Zeitennehmer, der Stimmenhörer
Inhalt
erstes Buch.......................................... 3
Zu schreiben, das ist die bedeutendste Art zu schweigen 4
Versuch einer Rekonstruktion: Begegnung mit Karl 36
Wer der Wirklichkeit in die Seifenoper entfliehen will,
macht doch nur den Deckel zu und will nicht spülen............................................................................. 121
Ein Vorfall etwa Ende der achtziger Jahre – Dittls
Bilder und die Folgen 133
Wir sind eigentlich alle Irre – und sehen das aber nur
an den Anderen 195
Gib den Anderen keine Macht über dich, indem du (zu
sehr) auf sie eingehst 333
Wenn du sagst, was du willst, kriegst du selten, was du
brauchst 338
zweites Buch................................. 426
Toms Auferstehung............................................ 426
"... damit sich auch auf unserem
widerspenstigen Planeten die wesentliche Aufgabe des Weltalls erfülle, das dazu
da ist, Götter hervorzubringen."
Henri Bergson
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Komödie einer Spaltung
Sterne blitzten im
Dunkel. Das Kreisen im Kopf war dann allmählich langsamer geworden.
Nun dämmert es dir, Tom, alter Junge. Die
Sache da am Schreibtisch in deiner Redaktion wird dir langsam klar: Außer
dir war ja niemand mehr da. Dann aber Geräusche im Gang. Wie Marschtritt.
Gleich tauchten zwei Gestalten auf. Sie bauten sich vor dir auf und kamen
sofort zur Sache. Fotografien wollten sie, die von neulich.
Aber sonst braucht ihr nichts, Männer?,
wolltest du noch auf cool machen. Da waren jedoch die Fäuste von dem einen,
groß wie Vorschlaghämmer. Du hast dein Grinsen sofort aus dem Gesicht genommen.
Welche Fotos, bitte? Ach so, solche von diesem Brand da in der Nobelherberge –
wie hieß der Bonze gleich noch, bei dem dieses Feuerwerk abging?, wolltest du
Abstand markieren. Ach so ja: Mentenheim ...
Die Schläger hatten vermutlich kein
Verständnis für Späßchen. Sie fingen gleich an zu arbeiten. An dir. Auf ihre
barbarische Art.
Die haben dich zerlegt, Tom. Da sprichst du
jetzt mit dir, als ob du dir selber außen vor wärst. Es tut aber doch irgendwie
gut. So als wollte es heilen, nachdem was weggeschnitten worden war. Sich selber
anlabern. Du sprichst eben mit dir. Wo ja sonst eh keiner ist, mit dem du zu
reden hättest. Sprichst mit dir wie mit einem anderen, den du gar nicht so
richtig kennst. Du tastest an dir herum, wie um zu fühlen, ob du dir nicht auch
körperlich abhandenkamst. Da merkst du, dass du richtig eingewickelt bist. Und
verpflastert. Überall. Sie haben dich in dieser Heilwerkstatt schon wie eine Mumie
zurechtgemacht. Dieser Eindruck ist auch gleich da. Dass du aus deiner Konserve
rausglotzt. Dass du dann irre wieder auf dich zurückgaffst. Oder so ähnlich.
Auf dich starrst, noch dazu mit irgendwie weit aufgerissenem Auge. Mit innerem
Auge, versteht sich.
Was dir so alles kommt, wenn du nicht mehr
ausweichen kannst. Wenn du dir nicht mehr davonlaufen kannst. Du schwebst ja
richtig über dir. Wie es sein soll, wenn man seinen Kratzfuß gemacht hat. Dass
man da für eine Weile über seinem Kadaver flattert.
So liegst du die ganze Zeit. Wie lange
schon? Du klärst das nicht. Die schiere Frage befriedigt bereits, weil sie die
Tür offenhält. Wie dich immer alles Ungelöste angetörnt hat mit seinem Versteckenspiel.
So ist das Leben, gönnst du dir. Ungeklärt. Bis zuletzt.
Dann reißen sie die Tür auf. Du siehst, wie
sie ein Bett reinkarren. Eine frische Bandscheibe, hat der Weißkittel zu dir hin
gesagt. Er parkt das Bett ein. Er macht es linkisch wie ein Fahrschüler. Er misst
mit Blicken immer wieder den Abstand. Rangiert herum. Du versuchst dich
abzulenken. Du glotzt an die Decke.
Jetzt hat er aufgehört.
Schön wach bleiben, Opa Sänger!, hast du
gehört. Und zu dir hin: Ein bissel aufpassen, Herr Nachbar! Ja? Dieser Herr
hier will nämlich wieder in Richtung Nirwana. Dann bleibt er uns womöglich für
immer dort.
Der Pfleger tätschelt Sänger die Wange.
Der Alte starrt ins Leere.
Kaum ist der Pfleger draußen, ist die
frische OP wieder weggetaucht. Tiefes Atmen.
Wenn es ihm wohltut,
denkst du. Du bist kein Aufpasser, sagst du dir. Schlafen ist allemal gut. Wenn
alles weg ist. Bis auf den Müll vom Tag und was sich da abfilmt. Ja, höchstens
träumen.
Sein tiefer Atem. Ein Rasseln jetzt.
Dazwischen ein steiles Auflärmen. Du fährst zusammen. Es hallt von den Wänden.
Da fällt dir die Nacktheit der Wände hier erst so richtig auf. Die paar
winzigen Bilder richten dagegen nichts aus. Das Kruzifix über der Tür hält
deine Blicke für Momente gefangen. Du wartest auf einen Gedanken dazu. Da
kommt aber nichts. Mensch, fährt es dir durch den Kopf, nicht auch das noch:
Irgendwann mal Blicke, denen keine Gedanken mehr folgen – und schöne Grüße dann
von Doktor Alzheimer. Das laute Auffahren des Alten reißt dich davon weg. Dann
sein Aussetzer. Fast ist es im Rhythmus: Aufbäumen, Absturz, Aufbäumen. Du
wartest jetzt richtig darauf, dass der Alte wegbleibt, ertappst du dich. Da,
ein leises Kollern. Neben einem liegen, wie er sich davonmacht. Wohin?,
schaudert es dich richtig. Dabei streift dein Blick wieder das Kruzifix. Da
reißt dich ein pralles Schnarchen aus deiner Ratlosigkeit. Du erschrickst.
Rapide anschwellend der Lärm. Aggressiv. Dann stürzt es ab. Du hältst den Atem
an.
Totenstille. Lässt du
ihn abschrammen? Plötzlich wieder ein Sägen.
Noch mal dieses jähe
Ansteigen. Das sich gleich in einem Stöhnen entlädt. Warten, wie es weitergeht.
Du meidest den Kruzifixblick. Da ist es wieder. Es reißt dich. Vielleicht
kriegt er doch noch die Kurve zu seinem Abgang. Du wirst nicht Alarm schlagen.
Was kann man dir anhängen? Da ist aber gleich sein Lärmen. Es schwillt zu
diesem dröhnenden Röcheln an. Ein Schrei der Gurgel nach Leben, dass es widerhallt.
Aus. Es ist eine ganze Weile so ein Spiel. Dieses Pokern mit dem Tod. Ein
Prickeln läuft dir über den Rücken. Wenn du ihn verenden lässt. Du als Mörder.
Dann gehörst du auch zu den vielen Alltagskillern. Denen man es nicht
nachweisen kann. Dass sie Menschen auf dem Gewissen haben. Die sie auch zu Tode
gebracht und allein mit ihrer Feigheit – und noch bequemer mit ihrer
Untätigkeit, Faulheit, ihrem Wegsehen umgebracht haben. Ein perfekter Mord!,
denkst du im Spektakel, den der Alte gerade wieder macht. Dass du eigentlich
doch auch so ein feiger Hund bist.
Jetzt ist Ruhe. Du hast es sowieso satt.
Dein Kopf. Der verdammte Schädel. Du hörst ein Murmeln neben dir. Das wird
deutlicher, da hörst du hin. Der Alte ist anscheinend noch in seinem
Narkoserausch. Wie du genau hinhörst, kriegst du mit, dass er da wohl einen
Hitler heilen will und dann auch noch einen Sieg: Sieg heil. Das eine ganze
Weile so. Na ja, denkst du dann, wenn schon, gönne ihm seinen seelischen
Stuhlgang.
Der Kopf brummt dir unterm Verband. Das
linke Auge tickt dazu. Ein irres Konzert in der Birne. Man könnte lachen. Wenn
das nicht wieder Terror machte.
Anderntags ist dein Gespensterheiler hell
wach. Da war das fernöstliche Putzmädchen. Das hat bei ihm einen tiefen
Eindruck hinterlassen, den er dir jetzt vermitteln will. Die hätte noch Platz
in seinem Bett, hat er gemeint. Ein bisschen was müsste bei ihm ja noch drin
sein, ist er richtig aufgekratzt. So wie sie es jetzt im Film immer bringen.
Weil das Fernsehen immer dreckiger wird, hat er geschimpft. Du wunderst dich
noch darüber. Da hast du von ihm gleich was von moralischer Zersetzung gehört
und dass alles dem Verfall entgegengehe: Weil die ganzen Schwulen aus ihren
Lasterhöhlen hervorkriechen würden und Kanaken aus aller Welt sich hier
rumtrieben bei uns und dass alles verrasse und dass es das früher nicht gegeben
habe.
Bei eurem tollen Führer mit seiner
Wahnsinnstruppe!, ist dir da rausgerutscht.
Er hat nichts mehr gesagt. Du warst überzeugt,
ihm ordentlich eins gegeben zu haben.
Es hat jedoch nicht lange gedauert, da ist
der Alte wieder da gewesen. Er hat dir mitgeteilt, dass er sich vorgenommen
habe, bei dem Mädchen irgendwann ordentlich hinzugreifen. Als er dann seine
Knochenhand hebt, wie um es zu beschwören, da fällt dir ein: Der Tod und das
Mädchen – dieses Gedicht. Schuberts ergreifende Melodie dazu ...
Er hat nachgesetzt: Wenn sie ihm bloß in die
Nähe komme ...
So ein Tonfall, denkst du noch. Es hat ja
sogar irgendwie nach Sehnsucht geklungen, wie er das brachte. Ob so einer zu
so einem Gefühl überhaupt fähig ist?, fragst du dich. Es war vermutlich nur
deine Poesie. Du entscheidest dich dann für dirty old man.
Im Altersheim erfährst du, im Altenheim,
das sie jetzt Seniorenresidenz nennen, weil ihnen das Alter Angst macht. Und
alles muss so überspannt klingen. Wenn einer alt ist, da ist er nicht mehr so
dicht. Sänger atmet tief durch. Wenn du da mal nach einer gegriffen hast von
den jungen Dingern von der Pflegetruppe, hörst du, da haben sie dann immer
sofort nach deiner Hand geschlagen.
Keinen Respekt mehr!, schleimst du – und
lachst in dich hinein.
Rotzjunge Dinger!, hat er sich aufgeregt.
Man solle sich das nur mal vorstellen. Die lassen sich nichts mehr gefallen!
Ihr Kerle heute könnt einem allesamt leidtun.
Ein schönes Durcheinander, Meister!, hast du
geschimpft. Das mit den Weibern, den Kanaken und dem Spaß! Du setzt allerdings
lachend nach, dass das so ist im Leben, nämlich dass es ein ständiges Durcheinander
ist mit allem.
Im Leben!, hat es von nebenan geechot. Angst
haben vor dem Abkratzen! Eine ganz feige Bande, heute, ihr alle! Wenn
unsereiner Angst gehabt hätte! Du lieber Gott! Wo man in Russland war mit der
Wehrmacht – ein schönes, verfluchtes Land! Was haben die jetzt für einen
Saustall nach ihrem Kommunismus? Verbrechen und nichts zum Fressen und
dazwischen stinkreiche Schieber. Das hat der Amerikaner falsch gemacht. Dass er
dem Russen geholfen hat und diesen jüdischen Bolschewisten. Der Deutsche hätte
aus den fetten Böden in Russland ein Paradies gemacht. Dem Russen hätten wir
das Arbeiten ordentlich beigebracht.
So ein Schote!, denkst du. Womit man im
Jiddischen einen Narren bezeichnet, fällt dir ein. Du beschweigst aber dein
Staunen, spielst lieber noch mit den Worten, ob das, was er da brachte, auch
eine Schote war – wie sie heute eine irre Story nennen.
Irgendwann pflanzt sich der Polizist an
deinem Bett auf. Er hat so etwas wie einen Gruß heruntergeschnarrt, gefolgt von
der Aufforderung, nähere Einzelheiten darzustellen. Er hat seinen Schreibblock
gezückt wie eine Waffe, kommt es dir vor.
Dass sie von zwei Männern tätlich
angegriffen sein wollen, hat dir der Polizist eröffnet, die von ihnen einen
Film verlangt hätten, ist mir bereits bekannt. Aber das mit dem Film erklären
Sie näher! Was war da drauf?, hat er gefragt.
Lediglich was von dem Brand da in dem
Schloss neulich.
Scheint Sie ja ziemlich kalt zu lassen,
diese heiße Tragödie!, tut der Polizist enttäuscht. Aber da sieht man es ja
wieder, was ihr von der Zeitung für Typen seid.
Ruhig bleiben, hast du dir gesagt und
weitergemacht: Aber immerhin bloß um dieses Feuerwerk da bei Mentenheim ging
das auf meinen Filmen. Wo sich ja auch die vereinigte Uniformiertheit versammelt
hatte, Feuerwehr, Polizei – und Trachtler, lachst du hinterher, dass es dich
wieder sticht unter deiner Hülle.
Lassen Sie das!, hat er dich angefahren –
und weitergeforscht: Um wie viel Uhr genau sind die Schläger erschienen?
Die mutmaßlichen Schläger, hast du ihn
belehrt. Und als er die Stirn in Falten hatte und mit irgendwas loslegen
wollte, hast du schnell nachgeschoben: Was glauben Sie, was die Zeitung immer
Ärger kriegt von wegen Vorverurteilung, wenn wir uns im gerichtlichen Vorfeld
nicht so extrem zurückhaltend der textlichen Mutmaßlichkeit befleißigen!
Er hat nur abgewinkt.
Fünf nach drei viertel elf Uhr, so
ungefähr, in der Nacht.
Geht's nicht noch ein bisschen ungefährer?,
hat er genörgelt. Wie sahen ihre mutmaßlichen Täter aus?
Zwei Kleiderschränke.
Präziser!
Präzisionskleiderschränke, hättest du am
liebsten geantwortet, hast dir aber den Kalauer verkniffen und gesagt: Einsneunzig
so etwa, einer etwas kleiner.
Weiter!, fordert er, während er etwas auf
sein Papier kritzelt.
Einer mit einem roten Bart. Der andere glatt
im Gesicht und kahl auf der Birne. So etwas von Speckglanz rundum, das glauben
Sie gar nicht, da hätte man das Licht ausmachen können und diese Platte hätte
noch die Bude ausgeleuchtet ...
Schluss damit!, hat er sich aufgeregt. Wie
soll ich so was zu Protokoll bringen? – Reflektierende Kopfhaut? Er freute sich
über seinen Einfall. Dann ist da wieder sein dienstlicher Ton: Bekleidung?
Ja ..., hast du angesetzt – und Luft
geholt.
Er
ist gleich in Fahrt: Lassen Sie gefälligst Ihre nervige Witzelei!
Schwarze Lederjacke der Kahle, hast du
eingelenkt, Anzug der andere, dunkelblau mit Nadelstreifen, vermutlich ...
Während der Polizist wieder etwas notiert,
berichtest du: Diese fettglänzende Kugel oben mit ein paar dunkleren Punkten
auf der einen Seite. Das waren wohl die Öffnungen zu diesem Nichts von Inhalt
dort in der schmierigen Blase. Der andere eine Kopie von Rübezahl. Immerhin genug,
um allein durch seine räumliche Ausdehnung Existenz zu markieren. Sie werden
lachen, Herr Wachtmeister, aber dieser Eindruck ist mir eben so irgendwie
apokalyptisch gekommen, wenn Sie verstehen: Diese beiden Typen da, diese
Situation da ...
Aber, aber, wir wollen doch nicht etwa
fabulieren!, hat er dich unterbrochen. Dann notiert er etwas. Es ist eine Weile
ruhig. Nur ein Räuspern vom Nachbarbett her.
Ich schreibe ihnen alles auf, hast du zu
ihm gesagt.
Er stutzt etwas und schaut auf.
... wenn es mir wieder einfällt, setzt du
noch hinzu. Es ist sowieso nicht so ganz falsch, wenn man alles irgendwie
niederschreibt, hast du noch erklärt. Denn beim Schreiben kommen einem ganz unverhofft
Gedanken.
Ist mir auch schon passiert!, ist er gleich
eingestiegen und lacht voll heraus.
Du hast dich geärgert und eine
Retourkutsche absetzen wollen: Beim Abfassen von Protokollen, nicht wahr,
da kommen einem so richtig Gedanken, manchmal?
Es ist eine Pause entstanden, während der du
dir vornimmst, dass du die weißen Engel um Schreibzeug anbetteln wirst.
Da sieht man es wieder, hat er sich dann
aufgeregt, wie ihr von der Zeitung unfähig seid, genau hinzusehen, wenn was
passiert. Nicht einmal dann, wenn es euch selber mal an den Kragen geht, könnt
ihr richtig aufpassen! Möchte nur wissen ...
Wir sollten einigermaßen friedlich
miteinander umgehen, hast du ihn unterbrochen, denn Ihr braucht uns ja auch hie
und da.
Er schaut dich fragend an.
... wenn Euch wieder mal einer in der
Ausnüchterungszelle vermodert.
Er winkt ab: Ein ganz alter Hut. Das haben
Sie ja selber aus der Zeitung. Das war im Ausland. Das ist den Österreichern
passiert – noch dazu vor Jahren!
Freilich habe ich das aus der Zeitung. Doch
nicht etwa aus einem Polizeibericht! So etwas fällt doch bei euch glatt unter
den Tisch!
Ihr Schreiber glaubt den Stuss anscheinend
auch noch selber, den ihr schreibt!, hat er gelacht.
Aber was Sie wissen möchten, kann ich Ihnen
vielleicht sagen oder ...
Glaube ich Ihnen aufs Wort, hat er dich
unterbrochen. Aber ich habe schon genug – von Ihnen, schiebt er bissig nach und
fährt fort: ... und auch noch was anderes zu tun. Dann hat er weggepackt, dir
Genesungswünsche zugegrinst und ist abgezogen.
Du daust noch eine Weile an dieser
Begegnung. Dann landest du dein Betteln um Papier und Stift bei so einem von
den weißen Engeln. Erstaunen beim Alten auf der anderen Seite. Im Lauf der
nächsten Stunden wird dir klar, dass du mit deinem Wunsch anscheinend eine
Bewegung losgetreten hast. Immer wieder mal bist du darauf angesprochen worden.
Ob ein Block genüge, so in Größe eines Geldscheins, so mit Reklame drauf: AOK,
die Gesundheitskasse, oder so was? Nein, danke, hast du da gesagt, du hättest
vor, richtig Text zu machen. Wieder dieses Erstaunen: Text, aha! – Hier?
Es scheppert draußen. Die Tür geht auf. Du
hast dem Geräusch nach diese Suleika von der Putztruppe erwartet. Aber da ist
so eine weiße Gestalt hereingekommen. Prompt beginnt es neben dir wieder zu
japsen.
Du siehst noch mal nach dem Mädchen, das da
erschienen ist. Sieht in ihrem Weiß aus, wie man sich als Kind einen Engel
vorgestellt hat. Oder wie hat man? Sie schwirrt dir im Kopf tatsächlich
irgendwie umher.
Ist was?, fragt sie zum Alten hin. Dann ist
sie auch schon weg. Keine Zeit. Es gibt viel zu wenig Engel, denkst du. Klar,
bei dieser üblen Menschheit, grinst du in dich hinein ...
Eine von den weißen Gestalten legt dir dann
tatsächlich Schreibzeug hin. Habe ja leider lange gedauert. Sie entschuldigt
sich auch noch. Sie habe dir von sich zu Hause einen Block mitgebracht.
Einen Schatz willst du sie nennen, aber sie
ist bereits abgeschwirrt.
Jetzt, wo der Engel weg ist, hat dein
Nachbar wieder genug Luft, um dich erneut aufzuklären, was bei ihm eigentlich
nicht mehr drin ist. Aber bei so einer würde er ... Er bricht ab, holt tief
Luft – und erzeugt damit nur einen tiefen Seufzer, was sich fast wie ein
letzter Atemzug anhört.
Du drehst dich mit einem Ruck so, dass du
den Alten sehen kannst. Dieser Stich dann im Brustkorb. Du schließt die Augen.
