Wiedergeburt oder sofortige Jenseitigkeit
...
Durch den grellen Weckton ganz erwacht, wollte Bacher der Eindruck eine ganze
Weile nicht verlassen, über eine zwar zunächst unerklärliche, immerhin fühlbare
Fülle zu verfügen. Das befriedigte ihn. Dann war dieser alte Spruch plötzlich
da: Dass Bildung ist, was bleibt, wenn alles verloren scheint, wodurch sie
entstand. Denn nichts geht eigentlich verloren – da ist es aus der Nacht
wieder! – war ja in der Schule zu lernen gewesen. Es nimmt nur immer andere
Gestalt an.
Da war es Tag. Cassian Bacher sah
den Kreis, der sein von ihm Gemutmaßtes umgab, als geschlossen an.
Es war einige Tage später, die
beiden hatten sich einen schönen Tag gemacht. Als der zur Neige ging, saßen sie
noch beim Kaffee. Sie plauderten über dieses und jenes. "Mir träumte heute
...", begann Bacher nach einer Zeit fast ein wenig genierlich und daher
etwas gespreizt. "Weißt du, ich war über die Klarheit der Bilder so
überrascht, dass ich mir die Ereignisse heute ein paar Mal selber erzählt habe.
Also: Eine Sonne war da, sage ich dir!" "Ach ja, Sonne", stimmte
sie ein, "Sonne ist immer gut. Ich hoffe, du findest es auch gut, dass ich
hier bin, weil du mich ja ..."
Ihr kopfnickend zulächelnd, fuhr er
fort: "Eine Sonne, die jeden Winkel des Landstrichs erfasste. Amerika,
das mir häufig so der Sammelbegriff für etliches ist, was es hier bei uns nicht
oder vermeintlich zu wenig gibt!"
"Es ist richtig",
pflichtete sie bei. "Man müsste eigentlich auswandern!", lachte sie,
"wenigstens für einige Jahre."
"Dieses allgegenwärtige heiße,
trockene Weißgelb", war Bacher wieder bei seinem Bericht, "dieser
sich scheinbar ewig dahinziehenden Mittage.
Eine Sandebene, da und dort Ruinen
von Erhebungen, Skelette von Bäumen. Alles schien versengt, weggeschwelt, irgendwie
geschmolzen. – Die Schattenseite dieser ungeheuren Sonnenwelt!
Da hindurch!
Dann brach diese Landschaft doch
plötzlich ab. Ein verschlissen grünes Grasland erschien – verstehst du? Eine
Prärie, die sich sofort als eine unendliche Decke über einer sanft gewellten
Ebene zeigte. Diese Decke also, die doch jäh in einen unerhört tiefen Spalt
stürzte.
Ich stand am Rand des Abbruchs und
blickte hinter mich, sah einen leisen Lufthauch das weite Braungrün bewegen. Da
verwandelte sich mein Bild. Grünes Gewässer entstand. Ein See, der sich da
ausbreitete. Der sich, von unsichtbaren Kräften bewegt, an Klippen und Riffen
unter seiner Oberfläche erst kräuselte und dann zu Wellen aufwarf." Mit
seinen Händen zeichnete Bacher den Rhythmus der geschilderten Landschaft nach.
"Warten auf etwas, das angeschwemmt werden würde. Warten auf einen
Gegenstand, ein irgendwo Losgelöstes, das hier wieder einen wenigstens
bildlichen Zusammenhang gewänne ..." Bacher hatte sich wohl verausgabt
und legte eine Pause ein. Sonnenschein sah ihn lächelnd an und wartete auf eine
Fortsetzung der Story.
"Ich weiß überhaupt nicht, ob
ich meine Geschichte richtig begonnen habe", fuhr er fort. "Ich
glaube, nicht an der richtigen Stelle angesetzt und ein später fälliges Bild
fälschlicherweise als das erste genommen zu haben. Ein Bild, das sich
symbolhaft hervorhob: die wechselvolle Wildnis, gewissermaßen als
Lebensprinzip."
Ein lang gezogenes "Oh"
stöhnte seine Zuhörerin nur.
"Ich weiß, die Sache da mit
der Wildnis des Lebens ...", entschuldigte sich Bacher und fuhr fort:
"Jetzt erinnere ich, dass mein Traum anders begonnen hatte: Morgen war
Weihnachten. Mein Traumschiff war allem Anschein nach über dem Großen Teich und
hatte angedockt. Wie Strandgut kam ich mir vor. Ich wäre wohl kaum verwundert
gewesen, wenn irgendwo jemand gelauert hätte, um sich mich als ein herrenloses
Gut zum Geschenk zu machen ..."
Sonnenschein sah ihn etwas ratlos
an, aber Bacher wollte jetzt gar nicht weitererzählen: "Ach weißt
du", sagte er, "ich habe das ja aufgeschrieben ..." "Ja, so
hat es sich beinahe angehört!", fiel sie ihm ins Wort.
Er fuhr schmunzelnd fort:
"Weil es Zeit ist und du ja leider wegmusst, gebe ich dir mein papierenes
Amerika einfach mit!" Er ging, um seine Niederschrift zu holen.
"Ja so was!", wunderte
sich Sonnenschein und nahm die Blätter. Zuhause würde sie sich dann die
Fortsetzung irgendwann vornehmen, meinte sie – wozu sie jedoch schon in der
Tram von ihrer Neugierde getrieben wurde: "Als dies dann doch nicht
geschah, ..." Sie blätterte zurück und fand das mit dem Strandgut, als das
Cassian sich gefühlt hatte. "Als dies dann doch nicht geschah, kam ich auf
die Idee, das weite Land unter die Füße zu nehmen, es zu durchmessen, um
vielleicht irgendwo und irgendwann von ihm erfasst, aufgesogen, verschlungen zu
werden."
Sich verschlingen lassen?, wunderte
sich Sonnenschein. Na ja, die Träume treiben eben so ihr Wesen!, und sie nahm
sich Bachers Text wieder vor: "Alles in Bewegung. Und Weihnachten, dieser
Inbegriff, würde auch wieder schnell vorbei sein. Ich wollte es mir einfach
gemacht und mir im nächsten Drugstore ein Videoclip reingezogen haben: Eine
ergreifende Melodie, von einem alternden Star vorgebracht. Schunkelbewegung.
Weihnachten hier erinnert viele Menschen an unser altes Europa. Sie haben keine
Scheu, alles zu vermischen in ihrem Schmelztiegel auch der Kulturen. Im
Hintergrund würde eine Gruppe erwachsener und vor allem kindlicher Personen in
knöchellangen Gewändern irgendwie rührend kantig mit dem Oberkörper hin und her
wackeln. Im Takt des Christmassongs.
Bettfedern-große Talmiflocken.
Schließlich eine
Kohorte Nussknacker-Soldaten im
Marschtritt des Weihnachtshymnus'. Ich würde, Chips kauend, tief gerührt sein.
Später zöge ich mir noch eine Coca
am Automaten. Dann weiter. Nicht an Festpunkten der Zeit angemacht!, ging mir
durch den Sinn.
Überall Properness. Jetzt war ich
mir so richtig sicher, dass ich in den Staaten war! In den viel, vor allem von
sich selbst gerühmten Staaten. Eine zwar
geschäftige, doch offene, ehrliche und nicht nur gespielte Freundlichkeit
umfing mich im nächsten Shop. Dagegen diese unerwartete Förmlichkeit dort:
Barfüßige Leute, Leute mit nacktem Oberkörper wurden nicht bedient.
Der Amerikaner, fühlte ich jemand
nörgeln, sei so kleinkariert wie seine Brüder und Schwestern dieses Musters
überall auf der Welt. Doch das verliefe sich in der Geografie des weiten Landes
oder der Anonymität der Städte. Es könne jeder einigermaßen sicher und sich
frei fühlen, wurde von irgendwem hinzugefügt. Die Hellhäutigkeit als Pass, zur
Menschheit zu gehören, immer noch, wenn auch weit schamhafter als noch vor
Jahren. Die Bilder überstürzten sich. Der, nach eigenem Bekunden, ehemalige
philippinische Regierungsbeamte, der mein Taxi steuerte, lobte: 'America is a
Country for everybody!'
Die Erinnerung führte mich wieder
hinaus. Über den Highway. Und der Highway entpuppte sich bald als der beste
Schutz der Natur vor ihren Bewunderern. Da ihn keiner verlässt. Die Natur,
Sonnenschein, diese herrlichen Landschaften, denen wir erst wieder nach dem
Tode begegnen werden! Das hatte mir nicht geträumt, muss ich zugeben, sondern
war mir als Ausspruch eines Musikers begegnet. Farben habe ich dennoch in
Erinnerung, die ausdrucksstarke Tonfolgen erweckten. Mystische Ausprägung der
landschaftlichen Gebilde. Hier irgendwo wurde es Joseph Smith visionär zumute.
Er empfing daraufhin das Buch Mormon aus seinem heiligen Jenseits ...
Dann an einer Grenze in dieser
Gegend, die sich bei näherem Hinsehen wieder als ein einziger Highway
entpuppte. Jenseits der Sandöde das Wagnis der Natur eines Grüns, das ihr nur
schütter gelingen wollte.
Weiter, weiter – wie neulich dir
gegenüber in Worten bereits dargestellt, Sonnenschein." Sie blickte
erstaunt auf und murmelte vor sich hin: "Sieh an, der liebe Cassian hatte
beim Aufschreiben gleich daran gedacht, mir das Konvolut in die Hand zu
drücken!" Dann fuhr sie mit ihrer Lektüre fort: "Es ging hin zu einem
Abbruch, einem tiefen Spalt. Es tat sich eine langgezogene Falte in der
bewachsenen Haut der Landschaft auf. Eine plötzlich und unerwartet sich
auftuende Verborgenheit, wie um in den Körper der Welt einzudringen. Ein unbeschreibliches
Erstaunen über die Begegnung mit der ins schier Endlose ausgedehnten Urvorstellung
von Öffnung.
Beim Blick hinab habe ich
gigantische Sedimentplatten ausgemacht. Ganz da hinunter, wo die Blicke bereits
ruhten! In diesen Aufbruch der Fantasie.
Diesen Schoß der Erde ..."
Sonnenschein steckte das Papier
nachdenklich in ihre Tasche. "Na", murmelte sie dabei, "es ist
ein Traum gewesen. Dieser hat jedes Recht, sich über gewisse Grenzen
hinwegzusetzen. – Ein Schelm,
der Übles dabei denkt, heißt es
ja."
Auch am 19. März bildete sich
Bacher ein, die Gute vom Flohmarkt, deren Aussage ihn immer wieder
beschäftigte, da sitzen zu sehen hinter ihrem ausgebreiteten Krimskrams.
Ein Tagtraum?
Eine Karriere als Sekretärin habe
sie hinter sich gehabt, erinnerte sich Bacher, damals noch mitbekommen zu
haben. Jetzt veräußernd, was sie so im Leben als notwendig oder nur als
begehrenswert zusammengetragen hatte. Was sie jetzt dagegen als etwas für sie
Überflüssiges betrachtete. Den Erlös plante sie, guten Zwecken zuzuführen. Eine
Spende wollte sie der Heilsarmee zukommen lassen. Bei der sie sich als Entgelt
für ihre gute Tat dann eine warme Suppe geben lassen wollte. Allerdings das nur
deswegen, weil sie ja den ganzen Tag dagesessen war mit ihren Sachen und keine
Zeit gehabt hatte, sich selber ein Essen zu bereiten. Es war dann tatsächlich
zu sehen gewesen, wie sie etwas aus einem Blechnapf löffelte, frischten sich
Bacher die Fernsehbilder auf.
20. März und Cassian Bacher war
wieder auf Reisen gewesen. Kaninchenjagd war angesagt. Es musste sich in
Australien ereignet haben. Gewiss, die Massenpopulation von diesen Tierchen
dort. Es hieß, das Viehzeug sei von den Westmenschen eingeschleppt worden.
Keine natürlichen Feinde gebe es dort für diese Lebewesen. Daher müsse der
Mensch regulierend eingreifen. Auch Bacher hatte sich sofort diese
waidherrliche Rechtfertigung der Jäger zu eigen gemacht.
Trat jemand einmal fester auf,
wuselte es aus tausend Löchern. Also durchgeladen, die Flinte angelegt. In der
gierigen Absicht, gleich zwei Exemplare mit einem Schuss zu erlegen.
Keines getroffen.
Die Schelte dann von irgendwoher.
Ach ja, Bacher befand sich doch in einer Jagdgesellschaft. Wir sind das im
Grunde überall im Leben – kam ihm aber im Moment viel zu weit ausgeholt vor. Er
verteidigte sich zunächst nur mit der Nennung seiner Doppelungsabsicht. Bacher
traf trotzdem Verachtung.
Er wollte wenigstens versuchen,
diesen Gefühlswulst zu übergehen.
Ein Schimpfen allmählich von
überallher.
Da wandte er sich ab und dachte an
Heimfahrt. Er saß gleich am Lenker. Eine
Person, wohl eine vertraute, hatte hinter ihm Platz genommen. Ein Fremder,
der Kleidung nach ein Jäger, stieg dreist zu, und zwar so, als hätte er ein
Recht darauf, mitgenommen zu werden. Kaum hatte der den Schlag zugemacht, maßte der sich an, den Fahrbefehl zu erteilen: "Los
jetzt!" Bacher beanstandete das unverschämte Verhalten, wie der Fremde
dazu komme ...
Er erhielt eine unverständliche
Antwort hingebellt.
Allein der kläffende Ton empörte Bacher. Dennoch fuhr er an. Es war
allemal frech, was ihm da widerfahren war, verfolgte ihn. Seinem Ärger floss
aus diesem Belfern noch eine ganze Weile lang sozusagen negative Energie zu.
Diese ließ er über das Gaspedal abfließen, dass es von hinten hervor ab und zu
ängstlich kreischte.
Bacher schien sich jedoch nach
einiger Zeit der
Empörung etwas entledigen zu
können. Da war alles vor ihm und um ihn eine ganze Weile grau und
verschwommen.
Erleichterung.
Darauf fand er sich endgültig mit
seinen Umständen ab. Er suchte sogar nach so etwas ... – er wusste jedoch
zunächst nicht, wo er da herumgestochert hatte. Ob es so ein Gemenge von vagen
Ausreden oder kernigen Rechtfertigungen ...
Es ging ihm plötzlich ganz hell
auf: In seinem zunächst und eben mit dem gewöhnlichen Auge als verfehlt
anzusehendem Schuss sei gar so etwas wie eine innere, ihm selber und den
Anderen nicht ohne weiteres zugängliche Begründung zu finden. Cassian Bacher
wurde der Begriff von einer geheimen Führung geschenkt. Er überhöhte das umgehend
zu einer mysteriösen Fügung. Die Gewissheit, die sich sofort einstellte, ließ
es zu, sich sozusagen zu outen. Er fühlte sich vortragen – wem auch immer: Von
Geisterhand geführt wäre sein Schuss gewesen und damit kein Daneben, sondern im
Gegenteil, er sei ins Ziel gelangt. Ins Zentrum dieser geheimen
Bestimmung.
Er fühlte sich gut und geradezu
mitten in einem Mysterium – wenn auch noch nicht ganz eingeweiht, so doch
bereits als dessen Medium in Aktion.
Er fühlte sich sogar bald
erkoren.
Er holte seinen Zuhörern, die er
sich leicht als vorhanden denken konnte, gegenüber aus: Es sei überhaupt nicht
auszuschließen, dass dieses vorhandene Viehzeug nichts weniger als in der
Wiedergeburt verwandelte Ureinwohnerschaft sei. Er nahm sofort, im Nu selbst
überzeugt, sozusagen den Klang der eigenen Worte noch im Ohr, den gewiss herben
Ausdruck Viehzeug zurück. Er sprach jetzt von Lebewesen, erhob diese sogar
respektvoll zu Geschöpfen.
Bacher hörte keinen Laut aus seinem
Auditorium und schloss auf andächtige Stille der Anderen, deren Anwesenheit er
sich immer noch zubilligte. So untermauerte er seine Aussage mit der
Feststellung, dass die Aborigines Zugang zu geheimen, jedenfalls uns
verflachten West- und Wohlstandsmenschen nicht bekannten Praktiken der gesegneten,
geisterfüllten, ja geheiligten Daseinsbewältigung besäßen.
Für den Abend danach hatte er zwar
beschlossen, sein Erlebnis wie immer niederzuschreiben. Er ließ es heute jedoch
sein oder wollte es aufschieben, um es noch eine Zeit in der Erinnerung sein
Wesen treiben zu lassen. Es wird dann vielleicht allmählich so, wie es ja den
Märchen geschah: Weitergedacht und mündlich weitergegeben, haben sie sich im
Laufe der Zeit, ihren Kern bewahrend, stets ein wenig in die Gegenwart gesetzt.
Erst als sie niedergeschrieben wurden ...
Zwei Nächte später, es war
Fastenzeit bei den Katholiken, vernahm Bacher im Schlaf so etwas wie
gregorianischen Gesang. Er vermutete Mönche, irgendwo. Ihre brüchigen Weisen
kamen ihm jedenfalls von weit her. Dann erschienen die Gestalten zum Gesang.
Sie zogen in einer Reihe dahin, vier, fünf schwankende, gerade noch als Figuren
auszumachende Gebilde am Horizont. Die Kopfpartie, zum Teil von Kapuzen
verhüllt, war nur ein wenig zu erkennen. Jedoch war letztlich alles grau
verschleiert. Eine fahle Weite mit diesen schwarzen Strichen darin. Gerade so
wie ein bewegtes Vanitasbild, nach dem Barocken, dass alles eitel, eigentlich
vergänglich sei. Ein solches nun hier mit dem hinreichend bekannten
Grauschleier über der ganzen Komposition. Doch dieses Bild, das Bacher
wahrnahm, war ganz ohne Rahmen. Unbegrenzt, erweckte es den Eindruck, in die
Ewigkeit hinüberfließend oder umgekehrt, aus der Ewigkeit hervorkommend, gnädig
und zur Erbauung dem Auge gewährt ...
Bacher fand sich prompt an einem
Teich sitzend. Er dachte darüber nach, ob dieser in sozusagen grauer Vorzeit
künstlich angelegt worden war. Gewiss, diese Sorge seit jeher in ihren
Klöstern, nichts Warmblütiges in diesen Fastenwochen zu sich nehmen zu dürfen.
Dann eben zu ihrem Bier etliches Kaltblütige, wie berichtet wird. Dieses alte
braune Wasser hier mit den Fladen von Algen darauf. Bacher machte sich keinen
Kopf deswegen, weshalb davon eine Anziehungskraft ausging und es ihn zum Baden
allmählich geradezu nötigte. Er entkleidete sich ganz und stürzte sich ins
trübe Nass.
Mit den Füßen die Untiefe
auslotend, fühlte er schlammige Weiche – die ihn sofort in ihre Tiefen zu
saugen begann. Mit einer heftigen Schwimmbewegung gelang es ihm, sich zu
befreien. Er atmete tief durch.
Ans Ufer schwimmend, bemerkte er
dort ein Mädchen stehen. Überrascht richtete sich sein Blick auf diese
Erscheinung. War es Sonnenschein? Er
hatte sich des Anstandes wegen gleich Gedanken zu machen, wie er diesem
vielleicht fremdem oder gar doch bekanntem Wesen denn mit seiner Blöße begegnen
sollte.
Ganz deutlich zu erkennen, gab ihm
das Mädchen gleich in sein Nachdenken hinein zu verstehen, dass es ihn
überhaupt nicht herzlich begehren könne.
Er, ungemein enttäuscht deswegen,
mutmaßte sofort, dass er dem Mädchen womöglich vorgeschlagen habe, ihn zu
lieben. Denn wie käme es dazu, etwas so Bedeutendes einfach so und eigentlich
ohne weitere Ursache zu verneinen.
Das Mädchen fuhr fort mit seiner
Erklärung, indem es die Begründung für seine sonderbare – vielleicht eher
vorsorgliche Weigerung nachsetzte: Es habe seine Wäsche gewaschen und kenne all
seine Geheimnisse. Dass ihm, dem Mädchen, deshalb eine echte, das heißt, reine
Liebe nicht möglich sei. Bacher schlug
die Augen auf und blickte auf das Laken. Eine große helle Fläche weitete sich
vor ihm aus.
Reinheit, dachte er, ein irgendwie
vielseitig verwendbares Stichwort. Dass sich der Zustand der Seele, der die
Vokabel Reinheit eigentlich vorbehalten sei, in Textilien spiegeln könne. Das
empfand er als seinen Tageswitz ...
Am 25. März erinnerte Bacher noch
ganz früh am Morgen und eigentlich im Dämmer des Halbschlafs diese nächtliche
Szene mit dem Beinkleid: Es war schwarz, aus leichtem Wolltuch und von rauer
Oberfläche mit dezent kaum wahrnehmbaren Nadelstreifen. Die Beinröhren
verjüngten sich nach unten fast unmerklich. Das Ganze war im Rumpfbereich von
bequemer, von einer das modebewusste Auge nicht beleidigenden Weite. Es
erweckte in Bacher den Eindruck, es eile der Mode sogar voraus, und zwar sogar
in einer Weise, dass es von ihr im Grunde nie einzuholen wäre. Es präsentierte
sich vor allem als Wohnhose.
Dieses Prachtstück – es hatte sich
Bacher, seiner Modernität wegen, sozusagen selber sofort als Tool vorgestellt –
war in die Reinigung gelangt. Dann fand Bacher es wieder in seinen Händen: Unbegründbarer Weise war es brutal gekürzt, amputiert,
zerstückelt worden. Vor Bachers Auge stellte sich das Bild ein, dass dieses
Bündel beim Öffnen in Teile zerfiele. Die entfernten, seinem traumhaften
Lieblingsstück geraubten Reste flatterten von einer geheimen Kraft getragen im
Raum umher. Bevor sie zu Boden sanken.
In diesem halbschlaflichen
Nebel, in dem sich Bacher befand, wollte sich zu dem sofort vorhandenen Zorn
über diese Zumutung auch noch Trauer um den Verlust bei ihm breitmachen. Es
handelte sich bestimmt um eine Ungeheuerlichkeit. Hingegen nicht etwa um die
Tötung von etwas Lebendigem, dem dieses Hochgefühl des Verlustes, die Trauer,
durchaus vorbehalten bleiben sollte. In
den Schlafwandel seines Kopfes schwappte es dann allerdings. Ob es nicht doch
möglich sei, dass ein Kleidungsstück, das ja Leben umhüllt, nicht sogar ein
wenig von dem zu Schützendem übertragen bekomme? Nicht etwa nur Ausdünstung als
Absonderungen desselben! Sondern dass es auch so etwas wie einen Funken
Gefühlswelt – freilich auf sehr bescheidene textile Weise, eben auf unterster
Ebene – empfangen könnte.
Bacher schleppte, noch ziemlich in
dieser anderen Wirklichkeit befindlich, den eigenartigen Gefühlscocktail mit
zur morgendlichen Entleerung. Als sein verschleierter Blick auf sein gutes
Stück fiel, wollte er erschreckt entdecken, dass diesem bedeutenden Körperteil
vorne etwas fehlte. Den Vergleich mit seiner Hose, gar geheime, im Verborgenem
wirkende Kräfte zu vermuten, wollte er jedoch keinesfalls anstellen.
Er war mit beiden Beinen wieder im
Morgen angekommen, so hatte sein Schock ihn wachgerüttelt.
Als die Frösche wieder huckepack
waren, hatte Bacher in seiner Traumzeit am 6. April eine Begegnung der
folgenden Art:
Drei junge Männer standen
beisammen. Hellbraune, glänzende Lederjacken. Als er auf sie zuging, behauptete
einer von ihnen, Bacher habe die dumme Angewohnheit, Mädchen zu vergewaltigen.
Die anderen stimmten in die Anschuldigung umgehend ein. Natürlich wehrte sich
Bacher gegen dieses Mobbing, erklärte entsetzt, dass er es stets mit Anstand
und Sitte hielte, wo immer es erforderlich sei. Doch die drei Männer ließen von
ihrer Hetze nicht ab – und schienen sich obendrein über seine sich ständig
steigernde Erregung zu amüsieren. Er erhitzte sich erheblich zu dem bereits
vorhandenen Ärger nun auch über ihren niederträchtigen Frohsinn.
Nach einem abrupten Wechsel der
Bilder fand sich Bacher in einem kühlen Nass wieder. Vermutlich wollte er
schwimmend den Tegernsee durchqueren – jedenfalls wies der Blick auf die
ehemalige Klosteranlage darauf hin. Dabei bewegte sich Bacher eine Weile im
Schmetterlingsstil fort. Gleich tauchten neben ihm im Wasser zwei Gestalten
auf, eine Person ihm zur Linken, die andere rechts. Auch sie
"schmetterten" (wie er es gerne nannte, wenn er beim Schwimmen im
Rhythmus mit der Beinarbeit beide Arme gleichzeitig aus dem Wasser hob, um sich
dann mit aller Kraft voranzubringen). Diese Mädchen – als welche er sie bald
erkannte – forderten ihn heraus. Sie wollten anscheinend mit ihm ein
Wettschwimmen aufnehmen. Er nahm die Konkurrenz an und kam immer ein paar Züge
vor die beiden. Sie holten gleich wieder auf. Sie schienen es zu genießen,
Bacher so herausfordern zu können. Er hörte ihr Lachen. Das sie anscheinend
sogar, aufs Atmen verzichtend, während des Eintauchens ihres Kopfes mit unter
Wasser nahmen. Wie ihm sofort klar wurde, bewegten sich die beiden bereits im
Delfinstil. Bei dem die beiden Frauen die Beine zusammengepresst hielten und
ihren Körper schlängelnd im Medium bewegten. Richtige Schlangen, dachte Bacher,
diese Weiber. Er hingegen hatte noch die Froschfigur, bei der er seine Beine
anzog und gespreizt wieder streckte. Er dachte gleich an die Frösche, die
zurzeit huckepack waren.
Das erregte ihn. Da hatte er prompt
wieder die Anschuldigung der drei Kerle im Kopf. Da diese nicht mehr zugegen
waren, wollte er riskieren, die zunächst durch und durch ungerechtfertigte
Anschuldigung tatsächlich in die Tat umzusetzen. Als er sich dazu anschickte,
waren jedoch die beiden Mädchen nicht mehr in Reichweite.
Dass Bacher beim morgendlichem
Rasiergeschäft in Erinnerung dieser nächtlichen Episode so etwas wie ein
Schamgefühl überkam, belächelte er zwar. Er konnte sich dessen aber nicht
sofort ganz entledigen. Er trug es mit sich herum und entfernte sich erst
davon, als er in einer sozusagen moralischen Sackgasse steckte. In dieser
wollte er erkennen, dass doch hinter den Kulissen der immer zur Schau
gestellten Wohlanständigkeit so manches Anrüchige stecke. Was zu benennen sich
ihm aus Gründen des Selbstschutzes dann verweigern sollte.
Am 10. April war so eine
"sie" heute Nacht wieder da gewesen. Sie, dieses im Grund nicht so
recht zu fassende Wesen anderen Geschlechts.
Sie war Cassian Bacher wiederholt schier greifbar nah begegnet und
bisher stets aus einer Gruppe von Menschen hervorgetreten. Sie gesellte sich
ihm immer bei, nur einfach so, ohne besonderen Anlass, auch ohne Vorwand – und
war ihm aber immer sofort herzlich willkommen. Die beiden waren sich stets
gleich einig, ein Stück Wegs, eine auf jeden Fall ungewisse Zeit lang einfach
miteinander sein zu wollen. Sie war ihm mittelgroß, von nicht eben graziler
Statur, doch nicht von üppiger Figur. Langes Haar trug sie, das etwa im mittleren
Farbbereich, dunkelblond, brünett einzuordnen war. So was wie es neuerdings Fuckbody
genannt wird?
Denn die beiden gelangten auf ihrem
gemeinsamen
Weg stets in einer Wohnung an.
Besser, in einem
Bett, einer Bettstatt, einer
Bettenlandschaft. Die Räumlichkeit erschloss sich nicht anders als eben nur als
ein weites Liebesfeld. Und sie langten immer aneinander an, bewegt tändelnd,
still umfangend, ineinanderfließend ... ihre Sinne erschlossen sich ihnen in
all diesen bereits seligen Augenblicken ...
Diese Sekunden waren, wie sich
jemand vielleicht die Ewigkeit vorstellen sollte. Natürlich nur, wenn er
überzeugt wäre, dass der Mensch darin irgendwie angesiedelt werde, war Bacher
im Nachhinein überzeugt.
Allerdings war es nicht ihr
Äußeres, das sie Bacher immer sofort sympathisch erscheinen ließ. Es war ganz
einfach diese Weiblichkeit – das "ewig Weibliche", wie es einst ein
großer Meister so ungewiss und darum als so ein unergründliches Vielerlei
verkündigend formuliert hatte. Welches eben gerade durch kalkulierendes,
reflektierendes Bemühen um einen Aufschluss seiner Art beraubt werde. So dass
es dadurch ins unnatürliche starre Gegenteil dessen gedrängt werde, was es
ursprünglich ausmachte: des Zarten, Weichen, Warmen – Anziehenden und
Umfangenden.
Natürlich war Cassian Bachers
Besucherin immer entschwunden, wenn er die Augen auftat. Sie warte jedoch
bestimmt auf die nächste Begegnung mit ihm, war er bereitwillig überzeugt. Denn
er bildete sich ein, ein guter, wenigstens ein guter magischer Liebhaber zu
sein ...
Das alles ging Bacher jetzt beim
Frühstück, nachdem diese Fee ihm zugegen gewesen war, wieder durch den Sinn. Er
war sich gewiss, dass das alles auch irgendwie mit Sonnenschein zu tun habe. Er
überlegte, ob er sich nicht doch über seine Beziehung zu ihr etwas mehr ins
Klare kommen sollte. Diesen Gedankengang offenzulassen, wünschte er sich jedoch
gleich wieder. Offenlassen, wie es diesen nächtlichen Bildern entspricht, die
ohne Begrenzung, ohne Rahmen, sind – und bleiben müssten. Die ein Anrecht
darauf haben, um in ihrem weiten nächtlichen Auftritt Raum zu finden. Obendrein
besaß dieser Schwebezustand seinen Reiz. Insbesondere deswegen, weil Bacher ja
auf diese Weise sozusagen eine Art wilde Polygamie mindestens geistig pflegen
konnte. Eine stille Verruchtheit also.
Nachts darauf saß Frau G., eine
alte Bekannte von Cassian Bacher, ganz nah bei ihm, während er an ihr zu tun
hatte. Bacher hatte sie zu rasieren. Er
erinnerte sich allerdings nicht mehr genau, an welchen Stellen er an ihr zuerst
werken sollte. Denn sie neigte zu starker Behaarung und hatte dies an den
Beinen zum Beispiel durch dunkleres und in der Masche dichteres Strumpfwerk zu
verbergen getrachtet. Allerdings war Bacher gehalten, an der Vermutung einer
Totalrasur zu zweifeln. Diese Dame hatte für ihn überhaupt nichts Anziehendes
an sich. Infolgedessen hatte er nie auch nur den Anflug verspürt, seine Blicke
auf ihrer bloßen Haut spazieren zu führen.
Sie zeigte sich zufrieden mit
Bachers Tätigkeit. Bis auf eine Stelle, die Bacher nacharbeiten sollte. So
veranlasste sie ihn, sein Augenmerk auf ihr linkes Ohrläppchen zu richten.
Tatsächlich war zu erblicken, dass da noch um ihren Ohrstecker herum Härchen
sprossen, so dicht, dass sie diesen goldgefassten Brillantschmuck fast einbüschelten. Bacher entschuldigte sich für seine
Nachlässigkeit und begann sofort zu schaben. Da er sehr aufpassen musste, sie
ja nicht zu verletzen, schärfte er seinen Blick. Er staunte nicht wenig! Erst
jetzt merkte er, dass er mit einer Glasscherbe in Aktion war – und das wohl die
ganze Zeit vorher. Nun bereitete ihm seine Arbeit erst richtig Spaß.
Immer wieder wich er dem Gedanken
an dieses Erlebnis aus, wenn er sich ihm während des Tages aufdrängte. Da
häuften sich Häme und Abscheu irgendwie ganz beißend auf der armen Frau. Hinzu
gesellte sich stets sofort, dass ihm über diese Erscheinung der Bekannten das
Weibliche an sich begegnete. In diesem Verdacht tauchte dann sogar Sonnenschein
auf, wenn auch ganz im Hintergrund, jedenfalls doch schmerzlich, enttäuschend.
Das brachte seine Gefühlswelt gehörig durcheinander.
Am 15. April hatte Cassian Bacher
sein Innenleben ums Weibliche immer noch nicht ins Lot gebracht. Da spukte es
ihm am helllichten Tag: Ein Sexgespinst, als Fee und eine bedauerliche Ver-
oder nie Aufgeblühte, als Rasurgestalt, getoppt durch
das begehrenswerte Wirklichschönegute, als seine
Sonnenschein. Deswegen floh er, Neutralisierung suchend, gedanklich zu dieser
ja mann-fernen Frau vom Trödelmarkt. Nachdem er ihr bisher im Geiste mit bloßem,
wenn auch wohlwollendem Kopfschütteln begegnet war, wollte er heute der
Angelegenheit, als die sie sich ihm eben allmählich entwickelt hatte, auf den
Grund gehen. Es betraf dieses Zitat der Guten, dessen inhaltliche Ortung des
letzten Ausspruchs der Sprecherin Bacher immer noch nicht ganz gelungen
war.
Warum sollte dieses, das gewiss den
geistigen Himmel meint, wie im Kinderblick örtlich oben sein?, begann er
bescheiden. Weshalb sollte folglich sein immer als Instrument der
Disziplinierung eingesetzter Gegenpart von einem Unten her sein Unwesen
treiben? Genau betrachtet das moralische Folterwerkzeug Hölle?
Himmel wollte sich Bacher heute auf
seiner eben erwähnten Flucht – nachdem er das von der guten Trödlerin etliche
Zeit mit sich herumgeschleppt hatte – überall auftun können. Wo das Gute sich
zeigt – oder nur zu vermuten steht.
Das Gute ist eigentlich ganz
einfach auszumachen und vor allem nicht weit weg zu finden, trug er sich gleich
vor. Es sei weder zeitlich noch räumlich bedingt. Das Gute, haben sich kluge
Köpfe längst ausgedacht, zielt nicht darauf, für jemanden oder etwas zu sein.
Es setzt sich (einem selber) einfach nur, allerdings immerhin vom Bösen ab. Das
damit ja seine Rechtfertigung erhält, kicherte sich Bacher: Um sein Gegenteil
überhaupt erst ausmachen zu können. Diese moralische Grundfrage locker und
heiter sehen zu können, hielt ihn noch an seinem Gedankenspiel: Also könnte
doch dieser Himmel als das Ziel des Zitats der Frau mit seinem Gut-Wesen ganz
in meiner Nähe sein, vermutete er. Vielleicht ist er um jeden herum oder sogar
in ihm – möglich?
Wenn es nur nicht so schwer wäre:
Diesen von den Moralisten so hoch aufgeschütteten Berg zu besteigen. O Gott,
Dantes Purgatorio, den Reinigungsberg, im Hinterkopf!
Könnte Himmel nicht doch einfach in einem selber gedacht werden. Eben als gute
Ebene an sich und in sich. In meinem Bacher selber?
Na ja, im Grunde als bloße
Möglichkeit schön. Doch dieser Himmelsschritt hat die Eigenart, dass er
trotzdem nicht einfach zu tun ist, folgerte Bacher aus eigener Erfahrung. Es
ist wie zu träumen, ein buntes Verwirrspiel häufig – im Sein. Dieses Sein
schüchterte ihn jetzt wegen seiner schieren Unfassbarkeit ein. So ließ er von
seinem Gut-Vorhaben vorerst ab. Obwohl er bereits den Chinesen mit dessen
längster Reise, die immer mit dem ersten Schritt beginne, im Kopf hatte.
Drei Nächte darauf hatte Bacher in
der Ferne Nebel ausgemacht. Diese Wand hatte sich zwar auf den Betrachter zu
allmählich als Dunst geöffnet. Eine Landschaft lag wohl unter diesem Schleier.
Weite stand allerdings nur zu vermuten. Doch es war keine Öffnung zu klarer
Sicht auszumachen. Eher schien es so, dass die dichte Front von hinten den
Chiffon des Vordergrundes wieder zu überwallen trachte. Noch eben einen Blick
in diesen Brodem geworfen. Da waren immerhin Gegenstände auszumachen. Das Auge
an eines dieser Dinge geheftet und verglichen. Häufen sind es, kam es Bacher
zunächst. Nein, tiefe Rundungen! Ballen. Es waren wohl tatsächlich Ballen, die
da jetzt überwölkt wurden. Futterballen, wie sie von den Bauern erzeugt wurden
als Vorrat fürs Vieh.
Beim Erwachen fühlte er sich wohl.
Eigentlich nichts Ungewöhnliches, dass das ein guter Schlaf entstehen lässt.
Bacher nahm es heute allerdings fast dankbar an, obwohl ihm dieser
Gemütszustand nicht gleich einleuchten wollte. Dass die Zustände selten ganz zu
fassen und damit zu rahmen seien. Sie hätten immer Vorauszeit, die nie endlich
ist, kommentierte er es sich. Nichts sei ganz zu fassen, also zu rahmen, setzte
er nach. Also sei nichts einzufangen und abzugrenzen. Das sei eben das
Gefängnis aller Bilder: ihr Rahmen. Nun ja, die Sache mit dem Rahmen wieder!,
tadelte er sich. Und überhaupt, fragte er sich, auf welcher Tanzfläche drehst
du denn deine Figuren? Mache es doch einfach im Volksmund: Nichts Gewisses weiß
man überhaupt nie nicht!
Diesen besänftigenden Schluss,
sagte er sich wiederholt auf – und nahm ihn mit, als er die Augen wieder
schloss, um wegzutauchen. Jedenfalls erschien dieses Bild mit den gemutmaßten
Futterballen von vorhin dann wieder ganz deutlich. Es verharrte allerdings in
seiner letzten Einstellung und wollte sich nicht mehr weiterbewegen. Sosehr
Bacher am Morgen in seiner Erinnerung kramte, da war nichts mehr auszumachen,
was als Fortsetzung zu bezeichnen gewesen wäre. Trotzdem ein Traumbild mit
Wiederholung, selten genug!, erklärte er sich achselzuckend.
Zum 20. auf den 21. April hätte
sich eigentlich alles in Berlin ereignen sollen.
Bacher hatte geträumt, ein Auto
zuschanden gefahren zu haben. Das sah so aus, wie es jeder kennt: Quer stehende
Fahrzeuge, verbeult, Leute darum herum und so weiter.
Bacher war dabei glimpflich
davongekommen. Er sah sich noch aus dem Blechknäuel kriechen und achtlos durch
die Menge Gaffer schreiten, als wäre da gar niemand. Er hatte dabei ein Lächeln
wie ein Sieger aufgesetzt.
Allerdings sah er sich danach zur
Bahnfahrt verurteilt.
Das Ziel war bereits vorgegeben –
von wem auch immer. Eine weibliche Stimme war ihm da noch im Ohr – was
allerdings die Ansage auf dem Bahnhof gewesen sein konnte. Es sollte jedenfalls
nach Berlin gehen.
Dort angekommen, sah Bacher sich in
einem Café sitzen, den Blick auf einen breiten Fluss gerichtet. Er wagte gar
nicht, genau hinzusehen, denn da drängte sich ihm tatsächlich der Eindruck auf,
es sei der Rhein gewesen. Wenn er doch aufsah, hatte er die Kölner Turmzwillinge
ganz deutlich im Blick.
Eine Dame fortgeschrittenen
Jahrgangs trippelte herein. Andere der gleichen Welkheit folgten nach und nach.
Die üblichen Küsschen an die Wangen gehaucht. Platz genommen und die
Mitteilungen aufeinander getönt.
Bacher sah hinüber. Ein-, zweimal.
Sofort war er von ihnen ausgemacht, entdeckt, samt seinem vermeintlichen
Interesse. Als er wieder, vorsichtiger zwar, hinüberblickte, meinte er zu
bemerken, dass da ein paar Rocksäume hinaufgerutscht waren. Bacher wollte es
nicht sofort glauben. Er sinnierte noch, dass es sich um Jahrgänge handelte,
die lange Hosen eher mieden. Vielleicht stammten sie gar aus jener Zeit, in
welcher der deutschen Frau verordnet worden war, wie sie sich zu geben habe.
Beispielsweise im unten offenen Hüftbehang – den Bacher sich gelegentlich bei
jungen Damen gewünscht hatte. Dann riskierte er noch einen Blick. Und siehe da,
die, nein, jetzt alle Säume waren in der Hüftbeuge und gerade so weit oben,
dass es kochfest baumwollen weiß zwischen den Schenkeln hervor und zu ihm
herüber blitzte.
Da war es ihm wohl heiß geworden.
Jedenfalls fühlte er Unruhe in sich. Sofort wusste er jetzt, weshalb er diesen
Rockwunsch bei Frauen im Allgemeinen, bei jüngeren im Besonderen hatte. Er
gestand sich in Beichtlaune, dass er früher gelegentlich darauf erpicht war,
einen Blick darunter zu riskieren. Wohl wissend, dass das zu allermeist ganz
müßig war ...
Es konnte auch das Weiß des
Federbettes gewesen sein, wollte er sich herausreden. Jedenfalls hatte ihn
seine Unruhe darüber aufgeweckt. Diese
nächtlichen Fragmente beschäftigten Bacher nach wie vor. Ob es etwa dem
Schlafenden möglich sei, sein Schlafwerk sozusagen mit geöffnetem innerem Auge
zu verrichten und Farben wahrzunehmen – um diese freilich anderen Wirklichkeiten
zuzuordnen?
Bacher wollte sich Ende April wie
zu Beginn seiner Aufzeichnungen nicht erinnern können, im Traum je in dieser
Deutlichkeit und Gegenwärtigkeit sozusagen an einem Akt beteiligt gewesen zu
sein. Er war offenbar auf Wanderschaft
gewesen und an eine Weggabelung gelangt. Folgende eigentümliche Position war
gegeben: Bachers Sackgasse mündete mittig in zwei im spitzen Winkel sich
voneinander weg weitenden Wegen. Sie drang nachgerade in ihren Scheitelpunkt
ein. Und nun personifizierte sich diese Stellung sogar – wie er sich
eingestand, auf angenehmste Weise.
(Es gelte allerdings nach wie vor
das Schweigen als "des Sängers Höflichkeit", wird sich Bacher dann
beim morgendlichen "Überfliegen" dieser Erinnerung sagen. Denn er
wird sich nicht etwa zu Tagesbeginn in dieser sinnlichen Gegend verlaufen
wollen.)
Kurz nach diesem
"eindringlichen" Ereignis geriet
Bacher in seinem Traum in Probleme
mit einer Verseilung. Er sollte auf Geheiß – er
konnte durchaus selber der Auftraggeber gewesen sein – Stricke am Dachgiebel eines
Hauses befestigen. Diese wären vielleicht sichernd zum Boden zu führen gewesen.
Das gelang Bacher einigermaßen. Doch da kam eine alte Frau und kritisierte die
Schwäche der Schnüre, die zu niemandes Nutzen seien. Bachers Rechtfertigung, es
handle sich um sehr festes Seilwerk aus Kunststoff, konnte sie – eben aus ihrer
anderen Zeit – natürlich nicht nachvollziehen. Sie forderte ihn auf, ihr zu
folgen. Was er auch tat. Bald jedoch war
sie entschwunden. Ihre Spur, nach der Bacher angestrengt suchte, hatte sich
verloren.
Selbst beim Erwachen suchte Bacher
noch für einen kurzen Augenblick nach dieser Frau. Er bildete sich das
jedenfalls ein. Er riss sich von dem Gedanken los. Es kam ihm selber wunderlich
vor, aber er wurde von einer sonderbaren Regung befallen. Es reizte ihn
plötzlich, wieder einmal auf den Friedhof zu gehen. Hat es mit der Alten aus
dem Traum zu tun?, fragte er sich. Dann wirkten einem ja diese Schlafereignisse
sogar irgendwie steuernd voraus.
Er wollte dem nicht weiter
nachgehen. Doch hielt er den Einfall mit dem Friedhofsbesuch für nicht gar so
abwegig. Es ist eben mal etwas anderes, munterte er sich auf. Interessant, auf
den Grabsteinen diese Minibiografien zu lesen. Auch, um zu sehen, ob die
Kunstwerke, die früher wenigstens die reichen Leute über ihren Gräbern hatten
errichten lassen, ganz verschwunden sind.
Mal was anderes! Gleich tauchte
Sonnenschein in seinem Plan auf. Vielleicht hat sie sogar Lust auf diesen
Spaziergang. Zu dieser irgendwie etwas abseitigen, so doch vielleicht
reizvollen Unternehmung.
Noch Ende April, irgendwo auf
Island musste es gewesen sein. Der meerumgrenzten, leicht hügeligen Grüne
wegen, die in der Ferne Wasserfontänen emporschießen ließ. Bacher fand sich auf
einem Dach sitzend. Genau genommen an der Kante, sich mit den Füßen an der
Dachrinne einstemmend. Es war ein hohes Gebäude, eines, von denen es auf der
Insel nicht viele gab. Bacher versuchte, irgendetwas nach unten zu unternehmen.
Ein ständiges Stochern mit einer langen Stange. Die er anscheinend unten auf
den Boden, aufs Pflaster zu bringen versuchte. Ohne sie aus den Händen gleiten
zu lassen. Vielleicht plante er sogar, sich daran hinabzulassen. Jedenfalls
wollte es ihm nicht gelingen. Er stocherte in der Luft herum. Immer wenn er
aufsetzen wollte, bemerkte er, dass sich das Ding langsam ineinanderschob. Es
war fast wie bei einem teleskopischen Rohr. Offenbar konnte er es nicht glauben
und versuchte es immer wieder, das lange Teil stabil zu bekommen. Dann hörte er
es wie Teppiche klopfen. Er sah sich um. Blickte zum Boden hinab. Da war jedoch
nichts auszumachen. Bacher leuchtete
ein, dass sich da ein Hubschrauber heranlärmte. Da kam ihm der Gedanke, er
könne von dem Hubschrauber unterstützt werden, seine Lage über die Lüfte zu
verändern und sich zu erheben. Sich auf diese Weise in Sicherheit zu
bringen. Aber da ergab sich nichts. Das
Ding dröhnte über ihn hinweg.
Allerdings bemerkte Bacher jetzt
dort unten etliche Passanten vorübereilen. Nur dieser Dieter Roth schlenderte
gelassen daher, selbst seine Gangart eigenwillig kunstvoll gestaltend. Laut
deklamierte er vor sich hin, sich weiterhin meist die Behauchung des T in
seinem Vornamen versagen zu wollen. Weil ihm nämliche am Ende seines
Familiennamens genüge. Bacher wollte sich ihm bemerkbar machen, da hatte Dieter
Roth ihn bereits entdeckt. Wie so häufig früher – Bacher erkannte, dass es
länger her sein musste – begann er mit ihm eine Korrespondenz. Roth warf Bacher
Einfälle zu: Erhabene Ansätze ließ er zu Bachers Ergötzen in die Höhen steigen.
So gewaltige Worttürme, dass sie einem schon ins Vergessen kippten, bevor man
sie ganz gehört hatte. Er ließ sie sich selber nichten,
noch bevor Bacher sie richtig zu erfassen bekam. Ließ durchblicken, dass ihnen
genau das zu eigen sei. Er ließ andere aus seinen mutmaßlich unerschöpflichen
Vorräten abstürzen. Packte sie und wischte sich den Hintern damit. Es freute
ihn. So mit allem verfügbarem Esprit, wo auch immer, ebenso ohne jede Hemmung
enorm parterre zu spielen. Wo er das Leben im Allgemeinen und so weiter. Dann
nahm er immer einen Schluck aus der Pulle. Die er stets zu Munde führte, wenn
ihm ein Clou gelungen schien. Den er sich nicht erst aus-, sondern gleich
runterspülen lassen wollte. Um erst die Ausscheidung desselben und so weiter.
Allerdings waren da Brocken unter denen, die er Bacher zuwarf, die dieser
tatsächlich zu fassen bekam. Dennoch flogen auch diese Stücke Bacher immer
wieder aus der verkrampften Hand. Und sie flogen davon, hinauf, irgendwohin in
einen fernen Dunst von so etwas wie ...
Da war es mitten in diesem Fetzen
Morgen.
Wo ist Karl Dietrich, alias
Diether, alias Dieter Roth abgeblieben?, fragte sich Bacher. Obgleich er ja
wusste, dass Dieter Roth längst alles hinter sich gebracht hatte. Heute nahm
Bacher gleich nach dem Frühstück einen Schluck schärferer Flüssigkeit. Dies mit
der Begründung, damit das Andenken an D. R. zu pflegen. Er versäumte jedoch
nicht, noch einen Brocken Brot in den Mund zu nehmen und länger darauf herumzukauen. Um nicht etwa im Büro mit einer Fahne aufzukreuzen.
Am ersten Mai fiel Bacher beim
Mittagessen unvermittelt ein, dass dieser Satz vom Vorne, Hinten und Oben von
der Frau auf dem Trödelmarkt seinerzeit eher beiläufig gesprochen worden war.
Auch war er nicht eben nur so dahergesagt. Allem
Anschein nach war er geäußert
worden, ohne jede Absicht, irgendetwas beim Hörer hervorrufen zu wollen. Wahre
Überzeugung eben, dachte sich Bacher. Überzeugung, die keine Kanzel benötigt,
weil sie aus sich selbst heraus wirkt: nicht nur genannt, sondern gelebt.
Jedenfalls brachte ihn diese
Himmelssache, die er auszumachen sich gelegentlich bemühte, ganz unwillkürlich
zu diesem alten Gebetsspruch mit dem "Vater unser". Sofort stolperte
er wieder über den Vaterbegriff. Wie früher, als er es aufgegeben hatte, diese
ganzen Formeln herunterzuleiern. Was finge denn ein Schöpferwesen, dem die
Hervorbringung alles Seienden unterstellt wird, mit Geschlechtlichkeit an? Mit
offenbar purer Männlichkeit?, drängte sich ihm und durchaus gleich mit der
ganzen Palette geschlechtlicher Vorstellung auf. Schier erschüttert, sich und
die große Schar der Geschlechtlichkeitsdafürhalter
der Lästerung der reinen Schöpfungsgewalt bezichtigend, wollte Bacher wie
gewöhnlich aus diesem Gedankenchaos flüchten.
Doch der bärtige ältere Herr
sixtinischer Lüftelmalerei (mit welchem Sarkasmus
sich Bacher aus dem Gedanken eigentlich noch weiter weg davonmachen wollte)
verfolgte ihn noch. Es wurde das sogar verstärkt durch dessen der Behauptung
nach gezeugtem, nicht erschaffenem Sohn (dessen Abbildung sie, wie Bacher es in
den Gedankenlauf hereinblitzte, trotz Himmelfahrt immer noch am Kreuz hängen
haben. Wegen ihrer ganzen Unerlöstheit). Zudem war
auch der Geist, den sie sich gerne als Taube vorstellen, gedanklich, obwohl
nach Vorgabe eigentlich gestaltlos, hinter Bacher her.
Kaum jemand hat bei sich selber,
fasste er sich wieder, wegen dieses abrahamitischen Du-sollst-dir-kein-Bild-Machens
alles wegzuwischen getraut.
Was sich einem aus Kindertagen da
so herumvorstellte. Etliche haben all das jedoch fürderhin grundsätzlich meiden
wollen und per Kirchenaustritt hingeschmissen. Besonders dann, wenn sich wieder
einige der Jenseitsvermittler im Diesseits so unmoralisch gegeben hatten und
alle Welt darauf herumhackte.
Diese Begegnung mit der noch
offenen Äußerung der von ihm beinahe heiliggesprochenen Frau hatte ihm all
diese Gedankenspiele beschert, war sich Bacher bewusst. Ohne daraus allerdings
auch nur den Anflug eines Vorwurfs aufkommen lassen zu wollen. Er war sich
dabei nicht sicher, ob er darin überhaupt fortfahren sollte, Lösungen zu
finden.
In der Nacht zum nächsten Tag hatte
sich Bacher möglicherweise in Südtirol aufgehalten.
Er bückte sich ab und zu nach einem
Stein.
Es ging bergauf.
Die Serpentinen einer Straße kamen
ins Bild. Auf deren Teerdecke lagen diese Rundlinge, von Pflasterern
Katzenköpfe genannt. Es schien fast so, als wollten sie sich in Erinnerung
bringen. Dass sie über Jahrhunderte als Straßenbelag gedient hatten. Dass sie
Rad und Fuß vor dem Einsinken bewahrt und den Kehricht wegzufegen ermöglicht
hatten.
Und sonst was – ja, dass sie den
Frauen unter den Rock blicken konnten, blitzte es Bacher wunderlich.
Sein geheimer Schatz, diese nächtliche
Frauensperson, war wieder zugegen. Allerdings nicht gleich zu erotischen
Aktivitäten beflügelnd. Sie gestaltete aus diesen Steinen eine Rabatte die
ganze Straße entlang. Pflanzen, die sie einbrachte, waren zu erkennen. Ein
Alpinum entstand also am Straßenrand. Alles höchst kunstvoll.
Kinder waren ebenfalls am Werk. Sie
werkten auf ihre spielerische Weise, häuften kleine Pyramiden, legten
Einfriedungen ...
Bacher stand da, sah eher nur zu,
nur den einen oder anderen Handgriff vollziehend. Um sich als dazugehörig
vorzugeben.
Irgendwann grollte seine Nachtfrau,
er solle sie nicht immer mit Schatz betiteln. Es sei so einfältig, bar jeden
Geschmacks und überhaupt fantasielos. Es genüge, den Anfangsbuchstaben ihres
Namens zu nennen. Das S, ganz einfach. Es sei außerdem ökonomischer, reiner und
vor allem unverfälschter, sich mit dem Anfang zu begnügen.
Ach ja, bewegte es ihn, der Anfang,
der Beginn – die aufkeimende Liebe, der erste elektrisierende Blick! Bacher
nahm sich fest vor, sie fortan mit dem redlichen eS
zu benennen.
Kaum hatte er diesen Vorsatz
gefasst, brachten die Kinder einen Ziegel daher. Es war ein großes blassrotes
Stück mit leichten Mörtelspuren in den tiefer liegenden Stellen der Oberfläche.
Die Kanten schienen abgenutzt, dadurch geradezu versöhnlich gerundet. Als sie
ihn stolz präsentierten, konnte Bacher ganz deutlich 1525 erkennen. In der
Verwunderung darüber sprang sein Blick den Abhang hinab. Dort unten nahm er ein
Gehege war. Pferde waren darin. Haflinger vermutlich, jedenfalls hellbraune,
bleichmähnige Tiere. Drei, vier konnten es sein. Ein Hengst war gerade an einer
Stute. Bacher sah einen mächtigen Schlauch. Es durchrieselte Bacher dunkel.
Aufgeblickt, eS war vor ihm, gebückt ...
Am Morgen ließ sich Bacher von so
etwas wie leichten Entzugserscheinungen einnehmen. Er begann sogar damit, sich
darüber zu schämen – fühlte jedoch sofort diesen guten Sigmund F. wieder. Der
schien irgendwo therapeutisch in der Nähe zu sein, um die Sinnenlust auf Libido
konzentriert zu fordern. Damit konnte alles für den Tag wieder seine
Richtigkeit haben.
Am 14. Mai fiel Bacher ein, dass
heute Nacht eine
Mitarbeiterin auf ihn zugekommen
war und ihn unverhohlen gemustert hatte. Von oben bis unten. Er hatte selber
erkannt, etwas overdressed gewesen zu sein: schwarzer Anzug, ebensolche
Krawatte vor weißem Hemd. Wie zu einer Beerdigung aufgemacht, sah er wohl aus.
"Aha", urteilte die
Kollegin nach der Inaugenscheinnahme, "man hat wieder geerbt!"
Hat sie der Traum gerächt?, fragte
sich Bacher, allerdings erst im Büro und als er sie vorüberhuschen sah. Er
knurrte vor sich hin: "Habe sie doch öfter sonst wohin gewünscht!"
Dann erinnerte er jedoch, sie tatsächlich ab und zu quasi beerbt zu haben. Es
waren ihre cleveren Vorschläge, die er hatte als sein Eigentum ausgeben und
nutzen können. Bacher genierte sich ein wenig. Er spielte deshalb kurz mit dem
Vorsatz, ihr in Zukunft entspannter zu begegnen. Damit gelang es ihm, seine
zwar schwache, aber immerhin vorhandene Genierlichkeit zu überwinden.
Ein paar Nächte darauf wollte
Bacher vermutet haben, in seine Homepage habe sich ein Chinese link mit einem
Hacking reingesetzt. Eine gelbe Ratte, empörte er sich. Der zweite Wilhelm aus
Preußen linkte sich Bacher
plötzlich mit der alten
Filmaufnahme ein und bellte wieder
seine Hunnenrede vom Balkon. Es war Bacher jedoch zu unkommod,
gleich nach China aufzubrechen, um dort, dem kaiserlichen Geheiß nach, eine
drastische Strafexpedition durchzuführen. So knickte er lieber ein, nahm die
gelbe Ratte zurück und betitelte sich schmerzlos als Rassist. Er würde sich
sogar der Einfachheit halber samt dem alten Preußenprotz vor der ganzen
Menschheit entschuldigt haben, sollte es wer verlangt haben.
Cassian Bacher unternahm das
natürlich nicht etwa, weil er sich mit dem Dieb zu versöhnen trachtete. Sein
Ärger war zu groß, als dass er über die Maßen Charakter aufzubringen willens
und in seinem Stress überhaupt in der Lage war.
Bachers Blicke wie auch seine
Gedanken folgten dem als gemein identifizierten Exoten dann, als dieser eine
Treppe zu einem Keller hinunterstieg. Er wird sich wieder in den Kanal begeben,
wo er auch hingehört, leistete sich Bacher (um sich sofort zu versichern, dass
ihn dieser Gedankengang zwar befriedigte, aber natürlich wieder weit unter seinem
Niveau war).
Was werden die Leute denken, die
jetzt meine Seite anklicken und womöglich irgendwelche fernöstliche
Perversitäten zu sehen bekommen, die diesen Kreaturen getrost unterstellt
werden können. Alle schrieben diesen Schmuddelkram
der Adresse wegen natürlich ihm, Bacher, zu. Nicht ganz saubere Dinge, die
jeder zwar selber in sich weiß, vielleicht sogar hegt und pflegt. Die jedoch
kaum jemand, gewissermaßen aus Gründen des Benehmens und wegen seines guten
Rufs, jemals an die Öffentlichkeit bringen würde. Jedenfalls nicht unter seiner
nicht vernicknameten Identität.
Bacher fühlte sich unwohl, als er
erwachte. Er wusste nicht sofort, ob es dieser Traum war. Er merkte nach einer
Weile, dass es vom Magen kam. Die Gedanken rutschten ihm in diesem unguten
Gefühl in den Traum – und ganz tief ab: Aktion! Diesen Hundesohn abschlachten
wie die Hunde, die sie hemmungslos verschlingen, wie seit je bekannt ist.
Gleich wieder nahm er seinen Entschuldigungs-Parcours.
Er war über sich selber sogar ein wenig entrüstet.
Cassian Bacher bekannte am Ende,
dass diese Haltung, die zur Vorsicht gegenüber allem Fremden mahnt, wohl in
einem jeden tief drinsteckt. Sie will natürlich immer wieder abgerufen und
hervorgeholt werden. Mit dem Seufzer, dass der Menschen eben so sei, mogelte er
sich mit Erfolg aus seinen Peinlichkeiten.
Es mochte am 16. Mai sein.
Gestalten in einer Runde und
offenbar im Gespräch. Sie wurden Bacher allmählich deutlicher. Er begann zu
zählen. Er kam auf fünf. Eine Frau war dabei. Aneinander interessiert waren
sie, wurde ihm gleich klar. Er versuchte zu erfassen, was da jeweils jemand von
sich gab. Bacher musste sich jedoch mit ihren Minen und Gesten begnügen. Bacher
hatte das Gefühl, dass es bei ihren Reden um Begegnung ging. Einer aus der
Gesellschaft brach plötzlich vor einem anderen in die Knie – Bacher erschrak –
und schien um eine Segnung nebst Handauflegung zu bitten.
Bacher war im nächsten Moment
mitten unter ihnen. Er erkannte sie als Geistliche. Bacher mutmaßte, dass die Frau
unter ihnen nur mit allerlei Dingen des leiblichen Bedarfs aufzuwarten, sich
jedoch weiter nicht einzubringen hatte. Sie bewegte dann und wann den Mund,
vermutlich um eine ihre Geschäfte betreffende Äußerung anzubringen. Da tauchte plötzlich die Frage auf, wie
Cassian Bacher seine Kinder zu erziehen gedenke. So ein Monstrum von Frage!, erschrak er. Und
er fühlte gleich alle Blicke auf sich gerichtet. Ach ja, das In-die-Welt-Werden
der Kinder! Da suchte ihn doch dieser Knaben-Führer auf Griechisch heim und
blieb ihm als Paidagogos in den Gedanken hängen.
Bacher wusste jedoch immer noch nicht, was er der ihm jetzt als gefräßig
erscheinenden Neugierde der Frager in den Rachen stopfen könnte. In die
randvolle Stille tönte dann sein Sie-sollen-nicht-in-der-Gosse-Landen – dem
Morgenschock des Weckers hinterher.
Als Bacher ganz wach war, glaubte
er, immer noch die langen Augenblicke betretener Stille wahrzunehmen.
Betroffenheit, die von tiefen Atemzügen durchbraust worden wäre – hätte sich
der Traum zu Ende gebracht. Doch mit diesem Sinnen über Erziehung waren
natürlich Kinder in seine Gedanken geraten. Da konnte ihm inzwischen
Sonnenschein gar nicht mehr sehr weit entfernt sein: Leider nicht wirklich –
fürs Erste, beteuerte er sich. Tagträumend ließe sich da eine ganze und
obendrein erquickliche Menge anstellen. Doch Kinder? Wie denkt Sonnenschein
darüber? Wäre es bei ihr nicht an der Zeit? – Bacher erschrak über seine letzte
Frage.
17. Mai
Mit so einem kleinen Auto wie einem
Trabbi war Bacher gefahren. Neben ihm saß eine ihm eigenartig vertraute wie
fremde Frau. Irgendeine. Er war sich zwar nicht sicher, ob es nicht auch seine Nachtfee sein konnte. Er ging dem allerdings nicht weiter
nach, weil ihm die mittlerweile vertraute, sonst meist sofort gegebene
Gefühlslage ausgeblieben war.
Es ging durch ein Feld mit etwas
höherem Bewuchs am Rande, Getreide konnte es gewesen sein. Er wunderte sich
über sich selber, dass er seinen Weg gerade hier nahm. Er hatte sofort den
Tadel von der Seite her zu ertragen, dass er die Straße ganz verloren habe.
Möglicherweise sogar das Ziel. Das er sowieso gar nie gehabt habe. Er wehrte
den Vorwurf mit dem Hinweis ab, dass das im Leben eben häufig vorkäme. Und dieses,
besagtes Leben, einen auf diese Weise wenigstens ein wenig interessant zu
gestalten helfe.
Dann gelangten sie an einen Berg,
der sich da mitten in der Flur erhob. Es kam Bacher so vor, als gebe es für
dessen Existenz gar keinen Grund, sich da zu erheben. Aber dass sein
Vorhandensein an dieser Stelle für Bacher die Ursache verkörperte, seinen Weg
so zu nehmen, wie er es eben getan hatte, wollte er sich nun gewiss sein. Das
bescherte ihm Vertrauen – wenigstens in sich.
Sie sind dann hinaufgewandert. Dabei trafen sie viele Menschen. Alles
geschah ohne wirkliche Begegnung. Ein stummes Aneinander-Vorbeiziehen, jeder
war nur mit sich befasst. Das war auch zwischen Bacher und seiner Begleiterin
so. Zu essen gab es. Sie sahen sich umgehend mit einem gefüllten Teller
dasitzen. Bald entdeckte seine Begleiterin eine Schnecke im Salat, ekelte sich,
protestierte, machte ein langes Gesicht und hörte auf zu essen. Bacher hingegen
ließ sich nicht aufhalten und stellte noch fest, dass das da auf seinem
Pappteller eine Gemüseroulade sein konnte. Jedenfalls sei es etwas Gesundes,
wofür ihm der fade Geschmack Beleg sein sollte.
Dann waren sie wieder unten. Dort
zeigte sich ein geheimnisvolles Gebilde, eine sitzende Gestalt. Die als solche
jedoch erst beim zweiten Hinsehen auszumachen war. Zunächst sah diese
Augenfälligkeit aus wie ein Stück von diesem zerkarstetem,
mit der Zeit von der Witterung zernagtem Gestein. Beim Näherkommen wurde
allmählich klar, dass es tatsächlich ein Etwas mit menschlichem Aussehen war: Über
und über grau, umwallt von einem Netz dichter Weben; aus den fahlen
Gesichtszügen ein graues Bartgeflecht fließend, das fast übergangslos in der
Umhüllung auslief.
In das Erstaunen hinein gelangte
die Mutmaßung, es handle sich um eine der vielen Gestalten, die der Sage nach
in felsigen Gegenden ihr Wesen treiben sollten. Die Kiffhäusersage
funkte kurz auf oder die vom Untersberg. Dass es der große Karl war oder
Rotbart oder eben jemand aus dieser Sagengegend, hätte man unterstellen können.
Da war bereits von dieser Gestalt zu vernehmen: dass sie in Berlin jetzt doch
Germania errichteten. Nur nicht ganz so kitschig, wie jenes aus dem kranken
Hirn von diesem Leuteverderber und Landzerstörer.
Jedoch immerhin wenigstens gigantisch. Dass sie aber doch besser in der rheinischen
Provinz geblieben wären. Diesem wunderlichen Bonn. Wo der Hort einer Zwergenrepublik besser beheimatet gewesen wäre
...
Schließlich erwacht, musste sich
Bacher gestehen, doch ein wenig verstört zu sein. Allerdings war er es nicht so
sehr wegen dieser – im Grunde für die nächtlichen Umstände eigenartig klaren
Darbietungen. Eher war er es deswegen, weil ihm der genaue Blick auf diese
Gestalt versagt geblieben war. Denn gleich kam ihm – wenn auch sofort wieder
verworfen – der Verdacht, dass diesem Gespenst die schwarze Rotzbremse zur
grauen Vollwallung gewuchert war. Dass dieser furchtbare Gewesene wieder eine
seiner Trugbilder auftischen wollte. Indem er sich auf diese dann verquere
Weise von sich selber wegzulügen trachtete. Dieser H.
sei die Rache des Teufels für Jesus Christus gewesen, erinnerte sich Bacher,
erst neulich gehört zu haben.
Damit war er jetzt richtig
einverstanden.
Da war irgendwann im Mai ein Film gezeigt worden über den ehemals
deutschen Osten. Darauf hatte Bacher diese Nacht:
Es war in Wroclaw, wie sie heute
das alte Breslau nennen. Bacher ging eine Weile an einem breiten Fluss entlang,
es war bestimmt die Oder. Dann wendete er seine Schritte in Richtung
Innenstadt. Er war bald am Rathaus angelangt und staunte und rief laut über den
Platz: Der Pole ... (Er verwendete damit unversehens eine Ausdrucksweise und
ein Merkmal der Sprache des Dritten Reichs, wie es Viktor Klemperer bemerkt und
gerügt haben würde, erinnerte Bacher sofort.) Der Pole also hat dieses Prachtstück
der deutschen Gotik wiederaufgebaut. Somit hat er eben das Eigentumsrecht an
diesem gewissermaßen Strandgut des Krieges erworben.
Bacher hatte nicht bemerkt, dass da
auch eine Gruppe älterer Männer und Frauen zugegen und sogar in seiner Nähe
war. Vermutlich hatte Bacher deutsche Heimattouristen beschallt, wie sie jetzt
überall mit ihren Fotoapparaten im Osten umherzogen. Sie fingen gleich an, zu
Bacher hin den Mund aufzutun. So dass er durchaus annehmen musste, sie stimmten
einen Chor gegen ihn an, vom Fuchteln so manchen Gehstocks im Takt gehalten.
Bacher zog sich zurück.
Unmittelbar danach befand er sich
in einem Kellerraum – ohne sich erklären zu können, woher dieses Gefühl rührte,
tief unten zu sein.
Da fanden sich Frauen und Männer,
nicht mehr ganz junge, aber noch nicht als alt zu bezeichnen. Nur einige aus
der Personengruppe schienen sich den Lebensjahren nach abzuheben. Das waren
meist grauhaarige Individuen, die da saßen, von anderen, eben den jüngeren,
umringt. Er gewann sofort den Eindruck, in eine Versammlung ehemaliger
Schulzusammengehöriger, in ein Klassentreffen, geraten zu sein. Doch wie er
auch umhersah und seine Erinnerung durchstöberte, er
konnte niemand ihm Bekanntem ausmachen.
So stand er eine Weile herum –
bemüht freundlich lächelnd, einen wissenden Ausdruck im Gesicht, mit leichtem
Kopfnicken unterstrichen. Irgendwann kam eine junge Frau auf ihn zu. Sie gab
vor, sich an Bacher als genau den Arzt zu erinnern, der für eine Biologiestunde
einschlägigen Themas von der Lehrkraft bemüht worden war. Er sollte den Jungen
in der Klasse die Geheimnisse der Vulva aufdecken. Er hätte sie, diese junge
Frau, dann veranlasst, sich als Demonstrationsobjekt zur Verfügung zu stellen.
Sie habe dem gar nicht so ungern Folge geleistet. Sie habe immerhin von der
Unwissenheit und der oft schmerzhaften Tölpelhaftigkeit der Kerle bei deren
Aktivitäten an diesem weiblichen Körperteil gewusst. Sie habe sich auf dem Pult
der Erfordernis entsprechend positioniert. Er habe mit einem dicken, allerdings
ziemlich kurzen Stock die Bauteile dieses immerhin bisweilen vergnüglichen,
wenn auch andererseits durchaus konfliktuösen
Körperteils dargestellt. So weit, so gut, schloss sie ihre Darlegung. Sie fügte
jedoch noch hinzu, dass sie seit genau der Zeit an ihren gewissen Tagen im
Monat immer Schmerzen habe. Er hatte ihr kaum sein Bedauern darüber zum
Ausdruck gebracht (obgleich er sich an den Vorgang immer noch nicht erinnern
konnte). Da war gleich ein junger Mann bei ihm, der sich dafür bedankte, dass
er ihm gelehrt habe, wie eine Krawatte gentlemanlike zu binden sei.
Bachers Erwachen mit einem Kloß im
Hals, und beim Schlucken war da der typische Schmerz, der ihm eine
Halsentzündung signalisierte. Wenn schon Traumarzt, kicherte er in sich hinein,
dann die Krankheit sofort bekämpft. Er gurgelte gleich
eine Arie in Höhen und
Tiefen mit Salbeilösung.
21. Mai: Jemand entsprechend
Talentiertes hätte vermutlich von einer Erscheinung gesprochen:
Sanft hügelige Weite. Unter
gedämpftem Licht zeigte sich ein blumenerfülltes Grün. Im Vordergrund bewegte
sich ein freundlich dreinblickender Knabe, ballonmützig
behutet, von kräftiger Statur. Zu seiner Rechten ein
junges Schaf, das er zu führen schien. Schier himmlisch, was sich im Augenblick
ereignete: Der Kopf des Lammes zeigte sich plötzlich als eine mächtige, in
ihrer Schlichtheit schöne Margerite, an ihrem schlanken, grünen Schaft wippend,
deren eigentlich gelbes Herzfeld in dieser Erscheinung von einem ebenmäßigen,
strahlenden weiblichen Gesicht eingenommen war. Dieses Antlitz lächelte Cassian
Bacher unbeschreiblich hold aus dem es umgebendem weißem Blütenblätterkranz
heraus zu.
Der Eindruck von etwas Jenseitigem,
wenigstens jedoch geschmackvoll pastellenem Nazarenischem
drängte sich ihm auf. Als er sich darauf ganz einließ, meinte er in dieser
Seligkeit, sogar die Dreingabe eines sanften Orgeltönens zu vernehmen.
Da war die Nacht jedoch vorüber. Er
erhob sich, beinahe ein wenig betört. War es dieser Traum, der mich vielleicht
abheben wollte von der nackten Plattheit des Alltags?, fragte er sich. Er schob
dem gleich die Vermutung nach, nur zu schnell aufgestanden zu sein und damit
seinen Kreislauf verwirrt zu haben.
Gegen Ende Mai hatte Bacher im
Traum auf einem Klappstuhl Platz genommen, saß jetzt an der stark befahrenen
Straße. Danziger Platz, glaubte er auf dem Schild entziffern zu können. Gewiss
in Bayern – ach ja, diese Heimatträume der Menschen, die der Krieg hier und
sonst wo angeschwemmt hatte. Er wartete auf jemanden, wusste allerdings nicht,
wer es sein sollte. Nach einer ganzen Weile kam eine Frau mittleren Alters aus
ihrem Geschäft, einem Gemüseladen. Langes, offen getragenes Haar, raustoffiges Kleid, das bis zu den Knöcheln reichte, unten
lugten belatschte Füße hervor. Sie fragte Bacher,
wenn auch unvermittelt, so doch wenigstens einigermaßen freundlich, was er denn
für Schuhwerk trage. Er deutete auf seine Füße. Sie fragte weiter, welches
Getränk er des Morgens bevorzuge. Worauf er ihr Bescheid gab, es sei grüner
Tee, und zwar in größeren Mengen. Sie erteilte ihm den Rat, mit den Resten
davon, vielleicht der Neige in der Kanne, seine Füße einzureiben. Das sei zum
einen wohltuend und obendrein erleichtere es das Gehen ungemein. Sie merkte
noch an, dass er sich aus gesundheitlichen Gründen bewegen und nicht hier
herumträumen solle. Er blickte an ihr vorbei und wies darauf hin, dass die
Träume vermutlich die Bilder des Todes seien. Da schrak sie fast zusammen und
gab zu, dass sie auch gelegentlich träume. Vor allem aber erinnere sie diesen
Ausspruch von den "Träumen als den Bildern des Todes" als bei den
alten Römern gebräuchlich. Dass sie das Abitur vor langer Zeit abgelegt habe
und wegen ihres Latinums dieses Zitat habe lateinisch hersagen können. Nur sei
ihr beinahe der gesamte Vokabelschatz, den sie ehedem mit viel Fleiß und
obendrein einiger Sorgfalt angehäuft hatte, verlorengegangen. Mit einem etwas
verkniffenem Lächeln fügte sie hinzu, dass man ja so selten einen alten Römer
träfe, mit dem Konversation zu betreiben sei. Doch diese Heiterkeit kam ihr so
urplötzlich abhanden, wie sie ihr zuteilgeworden war. Jetzt starrte sie aus
einem jählings ganz langen Gesicht traurig ins Leere.
Bacher wollte ihr tröstend Beistand
leisten, indem er sich bemühte, ihr den Blick für das Innere dieser
alt-römischen Behauptung zu öffnen. Der Tod, erklärte er, sei überhaupt nicht
als das Ende des Lebens anzusehen, wie es dummerweise immer geschähe. Sondern
als dessen ständiger Begleiter, und zwar von Anfang an. Er hielt etwas inne,
vielleicht sogar, um selber zu prüfen, was ihm da so herausgesprudelt war. Sehr
bald überzeugt von der Angemessenheit seiner Äußerung, fuhr er fort: Weil dem
tatsächlich so sei, kommuniziere der Tod ständig mit dem Leben, indem er dessen
Bilder aufsauge. Und, wie so freundlich: Er speise diese Bilder eben zur
Belebung des ja sonst sehr langweiligen Schlafs in diesen wieder ein.
Sein Gedanke kam Bacher interessant
vor, dass der Tod so gesehen gebe, was er genommen oder erst zu nehmen die
Absicht habe. Und dass er damit im Grunde ja ein unterhaltsamer Geselle
sei. Sie war weg, als er zur letzten
Darlegung ausgeholt hatte. So fügte er eben nur für sich an – und im Übrigen zu
einer doch wieder erforderlichen Infragestellung der zunächst allzu günstigen
Prognose: dass der Tod trotz der dargestellten Vorzüge immerhin von unseren
Jahren zehre und uns die Farbe aus den Blütenkelchen saufe, dass er gelb sei
vor nichts und auf Schlagrahmwolken mit den Weibern tanze, die ihm alle Kinder
liebten.
Sie war ja längst abgezogen.
Vermutlich kramte sie in ihrem Schulkopf nach lateinischen Vokabeln. Bacher
hingegen schien sein Einfall zu genügen, weiter warten zu können – und sei es
auf den absurden, jedenfalls theatralischen Godot. Denn das Objekt seines
Ausharrens erschien nicht. Dafür stand plötzlich ein kleiner Junge vor ihm und
bat gleich mit einigem Anstand darum, Bachers Bart betasten zu dürfen. Er
begründete dies damit, dass er sich so auf sein Mannwerden vorbereiten wolle.
Bacher hatte nichts dagegen einzuwenden. Der
Junge erfüllte sich seinen Wunsch.
Da erschallte jedoch gleich eine, bestimmt diese Stimme der reifegeprüften
Gemüsefrau, der Junge solle sofort kommen und sich die Hände waschen ...
Eine Nacht später war Bacher in
seiner Vorstellung mit einem Kollegen auf dem Rad unterwegs. Sie sollten wegen
der in diesen Wochen noch anhaltenden Frühjahrsgrippe oder -müdigkeit an einer
Außenstelle aushelfen. Bald befanden sie sich in einer Allee auf einem
geteerten Radweg. Sie konnten nebeneinander fahren. Schöne große Bäume
spendeten Schatten mit ihrem noch ganz frischen Grün. Es war ein sonniger Tag –
viel zu schön, um etwa nur im Büro zu sitzen.
Da passierte es: Sein Begleiter
fuhr in ein Loch. Das Rad brach entzwei, gehörig, in alle Teile. Bei genauerem
Hinsehen waren die einzelnen Teile des Rades wahrzunehmen: Räder, Rahmen,
Sattel, Lenker.
Und da war diese Öffnung: Das Auge
übermittelte sofort den Eindruck, dass sich da ein Schlund auftat. Ein
Schrecken erfasste Bacher.
Abgewendet und weggegangen! Denn
das schlundige Schlagloch würde sich im Auge des
Betrachters womöglich weiter zum Abgrund auswachsen. Und dieser artete bei
längerer Versenkung darein womöglich bald extrem aus und erweckte schließlich
den Eindruck, alles in sich aufzusaugen. So wie seine schrecklich viel größere
und stärkere Sippschaft im All. Die Astronomen mittlerweile als schwarze Löcher
zu kennen glauben. Um Gottes willen! Sollten diese Monstren bereits ihre
Ableger hier auf Erden zu installieren versucht haben? Da war allerdings der
Gefährte zu vernehmen. Er riss Bacher aus dem Schauder mit der Mitteilung, dass
er sich von oben bis unten sorgfältig abgetastet habe. Er könne resümieren, an
Leib und Leben erfreulicherweise keinen Schaden davongetragen zu haben. So
wendeten sie sich den Trümmern seines Fortbewegungsmittels zu und standen eine
Weile an der ganzen Bescherung und wussten keinen Rat. Ein Passant kam herzu und bot seine Dienste
an. Er verstehe etwas von der Materie der Technik und überhaupt des Fahrrads
und selbstredend von allem, was damit zusammenhinge.
Dankend haben sie angenommen und
ihn mit den Trümmern und seiner Freude über die Renaissance des Velozipeds, die
er ihnen noch wortreich mitgeteilt hatte, werken lassen.
Bacher wollte dem Gefährten
eigentlich vorschlagen, mit dem Taxi die Dienstreise fortzusetzen. Er kam dann
zu dem Entschluss, ihm, dem Arbeitskameraden, sein Rad zu geben und selber zu
Fuß zu gehen.
Sie trafen sich schließlich in
einer Gaststätte. Vor ihnen stand jeweils ein frisch eingeschenktes,
schäumendes Weißbier. Eine Terrine mit Weißwürsten wurde aufgetragen. Kurz,
dick, weiß und vor allem appetitlich glänzte es da aus der warmen, feuchten
Mulde. Ein Gefühl der Lüsternheit durchrieselte einen, bei jedem Blick darauf
... Sie sogen nebenbei immer wieder heftig an ihrer Virginia – diesem runden,
langen Ding, bei dessen Anblick im Mund des Gegenübers das Nachsinnen an dieses
unergründliche Loch von vorhin aufkam.
Während einer Verschnaufpause bei
der Arbeit überkam es Bacher plötzlich ganz angenehm, als er sich seiner
menschenfreundlichen Ader im Traum erinnerte: Sein Fortbewegungsmittel dem
Kollegen zur Verfügung stellen und selber zu Fuß die Reise fortsetzen.
Er misstraute allerdings dem Traum
– und mehr noch der Kollegialität. Dass sein Verhalten einen so unmittelbaren
Ertrag zeitigen würde, wie vom Traum vorgeführt: mit Weißwurst, Bier und
Zigarre.
So machte er sich lieber wieder an
die Arbeit.
Bacher hatte vor einigen Tagen das
Schild gelesen, das der Nachwelt verriet, dass in diesem Gemäuer ihre Hexen
eingekerkert und gefoltert wurden. Das
hatte sich, vielleicht seiner Empörung wegen, bei ihm so eingenistet, dass es
ihm wieder in der Nacht begegnete und auf seine Weise übermalte. Er stieg da
den Turm hinauf und meinte, an einer Wand im Treppenhaus ein Kruzifix zu sehen.
Es war zwar dunkel hier und nichts war richtig zu erkennen. Er beließ es doch
bei seinem ersten Eindruck. Bacher wollte sich sagen, dass sie den vom Kreuz
auch festgesetzt hätten. Wäre er mit seiner ganzen Querdenkerei
hier aufgetreten und wären sie seiner habhaft geworden. Eben wie überall,
wollte er überzeugt sein, wenn sie nach der Moral haschen und doch bloß ihre
Marotten hüten wollen. Seien diese, wie sie seien.
Dann war Bacher in einer Kammer,
wohl im dritten oder vierten Geschoss des Turmes. Er nahm auf der Ofenbank
Platz und verschnaufte. Da fühlte er es nass werden im Genick. Tropfen um
Tropfen traf im Nacken auf. Er war erstaunt, wischte und blickte dabei umher.
Er entdeckte über dem Ofen ein langes Beinkleid hängen, so eines, dachte er
noch, wie es die Frauen ganz früher hatten. Wenn sie unter ihren langen Röcken
überhaupt eines trugen. Seine Fantasie war im Nu wie verhext und flog ihm für Augenblicke
in diese weiblichen Verdecktheiten.
Als er seine Hand ansah, wollte er
erkannt haben, dass diese Feuchte von eben schieres Blut war. Ein Grausen
überkam ihn.
Da war er sofort wach und zog seine
Hand unter der Decke hervor, betrachtete sie – und schüttelte über sich und
diese Bewegung den Kopf.
Anfang Juni und bei Tag, Gedanken
wie unlösbare
Träume: Der Mensch ist eben so, er
braucht seine Bilder, dachte sich Bacher. Auch wenn er sich keine Bilder machen
soll, laut Vorgabe, die dem alten Abraham unterstellt wird.
Aber die Sache da mit dem
Schöpferwesen. Immer wieder. Eben ewig. Welches die Begründung des Alls mit all
seinem Inventar darin verursacht habe. Dann kann man doch nicht etwa eine aufs
Diesseits beschränkte Formulierung von Vater, Sohn und Geist zulassen, erregte
sich Bacher erneut. Er sann darüber
nach, ohne es eigentlich richtig zu wollen. Es kam eben immer wieder daher. So
ging er dem heute wieder etwas nach. Weil es einen ja ständig stolpern lässt,
hat man es nur unter den Teppich gekehrt.
Woher mag diese Versessenheit zur
Personalisierung und Vergegenständlichung rühren? Hat es historische Ursachen?
Die Angelegenheit mit dem Ebenbild Gottes, das der Mensch laut Bibel sein soll?
Aber dann war doch dieser Darwin gekommen mit seiner Vorstellung des ewigen
Wandels. Und das Erschrecken daraufhin über das gemutmaßte Aussehen der
Uraltvorderen!
Der Verursacher des Alls sähe aus
wie unsereiner?
Wie wer von uns und zu welcher
Zeit? Ach ja, das mit dem Ebenbild sei ja nur vergeistigt gedacht ...
Bacher schloss den Gedankengang
doch wieder – und mit einem trockenen Lachen.
Am 2. Juni hatte sich Bacher auf
Wanderschaft befunden, irgendwohin. Da war schließlich eine Ebene. Ein Stück
Wiese. Aus dem, mit dem Auge noch gut zu erreichen, ein hoher Damm steil
aufstieg. Oben gegen das Himmelsblau schnurgerade begrenzt. Es zeigte sich als
eine wie mit dem Lineal gezogene Linie, im Blickfeld von links nach rechts
verlaufend. Von irgendwoher kommend und ebenso im Ungewissen verschwindend.
Sie waren zu zweit. Er mit
Sonnenschein. Ja, sie musste es sein, nicht mehr diese Irgendeinefrau
aus seinen früheren Träumen. Sie hatte jetzt deren Platz in seinem Schlaf besetzt!
Da waren Leute zu erkennen. Zwei
fielen besonders auf. Bacher sah genauer hin. Es konnte sogar dieser massige
Mensch sein, der der Republik viele Jahre vorgestanden hatte. Bacher zweifelte,
allerdings den Augenbrauen nach konnte der Andere der in dieser Zeit
dazugehörende Finanzenhüter sein. Da war sich Bacher sicherer. Der
vermeintliche Ober gab Laute von sich. Zuerst lauter genuscheltes Geräusch. Es
wurde klarer und verdichtete sich allmählich doch zu dem Satz: Man solle
beachten, dass dieses da – er deutete auf die vorhin wahrgenommene Linie am
Horizont. Dass das da die eminent fruchtbare Magdeburger Börde zeige. Eine
Kornkammer in den erst noch zum Blühen zu bringenden Landschaften. Der immer
wieder anstoßenden Zunge und den träge gezogenen Lauten nach konnte es wirklich
dieser Mensch sein. Den sie immer wieder haben machen lassen. Da wollte auch
Bacher nun, zwar ganz unverbindlich, doch immerhin hinter dieser Linie eine
weite, verheißungsvolle Ebene vermuten.
Bacher und seine Begleiterin hatten
bald diese bis jetzt vorherrschende Szene verlassen. Sie erklommen einen Hügel.
Es handelte sich zwar um einen ziemlich steilen Anstieg, der unregelmäßige, so
wie von der Natur geschaffene Stufen nutzen ließ. Oben hielten sich auch hier
Leute auf, die sie allerdings achtlos passierten. Die beiden erreichten eine
fast zerwühlt wirkende Gartenlandschaft. Größere und kleinere steinerne Gebilde
waren auszumachen. Die einen standen fast senkrecht. Andere lagen bereits am
Boden oder würden wohl bald dorthin gelangen.
Eine Halde des Abgelegtseins,
meinte Bacher.
Sie strichen mit der Hand über die
verwitterten Gedenksteine. Das weiche, feucht-kühle Moos, mit dem diese
bekleidet waren, tat gut. Ein Kind, das dem Empfinden nach zu ihnen gehörte,
sprang beim Abstieg die Stufen hinunter. Ein fein gekleideter Herr verfolgte
dieses Treiben mit kritischen Blicken: Wenn das mal gutgeht!, stand in seinen
Zügen.
Blickweisende Politik, fruchtbare
Landschaften und schließlich kühle Grabsteine. Bacher wollte sich heute diesem
Chaos nicht stellen. Er hielt sich in Gedanken an seiner Begleiterin
Sonnenschein fest, als er zur Arbeit ging. Der Eindruck aus dem Traum hingegen,
mit einem Kind ausgestattet zu sein und die Frage nach dessen Wohlergehen,
schreckte ihn wieder aus seiner Erinnerung.
In der Nacht darauf sah Bacher es
ganz deutlich: So etwas wie ein quadratisches Schlauchboot, der Boden und die
Wulste aufgebläht. Darüber an Schnüren ein Ballon, schwebend. Alles in Rot
gehalten. Man befand sich auf oder an einer breiten Straße, die eine Wald- und
Wiesenlandschaft durchschnitt. Das Ballongebilde hob ab, Leute darin, zwei,
drei Bekannte.
Nur einige Meter über der Erde,
dann driftete das Gefährt ab. Verwunderung erst, gefolgt von Angst, die
schließlich in Entsetzen mündete. Rufe, Schreie wurden sofort daraus –
jedenfalls den aufgerissenen Mündern nach ... Da passierte es: Das Gefährt
kippte zur Seite. Eine Stimme, laut, hohl, von weit her – wie aus dem Jenseits:
"Ich habe dir doch gesagt, dass der Himmel nicht blöderweise über euch
ist, sondern ..."
Bacher hatte in seinem Schrecken,
in dem er erwachte, nicht weiter gehört, wo sich der Himmel denn eigentlich
befinde, wenn nicht über allem. Er sprang fast empor und aus dem Bett. Er
vermutete, dass das jetzt bei ihm wieder mit der Frage nach dem verlorenen
Satzteil der Marktfrau beginne. Die Rebellion seines Kreislaufs nahm er in Kauf
und stand sie durch, sich an der Wand stützend.
Am 6. Juni war es dann.
Sonnenschein besuchte Cassian heute. Er hatte den Frühstückstisch für sie beide
gedeckt und sich dabei redlich Mühe gegeben, dass er nicht singelig
dürftig erscheine. Während sie sich dann gegenübersaßen, fing er nach einigen
Bissen von seinem Brötchen an: "Ich erzähle es dir einfach so!" Sie
blickte ihn überrascht an, schwieg jedoch. Er begann, nach einem Schluck vom
Kaffee: "Eine Szenerie spielte sich mir heute Nacht am Rande einer bunten
Wiese ab. Im Obstgarten eines kleinen bäuerlichen Anwesens. Alles steckte unter
der anthrazitfarbenen Glocke eines bedeckten Himmels. Wir – ich natürlich,
ungewiss wer noch, vielleicht du, ich fühlte jedenfalls, dass ich nicht alleine
war. Wir also waren auf eine Gesellschaft gestoßen, die in schütteren Reihen an
rohen, dürftig gedeckten Tischen saß.