Vielleicht ist es so, wenn sie einem ein Messer reinstoßen, blitzen dir die
Gangster wieder auf. Dann öffnest du die Augen. Du siehst seine knochigen
Finger, so bleich, dass sie sich vom weißen Laken kaum abheben. Deine Schmerzen
noch. Hautüberspanntes Skelett, urteilst du über den dort drüben – und setzt
drauf: geiler Knochenmann.
Du musst dann irgendwann eingenickt sein.
Schreiben, denkst du gleich beim Erwachen.
Du musst auch rauskriegen, durchfährt es
dich, ob du jetzt womöglich überhaupt weg bist vom Fenster in deinem Laden.
Aber wie kannst du es
denn anstellen, wenn du hier so eingesperrt bist und eingewickelt?
Das fehlte noch. Eine berufliche Leiche.
Die anderen über dich hinweg.
Was dann? Einer wie du, der sonst nichts
gelernt hat ...
Irgendwas schreiben. Du beginnst. Du hörst
das leise Kratzen auf dem Papier. Das ist dir neu. Es kommt dir vor, als echote
es sogar ein wenig von den kahlen Wänden. Schreiben. Du hast es im Kopf,
spendest du dir Eigenlob. Profi, der man ist, holst du aus. Nachdenken dann.
Worüber eigentlich? – Irgendwas von hier. Der Bettnachbar vielleicht? Wörter
aufs Papier, Begriffe – so etwas wie Stoffsammlung. Wovon? Steht's dafür? Nach
einer Weile musst du dir eingestehen, dass da nichts werden will. Da kommt
nichts Brauchbares. Auch das kennst du zu Genüge. Da gibt es eben Zeiten, da
verwirbeln sich die ganzen Gedanken und wollen nicht heraus ...
Als du dann so daliegst, gehen dir die
Schergen im Kopf herum. Die haben dich in der Mange gehabt. Das könntest du
doch festhalten. Als Beleg. Auch fürs Gericht. Wer steckt wohl hinter dieser
Schweinerei? Auf deinem Filmmaterial muss etwas ganz Besonderes sein. Bei so
einem Aufwand. Indizien womöglich!
Du lässt es allerdings noch sein und döst
nur so vor dich hin. Bis dich was ganz anderes anmacht: Da hast du doch zu
Hause auf dem Schreibtisch diesen Papierkram liegen. Deine Niederschrift von
dem Treffen damals mit Karl Mentenheim. An der du seinerzeit tagelang gesessen
bist. Niederschrift. Es war vor Jahren, vierundachtzig oder um die Zeit muss es
gewesen sein ...
Jetzt diese pflegerischen Verrichtungen
hier: Thermometer ..., reißen dich von deinem Einfall weg. Bloß die Feuersache
lodert sozusagen immer wieder ein bisschen auf. Da stinkt es! Nicht nur nach
Rauch. An diesem Feuer da bei Mentenheim ist mehr dran als das schiere
Abfackeln – he! Abfackeln! So richtig mit Mutwillen, einem ganz verdammt
kriminellen Hintergrund! Mensch, da klingelt's doch im Journalistenhirn ...
Nein, noch keinen Stuhl gehabt heute ...
Du hin und her zwischen den Schlägern, geht
dir nicht aus dem Kopf. Ein Beispiel für ausgesprochen schmerzhafte Erkenntnis
– aber im Nachhinein, eben hier erst. Wie sie dich windelweich prügeln
mussten. Bis du jetzt doch endlich merkst, dass es um mehr geht in dieser
verqueren Sache um diesen supermaximalen Zimmerbrand.
Wenn du aus der Gesundheitsfabrik raus
bist, musst du sofort nachsehen, was da kriminell sein könnte an Karl
Mentenheims Feuer! Dein Material ist ja erst einmal deponiert. Altes
Eichhörnchen, du. Im Keller in deinem Loch hinterm losen Ziegel. Im Grunde ein
richtiger Tick von dir. Wie sich eine Marotte allerdings auch bewähren kann.
Dokumentation ist häufig mit Sprengsätzen gespickt, weißt du. Was hast du
bereits für Knallfrösche gezündet! Was hast du dir aber auch schon die Finger
verbrannt! Der schiere Instinkt: Die Beute erst mal verbuddeln. Man ist ein
Vieh, sein Lebtag lang. Am Tag darauf. Am Tag nach diesem immerhin eigentlich
immer sonderbarer werdendem Lichterloh da bei deinem famosen Karl Mentenheim.
Da wären ja ganz bestimmt deine Aufnahmen von dieser ganzen verschmorten Pracht
fällig gewesen. Titelseite: Alle mal herhören, ihr guten Leute! – Richtig mit
Power, weil man euch ja im Grunde für taube Säue hält! Die kleine Meldung ganz
groß über mehrere Spalten. Überregional dann noch mal und mit etwas Detail.
Alle Register dann im Regionalen. Abgefeimter Mischtext. Den Braten ordentlich
mit Meinung gewürzt, dass er bekömmlich wird. Das Drumherum. Oder das Zwischendrin.
Dem Volk aufs – lose – Maul geschaut.
Doch an deiner Eingewickeltheit hier kannst
du ausmachen, dass du ordentlich verwickelt bist. Denn irgendwer ist offenbar irre
interessiert. Dass nicht zu viel von der Sache kommt. Besser gar nichts. Aha!
Und überhaupt. Dieses tückische Lokale, auch
in diesem Fall. Provinzganoventum. Dieses verdammte Regionale macht die
begabteste Zeitung zum Käseblatt mit dem ganzen Kleinkarierten der
Gartenzwerge, die das Hinterland bevölkern. Höchstens blüht da mal ein Pilz
oben aus. Die Schmiere für die Häuptlinge, die die Zipfelmützen beherrschen. Es
ist überhaupt so, wenn du dort überleben willst, dann musst du zum Gnom
schrumpfen. Dass du es bei dem dauernden Buckeln und Speichellecken nicht immer
so weit nach unten hast.
Du lachst lautlos, aber es schüttelt dich
doch verflixt unangenehm durch. Raus hier! Draußen ist Arbeit! Die Themen
warten nicht auf dich. Es ist zwar am Ende alles in den Schnee gepinkelt. Aber
es ist zunächst eben mal da – und hält dich schließlich am Fressen.
Die in der Redaktion sollen sich ruhig den
Kopf zerbrechen und sehen, wo sie Bilder zu einem Text von diesem Brand
herkriegen. Richtige Aktionsbilder. Diese schönen Stichflammen. Die vielen
aufgeregten Leute dort. Bewegung. Das ganze versammelte Chaos. Es ist aber
dein Brand – und niemandes sonst!
Das ganze Zeug womöglich für später. Dann
eben nur für dich. Vielleicht sogar eine Kapitalanlage, das? Denn da ist was
drin! Vielleicht liegt dir hinter dem losen Ziegel im Keller ein kleines
Vermögen?
Der Alte wird unruhig. Da ist dann
womöglich wieder eine Mitteilung fällig.
Herrgott, was hat man alles aufgeklaubt und
zurechtgemacht und den Leuten aufs fade Täglichbrot geschmiert. Vielleicht
lässt sich das Zeug verhökern? Nichts weiter daraus, als es zu Geld zu machen.
Schweigegeld! Als Rente für ein feines freies Leben ohne diese ständige
Maloche. Vielleicht in den Nachrichtenhandel überwechseln? Mit deinen gerade
mal vierzig noch was Neues anfangen.
Aus so viel Nichts hat man schon so viel
Etwas gemacht, für diesen gefräßigen Laden da! Immer darauf bedacht, dass man auf
der Höhe war – für diesen Laden da. Warum nun nicht mal nur für sich selber?
Sie haben dem Alten die Schüssel
untergeschoben.
Diese Bude hier ... Die erdrückende
Leiblichkeit ... Wahrlich ein miefes Geschäft. Man wird die Götter in Weiß
fragen müssen, ob ihnen ihre Engel nicht zu schade sind für dieses übelriechende
Irdischsein ...
Du drehst dich auf die andere Seite. So gut
es eben geht mit deiner Einhüllung. Sie haben dir tatsächlich Blumen geschickt,
fällt dir wieder ins Auge. Fleurop. Die Karte dazu: Dem Opfer seiner Arbeit
von Herzen die besten Genesungswünsche ... Unterschrift vom Vorturner. Je
üppiger die Elogen, wehrst du die sich einschleichende Rührung bissig ab, desto
toter ist einer für gewöhnlich. Solange man lebt, frisst einem der Neid das Lob
vom Brot.
Du siehst das Papier an. Du überlegst dir,
dass dein famoser Karl Mentenheim mit der ganzen Sache hier mit dir zu tun
hat. Wie das zusammengeht: Du erinnerst dich deiner Notizen über das Treffen
mit ihm vor längerer Zeit. Mit dem die Kontakte zu ihm begonnen hatten. In
denen du ihm zu Diensten sein durftest. Durftest! Bis hin zum Protokollanten
bei seinem Feuerwerk in seinem Edelschuppen. Du hattest doch deine Eindrücke
von diesem Meeting vor langer Zeit festgehalten. Die liegen noch auf deinem
Schreibtisch. Du solltest dir das Zeug ansehen. Damit dir vielleicht ein Licht
aufgeht, wie das alles zusammenpasst. Hier wäre Zeit dazu.
Ein schrilles Quietschen vom Nebenbett her.
Du fährst jäh herum, dass es wieder so sticht im Brustkorb. Die Putzexotin hat
Zähne in der Hand. Oberkiefer. Der Alte grinst hohl. Die Frau starrt ihn giftig
an. Um sein leeres Maul zuckt unaufhörlich das breite Grinsen. Sie schmeißt ihm
die Zähne aufs Bett. Du weißt es sofort: Der Alte ist dem Mädchen mit seiner
Knochenhand ans dralle Fleisch gegangen. Während sie ihm das Gebiss einsetzen
wollte. Jetzt ist sie an der Tür und keift. Irgendein Idiom. Du verstehst kein
Wort. Ein schriller, doch ungemein eindrucksvoller Wortschwall wird der
triumphierenden Grimasse des Alten entgegengeschleudert. Du verstehst kein Wort
und begreifst doch alles. Die junge Frau fuchtelt noch drohend mit beiden
Händen, als ihr bereits die Puste ausgegangen ist. Dann holt sie Luft, greift
sich den Kübel, du denkst, jetzt kriegt der alte Bock die Brühe drüber. Doch
sie läuft zeternd auf den Gang.
Zufriedenes Schmatzen nebenan.
Chef, wenn das eine aus dem Orient ist!
Nach einer kleinen Pause gibst du zu wissen vor: Im Orient da funktioniert das
nämlich noch mit der Familienehre und vor allem der Männerehre – die
natürlich bleischwer auf den Frauen liegt.
Im Bett nebenan rührt sich nichts.
Diese Weiber dort im Orient darf man
nämlich kaum ansehen, hast du noch nachgebohrt, geschweige denn anfassen.
Wo sie jetzt schon in die Städte Moscheen
setzen, wo sie dauernd vom Turm herunterplärren!, ist er plötzlich da. Man muss
sich das vorstellen, bei uns hier neben die Kirche das Geschreie von den Muselmännern,
den messergetauften! Da muss man es denen zeigen, wo es langgeht bei uns hier.
Wieder dieses Schmatzen.
Wenn du so eine anlangst, dann tauchen
nämlich die Männer mit ihrer Männerehre hier auf und mit ihren langen Messern!
Wenn das so eine wäre, dann hätte die einen
langen Rock und ein Kopftuch, hat er abgewiegelt: Nämlich, wie man sie bei uns
hier immer öfter sieht. Lauter solche. Mit einem Rudel Kinder hinterher. Da
gibt’s bald keine Deutschen mehr. Dass unsereins von hier irgendwann noch
fragen muss, ob er selber Asyl kriegt in Deutschland. Aber das könnt ihr
alleine aushandeln. Da ist unsereiner längst bei den Vätern versammelt.
Du lässt ihn in Ruhe.
Wir haben nie nichts ausgelassen!, ist es jetzt
von nebenan gekommen. Wie alt bist du eigentlich, dreißig?, hat er wissen
wollen.
Du hast nur irgendwas gebrummt. Er hat
weitergemacht: Wenn mal eine hergegangen ist, dann hat man seine Pflicht getan.
Da reue ich nichts. Reuen tät's mich nur, wenn ich was ausgelassen hätte.
Aha! Dann überkam es dich: Die ungeküssten
Küsse, die sind das bitterste Weh – oder so irgendwie, schiebst du deiner
Lyrik, aber doch irgendwie verlegen nach. Du wunderst dich selber über so etwas
aus einem Gedicht – und wo dir das plötzlich hergekommen ist. Das war ein Vers,
hast du zu ihm gesagt. Wie zur Entschuldigung: nicht etwa Eigenbau.
Es scheint ihn gepackt zu haben, jedenfalls
hat er wiederholt: Die ungeküssten Küsse! – Aber er hat gleich lachen müssen:
Die gibt es gar nicht. Denn entweder tut man es oder eben nicht. Da sieht man
es ja, wie abartig ihr heute seid mit eurer Rumdichterei.
Dann ist er ruhig gewesen.
Na ja, sagst du dir. Einfach jetzt mal nur
schreiben. Alles aus dem Kopf raus und hingekritzelt. So ganz ohne Zwang. Da
kommt sicher mal was, was zu der ganzen Schose um das Feuer passt – oder sonst
was, was dir guttut, dass es raus ist. Überhaupt so schreiben: Die Zeit
ausschreiben. Einfach, damit wieder was Platz hat in der Zeit. Denn die Zeit
ist ja so voll. – Du meine Fresse, was für ein Zeug leistest du dir da in
deiner Birne! – Das ist aber doch das Wesentliche an unserem Schreiben. Von
wegen die Dinge aufschreiben oder gar festschreiben! Unser Schreiben als ein
Ausschreiben. Was enorm Entleerendes und Befreiendes.
Da hörst du schon wieder was von nebenan:
Aber ihr dürft ja heute gar nicht mehr so wie wir.
Du bist jetzt sogar ein wenig gespannt, was
bei ihm dein poetischer Schlagrahm von vorhin noch bewirkt haben mag.
Wenn ihr es heute macht, dann holt ihr euch
womöglich den Tod, hat er gesagt. Ihr mit eurem AIDS, hat er vorwurfsvoll
ergänzt.
Wo
das ganze Zeug bloß immer herkommt, das einem den Spaß so gründlich verdirbt?,
hast du nur gesagt – und da ist es ganz unvermittelt wieder: Du sitzt noch am
Schreibtisch. Deine erste Meldung ... Du bist gut drauf und steckst dir eine
an, lehnst dich in deinem Sessel zurück. Was Scharfes eingegossen, die Beine
auf den Tisch, ein wenig mit dem Sessel gewippt. Da wird die Tür aufgerissen.
Da stehen zwei Typen vor dir. Zwei, wie von einem anderen Stern. Monster.
Schönen Abend, Herr Redakteur!, schleimt der im Anzug. Dann die ganze Prozedur.
Du siehst noch, wie sie zwischendurch deinen Cognac saufen ...
Nachtwache ist heute ein kleiner, etwas
draller Engel, siehst du. So ein Modell, das den Alten wohl wieder ganz scharf
macht. Ob die willig ist?, schießt dir durch den Kopf. Irre!, sagst du dir
dann. Ob man die vielleicht rumkriegen könnte? Bei dir daheim das Papier zu
holen?
Du bist ein dummer Hund!, beschimpfst du
dich.
Das fällt dir gerade noch ein, wo du das
Bündel abgelegt hast in deinem Saustall.
Da kannst du niemand reinschicken!
Aber das hat dich jetzt gepackt, wie dich
ja immer alle verqueren Einfälle packen. Du musst sie rumkriegen!
Diese Verrücktheit regt dich auf. Du kannst
lange nicht einschlafen ...
Ist ja doch so, ist der Alte am nächsten
Tag gleich wieder drauf, man hat immer diese Angst gehabt, dass man anbaut.
Achtzehn Jahre dafür zahlen. Da hat man sich auch mal gefragt, ob's dafürsteht.
Ihr heute habt die Pille und das Wegmachen. Mit eurer moralischen
Verkommenheit. Bloß vor der verfluchten Krankheit habt ihr Angst.
Wir sind eben eine feige Generation!, hast
du ihm zugestimmt – und denkst gleich wieder nach, wie du den pummeligen Engel
bearbeiten könntest.
Es schmatzt wieder im
Bett nebenan.
Dir knurrt der Magen ...
Was könntest du der Kleinen bieten, dass
sie dir das Papier vom Schreibtisch holt?
Draußen scheppern jetzt die Essenswägen.
Shut up!, hast du den Nachbarn angefaucht,
als er dich wieder angenuschelt hat. Du drehst dich weg.
Deine Wohnung! Mist, dass du nicht gleich
dran gedacht hast, als der Polizist hier war! Sofort telefonieren! 112. Nein,
kein Notfall – oder doch einer, fast! Die Gangster nehmen vermutlich die
Wohnung auseinander! Den Hauptmeister, der neulich im Krankenhaus ermittelt
hatte, bitte ...
Er wird vielleicht gelegentlich eine
Streife vorbeischicken können ...
Du hast dich damit zufriedenzugeben. Nun
willst du dich mit dem Problem um deine Aufzeichnungen befassen. Du wirst dem
weißen Engel sagen, dass du von der Presse bist und auch mal was für sie tun
könntest, irgendwas gibt’s immer. Mal in der Zeitung stehen, das macht mächtig
stolz, so wie die Großen in der Gesellschaft, wirst du ihr Honig ums Mündchen
schmieren. Um ihre dicken Lippen ...
Könne einem eigentlich wurscht sein, was so
einen wie dich umtreibt!, kommt dann von nebenan. Eigentlich müsse man ja
Mitleid haben mit so einem wie dir, denn du regtest dich gleich so auf. Wo er
dich angeschaut habe, wollte er gleich gemerkt haben, dass du so einer bist. Da
könne so einer gar nicht genug eingewickelt sein, dass man das nicht doch sehe.
Jetzt weißt du wenigstens, was du für einer
bist, ärgerst du dich.
Sie
hätten damals nichts ausgelassen, beteuert er dir noch einmal. Nach einer
Pause: Allerdings haben die Anderen an uns auch nichts ausgelassen.
Du wartest, weil da noch was kommen müsste.
Wir haben ja eigentlich bloß den Suff und
die Weiber gehabt. Und die Arbeit, versteht sich. Malocht wie die Irren für
ein paar Groschen. Die ganz die schönen Anderen haben wir auch gehabt – aber
über uns. Diese noblen Anderen, die nichts ausgelassen haben an uns. Wenn du
das Maul aufgemacht hast, bist du geflogen. Da hat man eben das Maul gehalten.
Aber irgendwo muss der Dampf eben raus ...
Ein richtiges Mannsbild, willst du ihm
entgegenkommen, muss eben zupacken.
Ja eben!, hörst du nur. Da scheppert der
Essenskarren herein. Du schnupperst der Mahlzeit entgegen.
Beim Suppelöffeln bist du dann auf den
Abend gespannt – und ob es mit der Kleinen klappt. Vielleicht hat sie Glück und
kann gewissermaßen unter Polizeischutz deine Wohnung betreten. Eine Vollmacht,
dass sie deine Wohnung betreten darf! Du fühlst dich schlau, nachdem dir das
eingefallen ist: Hiermit wird bestätigt ...
Du bist guter Dinge – und sie willigt
tatsächlich ein. Eigentlich hast du nur die Bitte ausgesprochen. Die
Überredung, die du dir zurechtgelegt hattest, hast du für dich behalten können.
Es war nur noch zu erklären, wo der Papierkram liegen müsste.
Mit einem sozusagen neuen Glauben an die
ganze Menschheit bist du sehr spät
eingeschlafen.
Der
Tag darauf prall gefüllt mit Erwartung. Du willst dieses doch auch lästige
Gefühl etwas dämpfen und sagst dir, dass die Notizen immerhin nur Ausrede dir
selber gegenüber sind. Nebst der vorläufigen Beurlaubung von neuen Schreibversuchen.
Vom Nachbarbett her noch keine
Mitteilungen. Sängers Herumstöbern in der Vorratskiste seiner Lebenserfahrung
hätte heute sogar willkommen abgelenkt. Er scheint aber keinen guten Start in
den Tag gehabt zu haben.
Am Abend steht dann dein Barockengel neben
dir und strahlt. Das Papierbündel in der Hand, und du bist baff. Da liegt das
Konvolut auf der Bettdecke, vergilbt und zerfleddert – vertraut. Hier ist Ihr
Schlüssel, hast du gehört und: Da sieht’s ja aus in Ihrer Wohnung ...