Die Leute redeten in kleinen Gruppen miteinander in gedämpftem Ton oder
sie saßen stumm nebeneinander und blickten umher oder starrten nur vor sich
hin. Uns Hinzutretende nahmen sie kaum zur Kenntnis. Gerade ein Aufblicken
vielleicht, ein fast unmerkliches Nicken.
Bei genauerer Betrachtung konnten
wir gewahr werden, dass in der Gruppe etwas Bewegung herrschte. Es war zu
erkennen, dass kaum jemand über längere Zeit seinen Platz behielt. Jedoch auch
diese ständige Veränderung schloss nie die Lücken in den Reihen. So war bald zu
vermuten, dass die Gesellschaft unter der Regie eines geheimen, jedenfalls
niemandem so recht bewusstem Motto stand.
Der Bauer wohl, ein jüngerer Mann,
kam herbei. Er war allen gegenwärtig, ohne allerdings ein Wort von sich geben
zu brauchen. Er stand da, ohne auch nur die Miene zu verziehen. Er war nur
stummer Beleg seiner selbst und des Anlasses, dessen Schatten doch merklich
über der Szene gedämpfter Geschäftigkeit lag.
Mir ging allmählich auf, dass wir
uns in einer Trauergesellschaft befanden. Ich wusste gleich, ohne dass mir
jemand davon berichtet hätte, dass der Sohn des Bauern sich aus unerfindlichen
Gründen in der Scheune erhängt hatte. Was aber allen die Angelegenheit noch
peinlicher erscheinen habe lassen, gab jetzt jemand in meiner Nähe von sich,
war der Umstand einer gewissen Wunderlichkeit: Sie hatten den Leichnam erst
nach mehreren Tagen entdeckt, wie er da hing, mit den Zehenspitzen sein
neues Federmäppchen
berührend."
Bacher war damit zu Ende gekommen.
Kopfschüttelnd griff er nach seiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck.
Sonnenschein meinte nach einer
Weile: "Vielleicht ist es das Gängelband, an dem unsere Kinder oder wir
alle hängen. Das sich da in deinem Traum abgebildet hatte. Die Sache könnte
allerdings noch einen anderen Sinn haben. Denn du hast sicher gehört – es ist
doch sehr erschütternd –, dass die Menschen, die so total Hand an sich legen,
immer jünger werden?"
"Ich bin gestern beim Rasieren
darauf gekommen", sinnierte Bacher. Er grinste dem nach, dass dieser Akt
bei Nassrasierern – allerdings nur bei diesen – durchaus zu Einsichten führen
könne. "Die Toten sind immer Opfer ihrer selbst, bildete ich mir ein. Vielleicht
sind sie gewissermaßen auch Opfer der eigenen Trauergemeinde, die trauern will,
also Opfer benötigt. Doch das klingt, zugegeben, reichlich abgedreht.
Jedenfalls beginnt diese Opferung bereits ganz früh im Leben. Wie dem auch sei.
Ich kam nicht mehr davon los, mir die Züge des Jungen, der sich da vom Leben
abgemeldet hatte, vorzustellen. Ein möglicherweise unsinniges Unterfangen. Aber
siehe da, der Junge wurde mir in meiner Vorstellung immer ähnlicher. Wie ich
mich von Fotografien der Firmung und solcher frühen Ereignisse in Erinnerung
habe."
Sonnenschein suchte nach Worten.
Sie wusste nicht recht, ob sie ihren Cassian trösten solle. Sie wich dem aus
und begnügte sich damit, ihn zu fragen, ob er noch Kinderbilder von sich
besitze und ob er sie ihr gelegentlich zeigen würde. Ihr Gespräch ging darauf
um dieses und jenes, bis es Zeit war, sich zu trennen.
War ihr Abschied auch herzlich, so
gingen sie doch einigermaßen nachdenklich auseinander.
Im Laufe desselben Tages fiel
Cassian Bacher ein, dass er vielleicht mit Sonnenschein über die ihn ja immer
wieder überkommende Spekulation ums Jenseitige sprechen sollte. Ging ihr
letztes Gespräch doch um diese finalen Dinge seiner Erzählung.
Eine Frau verfährt mit solchen im
Grunde nicht fassbaren Umständen möglicherweise anders. In ihrer gedanklichen Mehrschichtigkeit, die ihr neuerdings wissenschaftlich
begründet nachgesagt wird, denkt sie darüber vielleicht sogar erfolgreicher. Es
handelt sich immerhin um eine enorm weite, vor allem ja um eine unendliche
Angelegenheit. Unendlichkeit, mein Gott!
Die Sache mit der Unendlichkeit? Niemand kann sie überhaupt zu Ende
denken.
Jetzt könne er spotten, meinte
Bacher, dass deswegen die Angelegenheit bei den Frauen gut aufgehoben sei.
Feige nannte er sich.
Dass Spötter meist Feiglinge sind,
hielt er sich vor. Er sagte sich jedoch, dass er sich nicht sozusagen geistig
vom Acker machen wolle.
In der Nacht vom 7. zum 8. Juni
fand sich Bacher in einer Pestzeit – ungemein bedrohlich, wie es solchen Zeiten
eben zukommt. Vermummte Gestalten. Leichenkarren. Feuer vor den Häusern, um die
verpesteten Dünste zu tilgen.
Ein paar Bildschritte weiter hellte
alles auf. Er fand sich im Geschäftsviertel einer wohl mittleren Stadt, des
allgäuischen Kemptens etwa. Er ging in ein Kaufhaus. Dort suchte Bacher etwas.
Es dauerte eine Weile, bis er die Ursache seines Besuchs erinnerte: Ein
Ersatzteil für den Staubsauger sollte es sein. Er ging die Regale entlang. Zwei
Gestalten tauchten ihm gegenüber auf. Dunkle Typen. Sie tuschelten,
gestikulierten, blickten immer wieder umher, sich ruckartig in alle Richtungen
wendend. Räuber Hotzenplotz, kam Bacher in den Sinn, als er noch mal hinsah,
Kinderschreck, dachte er und lachte, dass ihm die Augen feucht wurden. Er
zückte das Taschentuch, nieste hinein, bevor er sich die Augen damit trocknete.
Da wandten sich die beiden ab. Ekel war in ihren Gesichtern. Sie schienen zu
befürchten, dass Bacher etwas ausschied – in Zeiten der Vogelpest jetzt.
Bacher suchte weiter und wurde
tatsächlich fündig. Da war sein Staubsauger. Er begann gleich, das defekte Teil
auszutauschen. Als er die Arbeit erledigt hatte, verließ er das Kaufhaus – ohne
das Gerät.
Draußen begegnete ihm ein kleiner
Trupp Jungen. Vier oder fünf. Einer gab zu, dass er derjenige sei, der Bacher
alles kaputtgemacht habe. Bacher stupste ihn mit dem Finger in den Bauch, als
führe er ein Florett. Der Junge sank in sich zusammen. Als er sich, aus einer
Wunde blutend, wieder erhob, lächelte er. Der Junge fragte Bacher, ob er sich den
Gartenschlauch ausleihen könne – den Bacher allerdings bereits in dem
Leiterwagen erblickte, dessen Deichsel der Junge plötzlich in der Hand hielt.
Am 10. Juni erinnerte Bacher, dass
er mit dem Boot heute Nacht auf einer Flussfahrt war. Es ging durch ein tiefes
Tal. Die Wassermassen hatten es im Laufe der Zeit in die Landschaft
geschnitten. Links und rechts waren steile Wände lockeren Materials, Kies- und
Sandschichten, gepresst. Doch alles bröckelte an den Rändern. Es schien gewiss,
dass nach und nach Massen herabstürzen würden. Tertiär, kam Bacher aus der
Schulzeit in den Sinn, Quartär ... und all die Zeiten davor, die ihm jedoch im
Vergessen blieben. Seine Gedanken wanderten dennoch weiter zurück. Er versuchte
tatsächlich, in eine Zeit zu gelangen, in der auch einmal ein Saurier die
Landschaft hier durchkreuzt haben mochte
...
Bei aller Erinnerungsarbeit tat es
sonderbar wohl, flussaufwärts, eben dem Strom entgegen zu rudern. Als schön hat
er alles empfunden. Angenehm war es, dort alles auf sich einströmen zu lassen
und aus den Wäldern und der Luft darüber die vielerlei Geräusche zu vernehmen.
Das eine und andere Vogelzwitschern hatte sich in sie gefügt. Frischer Atem.
Die Mücken tanzten dicht über dem Wasser. Ab und zu ein Plätschern. Ein Fisch hatte
nach einem Insekt geschnappt. Da flog Bacher gleich ein
Hauch Sorge an. Nämlich aus dem
Wissen um das Umschlagen des Wetters bei tief fliegendem Mückenschwarm. Weiter!
Weiterrudern und wieder in den Genuss des Umweltgeschehens eintauchen. Da! Da,
ein durchdringender Laut: Aus einem zunächst fernen Grollen wuchs ein
ungeheueres Krachen. Als Bacher seinen Blick in die Richtung des Getöses warf,
da sah er eine düstere Wand sich erheben, in rasender Eile auf ihn zukommen,
dunkel, donnernd, drohend. Wasser türmte sich vor ihm ganz in der Nähe auf,
wälzte sich, schoss den Fluss herab auf ihn zu, die Ufer ertränkend, alles mit
sich reißend ... Bacher stemmte sich in die Ruder und versuchte mit aller
Kraft, gegen diese sich heranwälzende Gewalt anzukommen. Gleich war er erfasst,
emporgeschleudert. Wie durch ein Wunder nicht überrollt und versenkt!, fuhr ihm
durch den Sinn und stärkte den Willen zum Widerstand. Auf den Fluten ganz oben
mitgetragen, lag er mit aller Kraft in den Riemen. Aufbegehrender Lebensdrang:
Tsunami!, schreckte ihm durch den Kopf. Da knackte es links und gleich darauf
rechts. Seine Ruderbewegungen gingen ins Leere. Die Ruderstangen waren
geborsten unter seiner Anstrengung gegen die ungeheure Gewalt der Fluten.
Entsetzt starrte Bacher auf die Trümmer in seinen Händen. Bald war er von den
Wassermassen an die Kante getrieben, an welcher der Fluss das Stauwehr
hinabstürzte, das donnernde Getöse bereits im Ohr. Ein Geistesblitz: Bacher
stieß den spitzen Bruchteil des Ruders, den er noch in der Faust krampfte, in
die Unterseite der Wandung des Schlauchboots. Er warf sich auf die andere
Seite. Der tosende Abgrund kam näher und näher. Er stieß auch dort das
Ruderteil in die Außenhaut. Da schoss die Luft aus den Wülsten der Bordwand und
und ... Bacher schwebte auf seinem fliegenden
Teppich. Er wurde durch den schieren Düsentrieb der entweichenden Luft
emporgetragen. Er entkam emporsteigend dem Chaos. Er konnte es bald tief unter
sich erkennen. Über den tobenden Wassermassen schwebend, immer weiter, unter
sich die brodelnden, tobenden Wassermassen, die die Ufer erbeben ließen. Sein
erhebendes Gefühl begleitete ihn nicht nur, sondern förderte wohl noch seinen
Höhenflug auf wunderbare Weise. Er wollte sich gerettet wissen. Er fühlte sich
sicher. Er wollte sein Gefährt bewegen. Dazu begann er zu blasen, wunderte sich
noch, woher er die viele Luft hatte, brachte sich ungemein wohltuend voran
... Cassian Bacher fühlte sich gut.
Plötzlich ertönte von weither aus
der Erinnerung eine Stimme, es gebe heute Erbsen, Bohnen, Linsen ...
Bacher war darüber fast erwacht,
konnte jedenfalls einigermaßen klar den dummen Spruch erkennen. Jenen, der sich
bekanntermaßen auf Magenwinde bezog.
Bacher startete mit lautem Lachen
in den Tag.
Es war noch gegen Mitte Juni. Ein
Panzer preschte, eine Staubwolke hinter sich herziehend und vor sich das
Erdreich aufwühlend, über eine weite Ebene. Menschen, getriebene, fliehende: Liefen,
stolperten, warfen sich zur Seite – wurden erfasst oder entrannen, standen,
lagen, wenn nicht zu Tode gekommen, vom Grauen gelähmt. Am Rande der Todesspur
der Vernichtungsmaschine, wie angewurzelt, die dem Morden Entkommenen. Den
Blick starr auf das fortschreitende Entsetzen gerichtet. Stille Schreie aus
offenem Mund und die aufgerissenen Augen darüber.
Diese Szene entschwand gnädig.
Bacher war jetzt bei einer Gruppe
von Jungen. Über frischen Gesichtern große Hüte. Sie befanden sich in einer
Stadt. Es war dieses schwäbische Mindelheim. Das hatte in früherer Zeit einen
hervorgebracht, der mit Landsknechten sein Kriegsgeschäft mit dem fünften Karl
betrieb. Jedenfalls hatten sie da an einer Hausecke am Marktplatz eine
mannsgroße Ritterfigur erhöht, Frundsberg. Sie gingen umher, ließen sich am
Straßenrand nieder, um eine kleine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Ein Pausenkreis
um eine Mulde im Pflaster wurde gebildet. Wenig Verkehr, eigentlich nur ein
paar Passanten. Bacher und die Jungen brachen nach einer kurzen Zeit wieder
auf. Begaben sich im Ort irgendwohin. Später gelangten sie wieder an ihren
Pausenplatz.
Wasser stand jetzt in der Mulde.
Bacher war unversehens alleine und
wollte sich setzen, um etwas von seinem Brot zu essen. Ein riesiger Hund kam
auf ihn zu: groß wie ein Kalb, helles Zottelfell. Er wollte vermutlich etwas
abhaben, wurde jedoch aus der Ferne energisch zurückbefohlen. Bacher sah, dass
da ein Mann war, der noch so ein großes Tier führte. Dann belebte sich die
Straße. Viele Menschen. Eine Fußgängerzone entstand. Jedenfalls waren da keine
Autos auszumachen. Aus dieser Menge dröhnte mit monotonem Choral eine Gruppe
hervor. Sie schlängelte sich so dahin: rote Talare mit etwas kürzeren weißen
Hemden darüber, Fahnen, Kreuze und andere Andachtsgegenstände. Das bisschen
Melodie ging in gleichförmige Wortketten über, die sich aus kaum bewegten
Lippen hervorquälten. Dann doch wieder schütterer Gesang, jetzt von einer
breiten Blasmusik geschleppt. Eine Prozession, wurde Bacher klar. Gleich
tauchte da eine noch bunter kostümierte Erscheinung auf. Wohl ein Bischof,
unter einem von vier schwarz gekleideten Männern gehaltenen Tragehimmel. Diese
Figur entwich ihrem schützenden Dach, schwang sich jäh auf, erklomm an der
Fassade hinauf ein hohes Gebäude, stand schließlich auf den Zinnen. Ihr Haupt
war nun statt der Mitra mit einer großen, schwarzen Fellmütze bekrönt. Jetzt
begann diese Erscheinung dort weit oben zu treiben. Sie wuchs zusehends,
wucherte erschreckend kolossal aus – und hob gleich an, eine Rede über die
Menschenmenge hinweg zu schwingen. So eine, die alle hören mussten, aber nicht
begreifen sollten. Dieses Gebilde beugte sich bei seinem Geschäft
gestikulierend weit nach vorne. Bacher erwartete bereits, ja sehnte das
Herabstürzen des Monsters herbei. Das Ungeheuer hielt allerdings seine Position
entgegen der Natur. Das Ungeheuer hatte sein Auge in die Ferne gewendet, war
jetzt zu erkennen. Bacher folgte den Blicken und sah dort im Dunst des
Horizonts ein großes Flugzeug kreisen. Es konnte sich jedoch durchaus um einen
riesigen Vogel gehandelt haben, der dort seine Schleifen zog. Um sich dann
vielleicht auf eine Beute herabzustürzen. Die Predigt wurde jäh abgebrochen.
Mit nur wenigen, ungemein behänden Sprüngen klomm die Gestalt die Fassade
herab. Sie sieht jetzt aus wie Santa Claus von Cocacola,
dachte Bacher in den Applaus der Menge hinein.
Dieses Bild flippte weg.
Bacher fühlte sich augenblicklich
auf der Flucht. Sie waren hinter Bacher her. Er rannte, rannte wie um sein
Leben. Es ging über ein Stoppelfeld. Sie hinter ihm her. In einem Auto. Sie
kamen näher. Er über einen Bachlauf hinweg. Auch sie hatten den Graben gleich
überwunden. Mit einem kurzen Blick nach hinten erkannte Bacher: Jetzt war einer
aus dem Fenster gelehnt, eine Waffe in der Hand. Bacher weiter, vom Horror zu
riesen Sprüngen getragen. Schon hörte er Schüsse. Kurz, trocken. Er schlug
einen Haken. Er wollte damit der Kugel ausweichen. Bei seinem Ruck zur Seite
sah er den mit der Pistole. Fliegende, helle Haare über einer mordgeilen
Fratze. Der Horror trieb Bacher voran. Hinter ihm die Schüsse aus der Knarre
des Schurken. Immer näher kam das Knallen. Bacher warf im Weiterrennen den Kopf
herum. Er erfasste die Fresse wieder für Bruchteile einer Sekunde. Jetzt meinte
er, sich an diese Visage erinnern zu können. Ein Bekannter. Der, ja der Protz
aus dem Arbeitsteam, blitzte ihm auf. Die Wut verband sich mit der Angst und
trieb Bacher weiter voran. Wieder Knallen. Da! Vor ihm tauchten Dächer auf.
Rettung? Pferde auf einer Weide. Bacher flog fast dahin und schwang sich auf
eines von den Vierbeinern. Noch die Schüsse, jetzt noch dichter hinter ihm.
Bacher schlug dem Tier die Hacken in die Flanken. Es galoppierte auf, jagte
davon. Bacher gewann Abstand. Und die Schüsse verhallten allmählich. Sie waren
in immer größerer Entfernung nur noch als sonderbares Knacksen zu vernehmen.
Erleichterung. Bacher begann, den nackten warmen Körper zu genießen, der ihn
davongetragen hatte. Erlösung. Bacher fühlte sich befreit und rundum gut. Er
ließ austraben, hielt an. Dann rutschte er von diesem braunen Fellberg herunter.
Sofort schrak er auf. War da nicht
doch wieder so ein sonderbares Knacksen gewesen. Wie das Geräusch von den in
der Entfernung abgefeuerten Schüssen?
Ach ja, Bacher hatte den Wecker
abgestellt gehabt, dass da nur dieses Einrasten vom Läutmechanismus
zu vernehmen gewesen war. Er dämmerte wieder ein wenig weg. Im Halbschlaf kam
es ihm dann, dass da doch noch dieser Höcker von seiner Flucht zwischen seinen
Schenkeln war. Er streichelte dieses Kamel – als welches er seinen Wohltäter
jetzt erinnern wollte.
Am 13. Juni war Sunny – wie er sie
jetzt auch nannte – wieder bei Cassian. Sie saßen lange beieinander, hatten
geplaudert und sich einen Film im Fernsehen angesehen. Weil es damit zu spät zu
ihrer Heimreise geworden, es ihnen allerdings ganz einfach danach war,
verbrachten sie miteinander eine – allerdings etwas unruhige – Nacht. Am Morgen begann sie, in seine Schläfrigkeit
hinein zu erzählen:
"Heute Nacht war ich eine
Nonne ..." Er lachte laut auf und war gleich hellwach. Sie warf ihm nur
einen lieben Blick zu und fuhr fort: "Eigentlich hätte ich ja eine Bäuerin
werden sollen. Wir lebten in dürftigen Verhältnissen. Die Eltern hatten für uns
sechs Kinder gerade das, wenn auch nicht immer reichliche Essen. Das heißt,
Bäuerin hätte ich nur werden können ... – Meingott,
wie weit war da mein Traum in der Zeit zurück, wohl Jahrhunderte! – Also,
Bäuerin wäre ich nur geworden, wenn mich ein Bauer geheiratet hätte. Oder ich
ihn ... – lief das in dieser Zeit überhaupt anders herum? Wahrscheinlicher wäre
ich nur zu den Bauern geschickt worden, um für das Essen, selber noch Kind, auf
Kinder aufzupassen. Um später zum Hausmenschen aufzusteigen – wie sie
Dienstmägde, die im Haus zu arbeiten hatten, nannten. Ich kann mich ganz
deutlich daran erinnern, dass ich bereits von zu Hause weggeschickt worden war.
Da kreuzten dann allerdings immer wieder Abfolgen meiner – oder ganz
allgemeiner oder welcher Herkunft auch immer – albernen Mädchenträume auf: so
wie der, dass dieses dornige Alltagseinerlei, von einem dieser zahlreichen
Märchenprinzen durchdrungen würde. Der unvermeidliche erlösende Kuss dann ...
Weiß Gott, man schämt sich ja
gelegentlich seiner Träume.
Und was war das doch für eine
einzige Nacht! Oder geistert es da aus
mehreren Nächten in mir herum?
Vielleicht war es zu einem anderen
Zeitpunkt in meiner Zeit überhaupt. Oder wenigstens der Zeit meiner Nacht.
Jedenfalls fand ich mich in ein langes Gewand gehüllt, auch mit beschleiertem Kopf. So verhüllt, dass weder unten die Beine
noch oben die Haare zu erblicken waren. Ich bewegte mich in einer Gesellschaft,
die ähnlich verhüllt war. Ich weiß jetzt nicht, war ich im Orient, wo sie
behaupten, dass es Sünde sei, wenn Frauen ihre Haare als Attribut der
Fraulichkeit zeigten? – Träume schicken einen ja überall hin und scheinen auf
die wache Logik zu pfeifen", flocht sie ein. "Ich habe immer etwas
geschleppt, fällt mir ein. Es war nicht etwa ein größerer Gegenstand. Nein, ich
kann mich nicht erinnern, überhaupt etwas in den Händen gehalten zu haben. Ich
weiß im Augenblick nur – oder ich vermute es –, dass ich mich anstrengen
musste. Es drückte mich nieder. Ich litt richtig, Schmerzen am ganzen Körper,
Atemnot. Diese Schwere im Traum war vielleicht das Leben – als nichts weniger
als solches ..."
"Der Traum als philosophisches
Unterfangen!", warf er in einem Ton ein, bei dem nicht gleich klar war, ob
er spotten wollte. "Entschuldige bitte!", sollte ihn von diesem
Verdacht befreien. Sie nickte nur und fuhr fort: "Und Männer? Nein, da
waren nirgends Männer. Oder richtige Männer. Es war beinahe zum Lachen. Diese
Gestalten hatten auch lange Gewänder an. Sie taten so, als seien sie Männer,
indem sie fester auftraten – es wenigstens versuchten ... und solche Sachen ...
Männer, ach ja, im Kopf, wo die
Männer bei den Frauen erschaffen werden, im Herzen vielleicht sogar ...
Ich weiß nicht mehr so genau. Mit
diesen nächtlichen Abläufen im Bewusstsein kann man es eben nicht richtig
wissen. Sie wollen das vermutlich gar nicht, dass sie gewusst werden. Sie
wollen auch nicht bleiben und kommen eben nur mal kurz zu Besuch und gehen dann
gleich wieder. Wie es sich für einen anständigen Besuch eben gehört ...
Ach, jetzt weiß ich es wieder!
Da kam eine so wie ich vermummte
Gestalt auf mich zu. Sie legte einen barschen Befehlston vor, als sie mir ein
Sieb reichte und mir befahl, damit Wasser in den Eimer zu schöpfen, der da
stand.
Da habe ich mich wohl in einem
Kloster befunden.
Ach, ist das nicht die Geschichte
von einer kleinen Heiligen? Wie hieß die doch gleich wieder? Ich weiß es im
Moment nicht. Das alles wurde uns ja in
der Religionsstunde erzählt
..."
Sonnenschein schwebte wohl eine
ganze Weile dieser zwar ihr noch namenlosen, doch vorgeblich himmlischen Person
hinterher. Jedenfalls war sie nach ihrem Traumausflug nicht gleich zu
erreichen. Das respektierte Bacher und machte sich davon, um sich tagtauglich
zu richten und gastgeberischen Pflichten nachzukommen.
Er hatte bald den Tisch gedeckt war
sogar verschwunden gewesen, um Brötchen zu besorgen. Sie saßen dann beisammen
und frühstückten. Danach waren selbstverständlich die Alltagsgeschäfte zu
erledigen, die sie trennten.
Zwischen die angenehmen
Erinnerungssplitter der vergangenen Nacht nistete sich bei ihm eine Frage ein:
Wäre das mit ihrem traumhaften Nonnesein nicht etwa
ein Einstieg für ein Gespräch um diese jenseitigen Dinge gewesen?
Das sollte ihn verfolgen. Er habe
die Zeit verstreichen lassen, warf sich Bacher doch tatsächlich wiederholt vor,
Sunny seine Gedanken zu verraten. Ihm sei es nicht gelungen, sich zu outen,
dass er sich mit so etwas überhaupt befasse. Dass es ihn sogar umtreibe.
Es ist allerdings irgendwie
unangenehm, redete er sich heraus. Welcher Alltagsmensch spricht denn je über
das im Grunde Unfassbare? Den Leuten ist es geradezu peinlich. So etwas gehört
in das Register des Unaussprechlichen, vielleicht sogar Undenklichen.
So also weiter im Alleingang,
bestimmte er sich. Vielleicht entsteht auf diese Weise etwas. Er sah es als
Auftrag an, den er sich selber erteilt hatte. Er bespöttelte sich sofort selber
als einen selbst-gebastelten, home-geworkten Chef. Er
packte die Sache trotzdem an: Vom All wollte Cassian Bacher heute ausgehen –
diesem unendlichen!, bestaunte er seinen Einfall selber. Doch das ließe sich an
der immerhin eifrig um Beweislichkeiten bemühten
Astronomie festmachen und erwecke nicht gleich den Eindruck des immer
schleierhaften Religiösen. Das All also. Es kam Bacher so wunderbar weit vor
und unergründlich, allen Erkundungen davonlaufend, immer weiter ins
Unergründliche, dass es vor seiner Besetzung noch gar nicht gab ... Du lieber
Himmel, stöhnte er, was für eine Vorstellung! Aber sie ist sogar irgendwie
durch die Erkenntnisse der gescheiten Sternengucker gedeckt, soweit eben ein
Laie folgen kann. Er lachte: Es ist den Nichtfachleuten also auch nur eine
Glaubensangelegenheit!
Bacher bestimmte sich schließlich
doch, jetzt bereits in gewohnter Weise, wenigstens vorerst wieder die Finger
davon zu lassen.
Ein paar Nächte später war Bacher
mit einem Anhänger unterwegs. Ein großes, ziemlich verbrauchtes Ding war es.
Eines, bei dem es vom Alter her an diesem und jenem Bauteil nicht mehr mit der TÜV-geforderten
Beschaffenheit bestellt war. Da war gleich die Polizei da! Sofort war die Kelle
oben.
Rechts raus. Die Papiere. Bacher
musste aussteigen. Ein Beamter fuhr mit Bachers Gespann davon. Ein anderer
rügte dabei wortreich den schlechten
Zustand des Gefährts. Sie blickten
hinterher – und Bacher dann auf den Polizisten. Er erkannte ihn augenblicklich.
Bacher stellte fest, dass das Vehikel ihm, dem Polizisten, gehöre und er, Bacher,
es sich doch von ihm geborgt habe.
Da gratulierte der Polizist Bacher.
Er drückte ihm eine Bassgeige, die er flink aus seiner Aktentasche
hervorgezogen hatte, in die Hand. Damit war er verschwunden.
Bacher wollte seinen Hut mit der
offenen Seite aufs Pflaster stellen und zu musizieren beginnen. Er hatte
festgestellt, dass er sich in Münchens Fußgängerzone befand und viel Volk
vorüberflanierte.
Bacher tastete – jetzt fast wach –
auf seinem Kopf nach dem Hut, merkte aber bald, dass er natürlich barhäuptig
war. Da er sich seines Traums vor sich selber schämte, kratzte er sich, wo er
eben noch nach der Kopfbedeckung gesucht hatte. So als habe er etwas Unsinniges
vor Anderen zu kaschieren.
Am 20. Juni erinnerte sich Bacher,
einen Roman gelesen, nein, doch eher nur darin herumgeblättert zu haben. Wie in
einem Katalog: Der Text hatte sich ihm in Szenen umgesetzt gehabt. Von Bild zu
Bild hüpften die Augen. Es musste die, wie sie sagen REM-Phase gewesen sein.
Der Sinn des Erblickten folgte den springenden Augen sozusagen leichtfüßig. Wie
eben Leichtsinn sonst: "Custardo zog die Nase
hoch, vielleicht ein leichter Frühjahrsschnupfen, obwohl er den Moden folgte,
war er nicht der Typ, der unter Heuschnupfen litt, das war spießig." Oder
so ähnlich hatte es in seiner Abendlektüre geheißen.
Was tut sich da alles auf?
"Mein Herz so weiß", lag
noch auf Bachers Nachttisch. Wieder so ein Gemälde. Was mochte es sein? Es
widersprach sich zunächst, wenn es einen überhaupt ansprach.
Eine Skizze, die sich widersprach!
Denn das Herz wird gemeinhin als etwas Rotes dargestellt, rügte Bacher. Weshalb
sollte er sich also auf dieses Weiß einlassen?
In gewissen Kulturen, der alten
Ägypter beispielsweise, stellte das Herz den Sitz nicht etwa nur des Fühlens,
sondern auch des Denkens dar (wenn ich richtig informiert bin, schob Bacher
sich selber nach) ... Oder sollten die Leser bei dem genannten weißen Herzen
etwa auf Reinheit schließen? Javier
Marias wollte sich diese Farbe des Organs jedenfalls auf diese Weise
vorstellen.
Ein Bild von diesem Menschen
bildete sich Bacher. Es ging allerdings sehr zaghaft voran damit. Denn da
schlich sich etwas enorm Biblisches ein: "Du sollst dir kein Bild machen
...", freilich vom Schöpfer. Aber da der Mensch sein Ebenbild sein soll
... Aufhören!, befahl sich Bacher. Denn
da erschien wieder so etwas Bildhaftes – und im Augenblick als Frage: Ist es
nicht ungebührlich, ... Wenn man die Fratze der Menschheit vor Augen hat, die
sie wenigstens zeitweise ... Was sich da eben alles auftat!
Sich von seinen Gedanken in andere
(vielleicht sogar Geistes-)Welten entführen lassen? Oder sich auf die Ebene der
Katalog-Betrachtung begeben? Mein Träumen, ereiferte sich Bacher, ein Blättern
im Katalog meiner verfallenen Wahrgenommenheiten?
Fragen über Fragen! Auch hierin
wieder eine Bildhaftigkeit: des Betrachters, respektive Fragenden, der in einer
richtungsfreien Geistigkeit zu schweben begann.
Vorausgesetzt, ich lasse mich
überhaupt darauf ein, indem ich mich dessen bewusst mache, dachte sich Bacher.
Es mochte an der neuen Brille
liegen, die sie ihm gestern ausgehändigt hatten. Die Buchstaben verschwammen an
den Rändern, bewegte er den Kopf oder auch nur die Augen.
Doch fragt denn das Nachtgeschehen
überhaupt je, ob es sich ereignen darf?, distanzierte sich Bacher von den
eigenen Einfällen.
21. Juni, Berlin. Das
Reichstagsgebäude. Jemand hatte es – Bacher meinte mit Klopapier – umwickelt.
Er widmete sich diesem unwürdigen Anblick jedoch nur flüchtig und wandte seinen
Blick gleich ab. Die Apfelbäume auf der großen Wiese vor dem Komplex waren ihm
aufgefallen – zogen ihn nachgerade mit ihrer ganzen natürlichen Versöhnlichkeit
an. Der Eindruck drängte sich ihm geradezu auf, dass er diese gärtnerische
Kultur selber begründet habe. Das befriedigte ihn ungemein, ja, es machte ihn
ein wenig stolz. Diese versöhnende Natur erhalten, gerade hier!, durchfuhr es
ihn. So begann er umgehend, die Pflanzung mit einer Gießkanne zu wässern, die
da, metallen und verbeult, gleich zur Hand war. Als er damit fast fertig war,
gewahrte er jedoch statt der Bäume Salatpflänzchen. Sie waren ordentlich in
Reih und Glied gesetzt. Ein großes Beet breitete sich da vor seinem Auge aus.
Bacher wunderte sich eigentlich gar nicht über diesen Wandel, der ja immerhin
einer erheblichen Mutation gleichkam. Er sagte sich, es könne leicht sein und
ist jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen, dass er auch dieses
sozusagen weite Feld angelegt habe. Bacher hatte gar keine Zeit, dem weiter
nachzugehen, denn er musste feststellen, dass diese zarten Gewächse dem
Verwelken nahe waren. Das ging ihm ans Herz. Natürlich hat er sich der
Pflänzchen erbarmt und hat sie begossen. Kanne um Kanne, ein wahrlich mühsames,
doch letztlich befriedigendes Geschäft.
Als er damit nahezu fertig war, marschierte eine Kompanie Soldaten, von
ihrem Tschingderassassa vorangetrieben, heran – und für so eine Formation
selbstverständlich unaufhaltsam über Bachers eben erquickte Pfleglinge hinweg.
Den Helmen nach waren es Russen. Bacher sah ihre Parade, um die es sich bei
näherem Hinsehen handelte, sofort als erforderlich an. Er stand stramm. Er
führte die Grußhand kurz zum Hutrand. Er klatschte
Beifall, nachdem er die Grußhand wieder weggeführt
hatte und entsprechend verwenden konnte.
Vergeblichkeit, Bachers Eindruck
beim Erwachen an diesem Tag. Es wollte sich einnisten und sich obendrein als
Laune festsetzen. Eine Depression?, fragte er sich. Heute haben die Menschen,
wurde festgestellt, solche gelegentlich krankhaften Niedergeschlagenheiten. Sie
haben keine bloßen, als Charaktermangel denunzierten schlechten Launen mehr!,
versuchte er, sich davon kritisch wegzubringen. Aber er habe ja die Ursache der
Vernichtung seines Werkes, den Marsch der Kolonne, als einfach gegeben
angenommen und sogar mit Beifall bedacht. Das holte ihn in seine Tiefstimmung
zurück. In diesem Zustand half es nicht, die Angelegenheit auf Formel zu
bringen und sie sich laut herzusagen: "Das ist im Leben so und hat als
normal zu gelten, dass alles Entstandene auch vergeht".
Etwas später erinnerte er die auf
den besagten Berliner Reichstag bezogene Bildmontage, die er in einer
Zeitschrift gesehen hatte. In seine sofort aufkeimende Häme hinein malte Bacher
das Bild nach. An den vier Ecken des Reichstagsgebäudes hatten die (er
erinnerte russischen) Spötter Muezzintürmchen
montiert; das Feld davor war verkahlt, worauf die Witzbolde einen kleinen Trupp
abbildeten: Einen Esel mit Holzprügeln beladen und von einer gebeugten,
orientalisch vermummten Frau mit beiden Beinen zu einer Seite beritten, umgeben
von einigen zerlumpten Gestalten.
Bacher empfand, zunächst ganz
ungeniert, eine böse Freude über diese Karikatur. Das war ihm Medizin und hob
ihn aus seiner gedrückten Stimmung. Er verstärkte sich diesen umgehend sich als
Wohlgefühl einrichtenden Zustand. Er unterlegte diese Bosheit entgegengesetzt
mit einem für den aufgeschlossenen Bürger an dieser Stelle pflichtbewusstem
Fremdschämen.
Ein toller Mix!, wunderte er sich
später, nach ausgiebigem Genuss desselben über sich. Er begoss das mit etlichen
Gläschen schärferer Flüssigkeit.
Am 26. Juni verwickelte sich Bacher
selber am helllichten Tag in ein Bündel von Fragen: Lässt mich der Traum in die
Schubfächer meines Alltags blicken?
Lässt er mich gar darin
herumkramen? Lässt er die Erfassung auch nur eines Zipfels meiner Wirklichkeit
zu?
Warum presste ich aber mein Dasein
in Fächer? Warum hätte ich mich mit einem Ausläufer des Tatsächlichen zu
begnügen?
Und wie komme ich überhaupt dazu,
dem Traum und meinem Leben solche Fragen zu stellen? Ich will doch nur meinem
All-Problem – wie ich es bereits nenne – ausweichen. Wobei ich mich schnell
damit rechtfertige, dass die Freiheit des Traums wohl gar nicht das schlechteste
Milieu ist, diesen grenzenlosen Dingen nachzuspüren. Ich schwinge mich jedoch
auf, etwas zu unternehmen. Ich stelle in all meiner Begrenztheit immer wieder
etwas fest und fixiere es in einer Art Protokoll: All-Möglichkeit und
All-Begründung drängen sich mir seit einiger Zeit begrifflich geradezu auf.
Wobei in diesen Wortgebilden nicht gar nur das astronomische All gemeint ist.
Die Dreieinigkeit, von der ich als sozusagen christlich getönter Zeitgenosse
wohl auszugehen habe, taucht da auf. Ich will sie dann im bescheidenen Rahmen
meiner geistigen Verhältnisse und Möglichkeiten zu erfassen versuchen. Sie mit
ihrer Allmöglichkeit, ihrer Allesbegründung ... Diese
in ihrer Urelternschaft dargestellt ...
Sollte ich sie vielleicht als
Allelter bezeichnen? Aber wieder: Darf ich mir denn ein Bild machen?, hieß es
ihn, es abermals sein zu lassen. Allerdings wurde das von ihm heute damit
unterlegt, dass es ihm vom Traum in dessen freier Weise einmal serviert werden
würde. So wie ihm das mit der Angelegenheit um den Tod bereits geschehen war.
Fast Ende Juni erschien da
irgendwer, seinem Gehabe nach Bedeutender. Dessen Vorsteher-Blick, der aus
einem Selbstüberzeugtsein herausschnellte, traf
Bacher, so dass sein Schlaf unruhig wurde. Bacher kannte diese Person jedoch
nicht. So handelte es sich eben um eine namenlose überbelichtete Person. Wobei
Bacher dieser Umstand der Unbenanntheit allerdings
als für diese Spezies überhaupt äußerst ungewöhnlich erschien und ihn sogleich
wieder beunruhigte. Wie dem auch sei, Bacher sollte vermutlich aus ihrer Hand
eine Urkunde erhalten, eine Auszeichnung, wenigstens eine Anerkennung, zum
Beispiel für eine lange währende Mitgliedschaft oder so etwas. Dieser Mensch
hatte Bacher seine Gabenextremität bereits, und zwar natürlich mit dem
erwarteten Blatt entgegengehalten. Bacher war selbstverständlich bereit, das
Dokument zu empfangen, mit all der wonnigen Beklommenheit, die eben einen
solchen Akt begleitet. Doch siehe da! Es kam ein Vogel geflogen und schnappte
sich das Papier. Er war bereits mit nur wenigen, allerdings äußerst kräftigen
Flügelschlägen sogar allen Blicken entschwunden. Bacher glaubte eine Zeit lang, aus der Ferne
das niedliche Kinderlied, zu vernehmen: "Kommt ein Vogerl
geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß, hat ein Zetterl
im Schnabel, von der Mutter einen Gruß ..." Es klang allerdings doch
einigermaßen merkwürdig, durch markige Stimmen eines Männerchors vorgetragen.
Mehr noch irritierte Bacher – sogar
beim Erwachen noch –, dass es sich bei der Wegnahme seiner mutmaßlichen
Würdigung um die Ungebührlichkeit einer Elster gehandelt hatte. Bacher
amüsierte sich noch darüber, dass alle diesem Rabenvogel zwar ein starkes, auf
glänzende Gegenstände gerichtetes Raubverhalten nachsagten. Dass ihn jedoch
niemand als "Vogerl" bezeichnete und ihn
gleich gar nicht als Überbringer von Botschaften besang. Trotzdem pfiff er das
Liedchen aus Kindertagen vor sich hin. Es tat ihm wohl.
29. Juni
Zwei Gestalten waren im Hintergrund
auszumachen gewesen. Lange Hemden, Bärte – richtig abgerissen sahen sie aus.
Sie mochten aus einem Altenheim ausgebüxt sein, meinte Bacher. Eine von jenen
Anstalten, die immeraktive Bedenkenträger und
daraufhin die Presse seit einiger Zeit im Visier hatten. Wo sich beispielsweise
das als nachlässig bezichtigte Personal jetzt wohl gar ersparte, die Rasur an
den Senioren vorzunehmen ...
Die beiden schienen sich in der
Wolle zu haben. Jedenfalls war heftiges Gestikulieren zu beobachten.
"Moses und Aron", hörte
es Bacher neben sich.
Bacher konnte niemand ausmachen,
glaubte der
Stimme jedoch aufs Wort. Er ging
darin noch einen
Schritt weiter, indem er annahm,
dass der Einsager
(es war eine männliche Stimme
gewesen) dieser Arnold Schönberg war. Sie hatten gerade in München dessen Oper
einschlägigen Titels aufgeführt. Jetzt erhellte es sich ihm auch. Da war diese
biblische Behauptung mit der Bilduntersagung: "Du sollst dir kein
..." und die Uneinigkeit der beiden biblischen Brüder in dieser
fundamentalen Angelegenheit.
Bacher nahm an, dass die Stimme
noch in der Nähe weilte, und fragte, ob er sich des Namens Arnold Schönberg
bedienen dürfe. Er plane, verriet er dem Einsager von vorhin, sich den beiden
doch recht bedeutenden Herren, Moses und Aron, als Arnold Schönberg
gewissermaßen ebenbürtig als ein Prophet vorzustellen (obendrein ja dann zudem
auf eine besondere Weise verwandtschaftlich verbunden). Wenn auch nur, aber
immerhin als Prophet der neuen Musik, welcher der geniale Arnold gewiss
sei.
Es wurde Bacher gestattet, ergänzt
durch die Einlassung, dass er, Arnold Schönberg, diese Identität gar nicht mehr
wirklich benütze. Denn seine Töne und Werke überhaupt sprächen ja ausreichend
und vor allem nachhaltig für ihn – oder besser für sich selber. Er setzte zu
Bachers Überraschung hinzu, dass er seine Namen-zur-Verfügung-Stellung als ein
Tauschobjekt betrachte und Bacher ganz einfach daraufhin sein dreizehnter Ton
sei. Bacher war sich jetzt gewiss, dass er es mit dem Meister der
Zwölftontechnik, diesem Schönberg, höchstpersönlich zu tun habe.
Einigermaßen verwirrt darüber, ob
er sich auf ein gutes Geschäft eingelassen habe, ging Bacher gedanklich in die
Richtung, in der er die beiden alten Streithähne zu treffen hoffte. Das mit der
Bildlosigkeit wollte Bacher von Moses genauer wissen. Vielleicht wollte er
sogar Aron ein bisschen recht geben mit seiner Behauptung, dass die Leute mit
ihrem (nach Th. Mann) Leuteverstand sich halt mit Bildern ihre Meinung zu
bilden trachteten. (Bacher hätte dann die Kurve zu bekommen versucht, indem er
dem Aron vorgehalten haben würde, dass das mit dem Goldenen Kalb, das Aron zur
Anbetung freigegeben hatte, gewiss auch wieder etwas zu weit gegangen wäre.)
"Gestatten, mein Name
...", wollte Bacher sich wichtig manchen. Da war allerdings niemand mehr
anzutreffen ...
Vielmehr war Bacher erwacht. Er
dachte sich gleich, dass diese Begegnungen heute Nacht mit seinen Tagträumen
von der Suche nach dem Oben der alten Frau zusammenhingen. Er war fast ein
wenig amüsiert darüber, was sich daraus für ihn alles entwickelt hatte. Dass
das also bereits so tief in ihm steckte und ihn sogar während seines Schlafs
verfolgte. Darauf goss er sich ein Gläschen ein.
Ende Juni hatte Sonnenschein wieder
bei Bacher vorbeigeschaut. Sie hatte mit Kindern zu tun gehabt. Sie erzählte Bacher,
dass sie sich noch gestern Abend daran erinnert habe, wie sie sich mit Freunden
in einem der heißen, trockenen Sommer der vergangenen Jahre beim Segeln und
Baden befunden habe. Die kleinen Seen seien bereits mit Algen fast ganz
überzogen gewesen. Sie wollte noch das Bild vor Augen haben, das einer ihrer
Begleiter abgab, als er aus dem Wasser stieg. Er war in seiner Behaarung am
Kopf völlig Algen-begrünt. Er habe wie ein Wassergeist ausgesehen, so einer,
wie er gelegentlich in Märchen auftauche.
Sie habe sich da etwas erträumt,
ganz wach, verstehe sich!, betonte sie. Ein kleines Geschichtchen. Da sie
dieses ihren Schulkindern erzählen wolle, solle es Bacher erst einmal hören:
"Käpten Grünbart
möchte mit seinem Segelschiff nach Afrika.
Er will große und kleine Affen
fangen. Die will er alle im Zoo in Augsburg abgeben. Dafür hätte er vom Herrn
Zoodirektor gerne was von dem vielen Gold abgekriegt. Alle Welt weiß ja, dass
der Herr Direktor neulich bei Nacht im Elefantengehege einen Schatz ausgegraben
hat. Jedenfalls hat das so in der Zeitung gestanden. Käpten Grünbart
will sich dann mit dem Gold was zum Trinken kaufen, weil er immer so viel Durst
hat. Vielleicht will er noch was anderes mit dem Gold, das dann noch bleibt,
wenn er keinen Durst mehr hat. Jedoch zunächst will er eben das – und ein wenig
liederlich leben.
Käpten Grünbart
schippert also los mit seinen ganzen Matrosen (Beulenkopf, Dünnkiff
und wie sie alle heißen, bis alle fünfe beisammen sind). Er soll allerdings diesmal sehr lange auf dem
Meer unterwegs sein. Oder eher nicht unterwegs, wie sich jeder vorstellt, dass
man sich da bewegt. Denn er steht da fast mit seinem Schiff rum auf dem Wasser.
Jedenfalls für lange Zeit immer wieder.
Oder wie man da sagen soll. Wasser,
nichts als Wasser und kein Land in Sicht. Das ist so mies, weil der Wind in
letzter Zeit so schwach bläst. Die freundlichen Delfine, die Käpten Grünbart sonst immer angeschoben hatten, wenn da mal Flaute
war, die sind zurzeit ganz wo anders, weit weg (und zwar bei einem Käpten, der
nicht immer so viel Durst hat und Alkohol trinkt, jaja).
Irgendwann kommt der Käpten Grünbart mit seinen
Jungs, Beulenkopf und den andern,
dann doch in Afrika an. Gerade rechtzeitig, denn die Jungs, besonders Dünnkiff, waren ja ganz sauer und hätten Grünbart am liebsten mal ordentlich sonst wohin getreten.
Alle sind ziemlich froh, als sie Anker werfen können. Sofort machen alle sich
fein und auf, um an Land zu gehen. Sie haben sich sogar ein wenig gewaschen.
Was sie sonst bei dem vielen Wasser um sich rum immer eher vermeiden. Doch sie
wussten ja nicht, ob sie an Land nicht jemandem begegneten. Einem der
vielleicht eine feine Nase hat und auch die dunklen Ränder am Hals bei ihnen
nicht leiden mag.
Sie setzen sich in das kleine
Ruderboot, das zu dem Segelschiff gehört. Sie rudern mit aller Kraft, die sie
noch aufbringen können bei ihrem Durst, den sie alle seit etlichen Wochen
haben.
Und sieh an!
Sie sind kaum aus ihrem
vergammelten Boot, in das durch alle Ritzen das Wasser dringt, an Land. Sie halten
gerade Ausschau, ob da nicht irgendwo einer am Strand eine Kebapbude
aufgemacht hat. Wo sie was zum Futtern und zum Schlucken kriegen könnten.
Aber zum Donnerwetter, was ist denn
da? Sie können zwar vor Hunger und Durst gar nicht mehr richtig sehen oder es
kann auch die Hitze sein, dass es ihnen vor den Augen flimmert. Doch das große
Ding da vorne nehmen sie noch irgendwie wahr.
'Das sieht ja aus wie ein Berg!',
schreit einer. 'Mensch, dieser Berg steht aber gar nicht, wie das eigentlich
ein richtiger Berg sonst macht!', gleich drauf ein anderer. Mensch, keiner kann
verstehen, dass sich das Monstrum bewegt! Es kommt noch näher und wird immer
größer – wie das eben bei großen Sachen so ist, die näher kommen. Dem Käpten Grünbart seine Jungs, Beulenkopf und Dünnkiff
und die anderen, türmen und schmeißen sich in ihr vollgesoffenes Boot. Sie
merken gar nicht, dass da bereits so viel Wasser durch die vielen Lecks
gelaufen ist, so viel Schiss haben sie. Der Käpten Grünbart
ist noch nie einer von denen gewesen, die immer alles gleich und ganz schnell
kapieren. Niemand soll ihn allerdings gleich Dumpfbacke nennen. Heute jedoch
und unter den gefährlichen Umständen, wo da so ein riesiges Ding auf ihn zu
kommt, da hakt es bei ihm im Kopf ganz aus. Er steht da und versteht gar nichts
mehr. Wenigstens für kurze Zeit ist das so. Schließlich geht ihm doch noch ein
Licht auf. Ganz schwach dämmert es ihm zunächst. Dann allerdings leuchtet es
ihm doch ein, und zwar einigermaßen deutlich: Was da auf ihn zukommt, das ist ja
ein sehr großes Tier, ein riesengroßes, ein graues supermaximal großes Tier.
Vorne ist bei dem grauen Ungeheuer so ein langes Ding dran, das jeder leicht
Rüssel nennen kann, erinnert er sich jetzt sogar. Das lange Ding baumelt jetzt
hin und her, weil das gigantische Tier richtig schnell zu rennen begonnen
hat. Na, was soll man da noch sagen?
Jeder hätte das Prachtstück, das da daher trampelt, sofort erkannt. Aber bei Grünbart hat das eben eine Weile gedauert. Als er es dann
ganz kapiert hat, dass es eben nichts mit den Affen und dem Schnaps werden
würde und dass er sich doch allmählich aus dem Staub machen müsste, denn gegen
den Riesen da, der verflixt nah ist, würde er gar nichts ausrichten können –
und mitgenommen nach Augsburg würde er, der graue Riese, ganz bestimmt nicht
werden wollen ... Lauter Quatsch von der Sorte ist da dem Grünbart
durch den Kopf gegangen, statt dass er sich schleunigst verdrückt hätte. Der
Käpten hat eben riesig Angst gehabt. Wenn er Zeit gehabt hätte, etwas
herumzuschnuppern, da hätte er auch gerochen, dass die Angst bereits ganz schön
in seiner Hose gewesen ist ...
In der ganzen Krise hört er dann
noch hinter sich, so zwischen Meer und Elefant ein Trappeln oder Trampeln oder
so ein Geräusch. Wie das näher kommt, erkennt er ja für seine Verhältnisse
ziemlich bald den Hufschlag eines Pferdes. Jetzt blitzt es in seinem sonst ja
etwas dämmerigen Kopf auf. Einen rettenden Einfall hat er sogar. Und gut, dass
der Käpten Grünbart früher kurz bei den Bauern
gearbeitet hatte, er kann nämlich reiten (was für einen Seemann so ungewöhnlich
ist, wie dass so einer schwimmen kann). Nichts wie den dicken Hintern auf das
Pferd geschwungen und weg von dem anscheinend vielleicht sogar wütenden
Elefanten. Denn dass der graue Riese so übel drauf war, leuchtet Grünbart dann auf dem Rücken des Pferdes doch ein. Weil ein
Einfall auch bei Grünbart selten allein kommt, geht
ihm noch auf, woher die Wut von dem Elefanten rühren musste. Ein Elefant ist
sehr gescheit und kann sich alles gut merken, neidete ihm Grünbart,
sogar bei seinem Wegreiten noch. Der Elefant weiß bestimmt, auch ohne die
Zeitung, was er, Käpten Grünbart, weiß: dass der
Direktor vom Zoo in Augsburg den
Brüdern und Schwestern von dem Elefanten in Afrika den Goldschatz in der Nacht
stibitzt hatte. Den Grünbart hatte der zornige
Elefant sowieso gleich durchschaut, dass der davon was abhaben wollte, um sich
Schnaps dafür kaufen und sich ein liederliches Leben zu leisten. Wer kann bei
so was schon cool bleiben, wenn den Brüdern und Schwestern was geklaut wird?
Nun ja, die Sache ist so
ausgegangen: Käpten Grünbart hat seither nicht mehr
so viel Durst. Und das ist gut so, denn er muss in Afrika bleiben, weil ihm ja
seine Jungs weggeschippert sind. In Afrika gibt es doch die Wüste mit ganz
wenig Wasser drin und noch weniger sonst was zu trinken, wo es doch mancherorts
ziemlich trocken ist.
Was aus Beulenkopf und den anderen
vom Schiff geworden ist, weiß niemand. Möglich, dass sie mit ihrem vergammelten
Boot und dem vielen Wasser drin und ihrer Angst ertrunken sind. Auch fast gut,
vielleicht bloß ein wenig brutal, jedenfalls haben sie eben keinen Durst mehr.
Auch von dem Schatz hörte niemand
mehr was. Das ist allerdings ja bei Schätzen ganz normal. Weil aber der Herr
Direktor seine Elefanten sehr gern mag und sie wirklich seine Freunde sind,
kann getrost angenommen werden, dass er denen ihren Schatz wieder zurückgegeben
und wieder verbuddelt oder davon für sie gutes Futter besorgt hat.
Was ja ganz richtig ist.
Ja, ja, sagt die Katze auf der
Fensterbank, so muss es wohl sein."
Bacher klatschte Beifall.
Eigentlich war er allerdings etwas verlegen, was er jedoch nicht weiter zu
verbergen brauchte, da Sonnenschein gleich aufbrechen musste.
Sonnenschein ist eine gute
Erzieherin, weiß Gott, meinte Bacher bei sich. Er wollte die Whiskyflasche
heute im Schrank lassen und beschloss, dies fortan häufiger zu pflegen.
1. Juli. Bacher befand sich im
Traum im Kreis von Mitarbeitern. Es hatte den Anschein, dass da allerlei
Geschäftliches gewälzt wurde, auch private Dinge klangen wohl an, bisweilen
schien sogar gescherzt worden zu sein. Da stieß eine Dame dazu und vermeldete
sonderbar fröhlich, dass der Pförtner gerade gestorben sei. Die entspannte
Runde blieb davon unbeeindruckt und fuhr in ihrem Treiben fort ...
Noch beim Aufstehen trieb Bacher
diese Mitteilung um. Diese gehobene Stimmung, die ja nicht zu dem überbrachten
Ereignis passte. Was hatte mir da mein Traum angetan?, war er ratlos. Alle
mochten den hilfsbereiten angeblich Verblichenen gut leiden, gaben sie
jedenfalls vor. Bacher fragte sich auf dem Weg zum Dienst, wie echt denn
Bezeugungen von Lob und Nettigkeit seien. Er stellte jedoch sein Bemühen um
eine Antwort auf seine Frage ein. Denn er sah den Totgesagten hinter seiner
Scheibe sitzen und freundlich grüßen. Heute suchte Bacher sogar nach einer
netten Bemerkung. Er setzte deshalb betont freundlich seine Befriedigung
darüber ab, dass der Fußballverein des Pfortenmannes endlich gewonnen habe.
Nachts darauf hielt Bacher sich
unter lauter Frauen in einem Nähsaal auf und leistete
dort verschiedene, allerdings nicht genauer sichtbar werdende Hilfsdienste. Es handelte
sich um eine sogenannte Weißnäherei, die eigentlich kein Handwerksbetrieb mehr
war – ein großer, heller Raum, in dem alle möglichen textilen Verrichtungen
stattfanden. Die Farbe Weiß dominierte.
Herr W. ein bekannter und wegen
seiner enormen Fähigkeiten sehr geschätzter Ingenieur des Maschinenbaus, kam
herein und wies ein Kissen vor. Er wollte dieses halbiert haben. Bacher erhielt
den Auftrag, in München bei der Staatsregierung für ihn um eine Beihilfe wegen
dieses Aufwandes nachzusuchen.
Verrichteter Dinge kehrte Bacher
zurück. W. war immer noch oder bereits wieder anwesend. Bacher brachte das
Ergebnis vor. Verschiedene Kritik wurde laut, die Klage des W. auch, und zwar
wegen der geringen staatlichen Ausschüttung. Das Kissen wurde bereits geteilt.
Eine Folie war sichtbar, um es einzuhüllen. Irgendwer meinte, in einem Land,
das kurz vor der Pleite stehe, hätte W. eine größere Summe in Anspruch nehmen
können. So ein Land wolle gewiss, den geldgierigen Banken zum Trotz, den
Bürgern noch ordentlich was zukommen lassen.
Beim Erwachen wunderte sich Bacher
am meisten darüber, dass sein Traum W., den er wirklich gut kannte, vom
Maschinenbau auf Textilien hatte umsteigen lassen. Da fiel ihm ein, dass er vor
ein paar Wochen bei einem Kollegen zu einem Besuch im
Krankenhaus vorbeigeschaut und sich
gewundert hatte – freilich ohne mit ihm etwa darüber zu sprechen –, wie klein
doch dessen Kopf auf dem großen Kissen gewirkt habe. Dass ihm sein Traum
offenbar daraus und anderen nicht greifbaren Fakten diese Geschichte um W.
bereiten wollte, amüsierte Bacher.
Er war sich jetzt gewiss, selber
auch ab und zu in den nächtlichen Fantastereien anderer diese und jene Rolle
gespielt zu haben. Ein etwas kindischer Stolz überkam ihn – gefolgt von dem ihn
selber überraschenden Wunsch, sich in anderer Leute Nachtzirkus als Clown zu
betätigen.
5. Juli. Bacher war dienstlich in
einer größeren Stadt unterwegs gewesen, um eine Adresse aufzusuchen. Durch
Straßen und Gassen war es gegangen. Viele Autos, Laster, Straßenbahn.
Warteschlangen an Ampeln. Gestank. Viele Menschen. Kleinere Läden, Cafés,
Kaufhäuser, vielgeschossige Wohn- und Geschäftsquartiere ...
Daraus war Bacher ein recht
lebendiges Nachterlebnis geworden. Er dachte deswegen darüber nach, ob er
Sonnenschein diesen Traum vortragen sollte, zumal sie ja darin eine gewisse
Rolle gespielt hatte. Er entschloss sich endlich dazu, es ihr sogar aufzuschreiben:
"Da war plötzlich eine Gestalt
in meiner Nähe. Sie schien sich mir anschließen zu wollen, war jedoch
wenigstens zunächst nicht direkt erkennbar oder genau auszumachen. Sonderbar,
sie schien mir doch vertraut, wenigstens dem Empfinden nach. Es schien eine
weibliche Person zu sein. Also durchquerten wir gemeinsam diesen Ort in den
Straßenschluchten. Wir gelangten an einen Werkkanal, mit dessen Wasser früher
wohl Mühlen und andere Werke angetrieben wurden. Er schien einige Meter breit
zu sein und von einer Tiefe, die mit dem Auge nicht zu ergründen war. Das
Wasser schoss in der senkrecht aufgemauerten Rinne dahin. Ein vielleicht nur
fußbreiter Saum war vorhanden – eher eine Kante vom Mauerwerk des Kanals zur
ebenfalls steinernen Umfriedung der angrenzenden Gärten. Dieser Grat wurde von
meiner stummen Begleiterin betreten: ihr Körper breitseits an die Umwallung der
Gärten gepresst; ihre Füße nur mit den Ballen Tritt fassend; beide Hände an der
Wandung tastend, gleitend. Es graute mir, sah ich von ihr auf das rasend
dahinschießende Wasser. Ich bewunderte ihren Mut. Und ich nannte sie ab jetzt
einfach S. Meine Blicke wechselten wiederholt vom gefährlich dahinbrausenden
Element zu meiner Linken zur mannshohen Umhegung mit der schmalen Kante davor.
Mein Schaudern wuchs mit jedem Wechsel. Aber S. war tapfer bereits auf halbem
Weg voraus. So sah ich mich direkt genötigt, ihr zu folgen. Ich durfte mir
jedenfalls keine Blöße geben. Ich betrat
den knappen Saum und presste mich so gut es ging, immer Halt suchend, an die
Mauer. Ein paar Meter kam ich auf diese Weise voran. Schließlich ertastete
meine Hand den oberen Abschluss der steinernen Barriere. Ein etwas niedrigerer
Abschnitt ermöglichte es mir, mich – beide Hände auf den Grat gebracht – nach
oben zu klettern. Ich erreichte die Deckschicht, konnte, da eine entsprechende
Breite gegeben war, dort oben einigermaßen sicher entlang balancieren. Ich
suchte S., wurde davon jedoch durch ein Hundegekläff abgelenkt. Ein großes,
zotteliges, falbes Vieh war zu sehen, kam auf mich zu. Ein Schrecken durchfuhr
mich. Die Bestie fletschte die Zähne, bellte geifernd, sprang empor, erreichte
fast meine Füße. Mein Tritt zur Seite, ins Leere. Beinahe Sturz in den rasenden
Strom ... Aus dem Hintergrund redete eine Stimme – nicht eben laut oder gar
erregt – auf das Tier ein, dass ich da oben ein gesitteter Mensch sei, von dem
weder eine Störung noch eine Ausfälligkeit zu befürchten sei. Das Tier ließ
allmählich von mir ab. Ein kleinerer Hund war plötzlich da, der Größe und dem
Aussehen nach war es ein Fox. Er bellte jedoch ausgesprochen freudig, als
sollte ich ihn kennen. Ich war jetzt am Ende der Mauer angelangt, stieg herab
und setzte meinen Weg fort.
S. war irgendwo und nicht zu
erblicken, jedoch dem Gefühl nach stets gegenwärtig.
Ich gelangte an einen Platz, der
von hohen Gebäuden umstanden war, gründerzeitliche etwas verschnörkelte und
auch plattfassadliche neue. Ich hatte den Eindruck,
an der Münchner Freiheit angelangt zu sein. Da trampelte eine Truppe Soldaten
auf mich zu. Bei genauerem Hinsehen waren Wehrmachtsuniformen zu erkennen. Ein
Hauptmann voran. Er sprach mich an, stellte sich als jener vor, der ganz gegen
Ende des Nazikrieges in München den Aufstand gewagt hatte. Um die Stadt vor der
Zerstörung durch die Amerikaner zu bewahren und seiner Motive noch etliche, die
er allerdings aus zeitlichen Gründen jetzt nicht aufzählen wolle. Er verriet
mir, dass er gerne in der Geschichte groß gewesen sei, wenn allerdings nur für
kurze Zeit, seinen Namen jedoch vergessen habe. Ich solle ihn einfach Meier
nennen, da es ihm doch letztlich nicht gelungen war und er sich vor den braunen
Horden nur auf eine Berghütte retten konnte. Ich versicherte ihn einerseits
meiner Bewunderung. Andererseits drückte ich ihm gegenüber meine Verwunderung aus,
da der Name Meier doch vom dicken Göring beansprucht worden war. Und zwar – wie
sicher zu erinnern – im Falle des von ihm für unmöglich gehaltenen Eindringens
feindlicher Flugzeuge in den deutschen Luftraum.
Was ja ganz gehörig – wie
gleichfalls leicht zu erinnern sei – trotzdem geschah und weswegen er, dieser
zugedröhnte Reichsmarschall, wohl ein älteres Recht auf diesen Meier habe. Er
solle als ernsthafter und wirklicher, obendrein hoch zu verehrender Held dem
kriminellen Komiker den Meier als eine seiner vielen Verkleidungen lassen.
Vielleicht könne er sich damit begnügen, dass sie diese Münchner Freiheit nach
seiner und seiner tapferen Mitkämpfer Tat benannt hatten, weil sie
behördlicherseits offenbar ebenso die Namen zu vergessen oder eben zu übersehen
gewillt waren. Mein Instinkt verriet mir, dass S. mir gegenüber trotz ihrer
Entfernung zu mir bei meinem Disput so etwas wie eine Missbilligung zum
Ausdruck gebracht hatte. Weswegen sie das tat, müsste ich mir
jedoch selber ausdenken, denn sie
war entschwunden ..."
Natürlich war Sonnenschein
überrascht, als sie das Papier ausgehändigt bekam. Sie las es, während er den
Kaffee zubereitete.
Zu ihrem "ganz nett"
setzte sie noch hinzu, dass sie gar nicht gewusst habe, wie tapfer und
geschickt sie im Grunde sei. "In meiner Einschätzung!", setzte Bacher
hinzu und steigerte mit dem Bekenntnis: "In meinem Herzen!"
Dafür hatte sich Cassian eine
ziemlich breite Palette von Zärtlichkeiten eingehandelt, mit denen dann der Tag
ausklang.
Am 10. Juli war Bacher Zeuge eines
"nächtlichen"
Wechsels in der Chefetage. Alle
Mitarbeiter waren (gemäß Auftrag und andererseits, wie es sich nun mal gehörte)
zusammengekommen und hatten in Hufeisenform Platz genommen. Geschwätzige
Erwartung herrschte.
Da erschien eine junge Frau, die sich
als die neue
Besetzung der Stelle vorstellte.
Keine besondere Regung löste das aus, nur etwas Beifall, der jedoch nur auf die
Tischplatte geklopft wurde. Es oblag
Bacher, eine Begrüßungsrede zu halten.
Er bewegte sich von seinem Platz
weg und zur Wand hin, an die er sich dann lässig lehnte. Zwar begann er –
allerdings lautlos – zu reden, indem er den Inhalt für sich behielt. Wie Bacher
bald deutlich sehen konnte, erwartete niemand im Raum Geräusche oder gar eine
Aussage von ihm. Ausgesprochen erfreulich für Bacher war, dass ihm aus so
manchem Auge dankbare Blicke zuflogen. Das geschah in einer Art, die gerade
noch für ihn bemerkbar und so verhalten war, dass es sonst niemand im
Kollegenkreis erkannte.
Die Neue erhob sich und schwieg
ihrerseits in die Runde. Als sich alle Blicke ihr zugewandt hatten und niemand
mehr Bacher zu beachten schien, suchte er seinen Platz auf und stimmte in das
allgemeine Schweigen ein.
Bacher wollte später, anscheinend
im Halbschlaf, die Regie über die Fortsetzung dieses Nachttheaters gewinnen und
den Faden in seinem Dämmer weiterspinnen: Er ließe diese Frau bei sich
erscheinen, schick gekleidet, apart aufgemacht. Sie sollte ihn zuhause
aufsuchen. Sie hätte vorzugeben, seine Leistungen bewerten zu wollen, da man
heute verbreitet Homebanking betreibe. Bacher läge freilich noch im Bett. Sie
hätte zu beteuern, dass sie dies nicht störte. Sie sollte keine Bedenken haben,
sich zu ihm und unter die Bettdecke zu begeben. Bacher wollte ihr erklären,
dass er in diesem Fall leider darauf zu bestehen hätte, dass sie sich
entkleidete. Dies wäre aus Gründen der Wohlerzogenheit erforderlich, würde er
beteuern, weil man sich, wie allgemein bekannt, nicht mit der Tagesgarderobe
aufs Schlaflager begäbe.
Es sollte Bacher eine äußerst
wohlgeformte Gestalt unter dem Kostüm hervor kommen ... An dieser Stelle vernebelten sich allerdings
seine Bilder immer mehr. Ein tieferer Schlaf entzog ihm diese verheißungsvollen
Gespinste.
Mit den Weckgeräuschen war dann
sofort die Erinnerung an dieses Schlaftheater da. So etwas wie ein wenig
Enttäuschung wollte aufkommen, da die Vorstellung an einem interessant zu
werdenden Punkt abgebrochen war. Etwa die wahre Befriedigung im befreienden
Schlaf. Er machte sich dann vor, wie es wohl sein würde, wenn er so eine
sinnliche Visitation von Sonnenschein über sich ergehen ließe. Seine
Schwärmerei entführte ihn – unterbrochen von Politik, Klatsch und
Sportereignissen bei der Zeitungslektüre – in Gefilde, die für den Beginn eines
Arbeitstages eigentlich ziemlich ungewöhnlich, vielleicht sogar diesem
abträglich waren. Als er jedoch kurz an die eigentliche weibliche Erscheinung,
eben die seines Traumes dachte, erschrak er. Es war ihm sofort aufgegangen,
dass Sonnenschein ihm, hätte er ihr den Traum erzählt, wohl erklären würde,
dass es sich dabei um reine Männerfantasien gehandelt habe, die da an ihm
vorbeigeflimmert waren. Und dass sich eine Frau eigentlich davor hüten solle,
einer Männergesellschaft vorstehen zu wollen. Da sie dauernd mit den Augen
entkleidet werden würde und für sonst was als Vorlage diente. Der einzige
Schutz davor wäre womöglich nur eine betonte Unansehnlichkeit als
Frau.
Am 12. Juli hatte Bacher erneut
über das Gute nachgedacht. Natürlich war der Einstieg dazu wieder durch die
gute alte Frau gegeben. Er war dem nie richtig ausgewichen, denn es könne nicht
schaden, meint er, auch solche Felder zu bestellen. Nur wurde Bacher natürlich
durch die üblichen Tagesgeschäfte ständig davon abgelenkt.
Ein wenig war er allerdings
vorangekommen. Bacher hatte Anleihe bei irgendwann Gehört- oder Gelesenem
genommen: Es, das Gute, habe keine allgemeine Inhaltlichkeit,
war dort behauptet worden. Sondern es stelle eine Position dar, für die sich
einer im Rahmen einer immer gruppenspezifischen – welch toller Wortakt!, ging sich Bacher selber dazwischen – Umschreibung
entscheiden und damit das Verworfene, als böse Bezeichnete, ausschließen könne.
Diese Meinung wollte Bacher bereitwillig teilen.
So weit also war er gekommen, und
zwar bis zur Zeit des Zu-Bette-Gehens. Damit sollte es sein Bewenden haben,
sprich, für heute genug sein. Er schlief zufrieden ein.
Ein Trommelbub begegnete Bacher
dann im Schlaf.
Es konnte leicht Grass' Oskar
Matzerath gewesen sein.
Aber nein. Bacher erkannte, dass
der Junge eine echte Trommel hatte, keine Blechtrommel. Es war sogar eine, wie H.'s Trommelbuben sie hatten und sich damit im Marschtritt
durch die Straßen bewegten. Als künftige Bannerträger der Bewegung, wie sie
ihren Spuk zu nennen pflegten. Wenigstens hatte man es aus den Filmen zu
wissen, die sie einem immer wieder im Fernsehen zeigen.
Dieser Knabe sprach sogar zu
Bacher, dass es so viele Wege zu Gott gebe, wie Menschen existierten. Bacher
war erschrocken, da der Junge bei diesen Worten wuchs und bald auch im Ornat
eines kirchlichen Würdenträgers erschien: Dass er eine knöchellange schwarze Soutane
anbekam und von gestaltlosen Händen zugeknöpft erhielt. Ein Kleid, das dann
sonderbar ins Kardinalpurpur wechselte und plötzlich im vatikanisch
höchstamtlichen Weiß erschien. Dieser eigentümlich Gewandelte lächelte Bacher
sofort gütig zu und vollführte sein Segenszeichen ins Leere. Bacher mochte vor
Staunen über dieses Verwandlungswunder in eine Starre verfallen sein.
Jedenfalls war er nicht imstande, das Kreuzzeichen an sich nachzuvollziehen,
wie es eigentlich erforderlich gewesen wäre. Vielleicht war dann einige Zeit vergangen.
Wieder stand so ein Knabe mit einer
großen
Trommel wie vorhin da. Bacher
suchte in dessen
Zügen den möglicherweise wieder
geschrumpften Zeichengeber zu erkennen. Dieser Knabe fragte
Bacher, ob es so viele Wege zu Gott
gebe, wie Menschen existierten? Bacher wollte etwas entgegnen, was er
allerdings gar nicht wusste. Gottlob lärmte sich das Nachtgeschöpf bereits mit
seinem Instrument davon – das jetzt allerdings den Klang von Bachers Wecker
hatte.
Es war sonderbar, beim Erwachen war
Bacher sich nicht gewiss, ob er eine Antwort auf des Knaben Wunderworte
überhaupt gewusst hätte. Wichtiger erschien ihm jedoch, darüber nachzudenken,
wo und von wem er diese im Grunde ja gar nicht so unrechten Worte denn vor
diesem Traum bereits gehört haben mochte.
Die Nacht des 14. Juli bescherte
Bacher (S. war in seiner Begleitung) den Besuch eines Kabaretts. Ein Biergarten
an einer Straße war da zunächst. Ein sommerlicher Abend mit der nur spärlich
durch das Licht von Tischkerzen gebrochenen Dunkelheit. Auf einer Bühne buhlten
dann drei Komiker um das Lachen der Zuschauer.
Endlich kam die letzte Szene: Die
Spaßmacher saßen auf Stühlen und flachsten herum. Die letzte Pointe lief auf
"three Titts"
hinaus. Beide Witzbolde von den Außenseiten zupfen dem in der Mitte im
Brustbereich am Hemd herum, so dass drei Hügelchen
entstanden. Das war es dann auch. Erst nach einer Pause Wartens auf vielleicht
noch etwas zu der Szene Gehörendes kam der dünne Applaus. Bacher und seine
Begleiterin saßen noch eine Weile. Da erschien dieses frisch vermählte Paar,
Bacher bekannte Personen, das ihnen anscheinend auf stumme Weise angekündigt
worden war. Bacher eilte auf die beiden zu, umarmte seine Schwester, als welche
Bacher sie ausgemacht hatte, und nannte den Mann, von einem herzlichen
Händedruck begleitet, Schwager.
Aufbruch irgendwohin, nur weg von
da. Sie besaßen so ein Auto, das hinten eine offene Ladefläche hatte, einen
Pick-up, den sie auf dem nächsten Parkplatz abgestellt hatten. S. holte ihn
jetzt. Die anderen waren die Straße entlang gegangen, die vermutlich zu diesem
Irgendwohin führte. S. würde sie auflesen. Allerdings waren sie vermutlich in
der falschen Richtung unterwegs. Jedenfalls musste S. auf der Straße wenden.
Sie geriet über die Bankette hinaus. Das Fahrzeug kippte und überschlug sich
etliche Male die steile Böschung hinab. Schrecken. Aber S. krabbelte heil unter
dem havarierten Fahrzeug hervor. Lachend stellten sie das Auto wieder auf seine
vier Räder, und weiter ging es ...
Als Bacher die Augen aufschlug, war
die nächtliche Gruppe noch nicht am Ziel angelangt gewesen. So wusste Bacher
nicht, wo es eigentlich hingehen hätte sollen.
Es gibt eben solche Tage, an denen
einem der erste
Morgenschimmer bereits ratlos sein
lässt, leistete Bacher sich deswegen. Vielleicht rührte es von diesen mageren
Spaßvögeln aus seinem Traum. Jedenfalls erinnerte er sich seines Wunsches, den
er sich neulich eingestanden hatte, ein Clown zu sein. Gleich flog ihn die
Vermutung an, dass dies ja längst in Erfüllung gegangen sei – in seinen Träumen
zum Ausdruck gebracht. Es schauderte ihm vor Wonne.
Am 15. Juli bot Sonnenschein Bacher
etwas an, das sie in einem Roman gelesen hatte und das ihr wie eine
Traumerzählung vorgekommen war. Cassian war darauf gespannt. Sie begann gleich
zu lesen: "Ich saß auf der Bank vor einem Häuschen und blinzelte in die
Sonne. Da fiel ein Schatten auf mich. Ich blickte auf, konnte nicht gleich
etwas erkennen. So schloss ich die Augen wieder und harrte der Dinge, die da
wohl kommen würden. Da tönte dieser Schatten und begann vorzutragen: Ich bin
ein Clown. Aber ich will gleich darstellen, was für einer ich bin. Die Leute
lachen, wenn sie lachen ... – man stelle sich vor, nicht einmal dessen bin ich
mir ganz sicher. Es scheint schlimm zu sein, wenn man sich keiner Sache sicher
ist! Aber, wie gesagt, es scheint nur so, denn genau das ist mein Wesen und es
gehört also zu mir. Wenn ich dessen nicht inne wäre, könnte ich nach meinen
vielen Niederlagen, die auch meines Wesens sind, nicht mehr antreten. Die Leute
lachen also nicht unbedingt. Aber wenn, dann lachen sie überhaupt nicht über
meine Witze. Die gar nicht so sicher als solche abgesetzt worden sind. Sondern
die sich einfach aus meiner Wesensart ergeben. So bin ich überzeugt, dass mir
mein durchaus vorhanden gewesener Witz mit jeder seiner Äußerungen
abhandengekommen ist. Das wiederum in der radikalen Weise, dass er mir erst gar
nicht so recht eigentlich bewusst geworden war.
Die Leute lachen, wenn sie lachen,
über mich, über mich als Figur. Und wenn ich mich dessen überhaupt bedienen
darf: Sie lachen sozusagen über mich als sogenanntes Gesamtkunstwerk. So lege
ich besonderen Wert auf die Figur, weil ich ja das Lachen der Leute benötige,
um überhaupt zu sein. Wer sich seines Witzes für nicht teilhaftig erklärt, der
kann sich allerdings auch gleich von allen guten Geistern abmelden und
verlassen fühlen. Der Mensch ist ja so unglaublich schnell tot, lange bevor er
richtig lebt.
Um am Leben zu bleiben, macht es
keinen Sinn, sich seiner Abstammung zu erinnern. Das wäre nur ein schwacher
Trost und gerade so viel wert wie eine Grabrede. Die gute Gestalt des Satyrs
reizt mich verbürgerlichte, offen anständige Figur gar nicht mehr. Denn warum
sollte ich mir die Last der vielen Nymphen aufbürden?
Warum, zum anderen, sollte ich den
Bauerntölpel der Römer abgeben? Lieber noch sähe ich mich als den Burschen aus
Bergamo, als Harlekin. Aber wie ich hörte, ist der vom Teufel zum Spaßmacher heruntergemacht
worden. Das sehe ich eben auch wieder als eine unerträgliche Selbstbescheidung
an. Das gesammelte Zappeln der Commedia dell`Arte? Aber vielleicht benötigen
die Leute dieses Lachen über meine natürliche geistige Gestalt. Jede Zeit
findet ihr eigenes Gelächter in ihren eigenen wunderlichen Figuren. Jede Zeit
behauptet ihre Normen, indem sie die Abweichung davon markiert. Wo sie zurzeit
doch weit unter der Gürtellinie sind. Da wäre zu fordern, dass alle sich um
eine lautverschämte Art einer pausbackigen Unmoralität zu bemühen haben. Derer
sich hingegen jeder schämt in seiner verzwirbelten
Keuschheitsvermutung. Das Lachen meiner Zeit trifft mich, wenn schon, dann
frontal, prallt an mir ab und erreicht die Lacher dann als Echo. Das ist gewiss
ökonomisch und weist doch darauf hin, dass es sich lohnt, über mich seinen
Spott, vielleicht seine Heiterkeit erschallen zu lassen. Ich selbst lache
selten, wenn ich doch einmal lache, dann aus einem einzigen Grund – den ich
dann allerdings gar nicht kenne.
Offen gestanden: Ich kann mich gar
nicht richtig leben. Das ist mir immer gewisser geworden. Ich bin sozusagen
mein eigener Embryo, der zu reifen vergessen hat. Das beweise ich mir immer
dadurch, dass ich, obwohl ich mich stets genauer Beobachtung befleißige, die
für meine Existenz notwendige Überlegenheit der Lacher mir gegenüber nicht
entdecken kann. Und dass ich den Kampf also aus Gründen der Fairness gar nicht
zu beginnen gewillt, sondern dazu gezwungen bin. Ich überlasse den ersten
Angriff allerdings immer den Anderen, den Starken, Normalen – den Lachern eben.
Da ihnen ihre Heiterkeit als Instrument die dichteste Grenze zur
Unangefochtenheit ihrer Seriosität ist.
Aber vielleicht ist es nur das: Ich nehme jedem Lacher meine Rolle ab
und habe außerdem schon lange meinen Namen vergessen.
Dasselbe mit meinem Gesicht: Unter
meiner Maske, die meine Person zu repräsentieren scheint, ist ja im Grunde
etwas ganz Intimes. Dessen ich mich nur noch als etwas möglicherweise
Vorhandenes und somit nur ausgesprochen Schemenhaftes erinnere. Auch würde ich
gewiss erschrecken, wenn mir da – besonders, wenn es unvorbereitet geschähe –
aus einem Spiegel mein Passbild entgegenschlüge. Dem sie heutzutage obendrein
auch noch das leiseste Grinsen verbieten.
So fahnde ich der Form halber
weiter nach mir. Und dies hauptsächlich an meinen Grenzen. Mich stört nur an
der ganzen Angelegenheit, deren Notwendigkeit ich weiß Gott nicht im
Entferntesten bezweifle, dass dieses Vorgehen nur zu bewerkstelligen zu sein
scheint, wenn ich von den immerhin vielfältigen Gestalten meiner selbst – man
denke nur! – eine Verbrecherkartei anlegte. Und zwar diese mit lauter
Gesichtern und Mutmaßlichkeiten meiner selbst. Wo
würde sich dann allerdings das Gericht finden, das mir meine Unschuld
beweist?"
"Ich musste am Ende darüber
eingenickt sein", bekannte Sonnenschein. "Als mir das Buch aus der
Hand auf den Boden fiel, erwachte ich wieder. Ich war da allerdings nicht
gleich ganz da. Dieser Clown zappelte noch vor mir herum – oder bildete ich mir
das nur ein? –, gönnte mir Sonne, warf seinen Schatten.
Ich hielt die Augen geschlossen und
tagträumte jetzt sozusagen noch ein wenig meiner Lektüre nach. Denn ich
wünschte mir, eine lustige Gestalt mit rotem Haarkranz um die nackte Kopfhaut,
Knollennase, Weißgesicht und Riesenrotmund. Ich war jedoch erstaunt darüber,
mir nur einen von der Sonne erhellten Irgendwer erschaffen zu können. Einen,
wie er mir überall begegnen könnte als Familienvater oder als potenzieller Freitodler oder Lotteriegewinner oder in sonst einer
Berufung. Vor mir stand eben so ein Mensch, wie der Alltag ihn mit seiner
starken Hand unerbittlich formt. Ja, ich
war überzeugt, meinen lieben Cassian zu erblicken! – Bitte, sieh es mir nach! –
Freilich, das war es! Und ich freute mich darüber. Du hattest mir doch neulich
verraten, dass du Sympathie hast fürs Clowndasein!
Setz dich neben mich, forderte ich
meine Erscheinung auf. Da du halt mal da bist, so bleibe eben. Und noch eines:
Wenn du dich in diesem Aufzug und in dieser Verfassung selber verfolgst,
erwischst du dich nie. Wenn du gestattest: Du hast dich mit dir selber
getarnt."
"Ach, Sonnenschein",
stöhnte Cassian, "was hast du da alles in deine Worte gepackt! Doch den
Schuh ziehe ich mir an", lachte er, "weil du ihn mir hingestellt hast."
"Das ist ja recht brav!",
quittierte sie etwas schul-
meisterlich.
"Wenn ich dem ein wenig
folge", fuhr er fort, "so leuchtet mir ein, dass es sich hinter einer
Maske sehr sicher – wenn auch nicht immer bequem – leben lässt. Wie ein Ritter
in seiner Rüstung. Ritter des Alltags vielleicht. Es hat eben seinen Grund,
weshalb man sich so zurückzieht. Wobei mir gerade klar wird, dass das von mir
eben verwendete
Man geradewegs wieder so eine Maske
ist."
Es war wieder Zeit, sich zu
verabschieden.
Als Bacher die Toilette aufsuchte,
blickte er beim Händewaschen etwas länger auf sein Spiegelbild, in dem er den
Clown suchte.
20. Juli
Eine Gestalt spukte in einem
langen, dunklen Gang in Bachers Nachtgesicht – und auf ihn zu. Von Weitem schon
glaubte Bacher, dieses Gespenst zu erkennen. Es war mittelgroß und etwas
untersetzt. Besonders der leicht federnde Gang kam ihm sofort bekannt vor. Es
war sicher Gummi, wie sie den Mathepauker genannt hatten.
Näherkommend, bedeutete ihm diese
Erscheinung doch tatsächlich, Lope de Vega zu sein. Bacher war enttäuscht,
dachte jedoch sofort nach, wo dieser Name einzuordnen wäre und ob Gummi sich
vielleicht wieder einen neuen Spitznamen zugezogen hatte. Da wurde Bacher von
dem Schemen etwas bewusst gemacht, und zwar von Hunderten von Schauspielen, die
aus seiner Feder geflossen sein sollen. Von denen allerdings die meisten nicht
mehr auffindbar seien. Dieser
Umstand, der zwar für Kunst als völlig normal gelte, beflügle ihn jedenfalls,
immer wieder seinen verlorenen Werken nachzuspielen. Und so eben dieses Stück
hier aufzuführen. Um eingangs Benannten wirklich gerecht zu werden, weil
gewisse Namen immerhin Verpflichtung bedeuteten. Obendrein sei das die
umweltfreundlichste Art, etwas zu produzieren und der Pflicht als Urheber
nachzukommen, auch für die Beseitigung dessen Sorge zu tragen: Diese seine Art
des nur vorgeführten Produktes fördere das beliebte allgemeine Vergessen äußerst
zuverlässig. Jetzt ging Bacher ein Licht auf. Er erinnerte prompt den Schalk in
diesem Rechnerkopf. Diese furztrockenen Mathematikerwitze.
Gummi hatte immer geglaubt, nach der Darbietung seiner Witze, in das
verständnislose Schweigen seiner Zuhörer hinein sie als solche zu bezeichnen
und erklären zu sollen. Gummi-Lope gab
gleich etwas von seinen vielen Frauenhändeln zu verstehen, wie sie es damals,
zu seinen, den Zeiten des Vegas genannt hatten. Etwa wenn ein Kavalier sich
promiskuitiv gab wie etwa der von Mozart zum Klingen gebrachte Don Giovanni.
Aber, beteuerte Lope wiederholt, er habe später dem Genuss des anderen
Geschlechtes entsagt und schließlich als Priester sich ein wenig der Keuschheit
befleißigt.
Bacher trieb am Morgen das Spiel
mit den Gedanken, dass Gummi – im Übrigen ebenfalls längst hinüber – vielleicht
wirklich die Wiedergeburt des Lope gewesen sein könnte. So begriff Bacher Gummi's Darstellung, so viele Stücke verfasst zu haben.
Bacher meinte, verstehen zu können, dass sich ihm deshalb die von Gummi
gestellten Mathematikaufgaben, die somit eigentlich als lauter kleine
Theaterstücke, als Sketche vielleicht, gedacht gewesen waren, so selten,
eigentlich häufig gar nicht erschlossen hatten.
Tagsüber drängte es sich Bacher
dann doch auf, sein gewesenes Schülerdasein als Posse zu begreifen. Dieses
dauernde Inhaltewälzen, um abzugleichen und
irgendwelche Bestätigungen zu produzieren, passte so richtig zu seiner
alltäglichen Arbeit hier.
21. Juli
Es war ihm der reine Horror in
dieser Nacht: Bacher rannte durch einen schier endlosen Stollen. Es konnte
sein, dass da etwas hindurchgeleitet worden war. Güllig
riechender Morast war zu seinen Füßen. Es tropfte ekelig von Decke und
Wänden. Krämpfe im Leib, und hinter ihm
her zwei Weißkittel, die irgendwelches Schlauchwerk in Händen hielten, mit dem
sie herumfuchtelten. Bacher ahnte, sie wollten in sein Gekröse, und es liefe
alles auf eine tiefgreifende In-Augenschein-Nahme
dessen hinaus. Bacher rannte und rannte und schrie etwas dabei, ohne Laute von
sich zu geben. Es konnte immerhin die Beteuerung haben, dass er noch ein wenig
sein Innenleben geheim halten wolle. Dass er sogar jedes Recht dazu besäße,
verknüpft mit der verdammten Pflicht zu einer Selbster-
und Geheimhaltung. Die Verfolger gaben nicht auf. Bacher hörte von ihnen keine
Entgegnung. Er fühlte jedoch ihre Belehrung, dass diese Innenschau
außerordentlich lebenswichtig und gewissermaßen auch -erhaltend sogar für beide
Seiten sei und das obendrein zum selben Preis.
Erwachen, schweißgebadet. Bacher
nahm sich allerdings vor, das Problem der Innenschau doch gelegentlich mit dem
Hausarzt zu diskutieren.
Am 22. Juli gönnte sich Bacher
einen Abstecher zwischen den Träumen: Feeling, eine aufs Überleben reduzierte
und an den Rand des Seins verlagerte Existenzbestrebung, war ihm neulich –
etwas üppig, wie er sich eingestand – in den Sinn gekommen. Bacher hatte so vor
sich hingedöst. Er sträubte sich gar nicht gegen den Eindruck, dass es sich
dabei um so etwas wie ein Hirngespinst gehandelt haben konnte.
Man muss doch seine eigenen
Geschichten haben, war ihm wieder klar. Diese Info-Storys von außen leeren
einen aus, obwohl dieses Hereindrängende zu behaupten scheint, es fülle aus.
Vertraue eher, empfahl Bacher sich jetzt, auf so etwas wie das aus deinem
nächtlichen Untergrund.
Da ist das tiefe Loch. Angenommen
natürlich. Man hält sich am Ufer auf. Der Boden unter den Füßen des Lebens ist
einem immerhin etwas Gewisses und ziemlich Zuverlässiges. Und wer soll es
jemandem verdenken, wenn er dieses sein Ufer allmählich paradiesiert?
Das ist echtes Feeling. Dieses Begnügen mit den immerhin auch noch sehr
schwierigen Machbarkeiten, woraus etwas Greifbares werden soll.
Jene, gerade jene, die eine Legende
als liebenswürdigen Unsinn abtun, jedoch unbesehen jeden Eid auf ihren
angeblich autonomen Realismus zu leisten bereit sind. Sie beziehen ihr Weltbild
als abgetretenen Flickenteppich aus irgendwelchen Redaktionen der Presse, des
Rundfunks, insbesondere des Fernsehens – o ja, dieses!
Siehe die Schotten!, predigte sich
Bacher, sie hocken am Ufer, saufen ihren vorzüglichen Whisky und ableugnen
nicht, dass in Loch Ness ein Ungeheuer hause. Was für einen ungeheuren Spaß
türmen die Wogen des Weltinteresses an dem Ding auf. Wie viele aufregende,
mitunter aufwändige Unternehmungen zur Aufdeckung des mutmaßlichen Geheimnisses
dieses magischen Loches liefen bereits ab!
Nicht auszudenken, welche Aufregung
entstünde, gäbe es auch nur einen Anschein von wirklicher Existenz davon. Oh.