Aber du hörst da gar nicht richtig hin,
murmelst nur einige Male etwas von Dank, faselst noch davon, dass du sie in
dein Nachtgebet einschließen würdest. Sie ist schon weg.
Du genießt zunächst allein den Anblick
deines bekrakelten Kleinods. Ab und zu nimmst du ein Blatt in die Hand und
fährst eigentlich nur mit den Blicken darüber ...
Dass da einer wohl einen Papierkrieg mit
sich selber führt!, hat der Alte plötzlich laut herübergemosert.
Völlig klar, wen er damit gemeint hat. Wie
er wohl gesehen hat, wie du deinen Papierstapel angierst. Aber dass du den
Kampf verlierst!, hat er dann noch genuschelt. So einer wie du, der da herumschreibt,
anstatt was Richtiges zu tun. Dass es ja viel Blödsinn gibt. Am bescheuertsten
ist es aber, hat er gemault, wenn sich da einer selber anschreibt. Noch dazu
ein Kerl. Bei den Weibern könnte man es eher noch verstehen, wenn die keinen
Richtigen haben. Dann steigt es ihnen eben in den Kopf und das versteht man ja
noch, aber ...
Du hast den Alten schwafeln lassen, deine
Aufzeichnungen in der Hand. Ein eigenartiges Gefühl: die Vergangenheit in der
Hand. Du hast zu lesen begonnen:
"Gestern
meine Rostlaube im Parkhaus beim Zentrum abgestellt. Bin bereits in der Nähe
des Ausgangs gewesen. Da zog hinter mir ein tiefes Rauschen vorbei. Habe mich
danach umgedreht und einen knallroten Porsche im Auge gehabt. Um ehrlich zu
sein: Der Anblick hat mich gefesselt. Mit der Entschuldigung, dass sich auch
ein quasi weltanschaulich auf Mini eingestellter Automobilist in so einem Fall
des korrupten Blickes nicht zu schämen brauche, bin ich stehen geblieben
..."
Du lässt das Blatt auf den Stapel sinken und
schließt die Augen. Es ist ja etwa ein Jahrzehnt her, dass du das aufgezeichnet
hast, geht dir durch den Kopf. Aber du weißt noch nicht so recht, ob du dich
auf diese Erinnerung ganz einlassen sollst.
Du legst das Papierbündel
weg und steckst dir den Thermometer rein. Diese Verrichtungen immer. Dein
Barockengel ist noch da und hat das veranlasst. Du denkst über eine Freundlichkeit
für das Mädchen nach. Es fällt dir nur ein, dass du immer noch ganz dankbar
bist. Schon gut!, hat sie kurz geantwortet. Dann hast du deine Siebenunddreißigacht
angegeben. Sie ist wieder gleich weg gewesen. Du machst weiter – mit dem
Altpapier, wie du vor dich hin grinst:
"Das
rote Ding war gerade abgestellt worden. Im Parkverbot. Habe noch einen
neugierigen Blick darauf geworfen, um zu sehen, was für ein Wesen so einem protzigen
Ding entsteigen würde. Ein intelligentes Gesicht erschien. Von mittellangem,
brünettem Haar gerahmte männlich kantige Züge wurden im Halbdunkel erkennbar.
Ich stand da und verfolgte, wie der Typ seine gut Einsachtzig entfaltete. Er
mag um die Dreißig und meines Alters sein, dachte ich noch. Der kommt dir ja irgendwie
bekannt vor, staunte ich. Ich war mir aber nicht sicher. Solche Exemplare kennt
man eben aus Illustrierten oder aus der Werbung. Der Schönling musste mich
bemerkt haben. Er blickte skeptisch zu mir herüber. Verständlich, denn in
diesen Parkhäusern passiert allerlei – hatten wir erst letzte Woche ganz groß
in unserem Blatt aufgemacht. Ich tat so, als hätte noch etwas in meiner Tasche
zu suchen. Das ist idiotisch, was du da machst. Er muss ja befürchten, dass du
womöglich eine Waffe ziehst. Auch das wieder Blödsinn. Ich machte an der
Aktentasche herum. Während ich noch so mit meiner Haltung beschäftigt war,
hatte er sich auf den Weg zum Aufzug gemacht. Er war jetzt in meiner Nähe. Ich
wollte ihn passieren lassen.
Um ihn zu beruhigen,
hatte ich ein Lächeln aufgesetzt und ihm zugenickt. Aber dieses Gesicht kennst
du doch!, durchfuhr es mich. Da hörte ich ihn auch schon: Hallo, Tom!
Karl Mentenheim stand
vor mir, machte noch einen Knopf am Jackett zu und blickte freundlich auf meine
Einsachtundsechzig herunter. Ich war überrascht. Mir fehlten die Worte. Er
reichte mir lächelnd die Hand: Na, Tom, dieses Parkhausidyll hier ist
hoffentlich nicht dein Arbeitsplatz!
Mensch, Karl!, fiel
mir nur ein. Das ist ja toll!
Ja, wie lange haben
wir uns denn nicht mehr gesehen, Tom?, fragte er in einem Ton, der nicht auf
Antwort zielte. Er ging auch gleich weiter.
Ich dachte
angestrengt nach, während ich ihm zum Aufzug folgte. Mir wollte es nicht
einfallen. Das ist überhaupt das erste Mal, dass wir uns treffen, sagte ich
dann, als sich die Tür schloss. Er schien es überhört zu haben oder war mit den
Gedanken woanders. Stell dir vor, das erste Mal, dass wir uns sehen, seit wir
unseren schwarzen Kasten verlassen hatten.
Ach ja, dieses
geschichtsbeladene Gemäuer!, lachte er trocken. Überhaupt diese Leute dort. –
Drücke doch mal 'Erdgeschoss'!, forderte er mich auf.
Dann waren wir
draußen. Er schritt dahin, ohne darauf zu achten, ob ich ihm folgen würde. Ich trabte
seitlich etwas hinter ihm her. Man konnte ja so ein Zusammentreffen nicht nur
mit diesen paar Worten erledigt haben. So machte ich ihm den Vorschlag, im
nächstgelegenen Café ein wenig zu plaudern. Er zeigte sich überrascht. Es kam
mir einen Moment so vor, als hätte ich mir damit zu viel herausgenommen. Er
dachte nach und blickte etwas leidend drein, so als fahre er im Geiste mit dem
Finger über das heutige, natürlich bis zur letzten Zeile volle Blatt seines
Terminkalenders. Schließlich wollte er sich aber doch die Zeit nehmen.
Kaum Platz genommen und
bestellt, versuchte ich ein Gespräch: Oh, du rauchst Astor!, sagte ich und
schaute, anerkennend mit dem Kopf nickend, auf die braune Schachtel. Wo gibt es
denn die noch?
Karl schien meine
Bemühung nicht weiter zur Kenntnis genommen zu haben. Er hatte sein Augenmerk
auf die Aquarelle gerichtet, die hier präsentiert waren.
Das ist keine Marke,
strengte ich mich weiter an, die man am Automaten ziehen kann!
Interessant, sagte er. Sie haben hier Kunst
hängen. Das sieht man jetzt häufiger auch in ganz einfachen Cafés. Dass sie
damit einen Galerieeffekt zu erreichen versuchen.
Er öffnete seine
Zigarettenschachtel und erklärte mir eher beiläufig, dass die ihm das Personal
immer besorge. Er wisse nicht, wo die her sind. Kiosk oder nicht, meinte er, es
dürfe lediglich kein mieses Zeug sein. Dabei hielt er mir die geöffnete
Schachtel her. Ich zog mir eine und fingerte mit der anderen Hand in meiner
Jacke nach meiner Dose. Er nahm sich dann mit amüsierter Miene eine von meiner
Sondermarke. Er meinte, während er mir Feuer gab, dass die meisten Leute beim
Genießen den Fehler begingen, nicht auch noch den zweiten Schritt zu tun, der
eigentlich der erste sei. Ich schaute ihn fragend an. Nun, die Leute sparen beim
Vergnügen, erklärte er, und kaufen billiges Zeug. Das ist es, was
gesundheitlich ruiniert, war er überzeugt.
Es scheint ihm ein
Anliegen zu sein, dachte ich mir.
Dann sollen sie
lieber ganz darauf verzichten, war er der Meinung, als sich mit Dreck die
Gesundheit zu ruinieren. Damit drückte er die Zigarette auch schon gleich aus
und war anscheinend wieder ganz bei den Bildern. Ich schielte auf den langen
Stummel im Ascher und dachte an die Abende, an denen ich zu Hause immer
stundenlang für meine Zigaretten den Tabak in fertige Hülsen stopfte.
Durchs Fenster sah
man die Passanten. Im Raum war nur wenig Bewegung, mäßiges Kommen und Gehen.
Wir saßen da und schwiegen eine Weile.
Mir fiel nichts ein, als mich übers schöne
Wetter auszulassen. Karl meinte, man müsste sich jetzt Zeit nehmen und in die
Berge gehen. So richtig einen Dreitausender machen. Ich stimmte ihm mit
sozusagen innerer Gänsehaut zu, war allerdings überzeugt, dass er damit nur angegeben
hatte. Ich sagte mir, dass so ein Mensch wie er doch eher weniger harten
Vergnügungen nachgehen würde. Vielleicht ein bisschen über die schiere Wellness
hinaus. Ich vertiefte das Thema Bergsteigen nicht. Ich wollte ihn aber nicht
mit meiner Anschauung darüber vergrätzen. So lenkte ich ab und fragte, ob man
seinen schicken Sportwagen denn nicht auch 'oben ohne' fahren könne, gerade bei
so einem schönen Wetter.
Er wisse gar nicht, antwortete er, ob das
ein Hardtop sei. Er habe sich eben einen Wagen vom Fuhrpark kommen lassen.
Fuhrpark, wiederholte ich, ach ja!
Ich
nahm die Speisenkarte zur Hand, blickte ein wenig hinein und bemerkte
beiläufig, dass alles bald teurer werden würde. Er schaute mich fragend an. Ich
ließ mich gleich über Staatsverschuldung und Steuererhöhung aus. Ich wollte es nämlich
mit Politik versuchen, um das Gespräch etwas in Gang zu bringen.
Er lächelte und
meinte nur, es gestalte sich immer unrentabler, einer Arbeit nachzugehen. Wir
lachten trocken. Damit hatte es sich allerdings auch schon wieder.
Ich nahm einen
Schluck Kaffee. Man hat sich eben nichts mehr zu sagen, dachte ich. Es war auch
ärgerlich, dass er sich gar keine Mühe gab. Er saß lässig da, die Beine überschlagen,
hatte mir nur die Seite zugewandt. Er lässt arbeiten, dachte ich mir, einer von
diesen ist er. Er lässt arbeiten – in diesem Fall lässt er mich arbeiten.
Solche Leute finden immer wen, der ihnen den Domestiken macht.
Ein paar Tische
weiter lag ein Boulevardblatt. 'Qumran' stand ganz fett im Aufmacher. Ach ja,
erinnerte ich mich. Die Sache da mit den alten Schriftrollen von irgendwo in
der Wüste. Das wird zurzeit immer wieder einmal diskutiert. Ich sagte: Qumran.
Wie denkst du darüber?
Er goss sich Kaffee
ein und schien ein wenig in seiner Allgemeinbildung zu kramen. Habe ich sicher
mal gehört, antwortete er. Aber ich kann es jetzt nicht mehr richtig zuordnen.
Ich genoss meinen
Informationsvorsprung und ließ ihn aber noch eine Weile in seiner Wissenslücke
sitzen.
Qumran, wiederholte
er. Hm, muss man das wirklich wissen?, fragte er dann.
Ich versicherte ihm
und fühlte mich dabei sehr gut, dass es gewiss keine Bildungslücke sei. Auch
dass man Qumran gar nicht so recht in Konversation einbringen könne. Weil kaum
jemand genauere Informationen habe. Es sei ja stets eher peinlich, wenn jemand
eine Unterhaltung zum Vortrag umfunktioniere, kehrte ich gute Kinderstube
heraus. Dann erklärte ich ihm so bescheiden, wie ich meinen Stolz nur immer verbergen
konnte, dass es sich dabei um uralte Schriftrollen handle. Und zwar aus der
frühen Christenzeit oder sogar davor und eben um jenen Ort am Toten Meer.
Texte, klärte ich ihn auf, die von der jüdischen Sekte der Essener verfasst worden
waren. Sie wurden von einem Hirtenjungen Ende der Vierziger gefunden.
So, so!, quittierte
Karl meine Lektion.
Das hatte natürlich
nicht sehr nach Aufforderung zur Fortsetzung geklungen. Ich wollte deshalb –
auch weil ich selber gar nicht viel mehr wusste – die Sache zu Ende bringen:
Weißt du, man liest immer wieder mal etwas darüber. Die Texte sollen längst
übersetzt und ausgewertet sein. Aber man sagt, dass die Kirche die Hand
draufhält. Weil da Tatsachen zum Vorschein gekommen seien, welche die
herkömmliche Lehre ins Wanken geraten lassen könnten.
'... die herkömmliche
Lehre ...!', wiederholte Karl grinsend. Da böte sich dann auch noch die
Gretchenfrage an: 'Wie hältst du's mit der Religion ...?', oder so ähnlich aus
dem guten alten Faust.
Wir haben ja früher
jeden Tag zur Kirche gehen müssen, erinnerte ich. Dass wir deshalb eigentlich
ja doch fürs ganze Leben über einen satten Vorrat davon verfügten. Also,
vielleicht kann man Kirche nicht schon mit Religion gleichsetzen, aber immerhin
... So ein Konto – vielleicht nicht gleich Frömmigkeit. Wie's eben nicht gleich
Frömmigkeit ist, wenn man so eine Übung regelmäßig, nämlich nur durch die
Umstände gezwungen vollführe ...
Du bist ja reichlich
bemüht, Tom!, ging Karl lachend dazwischen.
Aber immerhin, einfach
ein Guthaben von früher ..., wollte ich weitermachen.
Du lieber Gott
'früher'!, unterbrach er mich. Weißt du, Tom, ich muss dir gestehen, dass ich
gerne so einfache Grundsatzfragen absetze. Wie die mit der Gretchen-Frage. Ich
wollte dich jedoch mit dem Faustzitat nicht in einen Erklärungszwang bringen.
Natürlich nicht,
beruhigte ich ihn. Du handelst da sozusagen journalistisch, kann ich dir
bescheinigen: Gerade die einfachen Fragen bringen die Leute zum Reden! Sie
quasseln dann drumherum und bringen damit reiche Beute an Information ...
Ja, eben, unterbrach
er mich. Solche unerwarteten Fragen treten was los.
Wir nickten uns zu
und griffen beinahe gleichzeitig zu unseren Zigaretten.
Früher!, sagte er in
seine Tabakwolke hinein. Früher ..., und hielt seinen Satz nachdenklich an.
Wie lange ist das eigentlich her, das mit der Schule?, begann
er wieder. Ein Jahrzehnt oder gar schon länger? Man ist ja ... – freilich, wir
sind ja gleich alt.
Karl war mit den Gedanken
bereits woanders: Wir konnten uns damals dort – in unserer komischen Schule,
weißt du – freilich nicht gegenseitig aussuchen ... Mehr kam allerdings
zunächst nicht von ihm. Ich wusste daher nicht, worauf er hinauswollte. So
nickte ich nur.
Das hatte alles der
Zufall erledigt, fuhr er fort, der Zufall in Gestalt der Eltern.
Ich betonte: Die
Macht des Zufalls!
Karl saß da, die
Stirn in Falten. Die Macht des Schicksals, muss es richtig heißen!, korrigierte
er nur und nahm seinen Faden wieder auf: Sie stellten uns dort ab. Einfach ...
Dann mussten wir eben sehen, wie wir zurechtkamen .... Ja, vielleicht sollten
wir dort richtig ausgiebig herumfrömmeln, meinte er. Weil unsere Alten das in
ihrem Leben versäumt hatten. Weil ja die Kinder ganz allgemein immer das
ausgleichen sollen, was die Eltern bei sich selber versäumt hatten.
An allen Orten unseres
Beisammenseins, sagte ich, hockten wir sozusagen mit unserer ganzen Existenz
aufeinander. Dann die Entdeckung Gemüt! Ganz eindeutig, in Entfernung von der
lieben Mutter. Da brach das mit dem Gemüt so richtig aus einem hervor. Zu Hause
war die Gute das Gemüt. (Karl musterte ganz unverhohlen die junge Bedienung.) Zu
Hause bei Mutter, sinnierte ich. Und unter diesem Gemütsservice von ihr ...
Karl stützte sich
jetzt mit einem Ellbogen auf den Tisch, der andere Arm baumelte lässig über die
Lehne.
Zu ihm gewandt, setzt
ich etwas spitz hinzu: Diese kleinen, nur auf sich bezogenen Seelchen, die wir
waren – oder heute noch sind ...
Karl lächelte nur und
zündete sich wieder eine von seinen Astors an. Sein goldenes Feuerzeug, fiel
mir jetzt auf – und das wohl ebenfalls goldene Uhrarmband.
Das war doch eine
Zeit, da nach dem Krieg, meinte Karl und machte Kringel mit dem Rauch. Eine
Zeit, die angeblich etwas darauf hielt, das Religiöse wieder entdeckt zu
haben. Nachdem sie ihres braunen Erlösers verlustig gegangen waren. Irgendwas
muss man schließlich anbeten, das ist offenbar so drin im Menschen. Es wird ja
behauptet, dass da die Kirchen zu jedem Event proppenvoll waren. Da bedeutete
Seele bei uns Jungen sogar ein wenig in dieser Richtung. Seele allerdings nicht
etwa als eine psychologische Größe. Woher hätte man das wissen sollen? Und was
haben unsere Pauker schon davon gewusst?
Wir Seelchen, ha?,
beeilte ich mich. Das weste so vor sich hin. In diesen regelmäßig von einem
Trupp Hausdiener gereinigten, von Dielenöl und Kernseife geschwängerten und von
Zeit zu Zeit ausgeweihten Räumlichkeiten dort in diesem unsäglichen Domizil ...
Bravo!, rief Karl so
laut, dass der Kopf der Bedienung hinter der Illustrierten hervorkam. Eine
wertvolle Formulierung!
Ich nahm ihm die
Begeisterung ab und fuhr angetan fort: Wir konnten uns nirgendwo ausweichen.
Wenn ich es bedenke, war man einander geradezu ausgeliefert. Jedenfalls musste
man sich die Gegebenheiten auf irgendeine Weise erträglich gestalten, sonst ...
Weißt du noch,
unterbrach mich Karl, wie viel Einfallsreichtum wir da investierten? Dabei
hatte er sich mit einem Ruck mir ganz zugewandt: Hast du auch die Rückwand von
deinem Schrank wegmontiert gehabt? Deiner war doch auch in die Dachschräge
eingebaut?
Ich war von seiner
Begeisterung überrascht. Ich nickte. Karl fuhr gleich fort: Wir gelangten doch
auf diese Weise in den toten Raum der Dachschräge und richteten dort Verstecke
ein, um wenigstens kurze Zeit alleine sein zu können oder uns dort mit Freunden
aufzuhalten.
Er schien seiner
Erinnerung still nachzuhängen und hatte mich damit angesteckt.
Was hat man da nicht
alles gemacht, murmelte Karl nach einer Weile. So wie in dieser Erzählung 'Die
Verwirrungen des Zöglings Törleß'. Aber so etwas hat man natürlich an unserer
Schule nicht gelesen! – Kennst du die Story, Tom?
Ich wich aus: Wenn
man einen Dachziegel abgespreizt hatte, dann konnte man den Rauch seiner
Zigarette hinausblasen. Wenn sie einen allerdings erwischt hätten, na dann!
Schließlich musste man aber als werdendes Mannsbild rauchen. Auch wenn man
darauf kotzen musste. Weil alle Männer rauchten, damals jedenfalls. Das haben
sie aus dem Krieg mitgebracht, haben sie immer behauptet. Wo's stets noch was
zum Qualmen gab, auch wenn das Futter alle war.
Ich nahm einen
Schluck Kaffee. Mensch, ein mieses Gesöff, mäkelte ich. Das erinnert doch fatal
an damals, an den graubraunen Sud im Internat, den der Koch beharrlich als
Kaffee bezeichnet hatte!
Karl ging nicht
darauf ein.
Ich schämte mich. Es
kam mir nämlich, dass man behauptete: Je dürftiger die Küche zu Hause, desto üppiger
die Kritik woanders.
Das geht einem doch
alles nach …"
Die Visite drängt
herein. Du legst deine Papiere weg. Räume die Blätter in die Schublade von
deinem grauen Blechkasten. Die Weißmänner greifen gerne nach allem, erinnerst
du, was geschrieben ist. Vielleicht weil es ihnen als ungewöhnlich, sogar
ungehörig erscheint, hier privat Geschriebenes zu haben oder es hier gar zu
verfassen. Sie werfen einen neugierigen Blick darauf. Außerdem ist da ja auf
dem Papier dein Ich eingefangen. Von dem du weißt, dass du irgendwann damit zu
tun hattest. Was aber niemanden etwas angeht ...
Die paar Fragen an dich, dein Befinden
betreffend. Dann sind sie weg.
"Karl
nahm einen Schluck Kaffee und sagte nachdenklich: Andererseits brauchte man
einander. Man war immer zu mehreren. Ich glaube, sinnierte er, man scheute sich
sogar Freundschaft offen zu zeigen. Was über Kameradschaft hinausging, das
wollte oder konnte man sich nicht leisten. Das hing doch auch mit den
pubertären Vorgängen unter der Gürtellinie zusammen. Oder auch anders: Masse
lässt Bindung nicht zu. Freundschaft – oder Bindung überhaupt ... Ich weiß
nicht ... Ich denke, es ist sowieso alles eine Frage des Nutzens. –
Entschuldige mich einen Augenblick, Tom. Damit verschwand er.
Ich wunderte mich,
dass er dieses Thema angetippt hatte, aber ging dem nicht weiter nach, sondern
scheuchte das Mädchen mit der Bestellung von zwei Cognacs auf. Als er wieder da
war, stießen wir an. Hennessy, sagte ich stolz, ich habe ausdrücklich etwas
Besseres verlangt! Sonderbarerweise schien er noch an seinem Thema zu hängen:
Ich glaube, man brauchte sich gegenseitig doch auch dazu, um die Ecken und
Kanten der Seele abzurunden. Dabei schaute er mich an, als wollte er prüfen,
wie ich auf so eine aufwändige Formulierung reagierte.
Ich protestierte:
Mensch, Karl, Seele, am helllichten Tag. Ohne Vorwarnung!
Davon unbeeindruckt,
rundete er seine Konstruktion ab: Ich glaube, dass wir uns aneinander
abschleifen, abfeilen mussten.
Hat reichlich nach Metallbearbeitung
geklungen, kommentierte ich, betont cool. Was machst du eigentlich?
Maschinenbau oder so etwas?
Karl lächelte nur und
nahm einen Schluck Cognac.
Ich wollte ihm
entgegenkommen: Ich stimme dir allerdings zu. Man kratzte und biss sich in Wort
und Tat, verletzte sich, mitunter erheblich, und schmierte sich auch wieder
Honig ums Maul. Man ehrte und versehrte sich.
Hat sich ja reichlich
nach Wortwerkstatt angehört, revanchierte sich Karl.
Um das mit dem
Abschleifen aufzugreifen, Karl: Nach den Worten unseres Direktors ... – Kannst
du dich noch an den erinnern? An diesen starken Charakter in der langen,
schwarzen Kutte. So ein üppiger Mensch, den man sich manchmal sogar als Vater
gewünscht hat. – Das war doch komisch: Diese herben Männer in langen Röcken, um
die Taille einen Strick. Der eine oder andere sah aus wie im neunten Monat. –
Nach den Worten dieser sonderbaren Vaterfigur waren wir ja alle Edelsteine. Er
pflegte doch zu ergänzen: Edelsteine, aber ihr seid ziemlich ungeschliffen.
Lebt diese
Vater-Mutter-Figur eigentlich noch?, fragte Karl.
Er hat sicher das
Zeitliche gesegnet, sagte ich, um es angemessen verstaubt auszudrücken.
Dein wirklicher
Vater, Tom, ist doch im Krieg geblieben, wenn ich mich recht entsinne?, fragte
Karl.
Ich nickte, hätte es
eigentlich richtigstellen sollen. Es hatte sich zu der Zeit aber immer noch gut
gemacht, den Vater im Krieg abgestellt zu haben, wenn da nie einer wenigstens
gelegentlich zu Besuch erschienen war. Aber wir waren beide Jahrgang fünfzig,
Karl hätte also ruhig selber draufkommen können, dass das mit seiner Erinnerung
nicht ganz stimmte.
So ein Ausdruck, den
sie damals gerne verwendeten, sagte er: 'Jemand ist im Krieg geblieben'. Schon
sonderbar, diese Denkungsart – oder dieses elende Verrecken nur ‘fallen’ zu
nennen. Er blickte mich forschend an. Ich wusste nicht, worauf es hinaussollte,
und nickte nur. Eigentlich war ich mit der Frage beschäftigt, warum er in Bezug
auf meinen Vater auch nachgerechnet haben sollte. Freilich war der nicht im
Krieg geblieben, er hatte mich gezeugt und ein Jahr drauf seinen Kratzfuß
gemacht. Einundfünfzig. Französisches Arbeitslager, als Kriegsgefangener in der
Arsenfabrikation und und. Wie die Mutter erzählte: Äußerlich wie innerlich
total ausgemergelt, war er vier Jahre nach der großen Pleite wieder
aufgetaucht, verseucht, überflüssig. Ich dann mehr aus Versehen oder vielleicht
sogar als Versuch, wieder Lebenssinn zu gewinnen. Wie soll ein Junge so einen
Vater in seine Biografie einbauen?
'Und wer den Tod im
heil 'gen Kampfe fand / ruht in fremder Erde wie im Heimatland.' Das habe ich
in Landsberg am Kriegerdenkmal gelesen, sagte ich dann.
Wir lachten bitter.
Karl versuchte zu wiederholen, blieb kopfschüttelnd am 'heil'gen Kampfe'
hängen.
Weiß Gott, eine
Teufelei!, knurrte ich.
War vermutlich nicht
einfach für die Leute zu Hause, fuhr Karl fort. Die vaterlosen Familien waren
damals zahlreich, holte er aus und führte seine Tasse zum Mund, trank aber
nicht gleich, schien nachzudenken. Ach!, kam dann. – Ich horchte auf. – Er nahm
erst einen Schluck, stellte die Tasse wieder ab: Stell dir vor, da hatte ich
mich an der Uni einmal zu den Psychologen verirrt. War in einer Vorlesung über
Freud gelandet. Da hatte doch der gute Professor gerade über die Mutterbindung der
Söhne gelesen ... Karl stockte – ... Diese Mutterbindung selbstverständlich ...
Karl wurde leiser, Ursachen und Folgen ..., sagte er nur noch und machte dann
eine abweisende Handbewegung. Im Grunde, weißt du, ist es ja ziemlich
unverschämt, nahm er sich zurück, sich als Hobbypsychologe aufzuplustern.
Ich weiß ja, Karl,
sagte ich, wie es hätte weitergehen müssen mit Freuds Erkenntnissen über die
enge Bindung des Sohnes an die Mutter: Da wäre jetzt in deiner Rede die
Disposition dieser Söhne zur Homosexualität an der Reihe gewesen.
Da gab es viele wie
euch, wich er mir aus, viele ohne Vater. Aber das war auch wieder nichts
Besonderes. Da gab es viele wie euch, sogar solche, die obendrein auch noch
alles verloren hatten: Die Heimat – na ja, das kann man sicher vernachlässigen.
Aber weggehen. Das ganze Vermögen zurücklassen müssen! Es ist sicher schlimm,
ganz ohne etwas dazustehen.
Die kalte Brühe in
den Tassen sah jetzt auch so scheußlich aus, wie sie vorhin bereits geschmeckt
hatte. Ich griff nach dem Kaffeekännchen und sah hinein, um die Flüssigkeit
durch Aufschütten wenigstens optisch zu verbessern. Ich hatte kein Glück. So
nahm ich die Tasse mit dem graubraunen, erkalteten Sud. Karl tat das Gleiche,
als ich mit einer Grimasse abgestellt hatte. Er führte die Tasse, wie mir
auffiel, mit einer beinahe übertrieben eleganten Handbewegung an den Mund. So
eine richtige Bewegungsfloskel, dachte ich. Er nippte am Inhalt, indem er immer
wieder ansetzte. Eine schier unmännliche Weise, dachte ich mir, fand es aber
irgendwie sympathisch. Ich griff noch einmal nach meiner Tasse, in der noch ein
paar Tropfen zusammengelaufen waren, machte Karls Geste nach.
Wir wollten dann
aufbrechen. Bitte zahlen!, rief ich und zückte das Portemonnaie. Die Bedienung
war bereits an unserem Tisch und rechnete zusammen. Karl hatte keine Anstalten
erkennen lassen zu zahlen. So sagte ich dem Mädchen, dass ich alles übernehme.
Als sie weg war, entschuldigte ich mich bei Karl, ihn damit überfahren zu
haben. Aber zwei Rechnungen, beteuerte ich, hätten sich bei dem kleinen Betrag
ja gar nicht gelohnt. In Italien zum Beispiel sei es üblich, fügte ich noch an,
dass eine Person den ganzen Tisch übernehme.
Er hatte mir geduldig
zugehört. Aber keine Ursache!, Tom, beruhigte er mich.
Dann brachen wir auf.
Es war ein schöner
Sommertag. Wir spazierten ein wenig in der Stadt umher. Dann ließen wir uns auf
öffentlichen Stühlen nieder, die sie jetzt überall auf den Plätzen hatten. Viel
Volks flanierte an uns vorüber. Ab und zu ein besonderes Exemplar. Angeregt
durch diese und jene Erscheinung, die da einherstolzierte oder auch
vorüberhastete, kamen wir doch immer wieder auf die Schulzeit zu sprechen: Was
mag der und der jetzt machen ...
Unsere
Erinnerungsarbeit währte eine knappe halbe Stunde. Dann schien es Karl
überdrüssig zu sein, hier herumzusitzen. Er stellte fest, dass wir für Ausflüge
in die Vergangenheit noch nicht ausreichend vergreist seien.
Ich stimmte Karl lachend
zu, zunächst die gute, mehr noch zeitraubende und vor allem teure Bildung in
ein wenig Karriere umzusetzen. Vor allem Geld zu machen. Er hatte sich erhoben.
Gut gelaunt legte er mir jedoch noch seinen Lebensplan von den drei
Vierteljahrhunderten dar: Fünfundzwanzig Jahre wollte er lernen (was er
schließlich bereits hinter sich habe), einen ebensolchen Abschnitt (wenn es
sich nicht vermeiden lasse) hart arbeiten, um schließlich eine solche
Zeitspanne (plus x) alles nur noch auszukosten. Ich musste das zwar schon
irgendwo gehört haben, hegte allerdings keine Zweifel daran, dass er es
umsetzen werde.
Aber nicht, dass du
meinst, ich nähme das allzu ernst, setzte er dann hinzu. Natürlich kommt es
darauf an, nicht nur gut zu sein. Es ist wichtig, besser zu sein, wenn du
verstehst. Es ist ebenfalls wichtig, Einfluss nehmen zu können, damit einen
das, was man tut, innerlich erfüllt – wenn du mir diesen verbalen Höhenflug
gefälligst nachsehen wolltest ... Erst im besagten dritten Lebensabschnitt
sollten wir uns wieder der Erinnerung hingeben, dann allerdings irgendwo auf
einer Ferieninsel.
Klingt gut!, stimmte
ich zu.
Darauf trennten wir
uns: Mach's gut, sagte er im Gehen und hob lässig die Hand, winkte mir über die
Schulter.
Servus, mach's
besser!, rief ich ihm nach.
Servus, echote ich
mir beim Weggehen. Komisch, sagte ich mir, diesen bayrischen Gruß benütze ich
doch sonst nicht. Bei einem Klopapier haben sie das mal als Marke verwendet,
fiel mir ein. Ich war jetzt schon fast am Parkhaus. Es bedeutet Diener, fiel
mir ein. Ich fühlte mich jetzt öde. Eine reichlich blöde Floskel, maulte ich
vor mich hin, dieses Servus. Noch dazu beim Abschied. Meine Besorgungen habe
ich auch vergessen. Nun gut, dann gibt es heute eben wieder nur Ravioli aus der
Büchse.
Ich tuckerte dann mit
meinem Mini durch die Innenstadt. Sechzehn Uhr. Stop-and-go-Verkehr. Da merke
ich erst, was das für ein Schrottkübel ist. Das stinkt durch alle Ritzen.
Gleich hatte ich wieder das tolle rote Ding von Karl vor Augen – und Karl
selber und die alte Penne, über die wir geredet hatten. Der zu dieser Uhrzeit
übliche Stau – dazu Gedankenstau: Schulzeit, Herrgott. Kindheit wäre noch
erträglich, aber Schulzeit alleine? Da kam mir ein Einfall. Ich passte mich in
die nächste Parklücke ein. Ich hatte ein Thema gefunden. Man muss kreativ sein
und initiativ, versicherte ich mir, man muss immer – nicht nur gut, sondern
besser sein, wie Karl sagte. Mit etwas Besonderem aufwarten können muss man.
Den Mann auf der
Straße befragen.
Ich ging und hielt
sofort Ausschau.
Mist, der Fotoapparat
liegt im Auto! Ich rannte zurück, denn ich wusste ja, dass die Leute williger
werden, wenn man sie knipst: Die Leute schlagen in der Früh die Zeitung auf und
entdecken ihr Konterfei, das sie gerade noch im Spiegel vor sich hatten. Da
freuen sie sich und sind stolz ..."
Du lachst böse. Stellst fest, dass es fürs
Erste aus ist. Einzelne Blätter jetzt nur noch von dieser Notiz. Du hast es
damals sein lassen wollen. Nur mal so diese Begegnung niederschreiben.
Vielleicht auch, weil dich die Gedanken an Karl nicht losgelassen hatten.
So ein bescheuerter Einfall.
Lasse dich mal hier jetzt frisch einbinden.
Den Verband wechseln, heißt es wohl, es beginnt zu jucken. Du passt die
Schwester ab. Aber einstweilen kannst du ja die einzelnen Zettel lesen ...
"Befragung
über die Schulzeit:
Erste Äußerung (Typ
von Mitte sechzig, hagerer Baskenmützenträger): Ich glaubte stets, dass ich
davon überzeugt sein könne, dass der konzentrierte Erwerb von Allgemeinbildung
eben nur einen Abschnitt im Leben verkörpere ... Der Mann lächelte: Einmal muss
es natürlich sein Ende haben, junger Mann, belehrt er mich. Sehen Sie, ich bin
jetzt Mitte sechzig und werde in Pension gehen. Staunen Sie: Ich habe mich
schon immatrikuliert und werde auf meine späten Tage meinen Doktor machen!
Ich lobte ihn. Das
muss anregend gewirkt haben: Jetzt ist alles anders. Ich besaß, nicht immer
diese positive Einstellung zur Schule. Ja, es war Jahrzehnte sogar so, dass
mich nichts hätte bewegen können, an diesen Klassentreffen teilzunehmen, wie
sie allenthalben von irgendwelchen ausgerufen worden waren. Ach, gehen wir uns
doch irgendwo setzen, dann erzähle ich Ihnen weiter!
Ich folgte ihm eher
unwillig. Er stakte voran und redete drauflos: Auf so etwas angesprochen, hatte
meine Ausrede immer gelautet: Ich trüge ja durch mein Erscheinen bei so etwas
nur dazu bei, dass eine Mode daraus entsteht; am Ende komme es dahin, dass sich
sogar Strafentlassene jahrgangsweise träfen!
Er war jetzt stehen
geblieben, schien auf irgendeine Reaktion von mir zu warten. Ich rang mir ein
kurzes Lachen ab, das mir allerdings nur eher als ein Husten gelang, bedankte
mich und wollte mich davonmachen. Er hielt mich jedoch am Ärmel fest: Auf
diesen natürlich ganz bewusst erzeugten Schwachsinn hin trollten sich die Lader
meist kommentarlos von hinnen. So galt ich wohl als hoffnungsloser Fall und
hatte meine Ruhe. Hingegen jetzt sehe ich das alles ganz anders. Er reichte mir
die Hand: Selbstverständlich lasse ich jetzt kein Treffen mehr ungenutzt
verstreichen!
Ach ja, gab ich von
mir, es wird ja auch immer ruhiger, wenn Sie sich da treffen. Denn Ihre Gruppe
schmilzt dahin, aus ganz natürlichen Gründen!, konnte ich mir nicht verkneifen."
Es kribbelt wieder unterm Verband. Du legst
das Blatt auf den Papierstoß und schrappst mit den Fingerspitzen an den
juckenden Stellen. Ein Geräusch von nebenan, das ein Lachen gewesen sein
konnte. Du klingelst nach der Schwester. Als sie endlich eintritt, klagst du
ihr deine Beschwerden. Sie wolle es weitergeben – und zieht ab. Da hörst du
gleich den Kommentar, dass das die Heilung sei, aber eben nicht nur die. Das
gibt er vor, ganz genau zu wissen, dass da mehr dahintersteckt. Aber du hörst
da nicht weiter zu ...
"Fortsetzung der Befragung. Aber zunächst nur ein Vermerk
resümierender Natur: Ich hatte jetzt eher Sehnsucht nach einem einfachen Gemüt,
das mir auf meine Frage nach der Schule etwas Deftiges und bekanntermaßen
gleichwohl Unerfüllbares anbieten und dann davonpoltern würde. Aber ich strich
mein Vorhaben und setzte mich wieder ans Steuer – war in Gedanken wieder bei
Karl. Ob ich den in nächster Zeit wieder einmal treffe?, ging mir durch den
Kopf.
Man hat sich mit der
alten Klasse noch nie getroffen. Überhaupt Schule, was soll' s?, fragte ich
mich. Der eine macht mehr, der andere weniger daraus. Unbestritten, ein Zeugnis
ist nur so viel wert, wie man daraus macht. Vielleicht kann ich aus der ganzen Schose,
die mich offenbar doch nicht loslässt, doch noch etwas machen? Ein Thema?
Mitunter gibt es irgendwann einen Aufmacher ab? Einleitende Gedanken zu gegebenenfalls
einem Kollektiv im Blatt: Ausbildung und Schule ... Und es dem Chef schmackhaft
machen mit Anzeigengeschäft, denn es gibt immer mehr, die irgendwie Bildung
verkaufen wollen: Alle möglichen Kurse, Nachhilfe und schulähnliche Gebilde
sprießen wie Pilze aus dem Boden. Eine verschulte Gesellschaft, die unsere ...
Es wird mich wohl
noch eine Weile umtreiben. Ich bin mir bewusst, dass der Auslöser für das alles
in mir im Grunde Karl war ..."
Jetzt trampelt die Oberschwester herein. Es
war doch erst Visite, denkst du. Typ Erzengel Michael. Ein stechender Blick
aufs Nachbarbett: Stuhl gehabt, Herr Sänger?
Bei diesem Ton fährt es einem eiskalt über
den Rücken.
Nein!, tönt es ahnungsvoll zurück – und
Sänger hat einen Zusatz gewagt, dass sie ihn doch erst vor der Operation völlig
leergemacht hatten.
Nein, keinen Stuhl!, wiederholt sie
genussvoll. Sie scheint Sängers Anmerkung überhört zu haben.
Ein Racheengel!, geht es dir durch den Kopf.
Häme blitzt aus ihren Augen. Während sie das
Nein energisch auf der Betttafel notiert, beleben sich ihre welken Züge.
Irgendwas Lüsternes scheint auf. Man ist ja sonst nicht so verhalten, nicht
wahr, Herr Sänger!, hat sie scharf angemerkt. Man ist sehr flink für sein
Alter, erzählt man sich seit neuestem bei uns hier. Sie setzt nach: Kaum
aufgewacht, da muss man gleich wieder überall hingreifen, wo man überhaupt
nichts zu suchen hat. Wo man doch in diesen seinen Jahren eher ein Gebetbuch in
diesen seinen Händen halten sollte! Dem schickt sie noch ein paar Stöße von so
etwas wie Lachen hinterher.
Sänger schweigt ahnungsvoll.
Dann ist sie an deinem Lager und schleudert
dir die gleiche Frage entgegen, wenn auch geringfügig gemäßigter im Ton. Auch
du musst verneinen. Es muss sehr kleinlaut geklungen haben.
Die Tafel an der Bettlade eingehakt und ohne
Gruß hinaus.
Verfluchte Haubitze!, hörst du vom
Nachbarbett her.
Diese Frau, ein Racheengel, denkst du.
Rache, wofür?, fragst du dich. Rache für ihr versäumtes Leben vielleicht. Das
wäre ja Sängers Thema. Sie sieht so aus, als ob sie in ihrer Festung alles
verwahrt und eben verwartet hatte. Bis sie selber von Dornen durchwachsen war.
Ach du meine Güte: Ein Dornröschen, das kein Prinz wachgeküsst hat.