Alles ans Licht zerren, aufdecken, entblößen – blöde gaffende, glotzende
Öffentlichkeit herstellen – und Einschaltquoten – und jedes Märchen zertrampeln
wie eine Blumenwiese, die zum Parkplatz verkommt. Ich bin mir jedoch ganz
sicher, betonte sich Bacher, dass sich das Magische mit großem Erfolg dem
Technischen zu entziehen vermag.
In Erwartung neuer Mitteilungen
sein, die ja nicht gerade gleich als Botschaften zu firmieren brauchen.
Er wollte dann allerdings von
derlei Gedankenspielen ab- und sie doch eher nächtlichen Eingebungen
überlassen. Er gönnte sich wieder einmal ein paar Schlucke von dem zitierten
vorzüglichen Whisky schottischer Art. Von dem er längere Zeit nicht mehr
gekostet hatte.
25. Juli
Bacher erzählte heute Sonnenschein,
die zum Morgenkaffee mit einer Tüte Semmeln erschienen war, was er in der
vergangenen Nacht geplant, sozusagen in ihm traumlich
inszeniert worden war: "Ich werde in See stechen, war es mir heute
Nacht. Hinter der Mole, auf einer
weiten, in unendliches lichtes Grau verlaufenden Fläche standen Menschen,
einzeln oder in kleinen Gruppen, schwarz, wie lauter kleine dunkle Pfähle,
unbeweglich, starr und anscheinend unbeteiligt. Von Casablanca aus sollte meine
Reise gehen, meinte ich zu verstehen. Aber da waren gar keine weißen Häuser
auszumachen.
Ich ließ mich allerdings nicht
irritieren, sondern nahm ein weiteres Geheiß an: In einem Schlauchboot mit
Paddel und Segel sollte ich den Ozean überqueren.
Sofort sah ich mein Gefährt. Das
Schlauchboot war gelb, sein Boden blau, so entstand in Momenten der nicht ganz
ungefährliche, da zur Unachtsamkeit verleitende verniedlichende Eindruck von
einem Swimmingpool.
Einige Menschen, darunter eine
verschleierte Dame, bemühten sich um mich von der Kaimauer herab. Proviant
wurde gereicht und gute Ratschläge erteilt. Ich machte mir Mut und stellte die
wenigen Anteilnehmenden zufrieden, indem ich irgendwelche Gemeinplätze
absonderte, die zwar so hohl waren, wie es ihnen auch immer zustand, doch die
Leute am Ende freundlich dreinschauen ließen.
Schließlich war eine weitere Dame
eingetroffen.
Sie würde meine Gefährtin sein, war
mir auch ohne Erklärung gewiss. Sie würde mit mir allen Erfolg haben, billigte
ich ihr sofort zu – oder sie würde mit mir leiden und untergehen ...
Sie war äußerst behutsam, stellte
ich fest, an dem wie sie herabstieg und wie sie die mitgebrachten Utensilien
verstaute. Sie ließ sich hingegen nicht im Boot nieder. Sie schwebte irgendwo
über mir und bald über dem Ganzen und strahlte Trost spendend in das Dunkel
meiner immerhin vorhandenen Furcht.
Ich werde sie während des
Abenteuers ständig in meiner Nähe wissen, war ich mir sicher. Sie wird hingegen
nie Platz in Anspruch nehmen. Sie wird mir Engel, vielleicht sogar Schutzgeist
sein. Ich hatte abgelegt und war bald zu zweit allein in der Wasserwüste.
Tage und Nächte kamen und
schwanden. Wir waren allen Gefahren ausgesetzt. Sie schauderte mit mir auf dem
Wellenkamm, durchlebte wie ich den Sturz in tiefe Bangnis. Und ihr Schluchzen,
das ich ganz deutlich fühlte, umfing mich wie ein schützender Mantel in der
Gewissheit, nicht einsam zu sein.
Dann war da ein Streifen am
Horizont. Ein Ufer, dämmerte es mir. Zunächst kaum zu glauben, dann mit
Gewissheit aus der Trostlosigkeit herauswachsend.
Freude, der eine große
Erleichterung folgte, die am Ende von Entdeckerstolz überragt wurde. Ich
erblickte die Karte Amerikas vor mir an einer Wand aufgerollt. Mein uralter
Schulmeister stand mit dem Zeigestab daneben.
Land, zum Glück. Allerdings ein
leeres Ufer. Auch der Alte war plötzlich mit seinen Utensilien wieder
verschwunden. Schade, da waren keine Menschen, denen ich meine Glasperlen hätte
schenken können und von denen ich womöglich eine ganze Insel dafür erhalten
haben könnte. So blieb mir das Ufer Niemandsland. Eine Einöde ließ auch bald
die Zeit versickern, verschlang schließlich sogar den Raum. Ein Sein ohne
Gefüge. Aha, dachte ich, nicht ganz unbekannt. Unersättlichkeit der Leere. Und
erneut dieses Zagen.
Das Ablegen wurde dann zur Flucht.
Gleich, es war ein verhängnisvolles Versehen, trieb das Boot auf die offene
See. Ich hätte mich am Ufer halten sollen! Das erkannte ich sofort. Doch zu
spät! In dem Maße, wie die Gestade entschwanden, erfasste mich eine tiefe, lang
wirkende Unruhe. Irgendwann, zwar ganz weit weg, doch immerhin ein Schiff!
Bald bewegte ich mich auf sicheren
Planken. Rohre mit riesigen Mäulern starrten mich an. Ein Kriegsschiff,
durchfuhr es mich, und ich hob beide Arme, um zu zeigen, dass ich mich ergebe.
Sie hatten hingegen das weiße Himmelsgewand meines Engels als ausreichende
Friedensbekundung bereits angenommen.
Ich wurde eingeladen, in der Messe
zu speisen. Später tanzte ich im Smoking mit meinem zauberhaften Schutzengel,
der sich zu mir herabgelassen hatte. Dessen Weißgewand sich hier wie ein
Hochzeitskleid ausnahm und der sich jetzt von mir umarmen und herzen ließ.
Auf diese Weise in jeder Hinsicht
gestärkt, stach ich erneut in See. Ich legte ab vom doch immerhin, trotz aller
Rettung Argwohn erregendem Gastschiff – und lief nach einiger Zeit in einen
Hafen ein. New York war es wohl, der tiefen Straßenschluchten wegen, die ich
hinter der riesigen Freiheitsdame ausmachen konnte.
Da stand gleich wieder eine
schüttere Menge Menschen, dieses Mal mit müden Blicken dem Meer zugewendet. Sie
rafften sich zu einem lahmen Winken auf, als ich haranschipperte.
Es sei Krieg, klagten die Leute,
und gleich flossen Tränen. Sie begrüßten jeden als Überlebenden, wurde mir
berichtet. Jede Katastrophe habe eben ihre eigenen Freuden. Die sie sich in
diesen ansonsten freudlosen Zeiten nicht auch noch rauben lassen wollten. Aus
dieser Einsicht heraus schwangen sie sich plötzlich zu schallendem Jubel auf,
dass ich erschrak. Sie hatten wohl meinen Begleitengel ausmachen können. Sie
hatten ihn umgehend in ihrer Sehnsucht zur Friedenstaube erhoben. Eine
Blechmusik marschierte gleich auf, Konfetti durchschneiten die Atmosphäre.
Ich hatte dann das Gefühl, in der
Stadt leider mein Girl verloren zu haben. Jedenfalls machte ich mich bald
wieder auf Reisen. Ganz allein.
Wieder diese langen Gesichter bei
denen von der Kaimauer, nahm ich noch wahr. So sei es stets, wenn jemand eben
noch Willkommener zu bald seinen Abschied nimmt, bildete ich mir ein. Die Zeit
schleiche so dahin. Niemand kennt ihre Richtung und kennt ihre
Geschwindigkeit."
"So oder so ähnlich war mein
Traum", schloss Bacher.
Während seiner Schilderung war das
Frühstück absolviert worden. Sonnenschein merkte noch beim Weggehen an:
"Wie dir doch dein Frauenbild immer abhandenkommt! Wie kann einer damit
leben, dass ihm die Engel zu Girls schrumpfen? Wie damit, dass er sie dann auch
noch verliert?", sie lachte ihren Worten hinterher und Bacher zuckte
grinsend die Achsel.
Einige Nächte danach waren von
Cassian Bacher zwei an einem Tisch sitzende bezopfte Figuren auszumachen. Sie
befanden sich offenbar in Verhandlung.
Ganz eindeutig, das waren
Perückenträger. Sie redeten, eifrig gestikulierend, aufeinander ein. Sofort war
Bacher das Rokoko gegenwärtig. Weiß gepuderte Perücke, Langrock
in blauer Seide, gelbe Culottes, aus denen heraus
weiße Kniestümpfe liefen und in Schnallenschuhen mündeten. Einer von den beiden
wäre der Figur und der Lebendigkeit nach wohl als Mozart auszumachen. Wie sie
ihn gerne in ihren Filmen zeigen, überkam es Bacher. Vor einiger Zeit war der
Äther voll von seinen Tönen, gesteigert durch ein Jubeljahr. Was blieb einem da
anderes übrig, als anzunehmen, dass auch er das eine oder andere Mal irgendwo
auftauchte. Das sei ihm gegönnt, beteuerte sich Bacher. Da Mozart doch nur
wenige Jahre hier auf Erden und diese dabei auch noch in einem Handwerk zur Verfügung
hatte, bei dem die Werkstatt immer im Kopf und ständig dabei und dauernd in
Betrieb war.
Er schien zu verhandeln. Es ging
ihm offenbar ums immer durch die Finger rinnende Geld. Im Hintergrund erkannte
Bacher eine Handvoll Musiker ihre Geigen schrubben, vernahm jedoch keinen Ton.
Da bot er an, mit seinem Handy auszuhelfen: Die Kleine Nachtmusik schrillte
tatsächlich aus der Technik hervor, peinlich platt.
Während Bacher sich noch dieser
grellen Verzerrung schämte, war der Kleinere da drüben vom Tisch weg und
fuchtelte sofort auf eine andere Person ein. Die Hände waren schier rhythmisch
in Bewegung. Mit den Füßen hob er in seinem Zorn wie im Takt vom Boden ab. Die
andere Gestalt, ihm um Kopfes Größe überlegen, schien im Dauerbesitz ihrer
Würde zu verharren. In einer kurzen Atempause spürte Bacher diesen Verhaltenen
von sich geben, er, der Herr Kompositeur möge endlich von dieser blau-gelben
Mode lassen. Er habe sie ihm vorweg in seiner Profession als Skribent längst in
seinem Werther verarbeitet.
Ach, Mozart, dachte Bacher sich
beim morgendlichen Zähneputzen. Hättest du dem Herrn Geheimrat Goethe doch
angeraten, Beethoven nicht nur als tüchtigen Klavierspieler einzuschätzen. Aber
gewiss seid ihr euch gar nie begegnet ...
Bacher war zwar gewillt, solche meist länger aufhaltenden Gedankengänge
bei seinen Morgengeschäften zu unterlassen. Er behielt sie dann doch bei, weil
– kalauerte er in sich hinein – diese ihn am Schrubben der Zähne und diese
gesund erhalte.
28. Juli
In dieser Nacht hatte Bacher in
irgendwelchen, vermutlich in alten Prüfungsaufgaben gewühlt. Er hatte ein
unangenehmes Gefühl dabei, erkannte meist erfolglose Lösungsversuche, auch
jetzt, wo er nach langer Zeit darin nur herumblätterte. Jetzt stand plötzlich das Examen wieder unmittelbar
bevor. Schrecken hatten ihn erfasst. Hektik beim letzten Vorbereitungsversuch.
Ein bestimmter Aufgabensatz setzte Bacher zu. Trotz all der Aufregung gelang
ihm doch eine Aufgabe. Es waren hingegen drei gewesen, die er sich vorgenommen
hatte.
Dann wurden ihnen die Plätze
zugewiesen. Da ging es gleich los: Schweigen, Blätter, Aufgabensatz.
Schier unerträgliche Spannung.
Da war es zum Erstaunen: Es
handelte sich tatsächlich um die Aufgaben, an denen er sich vorhin noch
versucht hatte.
Und da war es: Nur die erste gelang
ihm. An den anderen bastelte er vergeblich herum, probierte diesen Ansatz,
versuchte jenen Gedankengang.
Alles verwischte ihm im Kopf.
Am Ende erschien einer, den Bacher
sofort als Max Reger ausmachte. Dieses immer durstige Musikgenie. Reger
sammelte die Aufgaben ein. Bacher zitierte ihn währenddessen ganz gelöst: Er
habe ja seinem Kritiker zur Kenntnis gegeben, dass er dessen Kritik vor sich
hatte, als er sich im stillsten
Raum seiner Wohnung zur Entleerung
aufhielt, und dass er diese Kritik dort bald hinter sich hatte. Mozart tauchte
an dieser Stelle auf und kicherte über diese Direktheit. Weil er sie in ähnlich
unverblümter Weise auch bevorzugt hatte. Wie es durch seine Briefe hinreichend
belegt scheint. Leider fingen die beiden Musiker zu streiten an, dass die
Papiere, die Reger eben eingesammelt hatte, nur so durch die
Luft flogen. Irgendwas glaubte
Bacher dabei von Mozart zu fühlen: Dass Regers Töne nur so durch die Lüfte
flögen, schier wie verwirbelt, dass sie torkelten, sich überschlügen. Dass
Reger den Ohren seiner Zuhörer zumute, sie einzusammeln und melodisch zu
ordnen.
Beim Frühstück setzte sich bei
Bacher jenes Ein-Mädchen-oder-Weibchen fest, das sich Papageno gewünscht und
Wolfgang Amadeus dem Bariton so freundlich auf die Stimmbänder gelegt hatte. Es
gedieh ihm bald zum Ohrwurm und verfolgte ihn den ganzen Tag, so dass er es am
Abend Sonnenschein ins Telefon trällerte. Ihre Frage, ob sie seine Papagena singen solle, machte ihn so glücklich, dass er
fürs Erste zu antworten vergaß.
Am nächsten Tag erschien
Sonnenschein bei ihrem
Cassian und begann gleich: "Du
wirst lachen, heute Nacht warst du ein Bauer in meiner Show und ich habe das
gleich wieder mit viel Spaß daran aufgeschrieben!"
Bacher wollte ihr gerne Bauer sein.
Weil er, wie er ihr verriet, als Junge diesen Plan hegte, nachdem ihm die
Mutter den Lokführer mit Erfolg ausgeredet hatte.
Sonnenschein begann: "Als du
beim Eineggen der Furchen auf dem Feld warst, sahst
du eine sonderbare Gestalt auf dich zukommen: Da war einer des
Wegs, grau von Staub, und eine
eisige Blässe der
Innenwelt schien durch sein
Äußeres."
Sonnenschein unterbrach ihren
Vortrag und blickte auf Bacher. Der saß ganz gelassen da und wartete.
"Okay", sagte sie, "warte ab, es kommt gleich ganz
dick!"
Sie fuhr fort: "Du hieltest
deinen Gaul an und blicktest freundlich zu ihm hin. Er schaute dir nicht in die
Augen. Er hob an zu deklamieren: Hörer
versteht, es schwingen immer in den vielen alltäglichen Geschäftsgängen so
viele Möglichkeiten mit, dass sich so mancher für zunächst gangbar gehaltene
und vielleicht sogar als Entscheidung fixierte Weg letztendlich doch als
Imponderabilie – Hörer versteht das gefälligst als Unwägbarkeit – entpuppt.
Hörer verzeiht diese quasi verbale
Bruchlandung mitten in der Biologie eines sich aus seinem Kokon befreienden
Insekts. Welche doch einen wenn gar nicht anders möglich – zugegebenen Ausweg
in aufbrechendes, sich nicht selten zum Hinwegflug, namentlich zur Transzendentiation generiert. Hörer versteht das als
Überschreiten der Grenzen der Erfahrung.
Es ist geradewegs ein
konstitutioneller Mangel, dass sich Leben immer auch auf anderen Gebieten
abzuspielen scheint. Es begründet nicht wenige Zerreißproben, dorthin zu
gelangen. Eben darin äußert sich doch letztlich Lebenskraft, mit den
Unzulänglichkeiten eine friedliche Koexistenz zu begründen und – was natürlich
von großem Gewicht ist – diese auch zu erhalten.
Dabei stieß Referent auf eine
zunächst sehr verheißungsvolle Apperzeption – Hörer versteht das gefälligst als
bewusste Wahrnehmung. Diese bestand darin, dass alle Teile einer Erkenntnis zu
gleicher
Beachtung zu erheben sind
..."
In Bachers Staunen hinein erörterte
sie: "Also, du weißt ja, lieber Cassian, dass niemand solche Reden träumt.
Zumal das Reden, nebenbei bemerkt, in den Träumen gar nicht möglich zu sein
scheint.
Aber mich hat mein nächtlicher
Eindruck gereizt, das auf diese ausformulierte Weise darzustellen und voll in
die Irre zu greifen. Ich hatte einfach Lust darauf. Ich mache jetzt weiter,
wenn du magst, Cassian:
... worin sehr leicht der Vorteil
in einer erheblichen Sichtbarmachung aller Partikelchen
wahrgenommen werden kann ...
– Du erinnerst, Cassian, dass es
dabei um alle Teile einer Erkenntnis geht! –
... Und am Ende doch noch hurtig zu
einer Entscheidung mit Hilfe, sozusagen, eines Vergrößerungsglases. Bei aller
gebotenen Vorsicht im Umgang mit der Bündelung des Tageslichtes als heißes
Leben durch dieses Lupeninstrument, das dem Papier abhold ist und es gerne in
Flammen aufgehen lässt.
Wie kommst du hierher?,
unterbrachst du als der Bauer, der du in meinem Nachterlebnis warst, den
Redefluss des sonderbaren Passanten.
Er entgegnete, sich wohl eines
höchstamtlichen Zitates erinnernd: Ein Dienstortswechsel im Sinne des Gesetzes
in seiner jetzigen Ausformung und Geltung liegt ebenso vor, wenn der
Behördenleiter im Rahmen seiner Organisationsgewalt den Beamten von der im
Rahmen der Ämterneugliederung für eine Übergangszeit errichteten Außenstelle
der Stammbehörde zuteilt, die an einem anderen Orte als dem bisherigen Dienst-
oder Wohnort des Beamten untergebracht ist, und dieser Wechsel auf Grund einer
im unmittelbaren Zusammenhang mit der Ämterneugliederung stehenden Änderung des
sachlichen oder räumlichen Zuständigkeitsbereiches der Außenstelle dienstlich
veranlasst ist ..."
Sonnenschein musste in Cassians
Staunen hineinlachen. "Diesen Wust habe ich aus einer dienstlichen
Fortbildung. Ich musste das Monstrum einfach loswerden, da habe ich es aus der
Dienstordnung abgeschrieben und dem Staubmännchen in den Mund gelegt. Aber ich
mache weiter, wenn du noch Geduld hast", dachte Sonnenschein, ihre
Geschichte zu Ende bringen:
"Du – als eben wieder der
Bauer – schwiegst ergriffen.
Dein Gast fuhr diensteifrig fort:
Die Welt verändern – weiß Gott irritierend eminent, da es keiner mit bloßem
Auge zu erkennen vermag. Das Resultierende ist weltverändernde, die gewachsenen
Zustände umgewichtende, radikal eingreifende, neue
Wirklichkeiten schaffende und so weiter. Referent graut es vor seinen vielen
Möglichkeiten, die kein betroffenes Subjekt mehr zu erfassen vermag. Da
gewöhnlich Sterblichem weder Auge noch Perspektive zu diesem Behufe zu eigen
ist.
Setz dich, befahlst du dem
Wortwicht. Du Mensch ohne. Wo hast du nur dein Ich gelassen? Setz dich, wenn du
nicht erst eine Vorschrift dazu hervorkramen musst.
Du merktest, dass er dich nicht
verstand. Daher machtest du dich mit ihm auf den Heimweg. Setze ihn einfach,
dachtest du – er ist leicht wie ein dünnes Schulheft – auf den Gaul und hoffe,
dass ihm der warme Tierleib wenigstens den Arsch –
ein herzliches Pardon! – auftaut. Zum reitenden Ausbalancieren reicht es bei
ihm wohl nicht, daher binde ihn fest, dachtest du.
Die neuen Klarsichthüllen von Leitz
bekannt?, erklang es vom Gaul herab. 4153? Diesen sind neuerdings
einreißgeschützte Ecken zu eigen! Sachaufwandsträger veranstaltete einen Tages-Ordnungs-Punkt
mit dem Ziel der Einführung dieser! Jedem Bediensteten drei Stück angewiesen
und gegen Abzeichnung ausgehändigt. – Selbst, wenn es sachfremde Erwägung
abbildet: Referent erblickt Ästhetik, vorwiegend eine beinahe erotisch geladene
natürliche Aufwändigkeit in der milchig gedämpften
Glanzhaftigkeit der Oberflächen. Ganz zu schweigen vom stumpfen Knick der
unteren Kante, im Gegensatz zu früherem harschem Versuchen bei Leitz 4100.
Etwas Farbe war nach dieser für
seine Verhältnisse außergewöhnlich betont vorgetragenen Sequenz auf seinen
eingefallenen Wangen. Er hatte sich beinahe erkühnt und vorschriftswidrig
erregt.
Diese neue Seriosität von Leitz,
fuhr der Wicht fort, knüpfe an alte Vorbilder jener Bureaukultur.
Der Karriereaspekt der ganzen Problematik sei andererseits darin zu erblicken,
dass diese Klarsichthüllen ohne Weiteres selbst höheren Chargen vorbehalten
sein könnten. Hinwiederum offenbare sich in genau dem Verfahrensakt der
Materialausreichung ohne Rücksicht auf den hierarchischen Personalaspekt die
entwicklungsoffene, gegebenenfalls soziale Progression neuzeitlichen
inneramtlichen Verwaltungsverfahrens.
Das traute Heim erreicht, setztest
du den Bürokraten zum Clown, von dem ich dir bereits erzählt hatte, auf die
Ofenbank.
Du betrachtetest deine Sammlung,
wusstest im Nu, dass sie komplett war – und erkanntest dich selber, als ob du
in zwei Spiegel zugleich blicken würdest."
Sonnenschein schien ihr Vortrag
gutgetan zu haben, so als sei sie jetzt etwas sie ein wenig Bedrängendes
losgeworden. Sie benetzte ihre wohl von ihrem Wortreichtum etwas trocken gewordene
Kehle und lachte, als sie das Glas abstellte, laut heraus.
Bachers "Oh, Sonnenschein, du
Spieglein mein!", ging in dem Freudenlärm, in dem sie sich noch aufhielt,
fast unter.
In der Nacht darauf schien eine
soldatische Schildmütze einer Aktentasche unablässig Fragen zu stellen,
widerfuhr Bacher. So sonderbar es sich auch darstellte, Bacher akzeptierte das,
weil er hinter diesen eigenartig aktiven Requisiten jemand Menschlichen
vermutete.
Die Fragen, deren Inhalt Bacher
eigentlich gar nicht vernahm, wurden anscheinend immer bohrender gestellt. Es
war der Tonfall, den Bacher lediglich vermutete, allerdings genügte das dazu,
diesen Eindruck zu erzeugen. Es sah sogar so aus, als wirkten die Fragen als
Folterinstrumente oder unterstützten solche. Dass da im Verborgenen scheußlich
Menschenverachtendes ablief, ging ihm durch den Kopf.
Jetzt erschien eine Pistole. Ihr
Dahinter wirkte auf das Verhör ein. Es richtete an die Mütze fordernde Appelle,
die etwa die Aufforderung darstellen konnten, endlich zum Ende zu kommen. Nun erst bemerkte Bacher, dass die Mütze die
Aktentasche hinter den Scheiben einer Glasvitrine bearbeitete.
Die Mütze quälte die Aktentasche
pausenlos. Bacher entnahm jetzt den hektischen Gesten, die durch die Forderung
des Revolvers vorhin offenbar trotzig verstärkt wurden: Sofort aussagen!
So ging es eine ganze Zeit.
Der Revolver begleitete seine
Anweisungen mit
Warnschüssen an die Decke des zu
vermutenden Raumes. Immer wieder krachte es auf die Forderung der Mütze hin:
"Aussage!" – peng – "Aussage!" – peng ...
Bacher hatte gleich beim ersten
Schuss erwartet, dass die Mütze eine Kugel abbekommen würde. Als das Spektakel
lange so gegangen war, wuchs in ihm geradezu das Verlangen, dass die Mütze
endlich niedergeschossen werden würde. Das geschah schließlich auch. Die Kugel
durchschlug das Glas, zerfetzte den Mützenrand. Es tauchte immer noch kein Kopf
auf. Allerdings war das Loch in der Mütze jetzt von Blut rot umrandet.
Bacher erwachte mit einem
Wohlgefühl und ordnete diesen Zustand der Erlösung von diesem doch immerhin
albtraumhaften Ereignis zu. Er schloss dagegen nicht ganz aus, dass dabei auch
etwas Genugtuung über diesen finalen Schuss mit im Spiel war. Dieser wäre
schließlich ebenso jedem Quälgeist aus seinem Umfeld zu verpassen, leistete er
sich.
31. Juli
Schön, dass S. wieder hier war und
Bacher heute von sich selber erzählte. Vielleicht wollte sie damit ihre auf ihn
bezogenen und sehr direkten Geschichten versöhnlich etwas abmildern:
"Ich war doch erst vor
vierzehn Tagen beim Friseur, überraschte ich mich", begann sie, "als
ich bereits im Behandlungssessel des Haarkünstlers saß. Weg mit dem Styling der
deutschen Frau, blond mit Dauerwelle. Vollschlank, immer ein Aussehen mittleren
Alters!, forderte ich mich auf. Während an mir gerupft und gezupft wurde, blätterte
ich in einer Illustrierten, um eine flottere Frisur zu finden. Ich nickte
jedoch immer wieder für Sekunden ein.
Der Maestro schritt einher und
bedeutete mir wort- und gestenreich, mich zu erheben und mich der Bluse zu
entledigen. Nur so sei er in der Lage, die meiner Hals- und Schulterpartie,
respektive meines Typs gemäße Stufungsstruktur, Haarlänge etc. einigermaßen
richtig ...
Er vollendet seine Sätze selten,
bemerkte ich. Nun ja, er ist ein Künstler und schafft Werke. Und Schöpfungen
der Kunst, besonders Gesamtkunstwerke wie Frisuren und die fantastischen
Gespräche, die ihre Entstehung begleiten, sind immer unvollendet. Wie eben alle
Schöpfung überhaupt. Das wusste ich noch aus der seinerzeit gebuchten
Selbstfindungsgruppe der Volkshochschule. Auch Gedanken und Vorsätze sind
Schöpfungsakte, sinnierte ich unter der Haube. Du musst sie lebendig erhalten,
offen, entwicklungsfähig, wandelbar. Wer sie festhaltend beerdigt, dem begegnen
sie höchstens als Wiedergänger, als Gespenster. Ich wurde am Ende durch einen
Blick in den Spiegel von dieser Ebene der Gedanken getrennt. In einer gewissen
Ähnlichkeit zu einem jugendlichen englischen Blaublut,
der leider allzu früh verblichenen Lady Di, wollte ich mich erblicken, und
diese Absurdität entzückte mich. Das ist der Reiz der Unwirklichkeit, des
Scheins, ja des Widerspruchs, der Gegensätzlichkeit, wurde mir klar. Es geht ja
auf den Herbst zu, die Leute strahlen noch kupfern
oder ockerfarben. Das Bräunungsstudio des Salons lag unbenutzt. Obwohl meine
Haut noch sommerlich getönt war, beschloss ich, diese Einrichtung aufzusuchen.
Meine Bekannten hatten die Bräunungsbetten in höchsten Tönen gelobt.
Daliegen, Wachträume züchten, die
Gedanken spazieren gehen heißen. In kleinen gepflegten Eitelkeiten, des Sommers
müde, sich in Winters Freuden ergehen. Skifahrerbräune und unter modischer
Montur hervorglänzen. Ab und zu wegtauchen. Das tat alles so wohl, dass ich im
UV-Sandwich bald eingeschlafen wäre.
Ich beschloss, wieder hinzugehen.
Du bist ja eitel!, bestätigte ich mir auf der Nachhausefahrt
im Taxi. Und du bist verschwenderisch! Früher, noch vor Wochen, wärst du mit
dem öffentlichen Verkehrsmittel gefahren. Du hättest nach dem Friseurbesuch
noch ein paar Besorgungen erledigt. Du wärst dann mit einem Einkaufsbeutel
links und rechts nach Hause gekeucht.
Früher? Wann war das? Warum war
das? Es muss wohl immer so ein Früher geben, an dem man sich anprangert! Ein
Spiegel. Drehen, wenden. Pirouette im Teenagerballett. Das wäre doch eine
erregende, bewegende Verknüpfung: die Spiegelneugierde einer Achtzehnjährigen
mit der verhältnismäßig hohen Selbstsicherheit meines Alters. Oh, sage bloß
nicht Alter, nenne es einfach Zeit! Ja gut, das ist so ein notwendiger Glaube
an sich. Jeder fühlt sich sowieso immer jünger, als er – besonders sie! – ist.
Die Natur ist so gütig, sie schenkt uns diese Selbsttäuschung. Warum sollte
jemand sich zu diesem überlebenswichtigen Irrtume nicht frei bekennen und ihn
ungeniert genießen? Doch immer schön aufgepasst bei diesen Pirouetten, dem Drehen
um die eigene Achse, dass der Schwerpunkt gewahrt bleibt. Du musst deine
Zentralachse erkennen, so etwa mittels Spiegelung: Spieglein, Spieglein an der
Wand, wer ist – sie? Diese vielen
Spiegel an den verschiedenen
Standpunkten, außen – und innen. Vielleicht entsteht im Schnittpunkt der vielen
Perspektiven ein Bild von dir als Zentralachse, um die sich deine Existenz
einigermaßen sicher dreht?
Während dieses Gedankenspiels hatte
ich mich entkleidet und drehte und wendete mich als Eva vor dem Spiegel. Ich
hüpfte, den Busen mit beiden Händen haltend, setzte überspannte Tanzschritte
und lachte über mich. Am Ende in Tränen ausbrechend, von denen ich mir nicht
ganz sicher war, ob es wirklich Freudentränen waren.
Eine ganz schön zerknitterte
Zentralachse, meine
Liebe, bedeutete ich mir, während
ich mir mein Hausdress anzog. Jetzt keine Selbstgespräche mehr, jetzt mit
jemandem geplaudert!
Mit diesen Gedanken holte ich mir
das Telefon zur Couch.
Ist ja toll, wieder von dir zu
hören!, die Stimme der Freundin Elli.
Ich komme eben aus dem Hairstudio, völlig entspannt, leicht gebräunt.
Um Gottes willen, du, ein Stück
Braten!, lachte Elli.
So ungefähr!, meine Antwort. Braten
im eigenen Saft!
Ach, entschuldige – aber sag, du
bist doch okay?
Alles so lala!
Das Gespräch wechselte dann, Elli
erzählte von ihrer Feier zur Mittdreißigerin, den Schulerfolgen ihrer Söhne und
berichtete über die Hausse des eigenen Unternehmens. Das sprudelte alles nur so
hervor, als habe Elli einen einstudierten Text vorzutragen gehabt ..."
Sonnenschein brach ihre Story ab und blickte etwas ratlos drein, so als ob sie
überlegte, wie sie eigentlich auf dieses Thema gekommen war.
"Es sind häufig nur die
Geräusche von Anderen, die einer benötigt, um sich nicht allein zu
fühlen", versuchte Bacher, auf Sonnenschein einzugehen. "Daher
vielleicht die verbreitete Furcht vor der Stille. Vor der Einsamkeit."
Dann schien ihm etwas eingefallen zu sein: "Es ist die große Trübsal der
Einsamkeit unter Vielen. Diese bedrückt heute die Menschen in unserer
Gesellschaft der Versingelung. Die vergeblichen Versuche, das mit ihrer
Eventsucht in den Griff zu bekommen. Das stand
neulich in der Zeitung."
Anfang August kam es Bacher, dass
er ein Problem, das ihn noch vor einiger Zeit richtig umtrieb, vernachlässigt
hatte. Daher setzte er sich und begann zu notieren: Ich habe mir heute zu
Allelter nachzutragen:
Diese Bezeichnung ist kein Name,
kein Ersatz für das Göttliche der herkömmlichen Begrifflichkeit. Es kann
lediglich der Ausdruck einer Vorstellung sein, die auch wieder keine
Bildlichkeit annehmen sollte. Mein innerer Kampf gegen die Sucht der
Vergegenständlichung des nicht Vorstellbaren sollte weitergehen.
Vielleicht ist Allelter der
Ausdruck, allenfalls die darstellende Umgrenzung, die eine Ahnung zulässt.
Ahnung ist gut, finde ich. Wahrheit kommt nur als Ahnung auf einen. Zunächst
wenigstens. Dann sollte einer doch erst darauf lauschen und sie danach ins Tun
einfließen lassen. Denn Wahrheit, denke ich – das ist wieder ein weites Feld –
kann nicht
besessen werden. Sie kommt im
Versuch, im Tun
...
So etwas wird mich weiterhin
verfolgen. Drum jetzt wieder weg damit.
Nachts darauf ... – Doch ein paar
Gedanken vorweg: Es war gut möglich, dass seine wiederholte Beschäftigung mit
jener Frau vom Trödelmarkt es ihm aufgedrängt hatte. Mit dieser Frau, die alles
ihr Entbehrliche loswerden wollte. Mit dem von ihm in ihrer Bekundung
überhörten letzten Teil, diesem jetzt schon viel zitierten Oben, war er längst
einigermaßen zurechtgekommen. Die Antwort auf die gestellte Frage danach lag ja
auf der Hand – wenn sie ihn auch gelegentlich zum Rätseln nach der eigenen
Ortsbestimmung in der Angelegenheit geführt hatte. Dieses Gretchen'sche:
"Wie hältst du es mit der Religion ...", kicherte sich Bacher
gelegentlich sein kleines Faustfragment. Und das – wie er sich schließlich
eingestand – zur Entspannung vom Zwang dieser bisweilen lästigen Ungelöstheit. Er
dachte jetzt darüber nach, es vielleicht der Frau mit dem Abstoßen von
überflüssigem Hausrat gleichzutun. Allerdings musste er da ziemlich bald
passen, denn er war ja als noch einschichtiger Mensch nicht gerade üppig
ausgestattet. So ein
Kerl wie ich, machte er sich vor,
hat seinen Besitz – wenn überhaupt davon zu reden ist – im Kopf.
Selbst diese Einschränkungsfloskel
inmitten seines Einfalls führte ihn zu einem energischen Rückzieher: Wer wollte
denn etwas von diesem bisschen Gedankenkrempel haben? Die Masken einer
Marionette?, reizte er sich noch etwas, zog hingegen das gleich wieder in
Zweifel mit der Frage, ob Marionetten denn solchen Außenschutz überhaupt
benötigten?
Er ließ es sein – was die
Angelegenheit jedoch in sein Schlafgeschehen brachte:
Da sah er eine Figur von Weitem. Es
mochte eine Frau sein. Er bemerkte bereits aus der Entfernung, dass sie in
einem Gewand wie einem langen weißen Hemde steckte. Irgendwie herumfuchtelnd,
damit häufig ins Kreuzweise geratend, konnte Bacher feststellen. Dass sie immer
wieder auf riesige Säulen wies. Sie wollte wohl damit andeuten, dass sie das
gewaltige Gebilde mit den Säulen zu veräußern oder jedenfalls irgendwie
loszuwerden trachtete. "Bereits etliche Jahrhunderte, im Grunde noch vor
seiner Fertigstellung!", wollte Bacher vernehmen. "Das ganze
Spielzeug da hält mich von meiner ernsthaften Arbeit ab!", konnte die
Fortsetzung gelautet haben. Darauf wurde Bacher von seinem Traum ganz in die
Nähe der Gestalt gerückt. Er erkannte, dass der Figur derbe schwarze Schuhe unter
seinem weißen Hemde hervorlugten und sie auf dem Kopf eine weiße Kippa trug.
"Die ganze ausufernde Schönheit bindet die Blicke und lässt alle am großen
Ganzem vorbeischauen, das überall ist!", glaubte Bacher, hinter sich noch
klagen zu hören. Er war jedoch bereits auf dem Weg zu einer anderen Gestalt.
Hinten an der äußersten Ecke saß diese und präsentierte – ach ja, Masken ...
Die Nacht war vorüber, und Bacher
erwachte mit
"Sonnenschein" auf den
Lippen. "Franziskus und Sunny", stöhnte er fast beim Frühstücken vor
sich hin – und auch tagsüber das eine oder andere Mal.
Es konnte leicht sein, meinte
Cassian Bacher am 2. August, dass ich mir Sonnenscheins Traumworte von neulich
sehr zu Herzen genommen habe. Diese Charakteristik, die ihrer Meinung nach mich
betraf und mich wesentlich beschrieben haben soll. Er sagte sich: In der
vergangenen Nacht war ich jedenfalls weiß geschminkt mit breitem, rotem Mund
... Da bin ich mir als Clown deutlich vor Augen getreten. So dass ich nun bei
Tag beinahe gezwungen bin, es für mich endgültig geltend zu machen. Bacher hatte heute richtig Lust, sich in
seinen beiden Figuren zu inszenieren. So setzte er gleich ein stilles
Selbstgespräch in Gang, das er als sowas wie Puppentheater fassen wollte:
Man tritt als Clown dauernd – ää –
gegen sich selber an. Kein Zweifel, dass ich, der Clown, mich möglicherweise –
ää – stets selbst darstelle. Ob ich bissig scharf – ää – die Schwächen der
Anderen thematisiere oder sonst was unternehme. Es rührt womöglich von den
bäuerischen Ahnen her, dass eben die irgendwie täppische, derbe, tölpelige Art
meinen wesentlichen Effekt ausmacht. Das Scheitern an der Tücke – ää – des
Objektes auch. Und dieses verdammt tragische Bedürfnis, das ich Clown immer bei
den Anderen auszulösen im
Stande bin: zu treten und zu
schlagen. Ich arbeite – ää – eifrig gegen mich. Und die Anderen haben
vielleicht den Gewinn davon an Belustigung – ää – und Bestärkung in ihrer
Überlegenheit. Die man ihnen gönnen muss. Ich versuche darum, die Kollegen zu
verstehen. Die gewissermaßen ihre Art reduzieren in der Begnügung mit der
nackten Satire eines – ää – Kabarettisten oder gar mit der Mitleidsmasche.
Letztere vermag man besonders häufig bei Musikkollegen zu finden, die – ää –
schlauerweise meist auf die Liebe der Kinder und Kindgebliebenen
abzielen. Aber die Kollegen von der Satire sollten sich ja nicht wundern, wenn
man das Clowneske – ää – in ihrem Sein übersieht. Gerade lustiges Publikum
benötigt immer das ganze Schauspiel, um seine Heiterkeit zu mästen. Ein geteilter Spaß – ää – erweckt den
Eindruck, dass man dem Publikum etwas vorenthalten wolle. Erweckt den Eindruck
des Entzugs, ja den Eindruck des Diebstahls.
So arbeitet leider wohl – ää – auch
die Entwicklung gegen meine Art. Immer weniger Menschen werden bereit sein,
sich – ää – in mir als Clown in ihrem Lebensvortrag zu erkennen. Man denkt,
handelt, spricht, kleidet sich, wohnt, liebt und so weiter wie vielleicht
andere oder – ää – vermeintlich alle oder doch wenigstens die statistische
Mehrheit. Niemand von denen, die in mir Clown sind – und das sind immerhin die
allermeisten –, will sich – ää – allerdings in mir sehen. Sind wir doch alle
Narren, wollen das allerdings nicht bei uns selber, sondern nur an den Anderen
erblicken können.
Man wisse nicht, meckert es
amtsgnomisch, warum
Müßiggänger immer wieder, als gäbe
es nichts Wichtigeres zu veranstalten in dieser unserer Gesellschaft, die
Individualität hervorzuzerren begehrten. Sie sei
immerhin und rechtzeitig Ende der 40er Jahre sicher ins Gesetz gepackt worden.
Als Menschenwürde. Sie lugte da geradezu jungfräulich hervor. Sie sei, wie im
Übrigen alle Idealformen, im reinen Vollzug nur hinderlich. Ich hegte seit
einiger Zeit gerne den Verdacht, dass Machiavelli einer von uns und nicht etwa
der schlechteste Teil davon sei.
Ein immer wieder – ää – wie du zu
sagen beliebst – ää – in der Praxis missbrauchter – ää – da meist ganz mies
imitierter, kontert der Clown in mir.
Und das Staubmännchen entgegnet
gelassen: Es wäre, mein Herr, ein Akt, der nachgerade nach Erläuterung drängte.
Wenn sie eine historische Person zitierten, die in diesem Falle der Auslegung
der Rolle in eine ganz besondere Position gerückt zu werden den Augenschein
erweckte. Aber Unterfertigter müsse das entschieden den sachbezüglichen Sparten
zuweisen. Nach dieser Feststellung ließe sich schließlich eine Kommentarstelle
einbringen: Mit Historismen immer ganz vorsichtig
umgehen zu wollen. Mein guter Herr Clown, wenn man sich endlich gehen lassen
dürfe. Man darf es natürlich nicht, auch nicht in der fälschlichen Annahme,
darin eine persönliche Note erblicken zu sollen. Was ich anmerken wollte, ist
dies, dass wenn man seine Sparte verließe, sein Fachgebiet, den Bezirk seiner
Kompetenz. Anhaftet doch Letzterem immerhin etwas so Bedeutendes wie die Aura
der Autorität an. Wenn man sich zu Äußerungen hinreißen ließe, sind da immer
welche, die bereits da waren und ihre Ergebnisse abgesetzt haben wollten. Da
befinde man sich in der mitunter schwierigen Situation, diese Menge wenigstens
der Kenntnisnahme zu unterziehen und abzuzeichnen. Man beginne sich insgeheim
zu teilen, was in ein Zerreißen münden könnte, betriebe man es zu heftig. Item:
Leistung wäre heute mehr denn je nur mit Begrenzung möglich!
Wolkenkratzer-Effekt, erlaube ich mir zu sagen: kleine Basis mit Auswuchs bis
in den Himmel darüber!
Ich habe dir – ää – lieber ...rat –
ää – Bürokrat ist mir als Wort zu lang – ää – ich werde mich überhaupt
beschränken – ää – gar nicht zugehört. Ich habe dich gleich zu Anfang deines
ersten Satzes ertappt. Ich kenne dich und dein Instrument der Möglichkeitsform.
Wenn du das benützt – ää – hörst du dir selber nicht mehr zu. Es ist so mit der
Distanzierung – ää – es handelt dann irgendwer irgendwo für dich. Und sei es
nur die Null. Ich zeige dir gerne den Unterschied zwischen uns. Für unsereinen
ist Wirklichkeit alles von uns Getane – ää – Gedachte – ää – Gewollte – ää –
Gefühlte. Was unsereins auslässt – ää –, das gibt es gar nicht für unsereinen
...
Cassian Bacher fühlte sich nun in
seinen beiden Selbstfiguren weitgehend ausgesprochen. Er nahm sich also aus
seinen Gebilden mit den Worten wieder heraus: "Es tut auch wieder gut,
sich die Maske abschminken zu können". Er ließ es sich laut vernehmen,
damit es auch über die Ohren ins Bewusstsein gelangen konnte. Als Echo
sozusagen. Denn es kann auf Dauer nicht von Nutzen sein, war er überzeugt, als
Marionette auch noch maskiert zu spielen.
Cassian Bacher erklärte sich
beinahe feierlich: "Auf der blanken Haut wünsche ich mir von Sonnenschein
dann einen frischen Teint, so dass ich
wenigstens einigermaßen gesund
aussehe."
Dem Traumtheater lediglich eine
andere Regie gönnen? Nein, das genügte ihm nicht! Die Inhalte umzuschreiben?
Bestimmt wäre dazu ein seelischer Geniestreich erforderlich.
Worauf er zunächst allerdings doch
ein wenig hoffen wollte.
(aus dem Roman "Gandauers Ankunft")
Zu seinem neunzigsten Geburtstag
war die Zeitung da und der Austragsvater erzählte:
"Als ich noch ein ganz junger
Bursche war, stand ein Ochse im Stall. Es war ein liebes Tier. Ich hatte das
Kalb mit zur Welt bringen helfen. Es der Kuh zum Ablecken vorgelegt. Es zum
Euter gebracht. Später musste ich helfen, als ihm der Bauer mit seinem Stilett
das Stiersein wegmachte.
Als der Ochse kräftig genug war,
musste er ans Geschirr gewöhnt und zur Arbeit gebracht werden. Das ging nicht
so einfach, denn es heißt ja: stur wie ein Ochse. Wenn ein Tier zum Laufen
gebracht werden sollte, war es üblich, es an einen Wagen hinten mit Halfter
anzubinden und mit einem anderen Gespann loszufahren. Oder einer schlug mit
einem Prügel auf das Vieh ein. Meistens machte man beides.
Ich wollte das nicht so machen. Bei
meinem Hulimu schaffte ich es mit Getreideschrot. Das
hatte ich im Pferdestall den Rossknechten geklaut und hielt es in der hohlen
Hand lockend, immer etwas entfernt vor Hulimu. Der
wollte es natürlich lecken und lief also seinem Fressen nach. ('Wie der Mensch
auch', nuschelte der Bauer.) Irgendwann klappte es dann ohne das.