Das Essen klappert herein. Was gibt es?
Es hat auch wieder seine Vorteile mit der
Regelmäßigkeit hier, was, Sänger Franz? Für Single wie dich und mich, hast du betont.
Was?, hat er mit vollem Mund gefragt.
Einschichtige sind wir, oder? Aber du holst
dir, was du brauchst, Sänger, ha?
Drauf kannst du einen lassen!, seine
Antwort.
Kaum ist das Geschirr weggeräumt, da wird
die Tür aufgerissen. Es taucht eine massige Gestalt auf. Ein Hüne in Weiß steht
plötzlich im Zimmer. Keiner vom Typ Doktor, wie man sich Doktor einbildet. Er
hat etwas Zupackendes an sich, schon wie er sein Werkzeug auspackt. Du weißt,
was jetzt kommt. Du wartest ergeben auf seine Verrichtungen. – Auch an dir?
Na, hat er seine Aktion eröffnet: Jetzt wollen
wir einmal durchs Hintertürchen! Er hat dir auch gleich eine Rakete gereicht: Hier
der Fingerling. Dann gut reinschieben, gut rein! Klar?
Klar, hast du das Echo gemacht – und
befolgst seine Anweisung, heilfroh, dass es nur so etwas ist.
Beim Herrn Sänger Franz müssen wir etwas in
die Steinzeit zurück mit unserer Entleerung!, hat er bestimmt und ist mit einem
Behälter, an dem ein roter Gummischlauch befestigt ist, an Sängers Bett
getreten. So, jetzt dürfen Sie ihn gleich einführen!, tönte es hämisch. Richtig
schön rein! Die Öffnung kennen sie ja!
Sänger Franz scheint zu wissen, was auf ihn
zukommt. Er stöhnt. Er stöhnt weiter, während er offenbar die Weisung befolgt.
Während dann der Pfleger das Gefäß hochhält, um das laue Seifenwasser in
Sängers Kanal sickern zu lassen, jammert der über höllische Qualen und dass er
alle hier in die Hölle wünsche. Zwischendurch schimpft er auf das ganze andere
Geschlecht, das nichts anderes könne, als Ärger in allen teuflischen Spielarten
zu bereiten. Dass jeder Mann ja auf Erden schon durch das Fegefeuer gehe.
Barbarisch, denkst du und wendest dich ab.
So ein Ding von früher. Das hat man als Junge auch gekriegt. In unserem klösterlichen
Kasten damals, wenn man sich ins Krankenzimmer gelegt hat mit irgendwas. Das
war die Hürde, die man nehmen musste. Da hieß es: Erst einmal ausräumen. Der Mönch
vom Krankentrakt kam immer gleich mit so einem Ding da an. Wer sich dem
aussetzte und es durchstand, der galt als wirklich krank und durfte bleiben.
In deinem Gedärm rumort
es. Du willst dich ablenken, langst nach dem Papierberg mit deinen Notizen. Der
Griff nach Papier, für danach – wagst nicht über den beinahe Freud’schen Griff
zu lachen, aus Angst, dir könnte sich etwas deiner Kontrolle entziehen und
einen Schandfleck im Bett abgeben …
"Notiz
07/84:
Die Befragung älterer
Zeitgenossen nach Erinnerungen aus der Schulzeit ein paar Tage nach dem ersten
Anlauf doch noch durchgeführt. Man war in der Redaktion von der Idee zwar nicht
gerade hellauf begeistert gewesen, hatte sich jedoch auch wieder nicht ganz
verschließen wollen. Sie sparten sich allerdings den Fotografen ein, ich musste
alleine losziehen.
Was sich dann zusammentragen ließ, gab am Ende immerhin eine
Spalte."
Doch wieder weg damit.
Es gurgelt in den Eingeweiden. Du kneifst
die Backen zusammen. Gönnerhaft lächelnd reicht dir der Pfleger die Pfanne.
Passen Sie in Zukunft auf den Herrn Sänger auf! Das hat fast wie eine Drohung
geklungen. Was das mit deinem Problem jetzt zu tun habe?, willst du eigentlich
fragen. Du hältst dich zurück, denn man muss annehmen, machst du dir vor, dass
sie noch ein paar Methoden zur Disziplinierung draufhaben. Du hättest ihm aber
gerne etwas angeboten, was auch wieder als Abschluss deiner Verrichtung eben
geeignet wäre.
Nach der Entleerung nimmst du die Papiere
wieder zur Hand. Es ist alles Entäußerung – im Leben, das Leben selber!,
bemitleidest du dich. Selbst das Schreiben ist Entäußerung. Dein Schreiben.
Aber was soll’s? Du suchst die Begegnung mit dir als Figur, die immerhin einmal
über ein benennbares Ich verfügte. Eine Figur, die sich sozusagen icht.
Du setzt die Begegnung mit besagter Person
fort. Du suchst auf deinem Papier, deiner Landkarte gewissermaßen ...
"Ich notiere im
August ’84:
Die Gedanken machen
sich mir seit der Begegnung mit Karl immer wieder in die Vergangenheit davon –
ausgerechnet in Richtung Schule. Ich habe zeitweise das Gefühl wegzutauchen. Da
lasse ich dann die Arbeit liegen – wie ich für gewöhnlich die Schularbeit hatte
liegen lassen. Ich sitze in solchen Momenten am Schreibtisch (auf fantastische
Weise unversehens auf der Schulbank) und das vielstimmige Reden um mich herum
vereinigt sich auf wunderliche Art zum monologischen Dozieren eines Paukers –
geht wie eben dieses als bloßes Geräusch durchs Gehör und ansonsten ziemlich
spurlos vorüber.
He, wo bist du mit
deinen Gedanken?, geht mich da doch auch mal wer an. Hast du eigentlich
zugehört? – Meine Abwesenheit wird jedenfalls erst deutlich, wenn ich reagieren
und vielleicht auf etwas antworten hätte sollen. (Man hat immerhin von der
Schule her noch jenes Mitmachergesicht im Repertoire: Als geübter Träumer
schaute man damit auf ein Objekt, nickte ab und zu, um Aufmerksamkeit
vorzutäuschen. In Wirklichkeit blickte man allerdings durch den Gegenstand
hindurch, freilich, an Durchblick nicht interessiert. In dieser Lage bereitete
nur die sinnvolle Reaktion, beispielsweise auf eine Frage, ein wenig
Schwierigkeiten. Man konnte sich ja nicht immer wieder mit 'würden Sie bitte
wiederholen' retten.)
Da mir (wie
gewöhnlich) die Zuhörer fehlen, will ich es wenigstens einmal niederschreiben
(vielleicht befreit es mich – ich weiß zwar allerdings nicht genau, wovon).
Also: Wenn ich am
Morgen ins Bad gehe, ist es mir manchmal für einen Augenblick zumute, als hätte
ich diesen vereinigten Mief von Zahnpasta, Urin und Dielenöl in der Nase, der
sich in der Früh immer in den Gängen zwischen Waschraum und Schlafsaal breit
machte und zarte Ansätze des manchmal von der Küche heraufziehenden
kaffeeähnlichen Suds verdrängte. Da taucht auch gleich diese stumme,
verschlafen tölpelige Bewegung von damals wieder auf, in der man alles mehr
oder minder mechanisch vollführt hatte: Sich aus den Federn rappeln; in den
Waschsaal schlurfen; das Gesicht voll Abneigung mit ein paar Händen kalten
Wassers befeuchten (alle paar Tage sogar mit dem Waschlappen unter die Achseln
fahren); die Zähne schrubben; zurücklatschen; die Klamotten überstreifen; das
Bett richten; in die Kirche – und dort das Auf-und-Nieder und Mit- und
Nachsprechen; zum Frühstück – und mit der Wärme und Fülle im Bauch die ersten
einigermaßen angenehmen Eindrücke haben.
Ab und zu versuche
ich es sogar, muss ich eingestehen, ein wenig nachzuspielen und tölple so
dahin. Schließlich richte ich in meinem Kopftheater auch noch diese dunkle
Gestalt am Rande der träge bewegten Szene ein, deren aufmerksame Blicke uns
unentwegt begleitet hatten: Bruder Ägidius, der Präfekt, ist dann da. Er sieht von
weitem wieder aus, wenn er so in seinem knöchellangen schwarzen Rock regungslos
dasteht, wie die versteinerte Mutter ...
Du lieber Himmel, die
gute Mutter! – Ach, Junge, was machst du denn?, würde sie jetzt vorwurfsvoll gefragt
haben ...
Aber es war ja
Ägidius, der da in meiner Erinnerung herumstand. Einer von diesen
Weltkriegsveteranen damals. (Wohl kaum einer von denen konnte die Schrecken des
Krieges so richtig verarbeiten – vielleicht wurde auch so mancher nur mit dem
Staunen nicht fertig, bei dem ganzen Wahnsinn glimpflich weggekommen zu sein.
Sie hatten die harschen Gewohnheiten des Kommisses noch in den Knochen.
Vermutlich karrte jeder sein Bündel vor sich her, vielleicht stürzten sie sich
zur Ablenkung in irgendeine Sache: Schaufelten Geld mit der gleichen
Existenzangst, in der sie zuvor den Schützengraben gebuddelt hatten. Sie
erzeugten so aber das Wirtschaftswunder. Wenn sich einer nach dem
Weltkriegstheater eine Kutte überstülpen hatte lassen, wie unser Ägidius,
raffte er eben unaufhörlich Himmelsgüter.)
Dieser Ägidius, ein
schwarzer Strich mit Gebetbuch und Rosenkranz, war immer gegenwärtig gewesen,
bis auf die Unterrichtszeit – während der Ägidius vielleicht, unsere
Abwesenheit nutzend, die Schränke kontrollierte. In der Schule hatte es dann
wieder andere Aufsichten gegeben.
Man war immer unter
Aufsicht gestanden – als Vorbereitung auf das richtige Leben.
Ein weiteres
Eingeständnis:
Es ist mir auch schon
wiederholt passiert, dass ich mit diesen Gedanken im Kopf vom Bad ins
Schlafzimmer und zum Kleiderschrank gegangen bin. Ich habe dabei vergessen, was
ich mir eigentlich vorgenommen hatte. Ich habe dann angefangen, erst die
Unterwäsche, dann die Hemden auf Kante zu stapeln. Das läuft stets ganz
mechanisch ab. Eine Dressurleistung eben. Die ausgeflippte Situation wird mir
erst richtig bewusst, wenn ich vielleicht schon dabei bin, auch die Socken
ordentlich aufzuschichten. Ich wundere mich über mich selber, bringe jedoch die
Aktion – unter der dazugehörenden Drohung, dass widrigenfalls eine Ausgangssperre
fällig wäre – pflichtbewusst zu Ende. Auch heute ist mir das widerfahren. Ich
setzte mich danach noch einmal an den bereits aufgegebenen Frühstückstisch und
machte mir noch eine Tasse Nescafé – wobei mir der eigenartige Geruch meines
Gebräus die Erinnerung an den Muckefuck von damals ins Gedächtnis rief.
Verrückterweise war ich dann beim ersten Schluck neugierig, ob
es mit dem Geschmack auch so stünde, wie mir das der Geruch andeutete ..."
Wenn du den Löffel abgibst und man deine
gesammelten Geständnisse findet!, überfällt dich jetzt.
Im hohlen Gekröse gurgelt es. Wenn sie hier
sonst nichts beherrschen, bist du ärgerlich, über den Darminhalt sind sie
Meister.
Ob deine Schreibe dann der einzige Nachweis
deines Dagewesenseins ist? Wenn ja, für wen?
Die Suppe dann macht dich friedlicher. Du
hast deine Blätter wieder im Kopf, die du schon mal Landkarten deines Selbst genannt
hast. So für eine Wanderung ... Seelenlandschaft ist dir an dieser Stelle in den
Sinn gekommen. Doch du hast es sein lassen und dich um den Einfall nicht weiter
bemüht.
Du willst denen in diesem Laden hier mit
deinem Jucken auf die Nerven gehen. Die Rache des eingewickelten Patienten –
willst du dir selber als Joke andrehen. Du kratzt dich und klingelst und kratzt
dich.
Die Schwester schüttelt dir lediglich das
Kissen auf. Sie sagt, dass man dir die Verbände zur rechten Zeit wechseln
würde. Wann das sei, hat sie nicht beantworten können. Es geschehe auf Weisung
des Arztes und fiele nicht in ihre Zuständigkeit. Du hast gemault, dass das ja
schöne Zustände seien, genau noch wie im vorigen Jahrhundert. Darauf ist sie
eingestiegen. Sie hat dir tatsächlich zugestimmt. Du wunderst dich. Sie hat
sich ereifert, dass sie ja heute immer besser und umfangreicher ausgebildet
werden. Dass sie trotzdem keinerlei Entscheidungsbefugnis besäßen. Dass sie
sogar am wissenschaftlichen Fortschritt Anteil nähmen, zwar nicht als
Forschende, aber immerhin als Anwenderinnen. Und zwar als super aufmerksame
Auf- und Übernehmende. Wo man heute topp drauf sein müsse in diesem Job, wo’s
immer mehr Ärzte gebe, die nicht mal eine Spritze richtig setzen könnten ...
Wissenschaftlicher Fortschritt!, wiederholst
du beeindruckt.
Sie ist noch wütend und wegen ihres
Redeflusses ein wenig außer Atem.
Du befürchtest, dass sie vielleicht auch mal
so ein Racheengel wird.
Sie schüttelt noch bei Sänger am Kissen
herum. Dann ist sie weg.
Dem Alten scheint die Erregung der jungen
Frau gutgetan zu haben. Sein zufriedenes Brummeln. Dann hat er dir erzählt,
dass da mal ein Tierfilm war. Flusspferde oder wie die Fleischkolosse heißen.
Eine ganze Herde. Hitzig waren sie. Da war ein fast abgelebter Bulle: alt,
einsam, ausgestoßen, aber noch einmal ...
Wie er sich in das Vieh hineinversetzt!, warst
du überzeugt.
Abseits – wie eben die Alten überall sind,
hat Sänger lamentiert. Nichts mehr zu melden. Da hat sich aber eine junge Kuh
an den Alten rangemacht, erzählt er, scheint richtig aufgeblüht und hat seinen
Salbader nicht mehr so durchhängen lassen. Es ging tatsächlich doch noch was.
Sänger schmatzt wieder so wie was Gutes zum Essen ...
Du kannst dir vorstellen, was bei Sänger
jetzt im Kopf vorgeht. Du denkst, dass da wieder was kommen wird von früher. Du
willst abschalten, blödelst dich damit weg, dass es die früher nicht so mit dem
Wasser gehabt haben, dann sicher auch nicht im Wasser ...
Dann kramst du wieder nach deinen Papieren
und bist dir wieder ganz im Klaren, dass du da eigentlich nach dir selber
suchst. Nach deinem Ich. Das du allerdings ruhig abhandengekommen sein lässt – vorerst
jedenfalls.
"Immer
dichter werden die Eindrücke von der Zeit damals (ich gebe dem nach, und zwar
in der Erwartung, dass sich die Vergangenheit dann nicht mehr so unerwartet und
unkontrolliert in meinen Alltag einschleicht und mich womöglich vor mir selber
bloßstellt):
Sonntags war im
Internat immer eine Stunde länger Schlafenszeit gewesen, lasse ich mir durch
den Kopf gehen, während ich so vor der Tasse sitze. Da war erst um sieben
geweckt worden. Man nahm sich dann auch zu seiner Toilette mehr Zeit. Es war
nicht etwa so, dass man diese mit gründlicheren Waschungen vergeudet hätte. Man
hatte immerhin einmal in der Woche Baden. Man betrieb etwas Schönheitspflege,
traktierte ungeniert, wenn auch besorgt, einen roten Fleck auf Stirn oder
Wange; drückte die Haarpracht, die mit reichlich Pomade diszipliniert worden
war, kunstvoll zurecht. Man wurde, vorzugsweise bei derlei wichtigen, aber in
den Augen von Ägidius nichtigen Handlungen, an das Füßewaschen oder ähnlich
niedere Pflegemaßnahmen erinnert. Wir standen allerdings über derlei
Anpöbelungen, denn wir wussten ja, von wem sie stammten. Diesem herben
Veteranen, der ja lediglich die Uniform mit der Kutte getauscht hatte, spitzten
nämlich aus den groben Schnürstiefeln statt der Socken graubraune Fußlappen
hervor. Dieser Beweis seiner in unseren Augen ästhetischen Idiotie kam meistens
dann zum Vorschein, wenn Ägidius in der Studierzeit auf dem Podest seines
Pultes thronte und die Hosenbeine im Sitzen etwas hochgerutscht waren. Obwohl
längst bekannt, hatten wir doch stets unseren Spaß damit. Mal freute uns mehr,
dass die Hosenbeine aus unerfindlichen Gründen wieder ungleich lang waren, mal
konnten wir uns an den freigelegten dünnen weißen Beinen erheitern. Am meisten
bewegte uns allerdings die Frage: Hat er heute wieder diese unglaublichen
Lappen oder ist er endlich auf Socken umgestiegen? Jedenfalls wurden wir nicht
müde, uns gegenseitig darauf hinzuweisen. Mit irgendwelchen Geräuschen wurden
auch die in ihre Arbeit noch vertieften oder die vor sich hin dösenden
Kameraden informiert, dass es wieder was gab. Man durfte sich bei der Feixerei
allerdings nicht erwischen lassen. War es doch grundsätzlich nicht ratsam, eine
offene Regung zu äußern, wenn Zeitpunkt oder Gelegenheit von unseren Dompteuren
dafür nicht freigegeben oder vorgesehen war. Ertappt, hätte man sich
rechtfertigen und bei misslichem Ausgang irgendeiner Bußübung unterziehen
müssen, wie etwa eine halbe Stunde oder auch länger vor dem Pult zu stehen."
Dein Bettnachbar Sänger tut eigentlich auch
nichts anderes, überkommt dich, als du das erste Blatt weglegst. Er sucht ja
auch nur nach sich selber. Was von ihm noch übrig ist, sucht er. Weil da nicht
mehr viel ist, da kramt er in der Vergangenheit ...
Wie viel ist von dir – noch?, schockt dich
ein wenig.
Es ist ja ganz natürlich, denn wenn man sich
nicht mehr wahrnimmt, dann ist man doch wohl nicht mehr ...
"Ich
aktiviere jetzt, wie der Neue aufgetaucht war:
Karl Mentenheim war
als Seiteneinsteiger zu uns gekommen. Die meisten hatten zu dieser Zeit etwa
vier Jahre im Internat hinter sich. Einer schien dem anderen durch und durch
bekannt. Wo man voneinander etwas nicht wusste, wurde mit Fantasie überbrückt.
Karl war also eines
Tages plötzlich da, war zur Studierzeit hereingeführt und vorgestellt worden:
Der Neue!, trompetete Ägidius in den Saal. Sag' selber, wie du heißt!, forderte
er.
Karl.
Man hatte es gerade
noch verstanden, wollte aber doch etwas Aufsässiges herausgehört haben.
Man schaute kurz auf.
Armes Schwein, dachte man sich ...
Na, mach' schon!,
forderte Ägidius und gab diesem Karl einen Schubs, du heißt doch nicht nur
Karl! Wir leben schließlich nicht mehr bei den alten Germanen! Verstanden?
Diese Heiden kamen doch tatsächlich noch mit dem Vornamen alleine aus!
Karl bekam erneut
einen Rippenstoß versetzt: Na los, mach' schon, sage endlich deinen ganzen
Namen wie ein anständiger Christenmensch!
Man wird Karl
umgehend aufklären müssen über diese Sorte von Schwarzkittel, dachte man sich
zornig. (Wir benutzten diese waidmännische Bezeichnung des Wildschweins für die
Kuttenträger bevorzugt in solchen Situationen.)
Mentenheim, Karl!,
klang es – und zu unserer Freude deutlich trotzig (einige glaubten später, bei
Karl sogar geballte Fäuste gesehen zu haben).
Das ist ja ausgesprochen
zweckmäßig, spottete Ägidius, dass du auch einen Namen hast, sonst müsste man
ja sagen: Der mit den komischen Haaren!, setzte er noch drauf und wies dann dem
Neuen einen Platz zu. (Natürlich mussten sie den Familiennamen wissen, sonst
hätten sie einen nicht anzureden gewusst mit ihren Manieren vom Kasernenhof.)
Man schaute auf die
Frisur von diesem Karl Mentenheim. Was Neues, erkannte man sofort. Nicht so
etwas mit bravem Scheitel, sondern ganz stark nach hinten gekämmt – ach was,
gestylt! Vorne, das war einigermaßen unerhört, vorne waren seine Haare zu
Stiften gestutzt. Das sah toll aus! Aber es war sicher, dass die Alten hier
gehörig daran herummäkeln würden.
Man dachte dann noch
ein wenig über den Vorgang nach, auch darüber, was das für einer sein konnte,
den seine Eltern hierher abgeschoben hatten. Dieser Karl kam jedenfalls von
draußen. Draußen, das war ein Gütezeichen. Dem Draußen gehörte unsere ganze
Aufmerksamkeit. Dieses Draußen, das wir nur noch von den Ferien her kannten –
und aus Briefen. Dieser Karl Mentenheim, hatte bis jetzt anders, eben richtig
leben dürfen, eben zu Hause. Wehmut überkam einen bei dem Gedanken ans eigene
Zuhause. In der molligen Wärme der Familie lebte und gedieh ja die
Übereinkunft, die Absprache und andere, wenn auch mitunter aufwändige, so doch
immerhin die Freundlichkeit der Regelung des Auskommens miteinander. Während
hier die harschen Bestimmungen von Haus-, Schul- oder sonstigen Ordnungen das
Raster abgaben, in das man sich gepresst sah.
An dieser Stelle
landete man häufig mit seinen Gedanken. Lag man im Bett, leistete man sich auch
einmal eine Träne, auch wenn man bereits auf die Fünfzehn zuging, es tat
einfach gut. In der Öffentlichkeit des Studiersaales, wo man sich jetzt befand,
waren die Weichen selbstverständlich auf Tapferkeit zu stellen.
Jetzt war dieser Neue
da. Der ist okay, hieß es in der Teepause dann gleich: Der provokative Sound,
den er da vorgelegt hatte nach diesem blöden Boxer von Ägidius. Und überhaupt
seine Haare!
Für gewöhnlich und
nicht selten zum boshaften Genuss der Anderen, erfuhr ein Neuankömmling die
Sonderheiten der Gesellschaft, in die er geraten war, nur durch Versuch und
Irrtum – und mitunter handgreiflich schmerzhaft. Karl gegenüber waren wir jedoch
ausnahmsweise fürsorglich bereit, sofort Einweisung in die Gepflogenheiten vor
Ort zukommen zu lassen. Selbstredend ließen wir ihm auch Aufklärung angedeihen
in Sachen Spitznamen und Charaktereigenschaften unserer Bändiger. Man vergaß
nicht, Karl vor unbeliebten Mitschülern zu warnen, insbesondere vor solchen,
die sich als Spitzel und Zuträger verdächtig gemacht hatten.
Der Neue, dieser Karl, konnte also bei uns ohne Verzug über
einen Vertrauensvorschuss verfügen und war auch gleich umgetauft worden. Er
hieß fortan Charly ..."
Da ist jetzt dieser junge Arzt an Sängers
Bett. Du musst ihn immer wieder ansehen. Gestern war er schon da. Dir ist, als
müsstest du ihn kennen. Heute ist sein Schnupfen so richtig ausgebrochen. Aber
woher kennst du ihn – wenn du ihn überhaupt kennst. Die Sache da mit Karl
Mentenheim hast du eben gelesen, wie der aufgekreuzt war ... Freilich, da war
doch damals noch was. Dieses verrückte Huhn da, Babyface, war dabei wieder in
Aktion getreten. Der Doktor hier hat dich draufgebracht, wie der aussieht. Der
könnte der jüngere Bruder von unserem Babyface sein. Was aus dem wohl geworden
ist? Er war schwächlich. Aber ein Schlitzohr. Mottl, jetzt ist es wieder da!
Ägidius hatte Karl gerade aufgefordert gehabt, seinen vollen Namen zu nennen. –
Klar, das gehört noch zu dieser Szene! – Ja, was ist, Mottl?, war Ägidius
ärgerlich, weil er sich in seiner Handlung gestört sah. Er winkte jedoch
lachend, noch bevor Babyface antworten konnte, seine Frage wieder zurück. Ach,
ich weiß schon, unser Kleiner! Also gut, gehe ruhig austreten, bevor es dir in
die Hose geht. Ägidius war gut drauf: Mottl, du siehst ja, dass wir hier jetzt
mit etwas anderem beschäftigt sind!
Babyface war brav aufgestanden: Nein, danke
schön, Herr Frater, sagte der Komiker, ich muss ja gar nicht aufs Klo! Sondern
ich möchte etwas sagen dürfen!
Ägidius maulte: Mach' schon, damit wir
endlich den Namen von diesem Karl da erfahren!
Also, das ist es eben!, druckste Babyface
rum: Ich will nur Folgendes feststellen: Selbst Kaiser Karl hieß nicht bloß
Karl!
Sondern?, schnaubte
Ägidius.
Wir alle im Chor:
Sondern Karl der Große! Es war sonderbar: Man schimpfte sich in ein Lachen
hinein ...
Du schaust wieder zu der medizinischen
Rotznase hinüber.
Du musst lachen. Der Doktor mustert dich
kritisch. Du nickst ihm freundlich zu – und nimmst dein Papier wieder auf.
"Mehr von diesem
Mentenheim und der klösterlichen Gesellschaft, in die er geraten war:
Dieser Charly hatte
was Besonderes an sich, das war gleich klar. Überhaupt war der Name Charly, den
wir ihm verliehen hatten, ein Gütezeichen, das für alles Moderne und Angenehme
stand. Darin klang etwas von dieser lässigen Musik mit, die wir begierig, meist
heimlich aus eingeschmuggelten Transistorradios hörten. Man dachte dabei an
enge Hosen und weite Pullover. Vor allem deutete der Name Charly cooles
Verhalten und freie Umgangsformen an.
Man wollte Ami sein.
Kein Besatzungs-Ami, sondern Ami auf einigermaßen intelligente Weise, so wie im
Film vielleicht. Vielleicht wie dieser schreibende Supermann Hemingway. Von dem
man schon – allerdings auch wieder nicht in dieser Schule – gehört hatte. Oder
der Schauspieler Humphrey Bogart, mit Schlapphut, Trenchcoat und Charakter.
Filmschauspieler wäre etwas gewesen, nach allem, was man sich darunter
vorstellte. Man hatte schließlich Einblick, nämlich dank der bei uns heimlich
gehandelten Illustrierten und des bereits starke Eindrücke hinterlassenden
Fernsehens (nach unserer Einschätzung eine vorzügliche Bildungseinrichtung, die
man allerdings nur draußen genießen konnte, da sie unsere Schule noch nicht
erreicht hatte).
Charly schien, wie
man sagt, den Regenbogen in der Tasche zu haben. (Mich hingegen nannten sie
Tom. Ich hätte mir ja etwas darauf einbilden können, weil das ebenfalls aus
Übersee stammte. Denn als Indianerhäuptling oder Westernheld hatte man sich
dort in seinen Tagträumen immer wieder herumgetrieben. Aber Tom war bereits vom
Klang her anders als Charly. Es hörte sich irgendwie dumpf an. Daraus hätten
die Schufte doch wenigstens einen Tommy machen können. Aber meinen diesbezüglich
wiederholt – Schwächeren gegenüber sogar unter Androhung von Prügeln –
unternommenen Vorstößen war kein Erfolg beschieden.)
Charly war so, wie
wohl viele zu sein wünschten.
Oder Charly überflog
uns, die Masse. Hühnerhof mit Hackordnung. Da ist ja ein Exemplar etwas ganz
Besonderes, das ungestraft den Hals herausstrecken darf.
Bereits Charly's
Äußeres! Man hat ihn dann auch mal mit James Dean verglichen. Aber das konnte
sich natürlich nicht halten. Charly besaß nämlich so gar nichts von James'
zorniger Traurigkeit. Dann wuchs Charly dem etwas kurz geratenen James Dean
sozusagen von fern über den Kopf. Dass sich J. D. mit seinem Auto zu Tode
gerast hatte, konnten ihm sowieso nur depressive Typen verzeihen.
Bald trugen etliche
von uns eine Charly’s Frisur nachempfundene Haartracht: mittellanges, streng nach
hinten gekämmtem Haar, das vom Stirnansatz her auf einer fast Handteller großen
Fläche zu Stiften gestutzt war, die steil in die Höhe stehen mussten.
Bei Charly sah das
eigentlich nicht übertrieben aus, im Übrigen kannten wir ihn gar nicht anders.
Aber unsereiner musste um den richtigen Sitz des Kopfschmucks ringen: Die
langen, nach hinten gekämmten Haare wollten nicht gleich in dieser Stellung
bleiben, und den Stiften war nicht gleich beizubringen, was eine Senkrechte
ist. Die Natur höhnte (wie so oft) der Mode. So wurde das Styling eben mit
Pomade und Öl erzwungen. Man musste sich immer wieder kämmen oder die seitlichen
Haare wenigstens mit der Hand nach hinten streichen und anpressen. Vorzugsweise
bürstete man sich mit einem Kunststoffigel. Obgleich unpraktisch und
hinderlich, sah es ganz schick aus, dauernd so ein rundes Ding im Handteller zu
haben. Auf keinen Fall durfte man eine spiegelnde Glasscheibe übersehen
(richtige Spiegel waren Mangelware in dieser rauen, auf Innerlichkeit konzentrierten
Männerwelt dort), in der man die Vollendung seines Haarwerkes kontrollieren und
überhaupt die eigene Erscheinung begutachten konnte.
Dass unsere
Bemühungen um das Outfit mit Verwunderung, vielleicht sogar Misstrauen
beobachtet würden, war von uns durchaus beabsichtigt. Bei Bruder Ägidius haben
allerdings unsere Unternehmungen nicht erst Argwohn, sondern umgehend Abscheu
hervorgerufen. Er brachte das durch spitze Bemerkungen zum Ausdruck: Viel
Frisur auf, aber nichts im Kopf. Auch schreckte er nicht davor zurück, die von
unsereinem erlittenen Niederlagen bei schulischen Leistungserhebungen
öffentlich zu machen.
Unter der Decke
dieser eitlen Handlungen wucherte ja so etwas Beunruhigendes wie die Pubertät.
Das leuchtete uns sogar selber ein. Die Beweise lagen offen: Die Stimme war bei
den meisten männlich geworden, man gackste nur noch selten. Einige mussten sich
bereits jeden zweiten Tag rasieren. Man hätte eigentlich gar nicht mitgeteilt
bekommen müssen, was bei den anderen unter der Gürtellinie los war, weil man es
an sich selber gewahr wurde. Man erlangte trotzdem gelegentlich Information
darüber. Es wurde sogar über gemeinschaftliche Vorgänge in dieser Zone
gemunkelt. Es sollte sich da bei der Scola, der Gesangeselite zum Zweck der
Gottesdienstgestaltung, so ein lüsternes Grüppchen gebildet haben. (Was
immerhin erstaunlich war; denn wir wussten, dass Messdiener und andere
Aktivisten beim Gottesdienst im Beichtstuhl selektiert wurden. Wer in
irgendeiner Weise geschlechtlich tätig geworden war, schied aus.)
Die geplagten
Erzieher riefen nach Bedarf, aber doch bald jedes Jahr einen im Lande
umherziehenden jesuitischen Spezialisten in Sachen sexueller Aufklärung herbei,
um des Gärungsprozesses Herr zu werden. Es war der Pater Clemente, ein Fossil,
das das Zeitliche bereits so gut wie überwunden hatte. Sein Einsatz galt in den
Internaten als pädagogische Waffe gegen die vielfach teuflischen Auswüchse der
Entwicklung. Dieses aufklärerische Schlachtross Clemente wurde vor allem zur
Rettung der Seelen der Erzähler von Schweinigeleien und der Grabscher und der Selbermacher,
welche von der Moraltheologie auch der Selbstbefleckung bezichtigt wurden,
eingesetzt.
Einmal hatten sie von
dem Lustzirkel unter den Sängerknaben Wind bekommen und ihn selbstverständlich
sofort ausgehoben. Die Sache sollte natürlich nicht publik werden. So tarnten
sie das Ausscheiden von zwei Jungen mit gesundheitlichen Gründen. Aber wir
wussten ja längst Bescheid. Der Pater Clemente kochte in diesem Jahr immer
wieder die 'gemeinschaftlich betriebene Unzucht' auf – was uns hinwiederum
Bestätigung der Gerüchte war. Sämtliche Genüsse des Unterleibes, die
partnerschaftlich erarbeitet würden, aber nicht zur Vermehrung führten,
landeten dieses Jahr als Laster in Pater Clementes Hölle. Dann immer wieder das
Gleichgeschlechtliche. Diesem widerfuhr Brandmarkung als besondere
Abscheulichkeit und Darstellung als wider die Natur in ausgemachter Weise.
Ganze Kulturen seien daran zugrunde gegangen. Wir sollten nur einmal an die
alten Griechen denken, wurden wir aufgefordert (wir taten es, und da fiel uns
gleich Odysseus ein mit seinen Abenteuern, dass die ganz gescheit waren und
schöne nackte Figuren aus Stein gehauen hatten und solche Sachen. Und wir waren
doch etwas überrascht, dass das alles keine Fortsetzung gefunden haben sollte,
weil sie mit Sex locker umgegangen wären).
Als dieser
Wanderprediger nach getaner Arbeit abzog, hatte er tatsächlich etwas
Betroffenheit gestiftet, mit der man durchaus eine Zeit lang schwanger ging.
Überall lauerte dann ein Teufel mit etwas Bösem. Fortwährend stand der Himmel
auf dem Spiel.
Nach einer gewissen und lebensnotwendig kurzen Zeit verzog
sich die Bedrücktheit allerdings wieder. Sie rutschte einfach in tiefere
Schichten der noch geräumigen Knabenseele (wo sie sich mithin häuslich einrichtete,
um ein ganzes Leben lang von dort her für heilige Ordnung und für ein
schlechtes Gewissen zu sorgen.)
Anmerkung nun, wie es
sich mit all den rückwärts gewandten Gedanken in der äußeren Realität leben
ließ: Ich kreuzte mitunter – irgendwo so zwischen solchen Gedanken – in der
Redaktion auf. Ich suchte mir eine Arbeit. Etwas Einfaches, das Nebengedanken
zuließ, etwas aus der Schublade. Zum Beispiel nahm ich mir die Sache da mit der
Umgehungsstraße vor: Dutzende von Leserbriefen lagen seit Wochen da, ein
Konzert von Für und Wider: Klagegesänge über Verkehrsleiden des modernen
Menschen oder volksmissionarische Aufklärung über einerseits Segnungen für den
Menschen, andererseits Gefährdungen der Natur ... – und ich war mit dem Kopf
immer wieder woanders: sexuelle Aufklärung, du lieber Himmel, die einem durch
Leute zuteilgeworden war, die Keuschheit geschworen hatten ...
Zurück: Man braucht ja in den Leserbriefen nur
ein wenig mit dem Rotstift herumzufuhrwerken, kann dadurch verändern, ohne das
letztlich verantworten zu müssen. 'Eigene Meinung des Verfassers. Ohne
Verantwortung der Redaktion'. Ein Leserbriefschreiber entblößt sich sowieso,
was schadet es ihm, wenn man ihn ganz entkleidet?
Während ich so an den
Texten herummachte, gingen die Gedanken weiter fremd: Ach ja, danach die Sache
da mit dem Tanzkurs. Man schien ihnen nun durch den theologisch getragenen Sex-Kurs
sittlich gefestigt zu sein.
Weil sich bei so
etwas das andere Geschlecht nicht ganz vermeiden lässt, hatten sie Material im
weiblichen Internat am Ort gesucht. Wir hatten für diese Einrichtung die
Bezeichnung Gänsestall übernommen, originelle Wortschöpfungen lohnten sich
nicht. Man kannte die Mädchen von weitem, weil man hie und da einem Pulk von
ihnen bei den verhassten sonntäglichen Gruppenspaziergängen begegnet war. Es
handelte sich um lauter flachbusige oder babyspeckige Mädchen. Die konnten
unserer Vorstellung von Frau, die nun einmal durch die Illustrierten an satten
Bildern von italienischen und amerikanischen Filmstars gut geschult war, ganz
und gar nicht befriedigen. Wenn man da nur an den riesigen Vorbau dachte: Marylin
und Anna und Sophia ... Die obendrein wegen ihrer Ausbuchtungen auch etwas
Mütterliches vor sich hertrugen.
Es war jedenfalls
kein Jubel ausgebrochen, als Ägidius uns die Botschaft überbrachte. Um uns doch
noch ein Frohlocken abzuringen, verriet er, dass die Sache von einer intensiven
Unterrichtung in Umgangsformen flankiert sein würde. Von hinten war ein
Stöhnen zu vernehmen und alle stimmten sofort ein. Ägidius war enttäuscht. Er
engagierte sich noch mehr und versicherte, dass bei so einer traditionsreichen
Maßnahme wie einem Tanzkurs die Unterweisung in Dingen des Anstands ganz üblich
und – setzte er grinsend hinzu – bei uns ja sowieso auch notwendig sei. Damit
verstärkte er allerdings unsere unguten Gefühle und erntete Protest. Er meinte,
dass wir mit dieser pädagogischen Maßnahme in sozusagen erlauchte Gesellschaft
gerieten, da sich ein jeder Tanzlehrer als ein geistiger Nachkomme des Barons
Knigge verstehen dürfe. Dieser habe immerhin vor Jahrhunderten sogar den feinen
Leuten noch Manieren beigebracht. Schließlich krönte Ägidius seine Bemühungen
mit dem praktischen Beispiel, dass die Gemeinschaft der Tanzlehrer sogar für
die Klärung solcher Probleme zuständig zeichnete, ob man heutzutage Kartoffeln
und Klöße mit dem Messer zerschneiden dürfe oder weiterhin mit der Gabel
zerlegen müsse. Wir wunderten uns noch. Da hatte sich Charly erhoben und
Ägidius gefragt, warum er sich so anstrenge.
Ägidius schaute
Charly groß an, und der fuhr fort, dass man so etwas wie einen Tanzkurs
natürlich mitnehme.
Also mitnehmen wollt
ihr den Kurs!, regte sich Ägidius auf. Das habt ihr von Anfang an gewusst. Ihr
lasst mich trotzdem reden wie einen Vertreter, der einem Rudel von nackten
Negern Hosenträger verkaufen will!
Wir brachen in
Gelächter aus. Man stellte sich Ägidius als Hosenträgerverkäufer in einem
afrikanischen Kral vor. Charly, der noch dastand, ohne eine Miene zu verziehen,
wartete, bis wieder Ruhe war, dann meinte er, zu Ägidius gewandt: Ihr Beispiel
ist reichlich abgeschmackt, Herr Frater, nachgerade rassistisch!
Ägidius zog die
Stirn in Falten. Wir waren gespannt, was jetzt kommen würde.
Charly stand ruhig da und wartete. Dann sagte er: Ihr für
Menschen benützter Begriff Rudel ist ja in der deutschen Sprache immerhin
tierisch besetzt. So werden die nackten Neger in ihrem Beispiel zu so etwas wie
Untermenschen – und dergleichen wurde doch erst ganz ausgiebig und mit fatalen
Folgen inszeniert hier in unserem Vaterland, nicht wahr?
Wir staunten nicht
schlecht, und Ägidius wandte sich mit einer heftigen Handbewegung ab.
Charly hatte ganz
ruhig gesprochen und sich dann wieder gesetzt. Man sah ihm jetzt doch an, dass
er in der Sache engagierter war, als es zunächst den Anschein hatte. Man
rätselte. Vielleicht waren sie in seiner Familie davon betroffen gewesen unter
den Nazis. Freilich nicht als Neger. Aber dass es die Juden bei Hitler nicht gut
hatten, wusste man ja, auch wenn das zu der Zeit in der Schule nicht gerade
breitgetreten wurde. Charly und irgendwie jüdisch? Nein, doch nicht Charly,
sagte man sich. Doch es gab ja auch Halbjuden, hatte man als Junge mitbekommen.
Man glaubte zu wissen, wie jemand auszusehen und zu sein hatte, wenn er
irgendwie jüdisch war. Diese Spuren hatte die von Charly angesprochene Zeit auf
jeden Fall in den Köpfen hinterlassen.
Bei Charly war
allerdings keines der Kennzeichen zu entdecken, eine dicke, gekrümmte Nase zum
Beispiel. So wurde er freigesprochen vom Verdacht, jüdisch zu sein.
Man meldete sich dann
zwar zum Tanzkurs, aber vorwiegend nur deshalb, um einmal in der Woche zu einer
späteren Stunde hinaus zu kommen. Da war jene Aussicht einigermaßen verlockend,
sich auch ein wenig im Städtchen herumzutreiben ...