Niemand sonst wollte mit dem Ochsen
arbeiten. Wir lebten schließlich in einer Pferdewelt. Ein Hornvieh im Gespann
schlug sich auf das Ansehen.
Das Ross machte mehr her. Meine
Vorliebe, mit Hulimu zu arbeiten, wurde bespottet.
Aber ich hatte ja das warme Leben mit ihm bei der Arbeit. Eines Tages fraß Hulimu
nicht mehr. Fremdkörper im Pansen, stellte der Tierarzt fest. Er meinte, dass
es sich meistens um mit dem Futter aufgenommene Nägel oder Zaunkrampen
handelte. Die blieben im Pansen und drückten später aufs Herz. Das Tier
verendet. Ich stand da und schaute Hulimu an und
malte mir sein Leiden aus. Hulimu gab keinen Laut von
sich. Er würde plötzlich umfallen und tot sein, ohne einen Laut von sich
gegeben zu haben. Ich fühlte mich in sein Leiden hinein. Ich wollte mein Geld
zählen, das ich immer in meinem Strohsack hatte, ob es für eine Operation
reiche. Als ich wiederkam, war Hulimu bereits
umgebracht. Hing aufgeschlitzt an einer Pfette in der Scheune. Blutbefleckte
Gestalten liefen umher, die im geöffneten Körper wühlten. Ich packte eine
Mistgabel, aber die Metzger trieben mich lachend mit ihren Messern weg und
hatten ihren Mordsspaß. Im noch warmen Fleische wühlend, maulte einer: Man
sollte die ganze Menschheit nach Hirnkranken durchsuchen und den Ausschuss
gleich zur Kadaververwertung bringen! ('Der windige Schwätzer und die ganze
Menschheit!', murmelte der Austragsbauer vor sich hin.)"
Fischer – eigentlich Piscator,
allerdings hatte er den privat bereits hinter sich – begegnete dieser
Geschichte in seinem Heimatblatt. Obgleich sie dort den Worten des Alten durch
die Verschriftung den sprachlichen Reiz geraubt hatten, bescherten sie Fischer
starke Gefühle. Er befand sich im Krankenstand und hatte ausreichend Zeit, sich
besagten Regungen für alles Kreatürliche zu widmen. Allmählich bezog er das
Ländliche überhaupt (von dessen Bewohnern allerdings absehend) mit ein.
Seinen Kollegen im Betrieb hatte er
zu Beginn seiner Abwesenheit selbstverständlich gefehlt. Nicht eben aus
Zuneigung, sondern wegen der vermehrten Arbeit, die ihnen dadurch aufgetan
worden war. Wochen vergingen. Allmählich wurde seine Absenz in den Augen der
Anderen zum Urlaub, sozusagen auf Krankenschein.
Zwei Monate verstrichen, bis
Buchhalter Piscator wieder auftauchte.
Er hatte früher graues oder braunes
Tuch bevorzugt – Anzüge gewissermaßen der vorletzten Mode. Heute dagegen
meldete er sich irgendwie bunt gescheckt in Landhausstil gewandet zurück. (Da
er ja – was allerdings noch niemand wissen konnte – in seinem Hang zum
Ursprünglichen seinen Namen für den persönlichen Gebrauch in Fischer gedeutscht hatte, soll ihm hier der Gefallen getan werden,
ihn so häufig wie möglich damit zu nennen.) Fischer parierte mit breitem
Grinsen die wegen seines sonderbaren Outfits erstaunten Blicke – und begab sich
nach kurzem Gruß in sein Büro. Dort setzte er den Computer in Gang, tippte sein
Passwort ein – und erschrak: eine Fehlermeldung mitten in der ansonsten
zunächst leeren Mattscheibe. Er wollte sofort begriffen haben – und stieg kalt
aus, indem er der Kiste einfach den Strom abdrehte. Dann lehnte er sich zurück.
Klar, sagte er sich, ich bin hier abgemeldet. Er atmete tief durch.
"Out!", hörte er sich. Er atmete nochmal so tief durch und dann immer
wieder. Er sog die Luft so tief ein, wie es nur ging – und hielt sie an, so
lang es ging. Das trieb er, bis er Sterne vor den Augen hatte. Die Nacht dazu
machte er sich, indem er die Lider schloss. Er tauchte für eine Weile weg. Als
er mit einem Stechen im Kopf zurück war, fasste er sich wieder: Hoffentlich ist
es von Dauer, dieses Abgestelltsein. In der Erwartung, endlich wieder von Hand
schreiben zu dürfen, begann er, Bleistifte zu spitzen. Dann sortierte er
Büroklammern. Um das sanfte Kratzen eines Stiftes und die Befriedigung beim
Entstehen von etwas Handgefertigtem zu genießen, begann er zu zeichnen: Bäume,
Wiesen, Tiere, Scheuern und sonst was entstand, jedenfalls alles in Richtung
Natur und Landleben. Er holte sogar noch aus, indem er die Fenster aufriss und
sich etwas von frischer Luft, Bewegung und Gesundheit, ja Freiheit
vorschwärmte. In diese gute Stimmung platzte Frau Metz mit der Anordnung
herein, dass er, Herr Piscator, bei Herrn Direktor Heldmeier zu erscheinen
habe.
Früher, sogar noch zu Zeiten, als
er bereits bekennender Sozialist war, hätte ihn diese Mitteilung elektrisiert.
Sie hätte ihn emporschnellen lassen, wenigstens innerlich. Und wäre er ehedem
erregt, Anzug und Krawatte zurechtzupfend, des Weges gewesen, so ließ ihn diese
Nachricht jetzt ziemlich unbeeindruckt. Fischer nahm sich Zeit, versuchte sogar
in seine Vorstellung von Paradies zurückzukehren. Das wollte ihm – doch wieder
irgendwie auf Piscator gesetzt – allerdings nicht gelingen. Die Stimmung war
dahin. So machte er sich auf den Weg – nicht ohne mit dem Finger in die Erde
der hier und dort aufgestellten Blumentöpfe zu drücken, um zu prüfen, ob sie
gut gewässert sind. Beim Betreten der Kommandozentrale fühlte er stechende
Blicke auf sich gerichtet und sich von oben bis unten gemustert. In Heldmeiers
Gesicht fehlte heute allerdings das sonst wenigstens anfänglich zwar äußerst
verhaltene, dennoch ohne weiteres feststellbare Exponentenlächeln. Buchhalter
Piscator erhielt allerdings keine Zeit, Verlustgefühle aufkommen zu lassen. Er
wurde gleich überaus schroff mit einer Frage konfrontiert: Wo er denn in
Teufels Namen die ganzen Belege für die vielen Spenden habe. Und zwar völlig
irrwitzig jeweils einen Tausender. Welche Prokura, verdammt noch mal, hier im
Betrieb der Auftraggeber gewesen sei. "Dieses schöne Geld dauernd für
Naturschutz!", entrüstete sich Heldmeier lautstark und dem Nachsatz, dass
ihn wohl der Affe lause. Er, Heldmeier, gebe schließlich genügend Geld dafür
aus, dass in den Büros Blumentöpfe stehen und der Rasen ums Fabrikgebäude
regelmäßig gedüngt, gewässert und gemäht werde. So dass seinetwegen ein die
Gemüter angeblich beruhigendes und damit das Betriebsklima positiv
beeinflussendes Gefühl von so was wie Landleben sogar hier in der Stadt
aufkommen könne. Was er jedoch im Grunde für die reine Idiotie halte, wollte er
sich nicht verkneifen. Fischer hatte die
Zeit dieses Vortrags genutzt, um sich auch hier mit prüfender Augenscheinnahme
den Pflanzen zu widmen. Heldmeier sah ihm dabei einen Augenblick völlig
befremdet zu, beließ es jedoch zunächst bei einem Kopfschütteln darüber. Auf
einmal setzte Heldmeier dazu an, seinen Text erneut vorzutragen, nun allerdings
noch mit etlichen saftigen verbalen Entgleisungen aufgeladen. Da er dabei
hinter seiner Bastion von Schreibtisch hervorkam und sich bedrohlich, mit
hochgezogenen Schultern und angewinkelten Armen, auf den attackierten Piscator zu
bewegte, schloss dieser, dass seine weitere Anwesenheit hier nicht vorteilhaft
sei.
Fischer begab sich noch kurz in
sein Büro, um seinen Abschiedsgruß unter Benutzung jener eben vernommenen
prallen Grobheiten, wenn auch mit anderer Adresse, mit Filzstift auf die nackte
Schreibtischplatte zu kritzeln. Dann machte er sich davon.
Auf dem Fabrikhof griff er sich
eines der Diensträder, die für untergeordnetes Personal zum eiligen Durchqueren
des Firmengeländes bereitstanden. Er schwang sich auf den Drahtesel und setzte,
vorbei an seinem eigentlich noch gut erhaltenen fahrbaren Untersatz, seine
Flucht fort. Einige Meter war er bereits in Richtung Straße, da kehrte er
wieder um. Er fingerte aus der Hosentasche die Schlüssel für Auto und Wohnung.
Er warf das Bund aufs Dach seines Wagens, dass es krachte – und Fischer doch
noch etwas schmerzte, wegen der zu vermutenden Beschädigung des Lackes. Dann
machte er sich davon, tauchte in den stinkenden, röhrenden, bedrohenden
Straßenverkehr ein und sozusagen unter.
Nach etlichen Schüben von Lebensangst, die er jedoch in einer Stehkneipe
wegspülen konnte, kam er bei Dunkelheit am Wohnsilo im alten Industrieviertel
an. Dort hatte er sich längst nach seiner Jahre zurückliegenden Landflucht und
im Hinblick auf seine Pläne (worüber beides noch zu berichten sein wird) neben
seiner eigentlichen Stadtwohnung einen Unterschlupf reserviert. Denn ihm ahnte
seit geraumer Zeit, dass er eines Tages nicht mehr widerstehen können und alles
hinschmeißen würde: So richtig mit Abbruch aller Brücken, weg aus dem
Spießerleben (das zu führen er sich immer wieder bezichtigt hatte). Raus aus
dem Alltag (der einen in seiner Greiferklaue hielte, wenn man ihm nicht immer
wieder und dann gehörig auf nämliche schlage). In seinem eigenen Land leben
wollte er (das jeder sich überall erobern könne, und zwar unter gewissen Umständen,
welche er natürlich herbeiführen müsse, was Fischer jetzt tatsächlich anpacken
wollte).
Das Fahrrad in den Lift gezwängt,
es muss mit in die Wohnung! Fünften Stock anwählen. Etwas Zeit. Riecht fies
hier!, stellte er fest. Da haben es wohl etliche nicht mehr aufs Klo
geschafft. Oben streckte er erst den
Kopf raus und prüfte, ob die Luft rein sei. Er wollte sich hier endlich seinen
Traum erfüllen und unbekannt und vor allem in Ruhe gelassen sein.
In seiner neuen Heimat wuchs sein
bereits üppiges Wohlbefinden noch. Er schob die Flurkommode vor die
Eingangstür. Er warf eine Decke auf den Boden und wollte pennen. Mal schlafen,
wann ich will. Er lag eine Weile. Er war allerdings zu glücklich und viel zu
aufgekratzt, um gleich wegzutauchen. Mein lieber Schwan! Ich bin erst vor
einigen Jahren ... Egal. Aus meinem Bungalowviertel ...!, ging ihm durch den
Kopf. Dieses künstlich und scheinheilig grüngespickte Kaff mit so viel Himmel
darüber. Und das war bereits ein Wagnis. Immerhin noch in eine stinkordentliche
Gegend der Stadt. Aus nur scheinbar hoffnungsfrohen gesellschaftlichen Anfängen
weg. Was würden die guten Eltern sagen?, kratzte er sich auf und wälzte sich
eine ganze Weile auf seinem Lager von einer Seite zur anderen.
Gehört auch was dazu, alles wegzuschmeißen!,
konnte er sich wieder fangen. Und kein Abstieg, sondern ein Aufstieg hier. Zu
mir ... Ich kann stolz sein, auch und gerade, weil das so schnell keiner
nachvollziehen kann. Sich seinen Lebenstraum zu befleischen
um ein festes Knochengerüst herum und so irre zu beleben. Hier in der Absteige,
die in Wahrheit eine Aufsteige ist! Hier, wo sie mit ihren
Betonsilos in die Höhe gegangen
sind. So ein geiler Aufstieg Richtung Himmel. Mit Obdachlosen hier und
Asylanten unterm selben Dach, mit Stützeschnappern
und den ganzen Dauerbrennern der Stammtische der spießigen Zeitgenossen. Er dämmerte vor sich hin und dachte noch
verschwommen darüber nach, wie er sich das Nötigste beschaffen könnte, wenn die
Büchsen mit den Fertiggerichten alle sein werden. Besorgungen bei Dunkelheit
plante er. Sie haben ja jetzt ihre Läden so lange auf ... Dass er auf jeden
Fall sein Leben als Solo spielen wolle ... Und in Ruhe sollten sie ihn alle
lassen. Bis der Arsch kalt ist!, puschte er sich hoch. Auch wenn ich abgekratzt
bin, sollen sie es erst an meiner Gaslichkeit merken.
Die ihnen erst in die Nase kommen muss, bevor sie im Hirn landet. Wenn sich
meine Natur auflöst und sich dem großen Ganzen zurückschenken will ... Als er
nach Stunden aufwachte, blieb er noch eine Zeit liegen und
fuhr mit den Augen die Decke und
die Wände entlang. Er sinnierte den Gebrauchsspuren nach, malte sich in die
dunklen Bahnen der Umrisse von Bildern seine Gemälde, die er dort gelegentlich
einbringen würde. Er traute seinen Augen kaum, als er auch die staubige
Hinterlassenschaft eines Kruzifixes ausgemacht haben wollte. Er schaute immer
wieder hin, um zu prüfen, ob es nicht doch was anderes war. Ein Kreuz?
Vielleicht hing da eher ein Hakenkreuz – bei dem Publikum, das hier wohl
verkehrte, meinte er. Lachend rappelte er sich auf: Müssen recht sonderbare
Heilige gewesen sein. Die hier vor mir! Dann begann er zu kramen, stellte um,
hängte einstweilen an die Nägel über den nach Vorsatz noch auszumalenden
Bildrändern, was ihm so in die Finger kam: eine Bratpfanne, ein Latschen ...
Nur das Zeichen des Kreuzes, auf das er schließlich doch erkannte, verschonte
er. Worüber er sich über sich selber wunderte. Er lenkte sich gleich davon ab,
indem er dieses und jenes immer wieder umgarnierte
und sonstige Verrichtungen vollführte. Damit verging der Tag. Er freute sich
schließlich und hüpfte in der Behausung herum, riss sich die Klamotten vom Leib
und vollführte splitternackt seinen irren Freudentanz. Als ihm richtig
schwindlig war und er mit dem Atmen nicht mehr so richtig mitkam, ließ er sich
auf sein Lager fallen und schlief schließlich ein.
Dass es eine traumlose Nacht war,
verzieh er dieser. Er habe ja seinen Traum zu leben begonnen, beteuerte er
sich. Er benötige deshalb dazu keine von diesen halbbewussten Befeuerungen
mehr.
Als er nach einigen Tagen eines
Morgens die Augen aufschlug, überkam es ihn gleich, dass es so eigentlich nicht
weitergehen könne. So?, fragte er sich. Ja wie?, forderte er sich zu einer
Antwort auf – die er sich jedoch schuldig bleiben musste. So wich er sich aus:
Es sei erst sieben! Die blöde innere Uhr noch!, maulte er. Was anfangen mit so
einem langen Tag?
Derart mies gelaunt, ging er ans
Fenster, um sich in der Gegend umzusehen. Überblick schaffen von hier oben
aus!, meinte er. Stadtrand ohne Landschaft!, stellte er fest, hatte es
allerdings vorher bereits gewusst. Alles hier schon so total fertig, erledigt.
Obwohl es noch gar nicht richtig da ist. Ohne irgendwie Natur, dass ein Baum
was zudecken könnte, was fürs Auge nichts ist. Der Müll, die Autowracks, die
anscheinend immer zur Umgebung der Drop-outs gehören ... Bei diesen
Beobachtungen überkam ihn noch ein ungutes Gefühl. Er war sich jedoch sofort
sicher, dass es nicht von diesem Verhau da unten herrührte. In den hinein
könnte er sich sogar wachträumen: Dieses verbeulte
Ami-Auto dort ohne Räder und Scheiben, ein Chevy vielleicht. In dem steckte
eine ganze Story von Besitzerstolz, Gafferneid und
Verrichtungen des Lebens. – Was für Flausen!, nahm er sich zurück. Auch in dem
anderen Zeug ... Er könne ja gleich zum Müllromantiker werden ... Irgendwas
fehlt aber da unten! Er wendete sich ab. ... auch hier oben! ...
Er machte sich Milch heiß. Er saß
dann so da und schlürfte immer etwas davon. Als das Glas fast leer war, überkam
ihn die Zeit. Er empfand sie als bewegungsloses Nichts in einem unermesslich
großen, obendrein leeren Raum. Die viele Zeit, die er doch jetzt nach seinem
Befreiungsschlag haben würde. Er ging ganz aufgebracht zum Fenster und sah
umher und zum Himmel hinauf. Da weitete sich ihm alles ins mutmaßliche und
deshalb beängstigende Unendliche. Wozu sich ihm dann noch das Gefühl von
Verlorenheit gesellte ... Er flüchtete in die kleinste Örtlichkeit seiner
Bleibe und befreite sich unter anderem von seinem Entsetzen. Am Ende konnte er
Abstand gewinnen, fasste sogar den Entschluss, darüber nachzudenken, wie er
diesen übergroßen Zeit-Raum irgendwie füllen könne. Dabei wanderte er im Flur
auf und ab. An der Wohnungstür wurde er immer wieder Schritte gewahr, die den
langen Korridor draußen entlang schlurften, trippelten ... Da kam er darauf,
dass es spannend sein könne, den Geräuschen in diesem Wohnsilo hier zu folgen.
Er legte sich gleich auf Lauer. Er presste das Ohr an die Wand zur
Nachbarwohnung. Allerdings war es noch zu früh am Tag. Lauter Leute hier ohne
Arbeit. Die stehen nicht so früh auf, wenn sie überhaupt aufstehen. So einer
von hier hat Angst vor dem Tag!, war er überzeugt.
Als er so auf dem Boden lag und
horchte, schlief er wieder ein.
Beim Erwachen fasste er einen
Entschluss. Er wollte sich ein Hörbild von seiner Umgebung machen. In seiner
natürlich noch vorhandenen Neigung zur Registratur strebte er die Gewichts-,
Geschlechts-, und derlei Feststellung mittels Erfassung des Gehgeräusches an.
Er war sich sicher, bald über die Stimmung der Leute, die er den Flur
entlangkommen hörte, urteilen zu können: erregtes Trippeln, missgelauntes
Schlurfen, tölpeliges Trampeln ... Das lief dann tatsächlich über Tage recht
gut und zufriedenstellend.
Die Stimme eines Kindes, das nach
seiner Mutter rief, drängte sich ihm irgendwann in den Vordergrund: Mama, mach
auf! Das ging so eine ganze Zeit. Immer wieder: Mama ... Tags darauf wieder.
Das fesselte Fischer. Er wartete jeden Tag darauf, konnte ausmachen, dass da
zuerst schwere Schritte waren – Mann mittlerer Größe, etwas Übergewicht,
wertete Fischer, vielleicht Bodybuildertyp. Schritte,
die in dieser Wohnung verschwanden. Türenschlagen – frustrierter Macho,
folgerte Fischer –, drauf das Mamamama und nach kurzer Zeit war der Spuk stets
vorbei. Polternder Abgang des Monsters.
Interessant, dachte Fischer – und füllte seine Zeit damit, dass er seine
Fantasie darin spazieren führte. Fischer hätte brennend gern gewusst, was da
immer lief. Vielleicht ganz einfach etwas Menschliches, kombinierte er, wenn
auch nicht gerade auf brav bürgerliche Art und Weise. Da könnten hingegen
dunkle Geschäfte abgewickelt werden!, durchfuhr es ihn. Drogen etwa oder sonst
was Kriminelles. Ausländer und Verbrecher hier. Und ich gleich nebendran. Wenn
da die Polypen aufkreuzen!, schreckte Fischer auf. Auch bei mir herumschnüffeln
und mich hochnehmen!
Diese Sorge verfolgte ihn. Er
stellte seine Lauschaktion ein, um nicht dauernd wieder auf diesen
ungemütlichen Gedanken zu stoßen.
Irgendwann überkam ihn das
Bedürfnis, entgegen seines Vorsatzes am helllichten Tag seinen Unterschlupf zu
verlassen. Er kämpfte zwar erst ein wenig dagegen an, gab sich doch bald selber
nach. Ein Blick in den Spiegel
überzeugte ihn, sich wenigstens etwas kultivieren zu sollen. Etwas kämmen.
Vielleicht auch waschen. Auch eine Rasur wäre fällig.
Er machte sich dann mit dem Rad auf
den Weg in die City. Umherschlendern. Konserven beschaffen. Vielleicht eine
Spraydose, um das geklaute Fahrrad etwas umzufärben.
Die Bewegung tat gut. Doch die
Puste ging ihm bergauf immer gleich aus. Das Gammeln hat seinen Preis, tröstete
er sich und stieg ab.
Irgendwann war er wieder zuhause
und ging gleich zum Kühlschrank. "Einen Joghurt reinschaufeln!",
redete er laut vor sich hin. Diese weiße Schlotze. Milch – von Blutes Ursprung.
Dem besonderen Saft. Eben Natur. Alles ist Natur, auch und gerade das Viehische
im Menschen!, machten seine Gedanken Sprünge. Ich krame im Kühlschrank und
unversehens in mir!, suchte ihn heim. Und es wird für einen Augenblick
ersichtlich. Wie ich gearbeitet bin. Dass alles allmählich auseinanderfällt. Es
ist immer das gleiche mit dieser Sorge ...
Er zuckte zusammen: Der Schimmel im Joghurtbecher! Ein saustarkes
Sprossen, das. Durchdringen. Zerfressen der Substanz. Natur. Alles zerfällt in
seine letzten Winzigkeiten. Mist, Jauche, Kadaver ... Fischer hielt das
vergammelte Zeug mit ausgestrecktem Arm von sich. Es würgte ihn. Er rannte ins
Bad, schüttete es in die Wanne und starrte es an. Als er sich wieder beruhigt hatte, bemerkte
er, dass er den Becher immer noch in der Hand hielt. Er rannte zum Fenster,
riss es auf und befreite sich davon. Jetzt atmete er tief durch.
Dann schaute er in seiner Wohnung
umher und an sich hinunter. Er wollte sehen, ob seine Befürchtung von vorhin
bereits Wirklichkeit sei. Ob er bereits befallen und bereits angefressen sei
... Es beginnt mit einem winzigen Fleck irgendwo auf der Haut oder an der Wand
oder sonst wo!, warnte er sich. Es ist dann lange bereits krebsig gewesen, wenn
es mit diesem Zeichen aus seiner verfluchten Unsichtbarkeit heraustritt. Es
weitet sich ganz allmählich und unaufhaltsam aus!
Ein Grauen hatte ihn gepackt. Er
begann umherzulaufen, riss Türen auf, eilte durch die Zimmer ... Einige Stunden
mussten vergehen, bis er wieder einigermaßen Frieden fand.
Es stimmt ja noch alles!, konnte er
sich jetzt versichern. In meinem Saustall hier steht noch alles an seinem
Platz, ist nichts weggerottet. Und es hat sich nichts Zersetzendes gezeigt.
Nicht mal neuer Dreck. Es ist der alte. Es ist gar nichts zu ermitteln.
Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich werde die Schatten, die Ränder von meiner Haut
wegwaschen und nachsehen. Ich werde wachsam sein. Das genügt. Er lachte trocken
über sich und seine Zustände, erschrak über seine eigenen Geräusche ...
Fischer setzte seinen langen
Marsch zwischen seinen vier Wänden fort, als wäre er im Freien, in Feld
und Wald. Schließlich kickte er
gegen eine leere Blechbüchse am Boden, dass sie krachend am Küchenschrank
landete ...
Er hatte sich eine Zigarette
angezündet. Er starrte erschrocken, noch mit brennendem Streichholz zwischen
zwei Fingern, auf den Fleck. Auf die Delle, welche die vorhin von ihm getretene
Blechdose auf der glatten Oberfläche des Schrankes hinterlassen hatte. Ein Rest
bürgerlicher Abscheu vor seinem Vandalismus – und ein brennender Schmerz an den
Fingerkuppen ... Er schrie auf und warf das Streichholz weg.
Dann qualmte er wieder etliche
Runden durch sein Geviert. Dabei flog ihn eine Erinnerung an und setzte sich
ihm gleich im Kopf fest: Mein verrückter Versuch, Anker zu werfen in der
Öffentlichkeit damals, damals, damals in diesem Dorf. In dieser Gesellschaft
dort. Wo jeder, wenn immer er nur konnte, aus dem Haus und hinter dem eigenen
Geschwätz herlief. Ich war dann auch – doch nur meiner eigenen fixen Idee
hinterhergelaufen. Stürzte ich mich in das Gemeinwohl, in Verbände, in Vereine.
In alles, womit sie sich ihre Unwichtigkeit überschminken wollten!, beschimpfte
er sich und hastete weiter durch sein Asyl.
Da er jetzt ein hohles Gefühl in
der Magengegend spürte, nahm er einen neuen Anlauf in Richtung Kühlschrank.
Er griff sich wieder ein Töpfchen
Käse, öffnete es äußerst behutsam, während er es weit von sich hielt. Er
kontrollierte es mit Augenscheinnahme – es immer noch mit gestrecktem Arm von
sich weghaltend. Er unterzog eine winzige Löffelspitze der Sinnenprobe von Nase
und Zunge. Er befand es schließlich und vor allem erleichtert als unbedenklich.
Er rückte es in seine Nähe und begann zu löffeln.
Auswaschen und sammeln!, bestimmte
er sich, plötzlich vom Umweltbewusstsein oder so etwas enorm Zeitgemäßem
gepackt.
Später, am Fenster stehend, packte
es ihn gehörig: Kenne ich das eigentlich? Das Abendbrot im Zauber der sinkenden
Sonne genießen. Das Frühstück in der strahlenden Verheißung des Morgens
zelebrieren, wenn sich die zarten Schleier der Morgennebel heben.
Obgleich etwas erschrocken darüber,
was ihm da in seinen Gedanken aufgestiegen war, vor allem wie es sich in seiner
Formulierung dargeboten hatte, gab er sich dem doch weiter hin: Wie sich mir
diese ansonsten hässliche Welt mit Träumen von ihrer Natur garnieren kann!
Vielleicht versetzt es mich in einen Rauschzustand. Der sich schließlich ganz
fett als Optimismus einnistet. Wie viele Gesichter doch das Glück hat! Und in
welches davon habe ich denn überhaupt geschaut?
Sein Blick fuhr jetzt die Wand
entlang, fiel auf die
Staubrahmen. Ein Gedanke ging ihm
durch den Kopf, dass er so eine Stimmung festzuhalten versuchen könnte. Er ging
gleich, um sich einen Stift zu suchen, mindestens Blei, aber besser natürlich
etwas Farbiges, dachte er. Während er alles durchkramte, versuchte er, sich ein
Motiv auszudenken, zu gestalten – eben schon mal in seiner Vorstellung zu
malen. Da kann mir am Ende jeder auf meine Absteige neidisch sein, wegen allem,
was mir hier so begegnet!, begleitete das Suchen und Gestalten. Hier im fünften
Stock gibt sich mir der Tag nachgerade am Morgen und am Abend als Bescherung.
In einer Weise tut er das, wie es die in ihren parterren Häuschen gar nicht
erlangen, nicht mal die auf dem Land draußen. – Er war noch nicht fündig
geworden und dachte daran, die Suche nach Malwerkzeug aufzugeben, wenigstens
fürs Erste. So blieb nur seine Gedankenarbeit, die allerdings wollte er zügig
zu Ende bringen, um sie loszuwerden: Die Häuscheninsassen können das Licht
nicht genießen. Weil sie sich in ihrer Grünbesessenheit die Fenster zuwachsen
lassen und ihre Gärten verdüstern. Also habe ich doch einen Vorteil hier in
meiner Ab-Aufsteige mit dem Weiteinblick. Fischer war jetzt entschlossen, sich
seine guten Gefühle zu
erhalten, wenn möglich zu steigern.
Er griff sich seine Schnapsflasche und hängte sich daran. Bis er richtig
wegsackte.
Der Tag darauf begann ohne
Sonnenerlebnis. Sondern er präsentierte sich mit den bekannten Nachwehen seines
gestrigen Abgangs. Dazu mit Durst. Die Zunge klebte Fischer am Gaumen. Er hatte
das Gefühl, sie nur mit Mengen Flüssigkeit lösen zu können. Während er die
Schnapsflasche von gestern immer wieder an der Wasserleitung füllte, erinnerte
er sich an einen Zeitungsartikel. Dass sie irgendwo das Regenwasser auffingen
und nutzten. Dass sie das Badewasser auffingen und nutzten. Dass sie lauter
solche nützlichen Sachen machten oder wenigsten nur mal darüber redeten ...
Nichts soll mehr verschwendet werden!, versprach sich Fischer. Nichts. In
Hinblick auf die unleugbare Tatsache irgendwann zur Neige gehender Ressourcen –
schwang er sich mit brummendem Schädel auf. Und zwar nicht nur des Weltganzen
im Allgemeinen, sondern auch der eigenen Existenz im Besonderen. Ich sage, es
wird alles Greifbare zurückgewonnen werden, wenn schon das unaufhaltsame Leben
entschwindet ...
Seine Gedanken flogen weiter in die
Höhe – und blieben an der Dachrinne hängen. Dort reifte sofort der Plan, diese anzubohren.
Bei der Menge Regens, die hier in dieser nassen Gegend dauernd vom Himmel
fällt, sagte er sich.
Aber wie?
Er hauste zwar im fünften Stock,
also gleich unterm Dach, doch wie hinaufkommen, ohne bemerkt zu werden. Ohne
auch und vor allem das Genick zu riskieren?
Und dann das Andere alles! – Ach,
das Ausmalen dieser vorhandenen Rahmen da! Sogar eher, das Einbringen der
bereits im Kopf vorhandenen Bilder! – Immer das viele Wie?
Fischer war in der nächsten Zeit
von seinem Vorsatz und dessen Ausführung planerisch voll in Anspruch genommen.
Für kaum etwas sonst hatte er Zeit. Er konnte gerade noch das unbedingt
Erforderliche erledigen. Aber bereits das Endergebnis der Nahrungsaufnahme, die
Ausscheidung – wenig genug bei dem geringen Einsatz im Falle Fischers, aber
immerhin –, bereitete neuerlich Kopfzerbrechen: Könnte ich das Zeug nicht auch
recyceln? So über Pflanzen, Grünzeug und all das. Mensch! – hob er begeistert
ab –, ich mache mir mein Landleben hier, hier oben. Grünwelt
hier! Dass es sprießt und treibt und wuchert in den vier Wänden!
Er genoss das, er ging in all dem
für eine Weile richtig auf – kam allerdings doch wieder zu Boden, als ihm
einfiel, dass er erst sein Wasserproblem lösen müsste – klar Wasser! Da kam ihm
die Fäkalidee wieder: Bestimmt, mit den kleinen und einfachen Dingen
beginnen!
Doch während er seiner Verrichtung
zusah, gingen seine Gedanken wieder zur Dachrinne. Und dass deren Sammlung
durch ein Fallrohr hinabstürzte, um irgendwo aufgefangen und weggeführt und
verschwendet zu werden. Eine Stange zum Hinaufkommen. Ein Rohr. Und irgendwie
ein Loch ins Blech?
Da ließ sich nicht gleich eine
Lösung finden, sondern nur eine Erkenntnis: Dass es gerade die einfachen Dinge
des Lebens sind, die einen vor Rätsel stellen.
Wegen des Wasserproblems beschloss
er bald, sich zunächst mit der Weiterverwendung seines Badewassers zu begnügen.
Was ihm allerdings eine neue Verlegenheit bescherte. Weil bei ihm keine
nennenswerten Mengen Badewassers anfielen. Er schnupperte an sich, begriff, dass
es keine Vergeudung sei, riss sich die Wäsche vom Leib ... Er hatte sich
entspannt und war in der Wanne eingeschlafen. Wieder wach, im jetzt unangenehm
kalten Wasser sitzend, schlugen die Wellen des Alltags erneut über ihm
zusammen: Sollte er sich rasieren oder den Bart stehenlassen, sollte er sich
die Haare etwas kürzen oder hinten zusammenbinden, sollte er ... Unter fluchen
auf die Banalitäten der Lebensbewältigung sprang er aus der Wanne,
so dass ihm ein gehöriger Schwapp
nach- und herausplatschte. Aufwischen oder es sein lassen? Die Schwierigkeiten
nahmen kein Ende. Was sich da an
Resignation anzubahnen drohte, wurde allerdings gleich von einem Einfall
überlagert. Dass er ja noch gar kein Grünzeug für die Verwertung seines
Badewassers und Begründung der Aufforstung und Landschaftsgestaltung seiner
Wohnung besaß. Der daraus erwachsende, auf jeden Fall höherwertigere
Planungsgedanke rettete ihn davor, in den sich aufdrängenden Alltäglichkeiten
auf- und vielleicht sogar unterzugehen. Auf diese Weise erlöst, plante er
aufzubrechen, um sich Natur zu beschaffen.
Und das mit dem Loch? – Es beim
Badewasser lassen. Wenn ich mich nur öfter badete, dann hätte ich Wasser genug.
Im Übrigen mit düngerwertiger Versetzung des abgetragenen Hautbesatzes. Ohne
Seife, freilich. Und noch mehr Gebüsch muss her. Pflanzen. Diese und jene. Und
mit Eigenwasser beginnen. Mit welchem auch immer! Es muss hier alles grün
werden. Zu den Fenstern rausquellen. Wuchern. Sich jede Ritze erobern und
besetzen. Das Mauerwerk durchsetzen und sprengen. Aufs Teufelskommraus.
Dass am Ende alles zusammenkracht. Und es über dem ganzen Schutt brünstig weiter
wuchert ...
Wie viel Zeit gebe ich mir hier?
Wird es wenigstens noch zur Durchgrünung reichen?, wollte ihn am Ende doch
seinen Eifer etwas anfechten.
Erst mal kurz raus hier!
Er lief sich im Grunde selber davon
– und sogar in die vermutlich richtige Richtung, in die Stadt. Nach etlichen
Besorgungen kam Fischer völlig geschafft zurück. Er schleppte eine große,
unförmige Einkaufstasche. In der waren etwa ein Dutzend mickrige Setzlinge
verstaut. Er hatte ordentlich zu schleppen. Er maulte dauernd etwas von einem
Idioten von Verkäufer, der auch noch Wasser drüber gekippt hatte, dass das
ganze Grünzeug jetzt noch schwerer sei. Die Namen der Pflanzen hatte sich
Fischer eine Weile selber aufgesagt. Doch diese Litanei war immer kürzer
geworden und schließlich mit dem Sammelnamen Scheißzeug bedacht. Es war fast ein Leidensweg, den er heute
zurücklegte – zusätzlich durch die Erinnerung belastet, dass er wieder
vergessen hatte, sich Malstifte zu besorgen.
Aufheiterung bescherte ihm dann der
Einfall, sich in sein geplantes grünes Paradies irgendwann auch ein Stück Vieh
zu stellen. Eine Ziege vielleicht. Ziegen seien sehr genügsam, machte er sich
vor. Aber nein, sie sollen einen ziemlich strengen Geruch verströmen. Wenn
allerdings die Pflanzen groß sind, dann werden die Ausdünstungen doch auf die
natürlichste Weise recycelt, bildete er sich ein. Er habe ja sogar vor,
erinnerte er sich, sein persönliches Abwasser dort hinein abzuschlagen. Sogar
die schweren Sachen ließen sich gewiss irgendwann im Humus und zu dessen
Anreicherung in der zimmerlichen Pflanzenlandschaft unterbringen. Irgendwer
hatte jedenfalls behauptet, dass das alles möglich sei. Einer muss ja mal damit
anfangen.
So langte er vor dem Betonturm an,
das Eingeholte in der Linken, mit der Rechten hielt er das Fahrrad. Ein paar
Halbwüchsige blödelten am Eingang zum Wohnblock herum. Da Fischer keine andere
Möglichkeit sah, die Haustüre zu öffnen, balancierte er mit dem rechten Bein zur
Tür, um den Fuß hinter die Klinke zu bringen. Es mochte komisch aussehen. Nach
dem dritten Versuch konnte er einhaken und wollte nun die Tür aufziehen. Vom
"Hauruck" der Flegel begleitet, gelang es ihm endlich. Er erhielt
hämischen Beifall von der Bande. "Verdammte Bastarde, verkommenes
Gesindel, asoziales Mistpack!", wetterte er – allerdings gerade nur so
laut, dass bloß ein Geräusch seiner Unmutsäußerung bei den – wie er überzeugt
war – dreckigen Ohren der Halbstarken ankommen konnte. Mehr riskierte er nicht,
denn er wollte aus der Zeitung wissen, dass diese seiner Überzeugung nach
versaute Jugend mit Messern und Schlagstöcken hantierte. Dann war der Aufzug
da. Es roch heute besonders streng. Er verstaute seine Sachen und streckte
gerade die Hand aus, um das Stockwerk zu wählen. Da zwängte sich eine etwas
üppige Frau, so am Beginn des dritten Lebensjahrzehnts mochte sie stehen, in
den engen Kasten und war dann beinahe hautnah bei ihm. Fischer lief ob dieser
Nähe ein angenehmer Schauder über den Rücken. Er blickte jedoch in einer
Mischung aus Freundlichkeit und Vorwurf an der Frau vorbei. Sie behauptete,
sorglos lächelnd, dass das die alte Kiste locker nach oben schaffe. Dass da
noch ein paar rein könnten – was sich Fischer allerdings gar nicht wünschte.
Ein missverständliches Grinsen
mochte sich in seine Züge verirrt haben. Die Türe hatte sich gerade
geschlossen. Als er in ein von Vitalität strahlendes Gesicht blickte, errötete
er. Er hätte jetzt gerne etwas gesagt, doch es fiel ihm nichts in dieser Situation
Verwertbares ein. Angenehm peinlich berührt, schloss er die Augen. Als der
Fahrstuhl mit dem vertrauten Ruck anfuhr, war da wieder das wohlige Gefühl in
der Magengegend. In dem Augenblick wurde Fischer des intensiven, ihn auf
unerklärliche Weise ungemein herausfordernden Odeurs seines weiblichen
Gegenübers gewahr. Lustvoll überwältigt, öffnete er wieder die Augen – und
begegnete einem glühenden Strahlen. Ist ja irgendwie toll!, fand er, und nahm
den Glanz für Augenblicke wieder hinter die geschlossenen Lider mit. Aus
Ratlosigkeit, was jetzt zu tun sei, streckte er den Arm aus, um an ihr vorbei
noch mal die Stockwerktaste zu drücken. Sie musste diese Geste missverstanden
oder, sei's drum, bewusst fehlgedeutet haben. Jedenfalls sank sie Fischer mit
einem tiefen Seufzer an die schmale Brust.
Fischer konnte nicht ausschließen,
dass ihr in ihrem Befinden etwas Abträgliches zugestoßen sei. Klar, die Hitze,
die Enge. So konnte er gar nicht anders, als sie in einer Aufwallung
mitmenschlichen Fühlens zu umschlingen und festzuhalten. Seine Last war
allerdings hellwach und quicklebendig, das fühlte er ganz deutlich. Wieder
überkam ihn dieses ungemein angenehme Schaudern.
Er hielt sie jedenfalls
umschlungen. Sich in ihrer umfangenen Lage sanktioniert fühlend, begann die
Frau damit, etwas zu erzählen. Fischer
war über das Mitteilungsbedürfnis zwar erstaunt, bereute seinen Handlungsirrtum
von vorhin jedoch keineswegs. Er fühlte das fremde weiche Fleisch an seinem
Körper unter den verbalen Lebensäußerungen angenehm beben. Ja, ihre weiblichen
Konturen arbeiteten sich in Fischers Bewusstsein hinein und lösten eine ihm
schier unbekannte Wallung aus.
Und das alles in Sekunden. Ein
Wunder!, war er sich gewiss.
Sie mussten gleich auf Höhe des
dritten Stockwerkes sein. Diese Eva redete immer noch – eine Etage weiter
schien das Stenogramm ihrer Lebensgeschichte abgespult. Fischer hatte indessen
nur etwas von vier bis fünf größeren Hieben des Schicksals mitbekommen, die sie
meist im Gefolge von Scheißkerlen abbekommen hatte. Auf jeden Fall wusste er
jetzt, was für ein gebeuteltes Wesen er da immer noch in seinen Armen hielt.
Das richtige Leben also, kein Spuk, nicht bloß ein Traum. Es war immer noch
reichlich angenehm, ungemein prickelnd.
Fischer befiel es irrsinnig, dieses
Leben halten zu wollen – und sich also etwas einfallen lassen zu müssen, wie
das stetig nach oben strebende Gefährt zu stoppen sei. Allerdings hätte ein
zusätzliches Eingehen auf die ihm immer noch vorgetragene Biografie, eine
Denkleistung in zwei Schichten erforderlich gemacht, mit allen Gefahren der
Fehlleistung. Jetzt in dieser so wichtigen Phase meiner Existenz keinen Fehler
machen!, ermahnte er sich. Als der
Zielruck, der die Eingeweide ebenfalls immer so angenehm bewegte, erfolgt war,
drückte Fischer einfach die Taste fürs Erdgeschoss. Seine Leibdame kicherte,
griff nach hinten – und brachte mit einer gewissen Tastenkombination den
Fahrstuhl noch vor dem Erreichen eines Stockwerkes zum Stehen.
Fischer hatte bis jetzt noch kein
Wort gesprochen. Was nun ablief, machte das weiterhin überflüssig.
Hatte er je gehört, dass eine
Frauensperson viel Zeit aufzuwenden habe, um sich anzukleiden, so erhielt er
jetzt und in diesem sehr engen Raum den Beweis, dass der umgekehrte Vorgang
keinesfalls des gleichen Aufwandes bedürfe.
Alles erschien ihm jetzt
märchenhaft unkompliziert. Abgesehen davon, dass sie ihm in einer gewissen
Zuordnung behilflich sein musste, weil er da anatomisch nicht so bewandert war,
lief alles beinahe wie von selber. Jedenfalls war es befreiend und
unkompliziert ...
Fischer glaubte am Ende nicht mehr,
dass er bis vor kurzem noch anderer Meinung gewesen war. Nämlich dass alles,
insbesondere mit dem anderen Geschlecht, sehr verwickelt sei. Er war, noch im
Aufzug, davon angetan, ab heute alle Leute, die es sich so leichtmachen und das
Leben überhaupt auf die leichte Schulter nehmen, ganz und gar zu verstehen. Ja,
er plante, einer von ihnen zu sein. Während er sich noch mit solchen
Grundsätzlichkeiten beschäftigte, war seine Gefährtin bereits erneut mit
irgendetwas auf Sendung. Der Aufzug musste wieder in Fahrt gebracht werden,
bevor ein Menschenauflauf stattfinden oder gar der Hausmeister anrücken würde.
Sie fuhren zur Tarnung einen Stock
weiter und begaben sich dann über
die Treppe nach unten. Das war umständlich genug mit dem Fahrrad und dem
Einkauf. Aber auch hier zeigte sich das zupackende Talent von Fischers
Begleiterin. Vor der Türe zu seiner Wohnung strengte er sich an, doch noch ein
Wort herauszubringen: "Kommen sie – du-sie mich besuchen? Doch mal?",
stotterte er. Sie hatte ihn erschrocken angestarrt, als er den Kopf bei seinen
Worten angestrengt nach vorne geschoben und wohl ein wenig idiotisch geglotzt
hatte. Gleich war jedoch wieder das Strahlen in ihrem Gesicht. Freudige Zustimmung.
Ein flüchtiges Küsschen. Dann wippelte sie davon –
von verträumten Blicken verfolgt.
Hinter der geschlossenen Tür
lauschte Fischer den davoneilenden Schritten noch in der Erinnerung. Er hatte
dieses satte Bild vor Augen, das sich da überaus beschwingt von hinnen bewegte.
Ein Wunder ist mir widerfahren!, kam ihn an – und so ein Gefühl, bei dem es
sich um die bare Seligkeit handeln musste. Sie hat wohl nicht weit, kalkulierte
er. Gleiche Etage. Nur weiter hinten. Die hatte ich doch gehört. Das ist die
mit diesem tänzelnden Gang. Selbstverständlich. Habe ich richtig eingeschätzt:
eminent erotisch, die!
Er packte seinen Einkauf aus, fügte
das Grünzeug seiner bereits bestehenden, doch noch recht schütteren Pflanzung
hinzu. Schließlich begoss er sein bisschen Natur mit dem ziemlich jauchig
riechendem Badewasser und kommentierte: "Wo’s stinkt, da gedeiht’s",
weiß ein jeder auf dem Lande. Einen Ranken Brot in der Hand, setzte er sich
aufs Bett und sinnierte dem Tagesablauf nach. Er verspürte heute allerdings
nicht viel Lust, den Dingen allzu tief auf den Grund zu gehen.
Bald war er eingenickt.