Und die Sache um unsere
Schullektüre: Wir waren damals um die Siebzehn, hatten uns (wie es sich eben
für Siebzehnjährige gehört) geistig gewappnet gefühlt. Das Licht, von dem wir
überzeugt waren, dass es uns aufgegangen war, benötige natürlich Brennstoff.
Man bekam einen richtigen Appetit auf Mitteilung und begann, über Karl Mays
Schwarten und so etwas wie 'Licht der Berge' hinweg, in die höheren Etagen des
Bücherregals zu greifen. Es dauerte jedoch nicht lange, da waren schon wieder
alle auf dem Plan, die sich an unsereinem erziehlich betätigen zu müssen
glaubten, wollten sich an der Auswahl unserer Lektüre beteiligt sehen. Dazu
kam, dass die Lesestoffe nicht mehr nur nach dem aus den Zwanzigerjahren
stammenden 'Gesetz zum Kampfe gegen Schmutz und Schund' kontrolliert wurden,
sondern zu dem auf eventuell hetzerische und ketzerische Passagen gegen die
anständige Gesellschaft und die Religion. Zeitungen, die sie als moderne
Pädagogen ausgelegt hatten, waren sodann teilweise geschwärzt. Allerdings
konnten sie ihre Augen nicht überall haben. Immerhin galt ja als abgesegnet,
was aus der Bibliothek der Schule kam. Dort hatte jedoch einer von uns den
'Engelbert Hiltensperger' entdeckt. Wir gaben diesen dicken Schmöker mit Wonne
weiter, handelte es sich dabei doch um einen Text, der wegen seiner zwar den
Bauernkrieg abbildenden, aber immerhin antipfäffischen Tendenz bestimmt nicht
die Zustimmung unserer Zensoren gefunden hätte.
Irgendwann aber war
dieses Buch nicht mehr greifbar. Da jedoch die Propaganda 'von Mund zu Mund' so
wirksam gewesen war, dass einer sogar eine Warteliste geführt hatte, machten
sich die Unbefriedigten auf die Suche nach Lesern des mittlerweile
hochgerühmten 'Engelbert Hiltensperger', die willens waren, als Erzähler
aufzutreten. Man konnte da sein Geschäft machen und ein paar Zigaretten als
Lohn oder etwas anderes Rares einstreichen. Das Erzählen machte aber auch ohne
dieses Salär Spaß. Man konnte da seiner Erinnerung jede Menge Fantasie
aufsatteln, besonders wenn man bei Passagen anlangte, in denen das Kloster
nicht gut wegkam, mehr noch bei Stellen wie der, wo der geile Abt von Kempten
die junge Hexe verhört und sich in seiner prallen Lüsternheit an ihren Brüsten
zu schaffen macht.
Immer wieder die
Frage nach dem Buch – schließlich auch an den Bibliothekar selber. Es sei schon
zerlesen gewesen und daher ausgemustert worden. Aber hinter seinem fetten
Grinsen steckte nach unserer Überzeugung mehr. Da hatte bestimmt jemand
gepetzt. Überhaupt verdichtete sich der Eindruck, dass es eine wachsende Zahl
Verräter gab, die sich bei den Dompteuren einzuschleimen versuchten. Unsere
eher vertraulichen, da mitunter nicht ganz astreinen Aussprüche waren nämlich
ab und zu als Zitatfetzen bei Ägidius, mit angewiderter Miene unterlegt,
aufgetaucht ..."
Jetzt läuft hier ums Bett so eine Welle der
Verrichtungen an. Weg mit dem Papierkram! Dieses weiße Huschen wieder. Draußen
hörst du es klappern. Es sind diesmal nicht die Essenswägen. Der Klang ist
allmählich im Ohr. Man kann fast die Schritte den Personen zuordnen.
Wo ist aber der Sänger Franz? Es ist dir gar
nicht aufgefallen, dass er weg ist. Samt dem Bett. Der leere Platz. Sie haben
ihn geholt. Was sonst? Irgendeine Verrichtung an ihm. Sie müssen an den
Patienten ihre teuren Apparate einsetzen, um Bedarf zu belegen. Die Kosten oben
zu halten!, bist du böse.
Du hast seinen Abtransport gar nicht bemerkt
– mit deinem Papier dauernd. Man nimmt sich gegenseitig allmählich gar nicht
mehr wahr. Das ist vielleicht so eine Art Selbstschutz, dass man da abschaltet.
Der Alte war sowieso ziemlich reserviert, seit du zu lesen angefangen hast.
Immer noch diese Geräusche draußen, das
Rollen und Trampeln. Vielleicht karren sie die Operationen zusammen oder schon
wieder zurück.
Du hast den Sänger freilich nicht teilhaben
lassen können an deinen hingekritzelten Selbstgesprächen.
Bist du ein Schreiberling?, hatte Sänger
wissen wollen, dass du da was liest und drin rumschreibst.
Schreiberling – sein Schreiberling hatte
sich wie Engerling und Schädling angehört.
Wie man's nimmt, warst du ausgewichen.
Natürlich haben die Leute so ihre Bangigkeit vor diesen Skribenten, hast du
dich gefreut. Die holen's nämlich unterm Teppich vor, was man gerne verdeckt
halten würde. Die schreiben ja fest, was besser vergessen werden und vergehen
sollte. Die bringen es ans Licht und unter die Neugierigen, zu denen immer alle
gehören. Auch wenn die das Meiste gleich wieder vergessen, aber ihren Spaß
machen sie sich doch irgendwie daraus. Besonders mit den Gemeinheiten.
Lesen und schlafen. Du kannst dich gar nicht
erinnern, je so viel gepennt zu haben. Essen. Ein bisschen rumfummeln lassen an
sich. Eigentlich angenehm.
Doch du musst deine Lektüre zu Ende bringen.
Überhaupt, du bist fast ausgebunden. Beinahe nur noch Pflaster. Die blauen
Flecken sind fast weg. Duschen haben sie dich auch schon lassen. Die schmeißen
dich bald raus hier.
Als es ruhiger wird, holst du deine Blätter
wieder hervor.
Du hast das Zeug in der Hand und lachst über
dich selber. Es ist kindisch, wie du das immer versteckst. Wie damals. Wenn sie
dich mit etwas nicht erwischen sollten ...
Du erinnerst dich, als
du einen Blick auf die Notizen wirfst. Da hattest du versucht, verschiedene
Rollen zu spielen in der Angelegenheit um Karl ...
"Ein
Versuch als Schwarzkittel, ich also als Klosterbruder:
Dieser Mentenheim hat
uns da etwas eingeschleppt. Man muss sich das vorstellen: Ein einziger Lauser.
Dass es so etwas denn früher schon einmal gegeben hätte, kann man sich gar
nicht erinnern. Wenn man die Nazizeit – tunlichst – außen vor lässt. Da war
zwar auch extremes Verhalten eingeschleppt worden. Diese Gesinnung der braunen
Horden, du lieber Gott, und die breite Empfänglichkeit für so etwas. Heute
beinahe unbegreiflich. Allerdings kann man dem Mentenheim einen Vergleich damit
auch wieder nicht antun! Doch die Nazis waren ja zunächst in unseren Augen
immerhin für eine bürgerliche Ordnung, wollen wir uns erinnern. Ja, sie waren
für Zucht und Sitte ein- und gegen die losen, ja haltlosen Verhältnisse der Goldenen
Zwanziger angetreten. Daher eventuell die Akzeptanz in breiten Schichten des
ordentlichen Bürgertums. Vielleicht war man ihnen kirchlicherseits tatsächlich
ein wenig auf den Leim gegangen. Die evangelische Kirche hat das ja tatsächlich
offen zugegeben – aber so weit muss man auch nicht gleich gehen. Katholischerseits
hat man noch immer auf Zeit gesetzt – und das mit einigem Erfolg. Wie hätte man
auch hinter diesen zunächst durchaus verdienstvoll erscheinenden Taten der Nazi
auf Anhieb etwas so Teuflisches ausmachen können? – Nun gut, die Judenbuben.
Deren Eltern hat man darlegen müssen, dass es wohl besser sei, wenn sie ihre
Kinder aus der Anstalt nähmen! Aber das waren ja nur vier oder fünf. Als man
das Teufelswerk als solches ausmachen konnte, war es leider zu spät.
Man muss eben stets
höllisch aufpassen!
Dieser Mentenheim ist
obendrein eigentlich zu spät gekommen! Hätte man ihn doch lieber nicht mehr aufgenommen!
Eine Spielart der Barmherzigkeit war es gewesen. Vielleicht auch so ein
bisschen Druck der Referenzen dieser Familie, denen man sich natürlich und
tunlichst auch nicht ganz verschließen konnte. Der Konvent hat all die
Jahrhunderte mit der Freundlichkeit solchen Kreisen gegenüber und eigentlich
eher auch davon gelebt. Man muss in Zukunft vorsichtiger sein, auch mit
Barmherzigkeit muss man vorsichtig sein, selbstredend, wie man eben mit
Gefühlen grundsätzlich äußerst vorsichtig umgehen muss. Überhaupt: Um das
Seelenmaterial mit einiger Aussicht auf Erfolg formen zu können, hat man es
ganz zu Beginn des zweiten Lebensjahrzehnts in die Hände zu bekommen. Man darf
in Zukunft niemand später hereinlassen, auf keinen Fall so ein Früchtchen, das
bereits mit allen möglichen Bazillen eitler Weltlichkeit infiziert ist.
(Anmerkung des
Protokollanten in seiner natürlichen Person: Da hatte also unter den frommen
Augen etwas um sich gegriffen, dessen sie nicht lenkend habhaft werden konnten.
Wenn sie es genau bedachten, mussten sie befürchtet haben, dadurch selber in
Versuchung geführt zu werden. Zwar durften sich diese Männer im Einheitsschwarz
als ausreichend gefestigt einschätzen und konnten ziemlich sicher sein, keinem
knabenhaften Verhalten zu verfallen. Das Problem lag woanders und vermutlich
tiefer: Sie hatten nämlich immer verkündet, dass die Versuchung, besser der
leibhaftige Versucher, über die teuflische Fähigkeit verfüge, viele Gestalten
anzunehmen und mit mannigfaltigen Methoden aufzuwarten. Nach dieser Lehre hätte
es geschehen können, dass ihnen durch finstere Mächte alles aus den Händen
gerissen würde – oder auch nur ein bisschen, aber immerhin. Das war Anlass
genug gewesen, sich angefochten zu fühlen, nämlich in so etwas Bedeutenden wie
ihrem Lebenskampf. Den hatten sie immer darin gesehen, zunächst einen festen
Stand in dieser Welt zu gewinnen, um von dort aus so etwas wie eine
Weltrevolution – man entschuldige dieses eigentlich verwerfliche ideologische Leihwort
– via Missionierung anzuzetteln, um die ganze Welt in die Hand zu gekommen.
Natürlich nur, um diese für eine himmlische Zukunft überwinden zu können.)
Ist dieser Mentenheim
also ein Satansbraten? Man muss noch aufmerksamer sein, als man es sowieso
bereits ist. Die Beobachtung geht der Erziehung voraus! Was bekommt man immer
zu sehen: Da zeigt sich zumeist um diesen Mentenheim ein ganzer Pulk von
Satelliten. Ein Haufen, der herumlungert und in der Freizeit mit den Händen in
den Hosentaschen an der Hausmauer lehnt, der herumalbert und immer wieder
einmal den einen oder anderen veranlasst, ein absurdes Theater aufzuführen –
eine Show abzuziehen, wie die Jungen heute sagen. Das ist ja auch wieder
eigenartig: Das geschieht alles, ohne dass sich dieser Mentenheim selber auf
diese Weise auffällig zeigt. – Oh, würde er nur! Dann bestünde Anlass, ihm mit
erziehlichen Maßnahmen entgegenzutreten. Er unternimmt jedoch nichts – oder
eigentlich ... Man weiß gar nicht. Unter Umständen geht von diesem jugendlichen
Individuum etwas Ansteckendes aus, eine Seuche. Es kann leicht sein, dass
Mentenheim so etwas wie ein seelischer Ausscheider ist, und zwar ohne selber
Symptome zu zeigen.
Wie soll man dem begegnen?
Erziehung ist ohnedies nie leicht. Nur mit nicht zu begründenden Verboten zu
arbeiten, das will man heute nicht mehr. Damit muss man heutzutage vorsichtig
sein, gerade nach dieser unseligen Zeit des Dritten Reiches, weil man sofort
als autoritär bezeichnet werden und mit dem Nazigesindel in einen Topf
geworfen werden würde. Auch heute noch, Ende der Sechziger. Zumal sie an den
Universitäten diese Umtriebe haben, anlässlich derer die Jungen gegen alles
aufbegehren, was sich seither bewährt hat. Welchen Grund könnte man auch für
ein Verbot des Herumstehens nennen? Oder womit könnte man verbieten, die Hände
in die Hosentaschen zu stecken oder eine komische Frisur zu haben? Sie sind
heute Individualisten und tun nicht mehr, was irgendwer von ihnen verlangt,
wie sie behaupten. Was sie heute tun, das ist im freien Spiel – man muss schon
sagen der Modekräfte – entstanden. Dem unterwerfen sie sich dann, meist
bedingungslos, auch wenn es wieder zur Gleichmacherei und Uniformierung führte.
Die Leute reden so viel von Demokratie, dass man sich da doch
nicht ganz verschließen kann. Aber die ganze Angelegenheit zu diskutieren und
dann womöglich darüber abzustimmen? Also wirklich nicht!
Andererseits
verbietet es einem die Selbstachtung, zu häufig mit unbegründbaren Ge- und
Verboten zu arbeiten. Weil man sich ja doch irgendwo dem Intellekt verpflichtet
fühlen muss, der dann und wann nach Argumenten fragt.
Allein diese neue
Unsitte des Herumstehens! Selbst dagegen ist noch niemand ein Erziehungsmittel
eingefallen. Der simple, aber ehemals durchaus bewährte Spruch: 'Wenn zwei beieinanderstehen,
dann ist der Dritte der Teufel!', ist schon aus arithmetischen Gründen außer
Kraft. Denn es sind selten nur mehr besagte Zwei. Das waren noch Zeiten, als
man noch mit dieser handlichen Abwandlung des Wortes unseres Herren: 'Wenn zwei
in meinem Namen beieinander sind, so bin ich mitten unter ihnen!', auskam.
Womit soll man jetzt zu einem allgemein vollführten Freizeitsport anhalten?
Dabei wäre es von großem Vorteil, auch für die Betroffenen, sie wieder alle
hinter einem Ball herjagen und auf ein Tor bolzen lassen zu können. Man weiß
doch, dass so etwas von allen möglichen Lasten befreit und laut bischöflich
geheimer Verlautbarung selbst in Priesterseminaren ein probates Mittel ist, des
Triebgeschehens Herr zu werden. Nämliches pflegt bekanntermaßen die jungen
Leute insbesondere am frühen Nachmittag heimzusuchen."
Das schaffst du nicht!, bist du überzeugt.
Du machst dich über deine Suppe her, die sie dir vorhin hingestellt haben. Das
gelingt dir nicht, dich in die Gedankenwelt von solchen Leuten einzuschleichen.
Du darfst jetzt an dem Tischchen essen und musst sogar das Bett verlassen.
Armut, Keuschheit und Gehorsam. Du lieber Gott! Leberknödel heute. Obwohl man
ja auch nicht so weit von diesen so genannten evangelischen Räten entfernt ist.
Armut, Keuschheit, Gehorsam. Denn was besitzt du schon? Das andere da? Aufzumucken
hast du auch nicht als gewöhnlicher Sterblicher. Trotzdem schaffst du es nicht.
Vielleicht ist es das Beten, das du ja längst aufgegeben hast. Klar, das
gehörte wohl dazu, ließe einen alles überschweben. Die ganzen Niederungen. Oder
einfach nur meditieren. Schneidersitz machen, die Arme ausstrecken, gen Himmel
blicken und dieses langgezogene: Oomm. Ach, du lieber Himmel, was kommt dir
denn da in den Sinn?
Du holst dir deinen Text und bleibst jetzt
am Tisch damit.
"Ein
Wandel:
Charly, hallo
Charly!, hat Ägidius eines Tages gerufen. Sonst immer ganz kalt: 'Mentenheim' –
und von wegen 'hallo', 'he' hat das sonst geheißen. Ägidius benützte diese
Anrede wiederholt. Sollte mit dieser neuen Form im Umgang mit Charly so etwas
wie ein Burgfrieden geschlossen werden? Nämlich, dass sie endlich nachgeben und
uns ein paar Zugeständnisse machen würden: Mehr Ausgang etwa, Kinobesuch,
Raucherlaubnis und lauter solche Normalitäten – in unseren Augen.
Gelegentlich hat man
dann Charly gefragt, wie er das mit seinem Namen bei so einem wie Ägidius sehe.
Charly sagte nur, er habe das bis dato gar nicht für so bedeutend erachtet,
dass es ihn gereizt hätte, sich darüber einen Kopf zu zerbrechen. Wenn es uns
allerdings so stark interessiere, werde er sich eine Meinung bilden. Wir
sollten ein wenig Geduld haben – oder uns darin üben, wie er sich wohl
ausgedrückt hatte.
Man war ziemlich
erstaunt über diese doch reichlich überspannte Formulierung. Jeder andere
Schulkamerad hätte sich mit so einer Blase zum Idioten gemacht. Aber bei Karl
Mentenheim ließ man solche Sprüche wie selbstverständlich gelten.
Wie dachten wohl die
Erzieher darüber? In deren Augen so etwas möglicherweise bereits als eine
Erscheinungsform jugendlicher Selbstüberhebung eingeschätzt wurde:
Dieser Mentenheim!
Wie soll man jemanden handhaben, der keine Angriffsflächen bietet? Selbst seine
Noten sind nicht extrem und bieten keinen Ansatzpunkt. Sicher, er greift auch
einmal daneben. Beispielsweise ist er in Mathematik bei etlichen
Leistungserhebungen nicht gerade gut weggekommen.
Sein Verhalten
während und nach diesen Niederlagen?
Fand er bei den
gestellten Aufgaben nicht umgehend einen Einstieg, so gab er das leere Blatt
ab. Aber hat man nun geglaubt, es habe ihn endlich einmal richtig erwischt und
er würde jetzt in sich gehen, da ist er bei nächster Gelegenheit gleich wieder
auf der Matte gestanden – wie die Jungen es ausdrücken. Die darauf von ihm
erzielten guten Noten haben dazu geführt, dass ihn jetzt in den Augen seiner
Mitschüler auch noch so etwas wie das Fluidum von Edelfaulheit umgibt. Das hat
sein Ansehen bei den dummen Jungen weiter gesteigert. Unerträglich ist das
natürlich für jemand, der machtlos zusehen muss und dessen Erfahrung ihm verrät,
dass so eine Einstellung für die weniger begabten Nachahmer vernichtende Folgen
haben muss. Dieser ohnedies vorhandene und verderbliche Saisoneifer wird sich
jetzt noch weiter auswachsen! Zum anderen ist da noch die verhängnisvolle
Einstellung, dass keiner zwar als Loser, wie sie die Versager nennen, dastehen
will, aber noch viel weniger will einer als Streber gelten. In manchen Fällen
von schulischem Versagen kann man sogar beobachten, dass der eine oder andere
auf der Verliererschiene seine mangelnde Begabung eher als Edelfaulheit zu
vertuschen, als sie durch vermehrten Fleiß auszugleichen sucht."
Sie schieben den Sänger Franz wieder herein.
Samt Bett war er weg. Aus der Seitenansicht siehst du, wie er blass daliegt –
mit dem schlohweißen Haar. Das fällt dir jetzt erst so richtig auf. Tief
gefurchte Gesichtlandschaft auf Kissen, willst du formulieren. Du wunderst dich
ein wenig über dieses Bedürfnis – liest aber weiter.
"Wir
Jungen sahen es so: Unsereiner ist mal oben, mal unten im Ansehen bei den
anderen. Je nachdem wie man drauf ist und was einem glückt. Es ist eben so,
wenn auch nicht immer angenehm. Jeder wird mal be-, mal miss-, gelegentlich
auch verachtet, klar.
Charly's Ansehen
unterliegt allerdings keinen Kursschwankungen.
Dass sich jeder gerne in seiner Nähe aufhält, sich vielleicht
sogar zu seinem Kreis rechnen lassen will, versteht sich. Niemand kann jedoch
bei ihm richtig landen. Kumpeligkeit, gar Freundschaft und so. Er prüft wie auf
dem Markt und wählt unter den Angeboten aus. Charly hat eine Masche drauf, die
gar keiner sonst bringen kann. So Sprüche von dem Kaliber: 'Komme morgen wieder
auf mich zu'. Niemand von uns hätte sich getraut, so einen Ballon aufzublasen.