Als er erwachte, machte er sich
daran, sein sonderbares Land weiter zu kultivieren: Diese hängenden Gärten,
schoss es ihn in den Sinn. "Piscator", fügte er hinzu – jetzt doch
wieder der Name vom Pass, redete er sich ein. Und zwar wegen des fremden Klangs
und überhaupt in Anlehnung an diesen Teil der Sieben Weltwunder der Antike.
Ebenso weil Piscator klanglich eher zu der legendären Semiramis mit den
erwähnten Gärten passte. Er konnte sich
jetzt selber stumm Meldung machen: Heute Grünzeug gewässert. Wachstum
kontrolliert. Bei-Kraut ... – und nicht etwa Unkraut, welche Bezeichnung eine
widernatürliche Unverschämtheit sei – ... also Bei-Kraut gejätet. Es folgten
auf diese Weise einige erfüllte Tage! Im Ganzen höchst befriedigend!,
bestätigte er sich sein Tun. Er blickte umher und jubelte auf: Prima!
Beim Philodendron im Wassereimer
tut sich was. Unten am Stängel Ausbuchtungen, Hervortretungen,
rundum solche verheißungsvollen Knuppel. So ein Wunder, wie das da kommt. Ganz
deutlich winzige Wurzeln bereits, sagenhaft. Leben bricht hervor! Fischer
starrte lange voll Entzücken auf seine Entdeckung. Er konnte sich gar nicht
losreißen und murmelte vor sich hin: "Pflanzen erkennen und benennen;
Verhältnis zu grünen Hausgenossen vertiefen; Rückwirkung auf eigenes
Seelenleben; Empfehlung an gesamte Menschheit, auf diese
Weise im Hause Erde zu
verfahren." Mit dieser Rakete hatte er sich dann doch selber etwas
erschreckt, setzte dennoch nach: "Was einer kennt, das kann er achten, ja
lieben lernen." Fischer fühlte sich
in seinem gedanklichen Patchworking wohl. Ein
schrilles Läuten an der Wohnungstür beendete allerdings jäh den eben erzeugten
Gleichklang mit sich selber. Er schreckte auf.
Die ... Klar, den Geräuschen nach
mehrere Störer.
Die da draußen waren ganz offenbar
ungeduldig.
Das aufdringliche Geklingle wiederholte sich.
Unmöglich Besucher! Wer könnte das
sonst sein? Wer weiß von mir hier? Fischer überkam ein Entsetzen. Er fühlte,
wie es im gar nicht mehr enden wollendem Generve sich in seinem Inneren eiskalt
ausbreitete: die Polizei! Die Schnüffler! Sie haben mich aufgespürt!
Ein Trommeln an die Tür. Scharren.
Dann diese Stimmen – Fischer war ratlos: diese Stimmen – jedenfalls nicht von
Männern, von Polizisten! Oder sie haben ja jetzt auch Tussen in Uniform!
Fischer fiel aus seinem Horror in eine nicht weniger packende Bestürzung, als
ihm aufging, dass da draußen auch diese brutalen Rüpel an die Türe hämmern
könnten. Die von vor dem Haus neulich erst. Die Fahrstuhlpisser. Diebe und
Dealer. Jetzt bin ich dran. Jetzt wollen sie mich terrorisieren. Mich, einen
Friedlichen. Einen Wehrlosen. Wie könnte ich mich auch verteidigen? Wen könnte
ich um Hilfe rufen? Die Polizei etwa?
An der Tür wurde es noch lauter –
ein Hund brachte sich dazu auf seine Art ein.
Doch die Bullen! Ein ganzes
Kommando! Mit Spürhund!
Aus! Ich bin aufgeflogen und
aufgeschmissen. Das war es dann wohl! Nur eine Stippvisite in der Freiheit! Die
trommeln das ganze Haus zusammen! Wenn es doch Rambos sind. Sie sollen mich
zumindest gleich so zurichten, dass man mich ins Krankenhaus bringen muss. Wenigstens
nicht sofort in den Knast!, beruhigte ihn allerdings kaum. Schicksalsergeben schlurfte er zur Tür. Er
dachte noch für einen Augenblick daran, sich mit einem Küchenmesser zu
bewaffnen. Er ließ es jedoch sein, öffnete, auf alles gefasst, unbeholfen – und
fiel fast in eine Schockstarre! Vor ihm stand die dralle Gefährtin aus dem
Aufzug. Ein sonderbarer Laut entfuhr seiner Kehle in seinem Gefühlsmix aus
Angst, Erlösung, Staunen. Fischer erblickte mit weit aufgerissenen Augen hinter
der Frau noch zwei Jungen, nach dem anstrengenden Radaumachen nun auf Koffern
rastend. Daneben lagen einige Bündel, von einem zotteligen Hund bewacht.
Gefolgschaft und Zubehör.
Ihm ahnte etwas!
Besuch? Nach dem Gepäck zu
urteilen, einer, der plante, nicht so bald wieder abzuziehen. Fischer war immer
noch sprachlos. Er gab nur noch so einen Laut wie vorhin von sich und vergaß
den Mund wieder zu schließen. Was ihm den Kommentar aus Kindermund eintrug, ein
komischer Heini zu sein. Die Frau tat, nachdem der Kritiker von eben eine
saftige gefangen hatte, einen Schritt auf Fischer zu und informierte ihn,
Rebekka zu heißen. Der Zug kam wie auf Kommando in Bewegung. Sie drängten sich
mit ihrer Habe an dem sprachlosen Wohnungsinhaber vorbei.
Die quasi Ansiedlung schritt
schnell voran. Übung darin schien vorhanden und sich auszuzahlen – wie es ihr
nun einmal zu eigen ist.
Nach einigen Tagen ergab sich
Fischer dem Gefühl, allein wegen der in seinen vier Wänden eingetretenen Enge
gehörig aus der Bahn geworfen zu sein. Resignation kündigte sich bereits an.
Der Eindruck beschlich ihn, dass die verhältnismäßig starken Emissionen von
Geräuschen und die enorme Betriebsamkeit der bei ihm Eingedrungenen seine
Existenz bedrohten. Möglicherweise hätte er bald aufgegeben, wären da nicht
auch allerhand Annehmlichkeiten gewesen. So arbeitete er redlich daran, wieder
Boden unter die Füße zu bekommen. Dann
war es ihm sogar geglückt, einem der Jungen Farbstifte abzubetteln. Mit diesen
malte er in zwei der Staubrahmen Bilder, die er ja längst im Kopf hatte.
"Landschaften!", behauptete er stolz.
"Nulles Rumgepinke!",
hielten die Jungen cool dagegen.
Sein Los wurde wieder durch das
seit Tagen herrschende Regenwetter erschwert. War er als Einzelkämpfer in solch
trüben Zeiten im Bett geblieben, so hatte er sich jetzt auf Rebekkas Geheiß mit
den anderen im Wohnzimmer zu versammeln. Sie hockten sich dort auf der Pelle.
Der Himmel sah aus, als wollte er sich weiterhin ergießen. "Nordstau der
Alpen", war immer wieder aus dem Radio zu hören. Immer wieder
Kurznachrichten. Musik, Musik. Den ganzen Tag plärrte und schepperte Bayern
Drei. "Tatü, tatü, tatüta", echote Fischer immer seine Münchenmelodie
"solang der alte Peter". Die Anderen ärgerte das. Diesen Ärger genoss
Fischer mit breiter Foppvisage.
Nach einigen Tagen in dieser
Zwangslage fiel Fischer auf, dass seine Wohnungsgenossen immer dann in eine
andächtige Stille fielen, wenn der Sender nach seinem Tatü-tatü-tatüta begann,
Straßenberichte abzusetzen: ... auf der Autobahn München-Nürnberg bei der
Ausfahrt Manching; das und das bei Stegen am Ammersee in beiden Richtungen; auf
der A 9 in Richtung Ingolstadt ... Schlagartig war Ruhe in der Stube. Selbst
der Hund schien das einleitende Signal zu begreifen, er spitzte die Ohren und
wedelte mit dem Schwanz. Die Kinder hörten angespannt zu und hielten mitten im
Satz den Mund.
Als er das begriffen hatte, stellte
Fischer seine akustische Rache ein. Er beteiligte sich mit wachsendem Interesse
an der Höraktion: Da ein Crash mit Kurzschilderung von Verlauf und Folgen; dort
wieder Stopp-and-Go; wohlmeinende Belehrung ... Man hatte dann selber seine
Ratschläge abzusetzen und zu diskutieren. Allmählich war ihm die Musik nur noch
Hintergrundbeschallung. Sie konnten jetzt bringen, was sie wollten.
Sein Gesicht wurde ebenfalls auf
besagtes Signal hin lang. Sein Tatü..., auf das er bereits festgelegt war,
wurde zunehmend melodischer und vor allem ausgesprochen verhalten. Am Ende
entdeckte Fischer sogar, dass seine Fantasie bei diesem Anlass Flügel bekam. Er
machte sich immer ohne Verzug in die vom Radio genannte Gegend auf und kam auf
diese Weise in wenigen Sekunden im ganzen Land herum. Man war immer gleich weit
weg. Man erträumte sich eine Blitzreise in den entferntesten Landstrich. Man
war bei dem jeweils genannten Geschehen zugegen, träumte sich in Situationen
hinein, war Held der Landstraße, Sanitäter oder bloß Katastrophentourist.
Wegen der Bereicherung, die einem
da zuteilwurde, ließ Fischer das plärrende Ding selbst dann an, wenn sich die
Bande in den Supermarkt abgesetzt hatte. Er malte dabei den einen oder anderen
der Rahmen an der Wand aus oder übermalte mit anderem Motiv. Nicht dass es
jemand von seinen Wohngenossen gut gefunden hätte, was er da so hervorbrachte.
Doch es tat ihm wohl, sich damit beschäftigen zu können. Nur an dem kruzifixernen Rahmen blieb er immer hängen, ratlos.
Heute packte ihn der Trübsinn.
Fischer überflog sein Grün, das augenscheinlich nicht vorankommen wollte, mit
traurigen Blicken. Er blieb am dürftigen Blattwerk hängen und machte sich vor,
dass die Pflanzen sehnsüchtig durch das Fenster auf das viele Nass blickten.
Und dass sie den Wunsch hegten, sich so richtig volllaufen zu lassen. Er
spielte kurz mit dem Gedanken, es an ihrer statt zu tun, ging aber doch nur,
Wasser für die Gewächse zu holen. Er wollte keinen Stress mit Rebekka haben.
Die Jungen waren dann mit sich beschäftigt – sie hatten im Großmarkt
verschiedene Sachen mitgehen lassen und verglichen hier die Beute. Fischer gab
sich währenddessen einer von ihm noch vor Kurzem als völlig indiskutabel weit
von sich gewiesenen Betätigung hin. Er nahm sich des Hundes mit einer Lektion
Pfötchengeben an. Das Vieh war ja noch so unerzogen.
Ein Idyll entstand auf diese Weise:
zwei heftig diskutierende, sich ab und zu balgende Knaben; Hund und Herr im
Bestreben, die Domestikation zu vertiefen.
So verging eine geraume Zeit – bis
Rebekka von der Kochnische her mit einem Aufschrei die Szene stoppte. Der Hund
hatte sich mit einem Satz unter den Tisch in Sicherheit gebracht. Die
Zweibeiner starrten auf die entsetzte Frau. Sie suchten mit den Augen Scherben
auf dem Boden, ein blutiges Messer auf dem Tisch ...
Nichts.
"Mensch, ich habe die
Kartoffeln vergessen!" Das löste die Spannung.
Alle wollten wieder ihrer
Beschäftigung nachgehen.
"Los, wir müssen wieder in die
Stadt!", herrschte Rebekka die Jungen an.
Ärger im Gesicht. Murren:
"Soll doch der gehen! Der Alte!", Markus zeigte mit dem Finger auf
Fischer.
"Folge deiner Mutter!",
ermahnte der ihn – und erhielt eine Grimasse zur Antwort.
Rebekka hatte die Jungen schon bei
der Hand gepackt und war dabei, sie aus der Wohnung zu zerren. Etwas wie
"Scheiß Penner" wollte Fischer in seine Richtung hin noch mitbekommen
haben. Er lauschte genussvoll dem Schwinden des Spektakels nach. Als alles
ruhig war, ging er, um zu sehen, was Rebekka bei ihrem ersten Gang alles
heimgeschleppt hatte. Er wühlte in den noch nicht verstauten Nahrungsmitteln
und stieß auf eine Zeitung, die als Verpackung gedient hatte. Bei dieser blieb
er hängen, weil er sich wunderte, dass hier eine Gazette aus einer kleinen
Nachbarstadt auftauchte. Er überflog die Seiten, las hier und da etwas genauer
und stieß auf einen Artikel im Heimatteil. Dieser eröffnete die Möglichkeit,
ausgewachsene Kartoffeln, ja sogar deren Schalen zur Erzeugung frischer Ernte
zu nutzen. Fischer war begeistert und plante, sofort damit anzufangen, wenn
Rebekka mit dem Einkauf da war und zu schälen begonnen haben würde. Er glotzte
auf seine Pflanzentöpfe und nahm sozusagen Maß.
Die Regenwoche war dann endlich
vorbei. Aber die Feuchtigkeit hing noch in der Luft. Es war unangenehm kühl. Dieses Wetter war
wieder ständig Thema: Anfang August wie Herbst, klagten alle.
Sie hockten herum, Frau, Kinder,
Hund und Mann. Gelegentlich zwängte sich wer zwischen den anderen durch. Jeder
hatte so seinen Bereich, den er aufmerksam hütete und durch Auslegen von
Krimskrams allmählich auszuweiten versuchte.
Man rempelte dann schon mal etwas
absichtlich an. Ein Aufschrei, gepaart manchmal mit einem Gegenschlag, brachte
Bewegung in die Szene und ein bisschen Entladung. Zudem waren da die vielen
Blumentöpfe, die weiter so vor sich hin mickerten und
sich für Rebekka zu einem immer ärgerlicher werdenden Hindernis auswuchsen. Das
Zeug roch immer merkwürdiger, je länger die Fenster wegen des Wetters
geschlossen bleiben mussten. Rebekka hatte allerdings den Jungen längst
eingeschärft, dass alle diesen Blödsinn hinnehmen müssten. Jeder müsse auch ein
wenig verrückt sein dürfen.
Weil er sonst ganz überschnappt.
Dann waren da die Bilderrahmen
ausgemalt: Bäume, immer wieder Bäume, darunter Wiese, durchsetzt mit bunten
Tupfen, die wohl Blumen darstellten, Tierchen. Oder was jemand mit ausreichend
Fantasie dafür halten mochte ... Nur das Kreuz war leer geblieben – bis eines
Morgens darauf oder eher darüber so etwas wie ein Korpus gekritzelt war.
Fischer warf nur einen kurzen Blick darauf und fühlte sich wie elektrisiert. Er
verlor jedoch kein Wort, tat so, als berühre ihn das nicht, dass da wer von der
Bande in sein Handwerk gepfuscht hatte. Und wie!
Er merkte bald, wie ihn die Jungen
immer wieder von der Seite belauerten. Er tat ihnen aber nicht den Gefallen,
eine Bemerkung abzugeben. Das erhöhte noch die Spannung zwischen ihnen. Mit
jedem Blick umher schien die Wohnung enger zu werden. Kaum ein richtiger Streit
wollte mehr losbrechen, mit dem sie sich für kurze Weile hätten Luft schaffen
können.
Dann kam gegen Mittag die Sonne
durch. Es entwickelte sich bald eine unerträgliche Schwüle. Die Kinder waren
mit dem Hund hinuntergeschickt worden. Sie hatten den Auftrag, ihn sein längst
fälliges Geschäft irgendwo außerhalb, allerdings nicht auf der Straße machen zu
lassen. Damit es nicht wieder Ärger gebe. Erziehung sei ..., hatte Rebekka
sinniert, während sie ihren beiden Jungen nachblickte: "Erziehung ist,
wenn jemand nicht wo aneckt. So beknackt, wie das ist, es ist so." Dann
nahm sie wieder ihr Frauenjournal in Augenhöhe und tauchte in die andere, ihr
weitgehend versagte Welt.
"Raus aus der Bude!",
schrie Fischer plötzlich. Rebekka war dadurch mit einem Ruck aus der Harmonie
ihres Fortsetzungsromans gerissen und hatte im Reflex die Arme in Abwehrhaltung
hochgerissen. Sie ärgerte sich jetzt über ihre Reaktion und schaute Fischer mit
stechendem Blick an. "Los, pack dich zusammen! Wir gehen baden!",
befahl Fischer.
"Du hast doch wohl nicht alle
Latten im Zaun! Das Wasser ist nach dem Regen eiskalt. Der Boden ist schlammig
vollgesoffen. Da frierst du dir einen ab. Da holst du dir was und die Kinder
auch. Dann rotzt ihr hier rum, im Sommer. Da ist das besonders blöd, so eine
Sommergrippe!"
"Ich habe vorhin in den
Spiegel gesehen: Ich setze ja schon Schimmel an!", jammerte Fischer und
ging mit dem Kopf ganz nahe zu Rebekka, um ihr eine wunde, nässelnde Stelle
hinterm Ohr zu zeigen. Sie wich quietschend zurück. Um sie zu ärgern, folgte er
ihr, bis sie ihn mit Fäusten bearbeitete. Er schrie, dass er heute voll drauf
sei, und warf sich auf sie. Sie wälzten sich auf dem Boden, drückten und
balgten sich – während Rebekka keuchend eine Inhaltsangabe ihres rührenden
Fortsetzungsromans von sich gab, aus dem sie durch Fischers irre Anwandlung
gerissen worden war: "Dass da ein Geschäftsmann erkrankt war und seine
Nichte die im heiratsfähigen Alter und gescheit und hübsch war beauftragt hat
den Laden zu führen da sei aber eines Tages der Stiefsohn des Alten aufgetaucht
und hat sich eingemischt und Mist gebaut lauter so Sachen und das arme Mädchen
hat er ganz link angeschmiert um ans Geld zu kommen und gerade als sich die
Sache zu lösen begann vielleicht zugunsten des armen Mädchens so ein richtig
armes Schwein wie man selber ja immer mal eines ist da ist er Fischer
aufgetaucht und habe sie angemacht jetzt weiß sie nicht, ob das Mädchen das
Geschäft und Nachbars Sohn diesen feschen Doktor gekriegt hat ..."
Rebekka war durch diesen Bericht
unter laufender
Gegenwehr gehörig in Atemnot
gekommen. Doch Fischer setzte die Balgerei unbarmherzig fort. Sein bisschen
Kraft durch Hektik steigernd, walkte er Rebekka mit beiden Armen und hielt sie
sozusagen in Schwebe zwischen Lust und Schmerz. Selber konnte er zwischen
seinem Gekeuche nur einige Grunzlaute von sich geben.
Rebekka hatte schließlich nur noch
Sorge, dass die Jungen gleich wieder zurück wären. Als sie sich darauf
schweißtriefend erhoben und ihre Sachen im Zimmer zusammensuchten, schimpfte
Rebekka, dass er dauernd eine Sauerei in der Badewanne mache. Wegen seinem
blöden Grünzeug überall rum. Jetzt müsse sie doch mit in das fiese Freibad.
Weil alle nur einmal in der Woche, noch dazu ohne Seife, in die Wanne können.
Hier, in diesem stinkenden Laden. "Du bist ein richtiger ..., na, ich will
ja gar nicht mehr sagen, in allen Sachen bist du ... du bist eben ein ganz
verrückter Hund!", schloss sie ihr Lamento. Die Jungen streunten noch
unten rum. Rebekka holte sie mit einem kräftigen Pfiff herbei. Sie hatte die
Finger zu Hilfe genommen. Fischer war von ihrer Pfeifkunst begeistert und bat
sie, ihm das auch beizubringen. Er habe es seit seiner Schulzeit immer wieder,
aber ohne Erfolg, da ohne Anleitung, versucht.
Bald machten sie sich auf den Weg.
Die kleine Kolonne hatte nur ein paar Straßenzüge zu passieren, bis sie im
Freibad war, einem Seitenarm des Lechs.
"Wenigstens keine Leute
da!", freute sich Fischer. Rebekka schimpfte, dass ihm das ähnlichsehe.
Wenn nur keine Leute da seien, dann fühle er sich bereits wohl. Da könne er
doch gleich aufs Dorf ziehen. Und überhaupt, da könne es auch arschkalt sein.
Er lande doch noch in der Klapsmühle – und sie geriete immer nur an Hanswurste.
Vor Ort fröstelte es Rebekka beim
bloßen Anblick des rasch dahinfließenden grünbraunen Wassers. Sie blieb eine
Weile demonstrativ zitternd mit hochgezogenen Schultern und über der Brust
verkrampften Armen stehen. Bis sie sich entschließen konnte, sich wenigstens
auf die Decke zu setzen, waren die Jungen bereits im Auewäldchen verschwunden.
"Du glaubst ja gar nicht, wie
du allein bist, wenn du allein bist in diesem komischen Sozialstaat. Oder wie
der Affenstall um uns rum heißt!", fing Rebekka unvermittelt an. Fischer
konnte nur mit einem erstauntem "Aha" reagieren. Eine Weile Stille,
bis Rebekka ganz traurig verkündete, dass sie baden gehe. Sie streifte sich die
Klamotten vom Leib.
"Was machst du?", fragte
Fischer entsetzt. Er musste lachen, als sie sich anscheinend entschlossen zum
kalten Nass hin bewegte. Er lief ihr nach. Auf dem Weg zum Wasser zeterte sie
noch, dass es sich um lauter Halunken handle, in diesem Staat, lauter Männer:
"Der Staat sind alles Männer. Die schlimmsten sind die Kissenfurzer, die
wo kein Verständnis für Alleinerziehende mit zwei Gören haben. Die paar Weiber,
die da mitmischen, sind oft schlimmer als wie die Männer ..."
Fischer war ratlos und wich aus:
"Als wie", setzte er an – und bereute es sofort. So wiederholte er:
"Als wie, so was gibt es nicht in einer anständigen ..." In einer
versucht versöhnlichen Art schloss er:
"... Spreche!"
Zu spät! Sie nannte ihn einen
beknackten Oberlehrer, der ihr gerade noch gefehlt habe in ihrer
Sammlung von Dreibeinern. Damit
schien die Sache für sie erledigt zu sein – wenigstens vorerst. Sie tauchte
kritisch einen Fuß ins Nass, nach und nach – ganz vorsichtig und unter Stöhnen
und verhaltenem Kreischen – weitere Körperteile. Fischer machte es ihr nach,
versagte sich hingegen, männlich gefasst, die Töne des Unbehagens. Es folgte
eine Weile Herumplanschen mit Waschversuchen unter Verwendung von Seife. Die
Veranstaltung wurde mit Verstauen der Sachen und Herbeipfeifen der beiden
Jungen beendet. Auf dem Nachhauseweg merkte Rebekka an, dass es natürlich
Männer gebe, einigermaßen richtige: "Aber die sitzen oft im Knast. Die laufen
nicht als solche Witzbolde rum wie du!"
Fischer steckte das einigermaßen
gelassen weg. Er trottete hinter der Gruppe her und hörte sich zur Entspannung
an, was sie in den Flussauen alles getrieben hatten: Kleine Frösche fangen;
sehen, was die Leute alles weggeschmissen hatten, versiffte Matratzen, abgeschlappte Autoreifen, jede Menge Plastikzeug ...
Zu Hause schien für Rebekka wieder
alles im Lot. Sie bewegte sich in alter Frische. Schließlich war es nach den
Fernsehstunden Zeit, den Tag auf der Matratze zu beenden.
Fischer hatte am Morgen drauf das
Bein vorsichtig aus dem Bett gestreckt. Er maulte, durch künstliches
Zähneklappern unterstreichend, dass gegen Mitte August, wo eigentlich die
Hundstage sein sollten, so eine Kälte herrsche. Nur ein paar Badetage und dann
gleich dieser Verrat an der guten Laune.
Das blasse, dünne Ding war wieder
unter die Decke gezogen worden. Oben nörgelte es weiter über die verhexte
Gegend hier, dass die Leute da im Sommer heizen müssten. Abhauen von hier. Weg,
in ein anderes Land, am besten auf eine Insel in der Südsee.
"Was?", krächzte Rebekka
heiser unter der Bettdecke hervor. Das hatte bedrohlich geklungen. Fischer warf
sich herum, um nach ihr zu sehen. Sie war hervorgetaucht und wiederholte ihre
Frage eigentümlich gut gelaunt: "Was murmelst du da dauernd?" Sie
ließ ihm keine Zeit zu antworten. "Was ist heute für einer? Der fuffzehnte
August?" Sie hatte sich, die unwirtliche Kälte missachtend, die Decke vom
nackten Körper gerissen und ruckartig aufgesetzt. Fischer war nicht viel Zeit
gegönnt, sie erotisch zu mustern. Sie war gleich auf den Beinen, im Bad,
angekleidet und hatte die Jungen lautstark und unnachsichtig aus den Federn
getrieben.
Fischer wusste sich keinen anderen
Rat, als sich zum Schutz und aus Abscheu vor der ganzen Hektik die Decke über
den Kopf zu ziehen.
Jetzt ging sie mit entschlossenen
Schritten auf sein Lager zu und riss ihm lachend, allerdings rücksichtslos das
Federbett vom eingeigelten Körper. Er klagte über ihre Brutalität, demonstrativ
zitternd, und angelte nach seiner Zudecke. Sie schien keine Zeit zu haben, sich
weiter mit ihm abzugeben, und warf ihm die Decke hin. Als er in der sicheren
Wärme lag, konnte er sich aus einem winzigen
Sehschlitz zwischen seinem Plumeau
und dem
Kopfkissen doch noch dem Genuss von
Rebekkas Erscheinung widmen. Sie war in voller Aufmachung: Ein Kostüm, das er
gar nicht kannte, ausgesprochen schick. Was für ein Kontrast zu der immer halb
offenen Kittelschürze mit den knautschigen Klamotten darunter, dachte er. Etwas
Schminke, Lippenstift und Lidschatten. Als richtige Dame huschte sie herum. Ich
kann mich gar nicht erinnern, sie je so gesehen zu haben, staunte er. In seiner Begeisterung hatte er den Kopf
unter der Verhüllung hervorgebracht. Es blieb ihm allerdings nur Zeit, sein
Wohlgefallen mit einem Pfiff auszudrücken. Sie eröffnete ihm sofort ihre Pläne
für diesen Tag: "Also hör zu: Die Jungen schmeißt du nach dem Füttern
raus. Die gehen auslüften, waren gestern nach dem Baden noch den ganzen Tag in
der Bude. Zieh ihnen die Friesennerze an und Gummistiefel. Mit dem Hund musst
du auch raus. Du weißt ja. Dir schadet frische Luft auch nicht. Du siehst schon
graugrün aus wie einer aus dem U-Boot ..."
"Das Boot, dieser tolle Film,
hat seine Spuren hinterlassen!", jubelte Fischer. "Da siehst du es,
dass das Fernsehen doch eine Bildungseinrichtung ist!" "Ich sage dir
was ganz anderes, du Stubenclown:
Solltest raus hier. Und solltest
sehen, wie wieder Knete in die Kasse kommt. Sonst verkommst du.
Siehst eh aus wie ein Penner!"
Das saß und hatte Fischer wenigstens für den Augenblick sprachlos gemacht. Sie
achtete nicht darauf, sondern fuhr mit ihren Informationen fort: "Ich komm
erst wieder am Abend! Auch darfst du was von deinem windigen Grünzeug
rausschmeißen. Weil, der Hund will da dauernd rumwühlen. Muss den da dauernd wegtreiben.
Wenn der da einmal reingepinkelt hat, dann macht er’s immer wieder!"
"Wohin machst du denn
eigentlich?", wollte Fischer wissen.
"Gehe anschaffen. Bisschen
Geld verdienen für unsere nicht vorhandene Haushaltskasse. Bei den Amis. Gibt
ja hier noch genug und in allen Hautfarben, brauchen auch Tröstung die
Jungs!", ärgerte sie ihn.
"Lass den Quatsch!"
"Also nicht. Ich fahr nach
Landsberg in den Knast. Das habe ich dir doch gesagt, dass ich da Besuche
mache. Die Kerle brauchen das, dass sie sich nicht vergessen vorkommen. Der
Pfarrer dort hat behauptet, das ist wie ein großes Fenster nach draußen für die
Seele, wenn da wer kommt."
"Au, Pfarrer und Seele obendrauf!", wimmerte Fischer, "und
Pfarrer und du!"
"Seele hat er gesagt, na ja,
bei seinem Job eigentlich ganz normal", verteidigte sie ihn. Gleich holte
sie jedoch weiter aus: "Die Kerls haben auch Leib, sage ich dir! Manchmal
einen, der aus ihren Augen mir recht deutlich entgegen geiert!", rächte
sich Rebekka. "Unter zwei Anträgen für alle möglichen Sachen, kann ich dir
sagen, geh ich da nicht raus.
Wenn sie könnten, täten sie’s auch
noch vor Ort!" Das begrinste sie hämisch.
Fischer wollte sich auf keinen Fall
eingestehen, dass das bei ihm so etwas wie Eifersucht aktiviert haben könnte.
Er schwieg und glotzte Rebekka mit weit aufgerissenen Augen an.
"Was, da gehen dir die Augen
auf?", triumphierte sie und meinte dann, dass er sich ihr anschließen
könne. Sie werde ihn auf jeden Fall schon mal ankündigen.
"Wenn ich dann auch
Heiratsanträge kriege?" Mit einem "Blödmann!" knallte sie die
Tür hinter sich zu.
Fischer sprang aus dem Bett und
lief ihr nach. "Okay!", rief er keuchend in die Ecke gegenüber, wo
sie begonnen hatte herumzukramen, "wir können die Jungen mit Hund in den
Tierpark schicken. Da machen die Onkels vom Zoo immer ein Ferienprogramm, habe
ich irgendwo mitgekriegt. Die von Raiffeisen karren Kinder aus der Provinz an.
McDonald’s bläst Luftballons auf. Ich fahre gleich mit dir, das interessiert
mich. Allerdings male ich schnell noch ein paar Kreuze in meine Bilder an der
Wand". Er lachte seinem Schwenker hinterher und ergänzte bissig, dass das
ja jetzt angebracht sei, wegen ihres Verhältnisses zu Pfarrer und Seele. Rebekka tippte mit dem Finger an die
Stirn.
"Ja, schau her",
reagierte er, "hier scheint bei irgendwem der Glaube ausgebrochen zu sein,
denn das Kreuz war ja neulich mit einem Korpus dekoriert worden."
"Ach so", kam zunächst
nur von ihr. Dann setzte sie die Frage nach, ob das mit seinem Kreuzchenplan gleich sein müsse.
"Einfälle künstlerischer Art
müssen immer sofort umgesetzt werden", begann er zu dozieren, "denn
sie sind flüchtig wie ein Hauch Rosenduft." "Igitt!", ihr
Kommentar. "So sieht es bei dir tatsächlich aus, du Einfallsduft!"
Dem ätzte sie noch nach: "Eher wie ein Furz im Wind!" "Habe ich
ganz überhört!", erklärte er gelassen. "Waren wohl die Jungen! Du
vielleicht nicht gerade", fuhr er fort. "Es hat mich darauf gebracht,
dass ja auf dem Land immer wieder Feldkreuze zu sehen sind. Deshalb ergänze ich
noch schnell meine Bilder, es dauert ja nicht lange. Schau her!" Er hatte
gleich einen Stift zur Hand und setzte seinen tatsächlich kleinen Plan um.
Sie konnte dabei nur den Kopf
schütteln, während sie ab und zu sein langgezogenes Du-vielleicht-nicht-Gerade
wiederholte.
Als er nach diesem Vorspiel mit ihr
im Bus saß und aus dem Fenster blickte, überkam ihn Wehmut. Wegen der
pflanzlichen Pracht, etwa jetzt auf dem Lande, sogar auf dem mageren Lechfeld –
der Illusion von Weite und Ferne. An seine Kümmerlinge in den Töpfen, die
meistens noch größer waren als ihr botanischer Inhalt, wagte er gar nicht zu
denken. Man täuscht sich immer über die Wirklichkeit hinweg in seiner Traumwandlerei, jammerte er in sich hinein. Bis sie einen
einholt und packt mit ihrer Greiferklaue. Die Pleite im Kopf dann immer. In der Anstalt erfuhr Rebekka, dass ihre
Besuchsperson ins Freigängerhaus umgezogen und unterwegs war. Die Enttäuschung
war ihr deutlich anzumerken. Eine Unterhaltung mit anderen wollte nicht in Gang
kommen. So blieb es heute nur ein kurzer Besuch. Nach dem Verlassen der Anstalt
bildete sich Rebekka ein, noch unbedingt sehen zu müssen, wo etwa die neue Unterkunft
ihres Freigängers lag. Fischer war nur widerwillig mitgegangen. Er hatte sich
allerdings, seiner zwar etwas getrübten, doch noch vorhandenen Grünzeugliebe wegen, über den daneben liegenden
landwirtschaftlichen Betrieb der Vollzugsanstalt informiert. Jetzt befanden sie sich auf dem Weg in die
Stadt. Sie gingen schweigend nebeneinander. Plötzlich sagte Rebekka: "Du
hast doch Dreck am Stecken, hast du mir mal verraten. Dich werden sie
vielleicht irgendwann holen, die von der Polente." Fischer schwieg betreten.
Sie hatten die Bundesstraße
überquert und befanden sich bereits auf der Fußgängerbrücke, die sich hier über
den Geländeeinschnitt für die Gleisanlage der Eisenbahn spannte. Dann bummelten
sie durch die Altstadt.
Bis zur Abfahrt hatten sie noch eine
gute Stunde. Sie schlenderten umher und fühlten sich als Touristen. Rebekka
musterte die Leute und rätselte, woher sie wohl jeweils gekommen waren. Diese
Menschen hatten es ihr angetan, Reisende, Touristen, vielleicht von weit her.
Sie war in Gedanken ganz auf Reisen durch die Lüfte und über die Meere. Im Garten des Cafés am alten Mühlbach nahmen
sie Platz.
Der Tee wurde ihnen serviert.
Sie schwiegen und schauten auf das
eilig dahinfließende Wasser im Mühlkanal. "Wenn ich lange hingucke",
meinte sie, "dann kommt es mir vor, als fahre ich auf einem Schiff!"
Rebekka genoss das – plötzlich fuhr sie auf: "He, lass uns doch weg von
hier, irgendwo nach Übersee, einfach weg!"
Fischer reagierte nicht gleich. Er drehte sich eine Zigarette und
konzentrierte sich auf das. "Stell dir vor", holte Rebekka aus,
"da hat mir so eine olle Bekannte – ging mit mir putzen – einen irren Tipp
gegeben. Sagt die – schon länger her: Wenn du wann in Urlaub willst oder gleich
ganz weg, dann gib doch deine beiden kleinen Scheißer ins Heim. Oder lass die
Bengel ein bissl ein Ding drehen, dass sie abgeholt werden. Oder vielleicht was
ganz Krasses, gleich was ganz Mieses. Hat die gesagt. Dann bist du die Plagn für eine ganze Weile los. Da musst du nicht gleich
ein Gewissen kriegen. Denn das steht ja oft in der Zeitung, dass solche
versauten Ratten mit einem Typen vom Stützeamt ganz
weit woandershin gebracht werden. Amerika oder zum Russen. In einen sauteuren
Besserungsurlaub fahren dürfen sie. Kannst du mir glauben, dass es denen dann
besser geht als wie dir selber. Wurscht, ob sie besser werden. Du bist eine
Zeit lang frei." Rebekka blickte Fischer lauernd an, wartete vermutlich
auf etwas Moralisches zu ihrem Bericht. Er schien allerdings mit den Gedanken
weit weg gewesen zu sein und hatte vermutlich gar nicht richtig zugehört. Sie
holte ihn zurück, indem sie fragte, ob er Geld habe.
"Null, fast", brummelte
er. Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas.
"Man müsste weg – verdammt vor
sich selber weg!", murmelte Fischer vor sich hin.
Rebekka hakte ein: "So wie die
Leute hier, die hier rumlaufen. Die Leute aus Japan oder Hamburg. Oder halt
gleich nach Amerika. Bei denen ist alles viel größer. Nicht so eng. Weites Land
und leben auf dem Land. Oder in denen ihren großen Städten. Lieber in der
Stadt, weil die Leute auf dem Land auch da drüben Leute vom Land sind. So wie
überall. In der großen Stadt, da fällst du gar nicht auf. Da kannst du machen,
was du willst, da kümmert sich keiner drum! Auf dem Land ist es so, dass jeder
auf einen schaut und auf jeden! Da fühlst du dich immer beobachtet. Darauf sind
sie ganz scharf, dass jemand was Schräges gemacht hat und die Spießer das
mitkriegen und dann weitererzählen. Und dass es dabei immer fetter wird und zu
einer richtig geilen Story."
Rebekka musste zur Toilette. Als
sie wieder erschien, hatte Fischer das Geld für die kleine Zeche auf den Tisch
gezählt. "Verflucht, ich bin blank, völlig abgebrannt, alle Quellen
versiegt!", jammerte er.
Rebekka legte noch zwei Münzen als
Trinkgeld für die Bedienung hinzu: "Das Klo war umsonst – und das sind
auch oft arme Luder".
"Die Stütze vom Sozialamt
reicht nicht für uns alle!", erklärte sie, "möglich, dass du
irgendwann wieder in die Maloche musst. Aber ich glaube, du hast Dreck am
Stecken. Wie du gesagt hast". Er ging nur mit einem Stöhnen darauf ein und
erhob sich. Dann bummelten sie die Allee entlang in Richtung Brücke.
Von Weitem das tiefe, satte
Rauschen des Wassers, das über die drei Stufen des Flusswehrs stürzte. Sie
gingen wortlos nebeneinander. Eine Gruppe Urlauber, wohl wieder eine ganze
Busladung, kam ihnen schwatzend, schauend, knipsend entgegen. Sie mussten vor
der Menschenflut ab und zu ganz an die Mauer treten.
Da legte er Rebekka den Arm über
die Schulter und fing damit an, ihr zu berichten, dass er sich nach der
Landwirtschaft des Gefängnisses erkundigt habe. Da könnte er arbeiten.
"Na und?", fragte Rebekka
erstaunt, "willst du vielleicht dort einen Job?"
"Einen freilich nicht ganz
gewöhnlichen!", fuhr er fort und setzte gleich hinzu, dass er es jetzt
doch endlich hinter sich bringen wolle. Sie schaute ihn erstaunt von der Seite
an und schimpfte schließlich drauflos auf den ganzen Quatsch. Dass er oft so komisch
daherrede, dass jeder erst eine Weile nachdenken müsse und dann doch nicht
selber draufkomme.
Nun packte er richtig aus, dass er
sich stellen wolle: "Wegen meines Drecks am Stecken, wie du so beinahe
treffend formuliert hast. Es ist immerhin nur ein bissl Schmuddel und
eigentlich gar kein richtiger im landläufigem, sondern nur im juristischen Sinn.
Weil zu klauen für einen guten Zweck und noch dazu von Leuten, denen es
überhaupt nicht wehtut, sondern sogar – allerdings auf weiteren
Umwegen ..."
"Mensch, du nervst mit deinem
Durcheinander immer!", unterbrach sie ihn verärgert. Er brachte seine
Erklärung gebündelt zu Ende. Er verriet ihr, dass er für jene klebrige Finger
gehabt habe und es für die getan habe, die sich mit viel Edelmut und Freizeitopfer
ums Wohl unserer Natur annähmen. "Weißt du, ich werde dann ein richtiges
Leben auf dem Land führen. Vielleicht kein ganz so richtiges, wegen der doch
etwas beengten Umstände im Knast. Aber ein doch einigermaßen originelles
Landleben", lachte er zum Schluss. Aus Rebekkas eine Weile vor Erstaunen
offengebliebenen Mund kam voll abgründigem Abscheu: "Landleben. So mit
viel Grün und Stinkestall. Das Viehzeug. Immer mit den gleichen Leuten um dich
rum, von denen die Uniformen dir sogar Befehle geben". Es schüttelte sie
direkt.
"Ich würde am liebsten gleich hierbleiben.
Da brächte ich die hier allerdings in Verlegenheit", bekannte Fischer in
ihre immer noch sichtbar nachklingenden Bedenken hinein. "Denn die Justiz
will erst auf Trab gebracht sein. – Ach, kennst du die Geschichte da von ganz
früher aus der Königszeit? Wo der Landstreicher jeweils zu Winterbeginn vor dem
Knast auftauchte und brüllte, dass seine Majestät ein Riesenarschloch sei. Das
erste Mal sei er noch vor Gericht gestellt und verknackt worden.
Die folgenden Jahre aber wurde er
von den Wärtern mit viel Verständnis und ohne weiteren Kommentar wegen
Majestätsbeleidigung für ein paar Monate eingelocht. So war er also seinem
Wunsch gemäß für die raue Jahreszeit beheizt behaust und befüttert?"
"Eine ganz bekackte
Story!", maulte Rebekka.
"Typisch für dich. So ein
Schmarrn!" "Nun ja, des Königs Zeiten sind ja längst vorbei
...", wollte er abrunden.
"Arschlöcher gibt es immerhin
noch genug!", sprang sie ihn an.
Er zog sich diesen Schuh nicht an,
sondern kam plötzlich mit einer Erinnerung daher: "Da fällt mir gerade was
ein. Du kannst selbstverständlich meinen Urwaldversuch aus der Wohnung
schmeißen, wenn ich weg bin. Doch die Töpfe mit den Kartoffeln drin solltest du
behalten. Denn das gibt dann doch eine Mahlzeit für euch drei."
"Ich habe sowas alles kommen sehen
mit diesem Kerl!", murmelte sie auf der Heimfahrt immer wieder mal vor
sich hin.
Und ihm tat sie leid.
So, der Wagen war jetzt dem Auftrag
gemäß vor der Brücke abgestellt. Eine kleine Anhöhe etwas abseits, ein
Kirchlein lugte durch die Baumkronen. Tafeln davor, von denen eine an ein
römisches Heerlager erinnerte, das sich hier befand. Natürlich tauchten da
gleich die Gedanken an die Römersiedlung auf, die Abodiacum
hieß. Epfach wurde daraus. Sie hatten sich in
neuester Zeit darauf besonnen und ihre Dorfstraße nach der Via Claudia benannt,
die ganz früher hier durchführte. Ich solle mich gefälligst von diesen
Betrachtungen losreißen, raunzte es mich an: Dieser ganze Wust von Oppidum am
Fluss; Castellum auf dem Berg, der jetzt dem heiligen
Lorenz geweiht ist; die paar römischen Bruchstücke, die sie noch ausbuddeln und
im ehemaligen Waaghäuschen in der Mitte des Dorfes ausstellen konnten. Die
Steine der Römersiedlung sind vermutlich in Kuhställen der barbarischen
Nachrücker verbaut oder per Floß nach Augsburg gebracht und verhökert worden
... Ich ließ von dem schließlich doch etwas gallig geratenen Gedankenmenü und
wendete meine Schritte der Brücke zu. Der Lech floss da unter mir zu dieser
Sommerzeit grün und friedlich in Richtung Landsberg, um sich dort die
Staustufen hinunterzustürzen.
Am doppelt lebensgroßen Lorenz
vorbei führte mich mein Weg. Ich passierte die bronzene Hülle, nicht ohne mit
der Hand über seine große Zehe zu streichen. (Das soll für irgendwas gut sein,
glaubte auch ich. Ich tat es also wie offenbar viele der Passanten, die diese
Übung an der dadurch entsprechend polierten Stelle vollführt hatten.) Am
anderen Ufer angelangt, stieg die Straße nach etlichen Metern an. Sie führte
den Hang entlang. Dieser erstreckte sich östlich des Lechs über zig Kilometer
und wand sich zur Decke der Altmoräne hinauf. Die ich sofort als Landsberger
Platte erinnert bekam.
Eine Kapelle zur Rechten auf einer
schmalen Terrasse der Halde. Frisch rot das Dach, wie angestrichen. Ein
Türmchen. Helles Ocker das Gemäuer. Auch drumherum alles proper. Blumen in
Sträußchen oder eingepflanzt. Beinahe putzig, dachte ich und warf noch einen
Blick darauf – zugegeben etwas boshaft, um vielleicht einen Gartenzwerg
auszumachen.
Meine Rechte fuhr zur Stirn. Es war
ganz mechanisch, vielleicht sogar aus tiefem, wie stets unkontrolliertem
Inneren über mich gekommen: Stirn, Brust, Schulter links, dann Schulter rechts.
Menschenskind, ein Kreuzschlag. Schnell mit einem fast ungläubigen
Kopfschütteln die Straßenseite gewechselt! Denn zwischen die Kreuzgedanken fuhr
die Erinnerung, dass alle Fußgänger außerhalb von Ortschaften dem Verkehr
entgegen gehen müssten. Ich war mittlerweile etwas außer Atem geraten, denn die
Steigung und mein eiliger Schritt verlangten ihren Tribut. Trotzdem
weitermarschiert! Dann huschte mir ein Grinsen durch die Züge – über mich
selber. Ich glaubte mich der Flucht aus der Gegend mit dem Bethäuschen
da und meiner Unwillkürlichkeit mit dem Kreuzschlag von vorhin selbst überführt.
"Was hat mein Autor nicht alles von sich in mich eingepflanzt?",
meine an mich selber gerichtete Frage.
Da war die Serpentine, an der die
geteerte Fahrbahn nach rechts bergan führte. Ich nahm die Abzweigung nach links
und befand mich auf einem Grasweg, der etwas abfiel. Das tat gut. Na ja, dachte
ich, das macht sich die Landschaft mit einem eben steileren Anstieg irgendwo da
hinten wieder wett. Auf seinem Weg wird einem nichts geschenkt. Da war sofort
so eine Regel von schulischer Herkunft präsent: "Was an Kraft gewonnen
wird, geht an Weg verloren – und umgekehrt selbstverständlich." Es klang
mir gut, allein weil es von der Philosophie des Lebensweges weg und in die
kühle Physik führte. Ich zweifelte – eigentlich nur sehr kurz –, ob solche
Gedanken hier her passten und wenn dem so wäre, ob ich mich ihrer denn
überhaupt bedienen sollte. Nämlich zu meiner Unternehmung, meinte ich – und
überhaupt zum Ambiente, der ganzen Schönheit hier: Links streifte der Blick
über Wiesen und Felder, hinunter auf die Gepflegtheit eines Reiterhofes. Rechts
den Hang aufwärts überraschte die reiche Palette des Grüns der Fichten, Buchen,
des Ahorns, von Gebüsch unterstanden. Wo die Kronen der Bäume den Boden in
Schatten hielten, lief der Besatz in weite weiche Moosteppiche aus. Dass einem
die Versuchung überkommen mochte, sich des Schuhwerks zu entledigen ...
Hingegen lachten bunte Wiesenflecken hervor, wo die Sonne den Boden ... – ja
was?, küsste etwa?, herzte?, liebkoste? Ich atmete tief durch, einmal, zweimal.
Es tat gut, und ich fuhr eine Weile fort mit diesem Lustgewinn. Ich blieb
stehen und blickte umher. Wieder fing mich diese paradiesisch reiche Natur ein:
Da gesellte sich mir zum Gezwitscher der Vögel, vorbei am Summen von Insekten,
eines Stocks von wilden Bienen vielleicht, das Rauschen der Kronen und mündete
nach ein paar Schritten in ein sanftes helles Plätschern. Wasser! Kühle
Feuchte! Ein Bach! Es durchrieselte mich geradezu beglückend in der Vorstellung
von Erfrischung, Erquickung, Labsal. Den Klang genießend, begann ich zu suchen.
Eine köstlich frische Quelle stellte ich mir vor und wie sie kühl und rein
hervorsprudelte. Ich verließ den Weg, schlug mich durchs Unterholz, stieg –
immer der Symphonie des Wasserspiels folgend – einen Hang hinab. Da! Es strömte
hervor, der kräftige Strahl von Tropfen silbrig glänzend umspielt, makellos,
quoll es aus dem Schoß des Berges – überkam es mich. Ich streckte meine Hand
danach aus. Ich ließ diesen Segen der Erde über beide Hände rieseln. Ich
erfrischte den Puls, benetzte das Gesicht, sehnte mich währenddessen nach dem
ersten Schluck. Ich beugte mich hinab und schöpfte das mir bereits mythisch
geratene Nass mit der hohlen Hand. Ein, zwei tiefe Schlucke. Tief Luft geholt.
Eine Handvoll und noch eine und noch eine übers heiße Haupt und den Nacken
hinunter. "Mein Gott", hörte ich es laut vor mich hinsagen, "das
gedeiht dir ja richtig zur Taufe!"
Als ich mich erhoben hatte, war ich
ganz eingenommen von diesem Einfall, während ich wieder die Böschung
hinaufstieg – an einigen Stellen auf allen Vieren. Dieses Getauftsein
solle mir sogar zu einer zu erinnernden Begegnung mit früheren Tagen gedeihen,
die mich jetzt begleiten würde, wurde mir eingegeben.
Da wollte sich das Verständnis
einstellen, was diese Handlung eigentlich bedeutete. Als volle Urwohltat
offenbarte sie sich mir ("Na danke schön!", setzte ich nach, um ein
wenig Abstand zu gewinnen). Sie zeigte sich dann allerdings sofort ohne
Möglichkeit, sie (die Urwohltat)
näher beschreiben zu können, widrigenfalls schwände sie wieder, war mir sofort
bewusst. "Okay, okay, dann belassen wir es eben beim bloßen Gefühl",
gab ich nach und
setzte hinzu, "was ja meistens
auch angenehmer ist."
Während ich mich in diesen Handel
verquickt hatte, übersah ich einen Wurzelstock und stolperte darüber. Im Ringen
ums Gleichgewicht hatte ich mir gehörig auf die Zunge gebissen. Jetzt war ich
eine Weile mit diesem Schmerz beschäftigt. So dass die Wohltat von vorhin samt
des Versuchs, sie gedanklich zu fassen, augenblicklich verflogen war.
Weiter des Wegs und allmählich
schmerzfrei, sah ich mich jetzt im Rückblick und dabei einigermaßen verdutzt
als immerhin bekreuzigt und gewissermaßen getauft.
Was nicht alles über mich
ausgeschüttet worden war!
Verwundert stellte ich fest, dass
ich geradezu versucht war, mich aufzulehnen. Gegen keinen Geringeren als meinen
Autor, der mich ja auf diese Reise geschickt hatte (und natürlich, wie
unvermeidlich in seinem Job, immer gegenwärtig war). Er hatte mich – wie
dargestellt – gedanklich ausgestattet und mich ja — das sei ihm dankend
anerkannt — durch eine bezaubernde Landschaft geführt. Was ich ihm allerdings
vorzuwerfen mich geradezu genötigt sah, war, dass er mich aus der Schönheit der
unmittelbaren Wahrnehmung stets sofort wieder herausriss. Ich erinnere hier den
Naturgenuss, der mich begleitet hatte. Sein Eingriff erfolgte nicht lediglich
mittels strukturierender, von Hause aus entzaubernder Reflexion. Sondern er kam
auch über mich mit dem Instrument solcher Zumutungen wie den vorhin
geschilderten Schmerzen als Folge des Stolperns. (Wobei ich mutmaße, dass diese
Vorgänge von symbolischem Charakter waren, die einen Hinweis enthielten auf die
Gefährlichkeit solch geistiger Ausflüge und Abhebungen.) Worunter ich ferner –
das fühlte ich ganz deutlich – im Augenblick richtig litt, das war der Umstand,
dass ich vielleicht nur Figur zu sein schien. Eine, die vom Autor durch eine,
gewiss nur seine Geschichte geleitet, eventuell sogar getrieben wurde. Ob es
mir da gelingen könnte, eine eigene, lebbare Vita zu
erlangen? So eine mit einem
richtigen Auf und Ab des wirklichen Vorhandenseins; eine, die einen selber
vorantreibt und die Anderen, die ebenfalls zu dieser Wirklichkeit zählten,
neugierig werden lässt. Überhaupt ist noch die Frage offen, ob ich eine mehr oder
auch nur minder eigen verfügbare Leiblichkeit erfahren kann. Oder ob ich
lediglich je nach Laune und Gutdünken des Autors gelegentlich eine zugeteilt
bekäme.
Ich befürchtete beinahe, dass ich
mich selber danach umsehen müsse. Mich der Verwegenheit der Selbsterschaffung
befleißigend. So blieb mir zunächst nichts anderes übrig, als – unter Vorbehalt
zwar – wacker voranzuschreiten. Mich nicht etwa hier auf diesem Weg irgendwo im
Lechtal durch schlichte Weigerung wieder in eine Nichtvorhandenheit
aufzulösen.
Ich beabsichtigte fürs Erste, mich
schlicht und einfach als eben sogar recht anwesend wahrzunehmen und – wie
gesagt – auf den weiteren Weg zu machen. Denn es gab viel zu sehen und
wahrzuhaben. Solche konkreten Dinge wie die bereits ein wenig nachgezeichnete
Landschaft hier. Wenn meine Gedanken dem Blick rechts hinauf folgten, erkannte
ich, dass sich mir der Schoß der Erde auftun wollte. Dass Mutter Erde mir
gleichwohl etwas von ihrem Inneren zu offenbaren gedachte. Es sollte aber nicht
prompt in ein quasi erdkundlich Erotisches abgeglitten werden. Oder von ihm
angestiftet, gar in andere Bereiche des prallen Lebens abgeirrt werden. In
etwas mit seinem zugegeben auch von mir darin vermutetem Annehmlichem, wie es
eben dem Sinnlichem so zukommt.
Mein Blick wurde also versachlicht:
Nach dem Passieren einer Windung, die weiter in die Höhe führte, öffnete sich
ein Geländeaufbruch, dem seine Decke abgerutscht war. Das Auge legte die
Struktur der Gesteinsschichtung frei und ließ sie Auskunft geben. Gelb und ockerfarben
zeigten sich die waagrechten Lagen. An manchen Stellen ins Graue übergehend –
beinahe sortierte Formationen, dann wieder grob gemischtes Material
unterschiedlicher Größen. Unten als verbackenes
Gebilde ... Gewaltiger Vorstoß der Eismassen denkbar (vor ... – ja vor
Zigtausenden von Jahren), alles abschleifend, davontragend, umlagernd.
Allmählicher Rückzug. Später unter der wiedergekehrten Wärme. Als sich die
Sonne ihrer Kraft besann; verwitternd abdeckend; versöhnender Bewuchs
schließlich. Als wollte die Natur einen guten Eindruck hinterlassen nach dieser
wilden Zeit ...
An dieser Stelle bekam ich vom
Autor die Anweisung, mich an so etwas wie die Schulzeit zu erinnern (als
reichte es nicht schon) und dort einmal in Erdkunde, von den Eiszeiten gehört zu
haben. Mit der Erlaubnis, stehen zu bleiben. Was mir natürlich guttat. Wegen
der Anstrengung bergauf, die mir ein wenig in die Knochen gegangen war und mir
zudem wieder ein wenig die Puste geraubt hatte. Ich dürfe ruhig zugeben, dass
damals alles nur für eine Prüfungsaufgabe eingepaukt und dann aber vergessen
worden sei. Ich solle jedoch auf Würm-, Riss-, Mindelglazial
(wie gewählt!) eingehen und dartun, was da zu erblicken war.
Ich fuhr also mit dem Auge wieder
die Schotterwand empor. "Hunderttausende Jahre haben da ihren Schutt
abgeladen", redete ich vor mich hin. Da erhielt ich gleich einen Rüffel
wegen des abwertenden Begriffs Schutt: Eine sich in Zeitlupentempo
fortbewegende, Hunderte Meter starke Eisraupe habe
sich angestrengt, das Gebirge abzuhobeln. Was den Menschen zwar den Blick in
Richtung Süden zwar nicht ganz frei gemacht, aber immerhin den
Schlechtwetterstau der Alpen doch ein wenig gemildert und damit vieles hier im
Norden des Gebirges erträglicher gemacht habe. Und das Geröllgut sei redlicherweise
von dieser Raupe bei ihrem Zurückweichen hier liegen gelassen worden. Damit
wurden immerhin ganze Landschaften gestaltet, die jetzt touristischen Reiz
besitzen. "Albernes Zeug", riskierte ich zu kommentieren. Er solle
mich nicht behandeln, als müsse er mir den Pauker spielen. Im Übrigen sei Würm
als letzte Eiszeit an dieser Geländestelle zu vernachlässigen.
(Ich sagte ja im Allgemeinen etwas
auf, redete daher – was ich, zugegeben, gar nicht immer verstand, also
eingesagt, eingegeben bekommen hatte. Ich bezichtigte an dieser Stelle meinen
Autor, mich gelegentlich ganz ungeniert dem sogenannten Zungenreden
anheimgegeben zu haben. Einer seltenen Erscheinungsform, die dem ordinären
Nachplappern eng verwandt ist. Die allerdings als die genannte Urform eigentlich
nur biblischen Figuren zukäme. Und auch da lediglich zu Pfingsten. Als vor
langer Zeit der Heilige Geist über sie gekommen sei.)
Er ging mir auf meine kritische
Bemerkung nicht ein – was mich allerdings nicht gerade wunderte. Es war ja
überhaupt nicht ganz auszuschließen, dass ich irgendwie und wenigstens zum Teil
als Alter Ego meines Autors zu firmieren hatte (was er, wie es bei ihm und
seinesgleichen branchenüblich ist, natürlich nie so ohne Umschweife zugeben
würde).
Ich hatte mich weiter voran zu
begeben und stapfte drauflos. Wieder eine Serpentine nach rechts. Mein Blick
fiel auf einen Stein, den ich sofort als eine Gedenkstele ausmachte. Meine
Schritte lenkte ich zu dem Objekt und versuchte, die Schrift durch die angewitterte Oberfläche hindurch zu entziffern: Hirschauweg ... 1938 angelegt ... Ich war enttäuscht. Hatte
ich doch geglaubt, diesem Weg ein ehrwürdiges Alter zuordnen zu können. Er lief
den Hang entlang und führte zu einer ehemaligen Fährstelle über den Lech.
Andererseits diente er, nahm ich an, vielen frommen Wallfahrern aus dem
Schwäbischen, die hier entlang ihre Sorgen, in Fürbitten gepackt, zur
Muttergottes schleppten. Sofort war ich — vielleicht sogar aus Rache – mit den
Gedanken in der in den Stein gehauenen Zeit, 1938. Soweit man halt als Heutiger
mittels der brüchigen, so genannten geschichtlichen Aufarbeitung Zugang dazu
bekommen kann. Reichsarbeitsdienst zur nutzbringenden Beseitigung der
Arbeitslosigkeit, wurde mir eingesagt. Diese verflucht glorreichen Jahre des
Volkes, wo sie es mit dem Satan trieben ... Ich wollte hier nicht verweilen.
Denn vielleicht war der Teufel noch hier, ging mir durch den Kopf. Und ich
schüttelte denselben über diesen Einfall, dass mir das einige Meter von dem
Stein entfernt errichtete Gestell des Funkmastes, das ich dabei in die Augen
bekam, fast umzukippen drohte. Auch darüber ein Anflug Sinnens über dieses
famose Geschenk der heutigen Zeit an uns.
Doch ich sollte ja in die Richtung
Wallfahrtskirche dort in Vilgertshofen wallen, war
mir aufgetragen worden.
Eiszeit, Letternstein, Sendemast
und was sich darum alles im Kopf, den mir mein Autor aufgesetzt hatte, rankte!
Es ist kein Wunder, dass den Menschen die Gedanken manchmal aus dem Ruder
laufen – und sie sich am Ende selber nur als Einfall und banale Schnapsidee
begreifen wollen.
Ich zog den schnurgeraden Weg
entlang.
Links und rechts hohe Stämme, stark
durchforsteter Bestand. Auffallend weniger Mut, die Natur sich selber zu
überlassen, als an der Leite vorhin, dachte ich. Sie haben ja vor, war
verlautet worden, den staatlichen Forst mehr auf Gewinn zu bringen, wurde mir
erinnert. Alles verstanden. Langholzstapel. Da und dort frische
Bearbeitungsspuren. Eine Waldarbeiterhütte – auf Rädern. Ich wollte an
Gemütlichkeit und Romantik denken, obwohl oder gerade deswegen, weil ich beim
eigenen Tun Ermattung und Schweiß spürte. "Im Schweiße deines Angesichts
sollst du ...", war allerdings auch gleich da. "So ein sonderbarer
Fluch", setzte ich an. Ich konnte es jedoch sein lassen, denn diese Bibelstelle
wurde durch den Anblick eines flatternden Rockes verwischt, der in der Ferne
wehte. Frau auf Rad, stenografierte ich im Kopf. Weibsgedanken waren mit dieser
Sicht sofort gegenwärtig. Alter, Aussehen, Möglichkeit ... – wozu? Man ist eben
Mann. Mann ist Sämann — über den Furchen streut er sich breitwürfig
aus, fuhr mir angenehm durch den Sinn ...
Augenblicklich schämte sich mein
Autor für mich, das fühlte ich deutlich.
Indem der Rock näher kam, wurde mir
klar, dass mich dieser zwar wohl durchaus schamhafte, allerdings doch
andererseits auch ein wenig genierliche Autor noch gar nicht ganz vorgestellt
hatte. So hier einmal (während das weibliche Geschöpf wie gesagt näher kam)
schnell meine Wünsche mir selber vorgehalten: Vielleicht könnte er mich im Äußeren
groß und ansehnlich gestaltet haben. Solche Menschen, Männer vor allem, haben
es im Leben leichter, heißt es.
Na ja. Es klingt gut, denn wer will
es nicht leichter haben? Ich zweifelte, ob das so genannte leichtere Leben
notwendig auch ein gutes sei. Vielleicht reichten einssechzig,
um ein ruhiges Leben zu haben, das deshalb möglicherweise eher gelingen könnte.
Doch ich war gar nicht vorgesehen, mir solche Fragen zu beantworten, nicht
einmal, sie zu stellen. Mein Autor wäre dafür zuständig. Reizend natürlich
dennoch, sich auszumalen, dass einem als ansehnlicher Mensch die Herzen des
anderen Geschlechts geradezu zuflögen. Herzsammler sein, ach! Ich war jedoch
vermutlich zu unfertig, als dass ich mit dem Gedanken produktiv hätte umgehen
können. Also ließ ich es sein – wenigstens vorläufig.
Wie hieß ich eigentlich? (Das
dachte ich noch, als die Frau bereits in meiner Nähe war.) Mein Autor schien
sich ja für das nackte Ich entschieden zu haben. Das genügte im Allgemeinen –
für sich selber, denn wer nennt sich sich selber
gegenüber schon beim Namen. Außer, man wäre außer sich. Meinetwegen. Doch wie
sollte ich mich möglicherweise vorstellen, wenn dieser Rock da ist? Ich solle,
vernahm ich, die physische, sozusagen die irdische Weiblichkeit aus meinem
Denken wenigstens zu einem Teil streichen. Befände ich mich doch auf dem Weg zu
einer Kirche, die einer Heiligen erzkatholischen Formates geweiht ist. In mein
Staunen hinein, das augenblicklich meinem Bewusstsein als Mann, als welcher ich
immerhin vom Autor ein wenig konstruiert war, entstieg, bekam ich eine
Empfehlung. Ich solle den Part des Ave-Maria "Du bist gebenedeit unter den
Frauen und ..." eben sozusagen total ohne die Körperlichkeit betrachten.
Ich solle mir die Weiblichkeit an sich, und zwar völlig vergeistigt vor Augen
halten. Wohlgemerkt vor dem inneren Auge.
Natürlich kamen da sofort Fragen in
mir auf, türmten sich bei näherem Hinsehen geradezu. Wie sollte ich das
verstehen, die Frau war obendrein in voller Leiblichkeit ganz in meiner Nähe.
Das Weibliche versinnbildlicht erblicken und als die Fortsetzung des göttlichen
Aktes? Das solle sich immerhin im zweiten Teil des gebetlichen
Satzes um die gebenedeite Frucht des Leibes auch deutlich offenbaren
...
Da war die Radlerin bereits vor mir
und hielt an.
Fast war ich froh darum. Dieser
Umstand riss mich aus diesen irritierenden Gedanken, die mich vorhin so
überkommen hatten.
Mein Gruß wurde freundlich
erwidert, begleitet von der rhetorischen Frage: "Ein Wandersmann?"
Was ich natürlich so stehen ließ: "Man hat mich auf den Weg gesetzt!"
Was ihrerseits mit einem erstaunten Kopfschütteln quittiert wurde. Was aber
gleich mit Worten des Verständnisses zu kommentieren war: "Ja, ja, jeder
ist zum einen immer Wanderer und ist zum anderen auch auf den Weg gesetzt,
mitunter sogar ohne viel eigenes Zutun!"
Ich wollte ja bestätigen, dass es im Leben eben mal so sei bei der
vielen Fremdsteuerung, beschränkte mich jedoch auf ein Lächeln.
Mein Autor begann, fühlte ich, an
unserer Begegnung herumzuzündeln. Ich hatte ihn
gleich im Verdacht, dass er daraus ein Verhältnis zu gestalten plante. Ich
fürchtete, ich werde ihm das übelnehmen müssen. Denn nicht genug, dass er diese
weibliche Person, die mir da begegnet war, so an die achtzig Lebensjahre sein
ließ (was sie mir ungefragt und unumwunden bekannte). Er stattete sie auch noch
mit einer Attraktivität aus, wie sie für gewöhnlich einem solchen
fortgeschrittenen Vorhandensein eigentlich nicht gerade zu eigen ist.
Drauf pflanzte er ihr eine
Sportlichkeit mit allem möglichem Accessoire, sogar einem Crossbike. Man müsse sich in Bewegung halten (als wie
alt bin eigentlich ich vom Autor gedacht?), ging ich wieder auf den Wandersmann
ein, den sie mich genannt hatte. Sie gab mir begeistert recht. Ich setzte im
(mir eigentlich unerklärlichen) Wohlgefühl, bei ihr sozusagen angekommen zu
sein, hinzu, dass ich eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegen mich selber
praktiziere. Und das indem ich den alten Spruch englischer Bewohner von fernen
Kolonien in die Tat umsetze. Der da etwa laute, dass derjenige verkomme,
welcher um sieben in der Früh noch nicht rasiert sei.
Sie strahlte mir entgegen:
"Early to bed, and early to rise, makes healthy, wealthy and wise!" Sie
übersetzte und reimte sogar ihr Produkt: "Früh zu Bett und früh erwacht, /
hat gesund, betucht und gescheit gemacht!"
Ehe ich es mich versah, waren wir
uns wohl richtig nähergekommen.
Sie mochte das genauso empfunden
haben und blätterte mir prompt ihre Vita hin: Anglistikstudium kurz vor dem
Examen abgebrochen, weil der Klapperstorch überm — wie im Übrigen damals
beinahe üblich — noch gar nicht fertigem Nest gekreist war; diesen Halunken von
Taxler geheiratet, weil verschiedene Geschlechter im zeugungsfähigen Alter zu
der Zeit nur mit Trauschein zusammenziehen durften, um den Vermieter nicht
wegen Kuppelei vor den Kadi zu bringen; dann statt des früh ziemlich total
erschöpften Mannes Taxi gefahren, und zwar bis siebzig; dann aus diesem immer
verrückter werdendem München heraus und jetzt ... Ich fand sie am Ende
tatsächlich sympathisch. Ich ärgerte mich allerdings gehörig, dass mich der
Autor derart eingewickelt hatte (etliche Jahre jünger, wäre ihm ganz bestimmt
möglich gewesen!). Ich vernahm von ihm
gleich so etwas wie eine Entschuldigung. Gefolgt von der Bitte um Verständnis.
Gepaart mit der Ausrede, dass so ein Leben, das er sich aus gewissen methodischen
Zwängen heraus mir zu verpassen genötigt gewesen sei, ohne Überraschungen doch
recht langweilig und am Ende unerträglich ausfiele.
"Okay Meister",
entgegnete ich. "Ich werde jetzt auf die Uhr schauen und mich von meiner
weiblichen Begegnung mit den Worten verabschieden. Dass ich ja noch zum
Gottesdienst und möglichst — andererseits nicht viel später — nach der Predigt
anzukommen plane".
Ihr Verständnis dafür war mir nach
ihrer Bekundung sicher. "Predigt", merkte sie noch an und nickte dazu
wissend. Ich bedankte mich für ihre Einsicht. Ich ergänzte, dass ich Predigten
gerne vermeide, weil es dabei ja nicht üblich sei, sozusagen als Schaf den
Worten des Hirten entgegenzublöken.
Ein kurzes trockenes Lachen bereits
hinter mir, holte ich hurtig aus. Denn ich war ja durch die Rast bei meiner
Unterhaltung zu neuen Kräften gekommen. Ich war bald am Waldrand, hatte die
fein herausgeputzte Mutter Kirche, umgeben von Häusern, Ställen, Scheuern im
Auge.
Meinem Autor war ich jetzt dankbar,
dass er die Begegnung mit dieser sehr gereiften Dame offenbar nur ein kurzes
Zwischenspiel hatte sein lassen wollen. Und das trotz eines deutlichen Anflugs
von Zuneigung auf beiden Seiten, mit dem er das verziert hatte.
Jetzt befand ich mich im
Kirchenschiff zur so genannten schmerzhaften Muttergottes. Einen jungen
Priester sah ich vom Ambo gehen.
Mein Blick fuhr in der
Schweigeminute nach der Predigt hinauf zur Decke und tastete schließlich über
die Köpfe hinweg die gesamte Raumschale ab. Sattes Rokoko, Stuckgirlanden
umhüllten fromme Bilder und Figuren. Weiß, golden, pastellfarben strömte es auf
mich ein. Dralle Putti schwebten umher und schienen mit der mahnenden und
gleichermaßen beängstigenden starren Erhabenheit der Wandheiligen versöhnen zu
wollen. Wenn jemand all die Legenden auch bloß andenkt. All jene, die um diese
entmenschlichten Ideale in missionierender Absicht geflochten worden waren –
fühlte ich meinen Autor im Hintergrund. (Das waren so Momente, in denen er sich
anscheinend selber outete. Ich hatte es dabei leicht und genoss es zugegebenermaßen,
mich von diesen – und allerlei sonstigen Abschätzigkeiten
zu distanzieren.) Ob er mich schützen wollte, dieser mein sonderbarer
Schöpferschutzengel? Damit ich nicht auf die Idee komme, dieses hier alles für
eine Kopie des Himmels zu betrachten? Die hier immer mit ihrer Gier nach
Greifbarkeit (fühlte ich, wie es ihm am liebsten über die Zunge gegangen wäre
und das mitunter in die andächtige Stille hinein!). "Alles muss Materie
haben, Masse, stoffliche Substanz: Alles muss zum Begreifen sein, wenn es begriffen
werden soll!", rumorte es hinter (oder in) mir.
Irgendwann durfte eine Frau
hervortreten und Fürbitten sprechen, die die Gemeinde dann jeweils mit einer
Gebetsformel quittierte. Sie hatte ja recht mit ihren Wünschen, die sie da
vortrug, gestand ich ihr gerne zu: Dass Friede herrschen soll auf der Welt;
dass der Reiche dem Armen geben soll auf dieser Welt; dass der Einheimische den
Fremden nicht als Fremden behandeln soll in seiner Welt ...
Ich murmelte mit den Anderen den
Refrain um die Erhörung höheren Ortes. Ich war aber zunächst ein wenig mit
meinen Blicken an einer Votivtafel hängen geblieben, die, wiederum
stuckgefasst, auf den Wandputz geschrieben war. Bald war ich aus dem
liturgischen Geschehen ausgestiegen, denn ich ging ganz diesem Eindruck nach:
"Glicksellige Seelen / die geschworen zusammmen / Zu helfen auß
Fegfeuers / brinnendten flammen, / Ihr gaiesset warhaftig / Villfeltigen guß / Euch gibet die schmertzhaffte / Muetter den schutz."
Eine eigenartige Schrift, die,
unsicher, tollpatschig, ungelenk, bestimmt aus dem tiefen Inneren kam, war ich
überzeugt, menschliche Herzlichkeit richtig einzuschätzen. Mehr und mehr
begeisterte mich diese herrlich freie Schreibe. Während ich das genoss, zog
einerseits die Messeaktion an mir vorüber und ließ mir mein Autor andererseits
seine Erinnerung an den immerwährenden Streit um die richtige Schreibweise
heraufziehen: Da erschienen die Erregtheiten wieder,
das Menetekel um den Untergang der Muttersprache, der Leserbriefkrieg darum,
die Beschimpfungen, und wie sie den Machern den Sachverstand abgesprochen
hatten und sie nur noch "sogenannt und selbst ernannt" sein ließen
... Dann erhielt ich den Auftrag, diesen
Text abzuschreiben. "Na schön", quittiere ich, "selbst wenn ich
dadurch die Blicke der Frommen auf mich ziehe und diese damit um ihre
seligmachende Andacht bringe."
Ich dachte nach getaner Arbeit noch
beim Verlassen der Kirche darüber nach, zu welchem Zweck ich das hatte
erledigen sollen. Dabei gelangte mir mein Autor in den starken Verdacht, Schulmeister
zu sein und Anhänger der Rechtschreibreform. Dass er gar diese orthografisch
nihilistischen Zeilen den Traditionalisten vor die Nase halten wollte.
Vielleicht mit den Worten, dass einer sogar dann in den Himmel kommen könne,
wenn er orthografisch gesündigt habe ...
Aus diesem Gedankenspiel schreckte
mich der Anblick der Frauensperson von meinem Herweg. Sie steuerte gleich auf
mich zu. Ich wollte mich mit einem kurzen Gruß an ihr vorbeimachen. Sie
richtete jedoch sofort das Wort an mich: Ob sie mich denn nicht irgendwohin,
ihretwegen sogar zu mir nach Hause fahren könne, da ich ja bereits einen weiten
Weg hinter mir habe und ich dem Augenschein nach auch nicht mehr gerade der
Jüngste sei. Ein versöhnendes "Pardon" ließ sie dieser auf tückische
Weise sich meiner Lebenszeit annähernden Feststellung sofort folgen. Ich solle
mich aus diesen Gründen auf die Schonung meiner Kräfte besinnen. Wobei sie mir
anbot, dabei durchaus auch behilflich zu sein.
Ungemein mütterlich, freundlich,
charmant und was sonst noch, dachte ich und bedankte mich. Mein ganzes artiges
(und daher wohl etwas unbestimmtes) Abweisen verhalf mir allerdings nicht dazu,
ihr zu entkommen.
Mein Autor setzte mich in ihr Auto.
Nicht genug damit, er hieß mich auch achtlos plappern, dass ich ja weder einen
tierischen noch menschlichen Anhang noch ein richtiges Zuhause hätte. Ich sei
so ein typisches Produkt der fortschreitenden Tendenz der modernen Gesellschaft
zur Versingelung und so ziemlich ungebunden. Was mir (ich fühlte es sofort ganz
deutlich!) den Zugriff der mich gerade chauffierenden Frauensperson auf meine
ihr eben vorgetragene Unabhängigkeit eintrug. Kurz, ich war dann in ihrem Heim
gelandet. Mein lieber Autor ließ mein jenseits des Flusses abgestelltes
Fortbewegungsmittel in einer Scheune verschwinden, meine Wohnung inklusive
Möblierung veräußern. Meine menschlichen Spuren wurden sozusagen für die
Umgebung gelöscht, die allerdings von meinem Autor ohnedies nicht als existent
mitgeteilt war (eben so leicht und ungeniert, wie es all diesen Schreiberlingen
zu eigen ist).
Was aber sollte die alte Füchsin in
meiner fantastischen Vita betreiben?
Mir ließ sie jedenfalls (vorerst?)
Wohnen, Essen, Wäschepflege unentgeltlich angedeihen. Bekanntlich hat alles auf
der Welt seinen Preis (und davon wird mein Autor aus Gründen seiner
Realitätsnähe, der er stets verpflichtet zu sein hat, gewiss nicht abweichen
können). Wie bereits vermutet, irgendwas hatte diese beflissene Dienstleisterin
vor. Sie sah in mir womöglich mehr als nur einen Partner bei Halma, Mühle,
Canasta ...
Es steht auf alle Fälle etwas an,
gestattete mir der Autor, über die Vermutung hinaus zu unterstellen. Er deckte
hingegen seine Karten nicht auf, ließ mich nur erkennen, dass meine jetzige
Hausherrin ein Faible für Geldinstitute zeigte. Tatsächlich, sie suchte diese
in einer ganz besonderen Art auf, die sofort von einem augenscheinlich weit
über das bloße Bankgeschäft hinausreichendem Interesse zeugte. Überweisen,
Abheben? Nein – oder eher äußerst selten. Sie schien die Geldhäuser
richtiggehend erkunden zu wollen. Mit großen, vor Begeisterung (oder bereits
Gier?) leuchtenden Augen stakte sie in den heute doch überall als
Automatenabstelle ausgestatteten Hallen umher; sie visitierte alles, starrte
dann durch die Scheiben der Büros und beobachtete die Banker bei ihren
Geschäften; sie schien Dinge zu sehen und darauf richtig abzufahren, für die
andere kaum etwas übrig haben, geschweige denn, dass sie sich davon entflammen
lassen könnten; sie suchte das Gespräch mit dem Personal (von dem ja ohnedies
das meiste wegrationalisiert worden war), sobald nur jemand Verbliebener
auftauchte; sie ...
Mich kam ein Staunen an, als ich
meine Eindrücke sammelte! Sie klagte bei ihren Gesprächen mit den Bankern zu
Beginn jedes Mal über die Notwendigkeit immer schärferer Sicherheitsmaßnahmen.
Die wegen der zunehmenden Gerissenheit der Verbrecher ja bedauerlicherweise
erforderlich seien. Die den Banken nicht nur Geld kosteten, was diese
allerdings wieder vom Kunden einholten, sondern dem Personal zusätzliche Lasten
komplizierter werdender Abläufe aufbürdeten. So öffnete sie in der Regel die
Angesprochenen, welche die Bekundungen der auf einen seriösen Eindruck
bedachten Dame als Bemitleidung auffassten.
Für mich war es immer ein
Schauspiel. Ich bemerkte eine Steigerung
ihrer Wohlbefindlichkeit. Was ich ihr natürlich gönnte – und auch mir, da sie
mit dieser Offenbarung ihres Showtalents quasi eine weitere Schicht Schminke
über ihr Alter auftrug.
Das lief so, bis die Blätter
vergilbten und von den Bäumen zu fallen begannen. Da fing sie eines Tages damit
an, dieses nur gelegentlich gemütliche Stückchen Erde hier wegen des
scheußlichen Nordstaus der Alpen und den daraus folgenden nasskalten Tagen zu
beschimpfen. Dass man doch den Winter über diese ungemütliche Gegend verlassen
und sich in wärmere Gebiete verziehen müsse, rückte sie heraus. Ich hatte
nichts dagegen – bis sie die Finanzierungsfrage stellte, die ich durchaus nicht
beantworten konnte. In Gedanken zog ich mich zunächst darauf zurück, dass es
mein Autor bestimmt richten würde.
Einmal schien ihr der Kragen
geplatzt zu sein, jedenfalls schimpfte sie auf mich ein. Wie ich mir das
vorstellte mit den Lebenshaltungskosten und deren fortgesetzten Steigerung
...
Es war scheußlich, und ich
schaltete ab – bis sie damit herauskam, dass sie das Geld eben besorgen müsste.
Gut, dachte ich, warum nicht, sie hat gewiss welches auf ihrem Konto. Das
allerdings verneinte sie zu meiner Überraschung. In meiner Naivität rätselte
ich eine Weile herum, was dieses Besorgen dann bedeutet haben könnte. Da ging
mir tatsächlich ein Licht auf und ich sagte laut vor mich hin: "Na klar,
warum nicht?"
Sie quittierte erleichtert:
"Na endlich!" Sie hielt die Sache für abgesprochen.
Welche Sache?, fragte ich mich –
und hatte nach einiger Zeit wieder so einen geistigen Sonnenaufgang. Na klar,
das könnte es sein: Sie plante da eine oder mehrere ganz außergewöhnliche
Abhebungen bei der Bank. Ich sollte es ausführen. Ich! Ich, eine fiktive
Existenz, sogar ohne Namen, ohne Fingerabdruck oder sonstige kriminologisch
verwertbare Eigenheiten. Ja, du mein Schock, gerade deswegen! Na, das hatte
sich mein Autor absolut gaunerisch ausgedacht. Ich hielt ihn gleich für einen
ausgemachten Halunken!
Was für eine Menge zu erwartenden
Schwierigkeiten bei so einem Unternehmen! Das ist heute nicht mehr so einfach
mit Maske, Pistole und Geld-her! Die haben keines mehr in offenen Kassen
liegen. Da muss einer gleich an Tresore oder an die Automaten ran ...
Meine tolle Wirtin hatte, berichtete
sie mir, jedenfalls etwas Ähnliches von ein paar Rentnern in der Zeitung
gelesen. Die waren ihr ganzes Arbeitsleben über sauber geblieben, biedere
Alltagsmenschen. Aber in der vielen Zeit des altersbedingten Nichtstuns seien
sie schlicht und einfach zu Schurken geworden. Einfach des Zeitvertreibs wegen.
Sie haben nämlich in großem Stil krumme Dinge gedreht.
Was die konnten, habe sie ebenfalls
drauf, trotzte sie.
Das hat sie doch nur im Kopf und
nicht etwa tatsächlich vor? Oder sie spielt mir da etwas vor, entschuldigte ich
sie zunächst bei mir. Ihr schauspielerisches Talent hatte sie mir ja längst
bewiesen. Es trieb mich allerdings doch ein wenig um. Ich musste immer häufiger
darüber nachdenken. Es machte langsam Spaß, sich auf spielerische Weise doch
mit allen möglichen Schurkereien zu befassen. Ein gewisser Reiz ging davon aus,
damit auch etwas neben der bürgerlichen Bravheit zu stehen zu kommen. Wenn auch
zunächst nur in Gedanken.
Ich gelangte allmählich sogar zu so
etwas wie einem Plan. Das Ansinnen meiner Gastgeberin bezog ich dabei auf mich
und stand unversehens sogar dafür: Warum denn nicht? Spiel, Vergnügen,
Zeitvertreib. Das ist doch ganz und gar zeitgemäß, war ich überzeugt. Woher
rühre denn diese Sucht nach Verbrechen, die sich die Leute mit ihrem
Krimikonsum befriedigen? Von Geschriebenem und Vorgeflimmertem bedient?
Besonders das Bemühen um
Zeitvertreib schien mir allmählich erforderlich! Denn es gab Tage, die so lang
waren und gar nicht mehr aufhören wollten, Tag zu sein. Andererseits wollen
selbst Hirngespinste nicht nur verwoben, sondern auch benützt sein. Sie geben
am Ende ein durchaus schützendes, wärmendes Gewand fürs so häufig frierende
Gemüt ab ...
In diesem ganzen Dunst stand da
eines Tages eine recht konkret erscheinende Figur. Bei näherem Hinsehen war ein
weibliches Wesen jüngeren Jahrgangs zu erkennen. Während ich noch Maß nahm (in
männlicher Manier zunächst die Figur, dann das Alter; schließlich wollte der
ganze Ausdruck erfasst sein), erhielt ich die Information, dass es sich dabei
um eine Enkelin meiner Hausherrin handelte. Zunächst war ich erschrocken – eher
zurückgeschrocken – wegen des durch die Mitteilung angezeigten Altersabstands
zu mir, der ich mich gerade schier ungebührlich meines männlichen Augenmaßes
befleißigt hatte.
Mein Autor hatte mir, wie bereits
erwähnt, kein konkretes Alter gegeben. Wohl in der Annahme, es könne von
Vorteil sein, sich auf die bekannte Behauptung zu berufen, dass jemand so alt
sei, wie er sich gerade fühle. Ich könnte vielleicht der Großvater sein,
begriff ich – doch nur nach Jahren, schränkte ich mir (geringfügig eitel) ein.
Zugegebenermaßen war ich von ein wenig Scham begleitet, während ich immer noch
mit dem Auge an ihrer Figur herumtatschte. Dieses Begleitgefühl wollte mich
tatsächlich etwas entsühnen, erkannte ich. Da erinnerte mich etwas (es könnte
der Autor gewesen sein, der mir damit vielleicht Mut machen wollte
fortzufahren) an Goethe und seine enorme Johannisblüte. Wie er mit seinen
achtzig verschrumpelten Lenzen oder so noch um die blutjunge ... Das
sanktionierte meine Musterung. Und mit diesem Begriff Musterung tauchte noch
die totale Körperlichkeit auf. Einschließlich des Blicks hinter die
Unterwäsche, der dabei ganz üblich rechtens und damit unentbehrlich ist ...
Ich bezichtigte mich der
Lüsternheit, allerdings doch irgendwie begleitet von so etwas wie einem
ungemein wärmenden Gefühl der Wonne ...
An dieser Stelle nun, mit der Bitte
um Nach-, besser Einsicht, ein geringfügiger Wechsel der Erzählperspektive in
Richtung einer Autorschaft. Allerdings einer gedachten Figur, die noch über
jene gestellt werden soll, welche dieses namenlose Ich auf den Hirschauweg geschickt hatte. Also sozusagen eine
Über-Autorschaft.
Dieser soll gerne die Tradition der
Betrachtung von außen und ein guter Schuss Allwissenheit zugebilligt sein, wie
es sich gehört. Ferner wird sie sich um Sachlichkeit zu bemühen haben und nicht
etwa seine Figuren am Gängelband führen wollen – wenigstens so gut es eben
möglich ist bei einer Berichterstattung.
Folglich ist Abstand zu nehmen von
diesem Ich als Erzähler. Diesem ein wenig bedauernswertem Ich, das so sehr um
sich gerungen und darüber auch noch Rechenschaft abzulegen hatte. Dieses Ich,
das jetzt mit seinen neuen Gegebenheiten voll ausgelastet und hoffentlich
zufrieden ist.
Denn es sei gleich verraten, dass
dieses vom Helden der Geschichte vorhin offenbarte Wonnegefühl auf ein
positives Echo auf der jungen weiblichen Seite stieß. Dort wollen wir es,
jedermanns Einverständnis ganz einfach unterstellend, nicht etwa ruhen, sondern
gehörig wirken lassen. Schließlich sei noch bemerkt, dass immer noch gilt
(jedenfalls in fein- wie mitfühlenden Kreisen), dass man Verliebte nicht stören
dürfe. Also passt es gut ins Konzept, hier einen gewissen Abstand zu wahren.
Stattdessen wäre noch zu bedenken,
dass in der Erinnerung unweigerlich auch die ältere Frauensperson aufzutauchen
hat. Allemal samt ihren durch das Flirten der beiden gewiss hervorgerufenen
negativen Gefühlsumständen. Diese gepaart mit ihrem ausgesprochen
problematischen Vorhaben der Geldbeschaffung.
Die Gesamtsituation in Betracht,
zum einen das Turteln des alten-jungen Liebespaares und zum anderen das zu
vermutende Grollen der Großmutter, täten sich nicht nur menschliche Abgründe,
sondern ganze Erzählwelten auf.
Um alles ein wenig auf einen Nenner
zu bringen: Der Wandersmann vom Beginn der Geschichte mutierte zum Galan und
ginge mit ihr, der Neuen, der Jungen, eigene Wege. Er entziehe sich nicht nur
seiner alten Verehrerin, sondern versuchte das auch seinem Autor gegenüber.
(Wie es sowieso beinahe die Gewohnheit von Figuren ist, gewissermaßen dem Autor
nebst der an ihnen hängenden Handlung davonzulaufen, so dass sich dieser immer
wieder aufs Einfangen besinnen muss.)
Verliebte wollen (wie bereits angedeutet)
bekanntermaßen wenigstens zeitweise alleine sein, denn sie haben so manches zu
regeln, was für die Augen und Ohren anderer nicht bestimmt ist. Folglich sollte
hier kein Voyeurismus geübt, sondern lediglich eine Vermutung angestellt
werden: Aus der ernstzunehmenden und mit allem gewöhnlichem Beiwerk
ausgestatteten Partnerschaft heraus würde nach und nach die Richtung zu einer Bruder-Schwester-Verbindung
eingeschlagen und erreicht werden. Das sollte vielleicht zunächst unter
Fortfall all der Trockenübungen der Reproduktion geschehen. (Einerseits wäre er
ja in der Lage, sich des Gedankenganges um die Versinnbildlichung des
Weiblichen – um doch nicht gleich von deren Entleiblichung zu sprechen – zu
entsinnen. Das sollte ihm aufgrund seines zwar nicht genannten, doch offenbar
fortgeschrittenen Alters einigermaßen gelingen.)
Die junge Frau könnte sich hingegen
als guter Geist offenbaren. War sie damals so oder so ähnlich aus einem Dunst,
einem Nebel, nein, einer literarischen Wolke heraus nicht nur einfach
aufgetaucht, sondern nahezu erschienen. Jedenfalls unvermittelt als eine
richtige Überraschung eingetroffen mit letztendlich dem Geschenk der Liebe.
Also hatte sie sich ihm in Form eines Wunders ereignet. In der intensiven
Befassung mit Übersinnlichem, mit dem sie beide es unternommen hätten, die
Grenzen des Irdischen zu überschreiten, wäre es möglich, daraus allmählich so
etwas wie eine fromme Kommunität entstehen zu lassen. Eben eine Betbruderschwesterschaft.
Die forsche Großmutter ziehe ihren
Coup in Banken alleine durch. Sie erhielte die erstaunliche Gemeinschaft der
beiden aus ihrem Erlös finanziell am Leben. Ohne dass freilich die Beglückten
sich um die Herkunft des Almosens weiter Gedanken machten. Bei jeder
Ausreichung einer dieser Gaben würde die alte Ganovin die Sentenz aus dem
Macbeth zitieren. Jene, dass das Leben ein Märchen sei, und zwar erzählt von
einem Dummkopf voller Wut und Schaum. Was die Gute in Erinnerung ihrer
Erstberufung, der zu einer Anglistin, selbstverständlich in einem echten
Shakespeare'schen Englisch und nicht minder originellen Einsatz eines dramatisierenden
Ausdrucks vortrage. Die beiden
begünstigten Tugendhaften hätten nicht das Bedürfnis, das Zitat zu übersetzen.
Sie begnügten sich mit der obendrein überraschend gestenreichen Darstellung und
vor allem dem schönen Sprachklang.
Nachdem nun wohl eine für alle
Beteiligten einigermaßen erträgliche Situation geschaffen zu sein scheint,
könnte notiert werden: dass die Dinge ein Recht darauf haben, sich zu dem zu
entwickeln, was sie (auch immer) sind.