Man hätte so ein Ding schon aus der Angst nicht abgesetzt, damit bis zum
Schulende veräppelt zu werden.
(Vermerk des
Verfassers: Wie hätten Ägidius und seine Mitbrüder unter den gegebenen
Umständen der gewiss großen Verantwortung gegenüber den elterlichen Lieferanten
ihrer Schützlinge noch gerecht werden können? Mussten doch die Zöglinge so
gehalten werden, dass sie ausschließlich das lernten, was die Eltern für sie
ausgesucht hatten. Die Knaben sollten auch äußerlich, gerade der sich rapide
wandelnden Zeit zum Trotz, etwa wieder so in die Hände, insbesondere der immer
überaus besorgten Mütter gelangen, wie sie an der Klosterpforte abgegeben
worden waren. Etwa in der Befriedigung der Illusion vom ewigen Sängerknaben.
Wie sollte man den
Vätern gegenübertreten, wenn man den Sprössling nicht in die erwartete Form
brachte? Die überaus gestressten Väter, die im Zeichen des bundesdeutschen
Wirtschaftswunders und an ihm hart arbeiteten, würden sich gefragt haben, wofür
sie denn ihr mit harter Arbeit verdientes Geld ausgegeben hätten.)
Die Angelegenheit nun
noch einmal aus der Warte der Erzieher:
Immer dieser
Mentenheim! Aber irgendwie, nämlich in gebührender Einschätzung der Veränderung
als Massenbewegung, wurde dann doch eine Lösung gefunden: Die ganze Besorgtheit
auf ein normales Maß zurückfahren und der Entwicklung (beobachtend und, wo
immer es sich anbieten würde, zur Steuerung des Prozesses eingreifend) ihren
Lauf lassen. Diese Einsicht hat einen guten Grund. Es ist doch so, dass genau
genommen nirgendwo Zweiergruppen herumstehen, zu denen sich (nach der bereits
erwähnten Formel) der Teufel hätte gesellen können. Dem entgegen sind
eigentlich immer nur – wenn auch durch mehr oder minder lächerliche Handlungen
bewegte, aber immerhin Großgruppen zu beobachten. Die Jungen sind zwar auch
wieder nicht so emsig, wie sie es beim Fußballen wären, ja, sie werden auch der
den Trieb ermüdenden Segnung des Sportes nicht teilhaftig, aber stellen
immerhin – wie eine Fußballmannschaft auch – eine Masse dar. Masse bietet immer
irgendwie Schutz, denn es darf unterstellt werden: Die Versuchung sucht einen
in der Vereinzelung viel eher heim als unter mehreren! Masse überwacht und
reguliert sich ziemlich selber, auch wenn hie und da einzugreifen ist. (Die
Vorzüge der Masse sind bekannt, hält man sich doch berufenermaßen selber in
einer solchen auf: Masse nützt sich, Masse stützt sich.) Genau betrachtet,
besteht ja nur eine Großgruppe um diesen zwar Malefizkerl Mentenheim. Aber der
ist nun einmal vorhanden und so einfach nicht loszubringen. Er stammt immerhin
aus einem guten bürgerlichen, finanziell potenten Elternhaus. Da kann es doch
gar nicht so weit fehlen, auch charakterlich nicht. Was den Versucher anlangt,
dem immer große Fähigkeiten beizumessen sind, so hat der es in der quirligen
Knabenmasse nun auch wieder nicht so leicht, wie es der Augenschein zunächst
befürchten lässt. Dieses Quantum Vertrauen muss ganz einfach investiert werden,
ob nun aus einem Glauben an den Menschen als Geschöpf Gottes oder auch nur, um
wieder ruhig schlafen zu können. Abgesehen davon ist ja bekannt, dass selbst
der Satan schon immer seine Rechnung auch mit der Zeit hat machen müssen – und
die schreitet voran: Die Jungen werden schließlich nicht ewig hier sein und
..."
Du lässt die Arme sinken und hältst dich
noch eine Weile für einen Witzbold – als du das niedergeschrieben hattest. Man
war einmal launig und gutschnurrig, bescheinigst du dir.
Da quillt der Visitenpulk ins Zimmer.
Weg mit dem Papierzeug! Gestern hat dir der
Chefarzt dein Geheft aus der Hand genommen und eine Seite angelesen: Könnte ja
sein, dass Sie hier Buchführung betreiben, hatte er gesagt. Was da so alles
läuft, hier. Um uns dann in die Pfanne zu hauen, dass wir uns dann besudelt in
irgendeinem Boulevardblatt finden! Nicht dass bei uns etwas nicht stimmte:
Nicht wahr, meine Herren?, posaunte er zu seinem Tross hin, dem auch zwei Damen
angehörten. Einhellige, in sich allerdings sogar ein wenig differenzierte
Zustimmung: Selbstredend; gleichwohl; nicht mehr als nach den Umständen
vermeidbar ... Der Chef hatte weitergemacht, erinnerst du, man müsse höllisch
aufpassen und sich vor gewissen Filzläusen von der Presse hüten, war er
überzeugt. Er fügt an, nachdem die Oberschwester bei Nennung des Ungeziefers
ruckartig den Kopf eingezogen hatte: Die Damen entschuldigen den harten
Ausdruck!
Bin eigentlich eine hier ganz zufriedene
Filzlaus!, hast du ihm beteuert.
Dass er Schnüffeljournalismus ablehne, auch
wenn es manchmal recht amüsant sei, was da zum Vorschein komme. Wenn sich so
ein arglistiger Schmierer wieder wo eingeschlichen hatte.
Du gibst ihm Recht und fügst an, dass es
eine üble Sache sei, das mit diesem Skandaljournalismus, der in dieser
überfütterten Gesellschaft, die durch nichts sonst mehr zu amüsieren sei, überhandnehme.
Bleiben Sie sauber mit ihrem Gepinsle!,
seine Ermahnung.
Man muss nun mal mit etwas sein Brot
verdienen!, deine bescheidene Antwort.
Er gnädig drauf: Kommen Sie ruhig einmal zu
mir, können uns unterhalten, und Sie bringen dann was Anständiges zu Papier!
Gerne, ist hiermit auch schon vorgemerkt,
versicherst du ihm.
Die geballte Kompetenz nun am Bettende von
Sänger. Alle wiegen bedächtig das Haupt, nachdem der Chef damit begonnen hat.
Anlass ist die Info-Tafel, die herumgereicht wird. Man findet den Zustand des
Alten offensichtlich bedenklich.
Du hattest – von der Journalismusdebatte
abgesehen – eigentlich nur einen eher flüchtigen Gruß abbekommen. Der wird
allerdings nicht umsonst gewesen sein und als 'eingehende Beratung, auch telefonisch'
ausgewiesen werden!, giftest du wieder in dich hinein. Du bist offenbar gesund,
und an dir ist sonst nichts mehr zu verdienen als noch vielleicht ein paar Tage
Bettenauslastung.
Die Gesundheitstruppe ist weg.
Du schaust zum Nachbarbett. Wieder der
Eindruck: Alles in Weiß – und unbeweglich. Der alte Sänger Franz wird doch
nicht etwa seinen Löffel abgeben wollen? So plötzlich. Der war doch erst noch
so gut drauf. Ein Schwanengesang vielleicht – wenn es nicht so komisch klingen
würde bei so einem. Franz Sänger, der sterbende Schwan.
Aber dich werden sie hier
bald hinauskomplimentieren. Doch was wird draußen sein? Deine Wohnung? Wie wird
die jetzt aussehen? Du hast dich an die totale Versorgung hier gewöhnt.
So wie stets die Flucht in deine papierene Welt:
"Ende der
Sechziger:
Wie meistens, so traf
Charly auch diesmal von den Ferien als Letzter ein. Ägidius schien auf ihn gewartet
zu haben. Vom Augenblick seines Ankommens an wich er nicht mehr von Charly's
Seite und redete dauernd auf ihn ein. Sonderbar!
In der Ahnung, dass sich da irgendetwas ereignen könnte,
liefen etliche von uns den beiden – selbstverständlich in einem
Sicherheitsabstand – hinterher. Man bekam alles mit, weil Ägidius so laut
redete. Es war zu hören, dass er berichtete, wie sie hier im Kloster die
Ferien verbracht hatten. Wir fanden das natürlich lächerlich. Mit Genugtuung
stellten wir fest, dass Ägidius damit auch Charly, der offensichtlich durch die
Ferien ziemlich mitgenommen war, ungemein langweilte. Dann verlegte sich
Ägidius auf Fragen nach Charlys Eltern, nach deren Wohlbefinden und seinem,
Charly's, eigenem Ferienglück. Ägidius nahm es hin, dass er von Charly, wenn
überhaupt, dann nur andeutungsweise Antwort erhielt. Allenfalls ließ sich
Charly zu einem kaum vernehmbaren Murmeln herbei. Sie waren jetzt, immer noch
von uns gefolgt, im oberen Stockwerk angelangt. Ägidius musste aufgegangen
sein, dass er mit seiner Fragerei nicht weiterkommen würde. So zog er ein
anderes Register und ließ sich über Charly's neumodische Kleidung aus.
Tatsächlich, Charly trug nicht mehr die gewohnten Jeans, sondern Hosen mit
Bügelfalte, so wie Sonntag mit Kirchgang bei den Spießbürgern! Charly ging
ruhig weiter, aber wir warteten jetzt darauf, dass er Ägidius den Koffer in die
Hand drücken würde, das wäre doch sein Stil gewesen. Ägidius trippelte immer
noch neben Charly her und wollte nun wissen, ob Charly denn die ganzen Ferien
über keine Zeit gehabt habe, sich seine Frisur in den bekannten Zustand mit den
kurzen Borsten vorne und den hingeklatschten Seitenteilen bringen zu lassen.
Charly beschleunigte seine Schritte und hängte Ägidius dadurch etwas ab, so
dass der lauter werden musste: Die normalen Menschen hier hätten sich ja nun
doch allmählich daran gewöhnt, nämlich an so etwas von Frisur. Warum er jetzt
hier mit einer bereits bis zum Kragen reichenden Mähne aufkreuze. Charly war an
seinem Schrank angelangt und ließ den Koffer aufplumpsen. Schon war Ägidius
wieder da: Alle werden dein Markenzeichen vermissen, Charly!, schnaubte er,
fast außer Atem, nämlich diese kecken Stifte, die doch sicher Antennen sind.
Womit er, Charly, denn jetzt seine Sendungen und Eingebungen aus dem Äther und
von anderen Sternen empfange?, versuchte es Ägidius witzig. Kein Sendeempfang
mehr? Da seine ehemals gen Himmel weisenden Stifte nun als lange Strähnen welk
in die Stirn hingen?
Als Zaungast bei
dieser Show, die Ägidius als Alleinunterhalter abzog, fuhr man sich jetzt
selber über die Haare. Man fragte sich unwillkürlich, ob einen Charly wieder
mal modisch abgehängt hatte.
Charly hatte seinen
Schrank geöffnet und begann, seine Sachen einzuräumen. Ägidius machte Pause, da
ihm nichts mehr einfiel.
Was Charly bis jetzt
alles weggesteckt hatte! Ob er sich verändert hatte. Und diese andere Frisur.
Wir waren irritiert:
Der Kerl mit den langen Haaren dort am Schrank, der sich von der Kutte dumm
anreden ließ, der war ja nicht mehr unser Charly! Wie lang und ausgiebig auch
der Mentenheim in seinem Schrank kramt, flüsterte einer. Er will nun wohl sogar
einen auf ordentlich machen. Es kribbelte einen. Kaum zu glauben, dass einer in
so kurzer Zeit sich so total verwandelt hatte. Man wollte bereits abziehen.
Nicht möglich, dass einer wie Charly so stillhalten kann bei dem Terror. Aber
doch noch ein wenig warten und beobachten. Es war zu sehen, wie Mentenheim in
seinem Schrank herumwerkelte, dabei eine Miene aufsetzte, die zeigen konnte,
dass dieses Geschäft unter seinem Niveau sei. Neben ihm tönte es wieder.
Diesmal kam, bemüht heiter, die Aufforderung, alles auf Kante zu legen. Siehe
da, Mentenheim reagierte und führte es aus! Dann wies er Ägidius sogar das
Ergebnis seiner Arbeit mit einer übertrieben unterwürfigen Geste. Er sah aus
wie ein Lakai – und zog dazu eine schmierige Grimasse.
Mentenheim hatte vor
Ägidius gekuscht. Jetzt doch weg hier.
Allerdings hätte man an den beiden vorbeimüssen. So war in
Deckung zu bleiben, abzuwarten, bis dieses sonderbare Duo da das Feld räumen
würde, um sich selber trollen zu können. Da hatte sich Mentenheim bereits von
seinem Schrank abgewendet und ging jetzt in Richtung Waschsaal. Aber was war
das? Er hatte sich dabei doch ganz dicht an seinem schwarzen Anhängsel vorbei
bewegt. Hat man es richtig beobachtet? Ägidius musste einen Schritt, fast einen
Satz rückwärts machen. Prima, Mentenheim! Das war ja noch richtig wie Charly!
Du hättest ihm ruhig auf die Zehen latschen können! Es hätte ihm zwar nichts
gemacht mit seinen Holzfällerstiefeln, aber es wäre ein deutlicher Hinweis
gewesen, dass er sich nicht alles erlauben darf.
Es freute einen, und
man feixte umher – und merkte, dass bald hinter jedem Schrank einer stand und
wartete und grinste.
Schon lief Ägidius
wieder palavernd Mentenheim hinterher. Er faselte wieder von den Haaren und
brachte noch einmal seine Schwachheiten. Dazu fuchtelte er mit den Armen und
wurde immer lauter. Aber Mentenheim schien nicht darauf zu achten. Er schwang
sich, an seinem Toilettenkästchen angekommen, lediglich dazu auf, Ägidius einen
Stapel Waschlappen mit der Aufforderung in die Hand zu drücken, sich nützlich
zu machen und das Zeug mal eben zu halten, wenn er schon sonst nichts zu tun
habe.
Die Stimmung hinter
den Schränken hob sich ...
Ägidius hielt ganz
mechanisch die Hände auf, und der Kiefer klappte ihm runter. Seine Augen
wanderten unruhig umher. Er entdeckte die Zuschauer, die bei den lauten Worten
aus ihren Verstecken hervorgetreten waren. Jetzt war für ihn der Boden weg! Er
musste zusehen, wie er zu einem einigermaßen starken Abgang kommen konnte.
Ägidius schien zu
überlegen.
Einstweilen stieg
Charly's Kurswert bei uns wieder in bekannte Höhen.
Als er mit seinem
Putzen und Aufräumen zu Ende gekommen war und Ägidius auch die Lappen aus der
Hand genommen hatte, schritt er dem Ausgang zu, wäre Ägidius beinahe wieder auf
die Zehen getreten, ging gemächlich auch an uns vorbei zur Tür, drehte sich
noch einmal um, verabschiedete sich souverän mit einer lässigen Handbewegung:
Bis zum Nachtmahl, Ehrwürden!, sagte er und machte Anstalten abzuziehen. Man
war überzeugt, dass die Angelegenheit jetzt für ihn erledigt sei – und in der
Tat, was hier zuletzt abgegangen war, hätte zu einer Rehabilitierung von
Charly auch völlig ausgereicht. Da drehte sich Charly wieder um und machte
einen Schritt auf Ägidius zu, lächelte und meinte: Wenn der Herr Präfekt
gestatte, wolle er ihn in den Genuss eines guten Rates gelangen lassen. Nämlich
dieses: Herr Präfekt möge sich nie so parterre anquatschen lassen, wie ihm,
Karl Mentenheim, dem Schüler, gerade in unbeschreiblich unqualifizierter Weise
widerfahren. Weil es äußerst lästig und zudem absolut überflüssig sei. Nicht
ganz ungefährlich obendrein, da man mit so etwas durchaus einmal an den
Falschen geraten könne – wenn er verstehe, was damit gemeint und ausgedrückt
sein könnte.
Supermaximal! Das
musste gesessen haben, freute sich der Zaungast, und blickte verstohlen auf den
sprachlos dastehenden Ägidius. Hoffnung kam auf für das kommende Schuljahr.
Dann war es Zeit, sich davon zu machen, um sich in Sicherheit zu bringen. Man
konnte ja nicht wissen, in welche Richtung ein durchaus zu erwartender Schuss
losgehen würde. Es war einem geläufig, dass so eine angeschlagene Kreatur, wie
Ägidius jetzt eine war, sich einen anderen gegriffen und ihn traktiert hätte.
Selbstverständlich
versäumten wir nicht, alles weiterzuerzählen. Das war ein so großes – in der
Weitergabe noch ein wenig ausbaufähiges – Ereignis gewesen, so dass sich
etliche, die es versäumt hatten, mit Übernahme dieser Story nachträglich in die
Reihen der Zuschauer mogelten.
Quasi zum Abschluss
unserer gemeinsamen Zeit wieder so ein starker Auftritt von Charly. Sonderbar
genug, dass Charly's Äußeres irgendwie Auslöser gewesen war, vor allem seine
neue Frisur. Ein Eindruck drängte sich uns auf: Nicht nur Kleider, sondern auch
Frisuren machen Leute! Es war wie vor Jahren dieser Erkenntnis ein gesteigertes
Augenmerk zu widmen. Tatsächlich war das angemessen, denn die Zeit der
Pilzköpfe war angebrochen. Man hatte ja selber bereits damit gespielt, sich die
Haare bis zum Kragen wachsen zu lassen. Aber niemand hatte sich wirklich
getraut, wegen der Alten, die einen deswegen mit Bestimmtheit dauernd
angequasselt hätten und allerdings auch wegen der Solidarität mit den anderen
Jungen in der Penne, die ja auch noch diese Stifte trugen. Aber man lag eben
mit Charly immer richtig, hatte sich wieder einmal gezeigt. Er besaß nun mal
ein Gespür für alles Zeitgemäße und Gewinnende.
Die allgemeine Begeisterung taufte ihn um. Er hieß fortan
Charles. Er goutierte das und trug dem dadurch Rechnung, dass er seinem
Äußeren eine neue Fashion zumaß: Er zeigte sich bald als europäischer Herr
englischer Prägung, trug des Sonntags weißes Hemd mit Krawatte und benutzte
beinahe täglich und durchaus unabhängig vom jeweiligen Wetter als Accessoire
einen eleganten Stockschirm. Über die distanzierte und nüchterne Art, die einem
solchen Äußeren nach der allgemeinen Vorstellung beizumessen war, hatte er ja
schon immer meisterlich verfügt und darin sogar wahre Lehrstücke vorgewiesen.
In dieser Rolle
führte er auch, als Orientierung am Zeitgeist außerhalb unserer Mauern und im
Vorgriff auf unser kommendes Lebensjahrzehnt, 'twen' ein. Diese bemerkenswerte
Zeitschrift durfte selbstverständlich nur unter strengster Geheimhaltung und
folglich nur im engsten Vertrautenkreis weitergereicht werden. Aber selbst da
war es eher so, dass nur mal ein Bild zu sehen war. (Wobei ich mich erinnere,
dass wenige Jahre zuvor Fotografien von Bikinimädchen, von dieser Christine
Kaufmann zum Beispiel, zu einem öffentlichen Skandal geführt hatten. Der
Staatsanwalt war tätig geworden! Solche Bilder boten demnach auch eher einen
revolutionären als sonst einen Kitzel).
Langsam formierte
sich um Charles eine 'twen'-begeisterte Gentlemanbewegung ..."
Und so weiter. Und wenn er nicht gestorben
ist, ..., hieße es in Märchen. Etwas müde legst du die Blätter weg. Da wären
noch ein paar Seiten. Aber du weißt ja ...
Er hat bestimmt seinen Kratzfuß gemacht, der
gute Ägidius. Zieht nur noch als Schatten durch deine Erinnerung. Und die
Anderen? Eine Gespensterkolonne. Du weißt nicht so richtig, wie du zu diesem
Bild kommst. Jeder geht seinen Weg. Oder ist ihn gegangen. Einer von den
Jungen habe sich mit Magenbitter zu Tode gesoffen. Wieder einer sei bei der
Fremdenlegion gelandet. Dem Gerücht nach. Denn solche Spuren verlieren sich –
und das hinwiederum macht eine solche verlorene Existenz sympathisch. Warum
nicht auch du, Tom?, fragst du dich. Da würdest du mit in dieser
Gespensterkolonne umherziehen in der Erinnerung – aber von wem eigentlich?
Du sagst dir, während du die Blätter in die
Plastikhülle schiebst: Lasse ihn laufen, diesen Tom, vielleicht verläuft er
sich mal irgendwo.
Jetzt werfen sie dich eh bald raus hier.
Kannst es dann in freier Wildbahn probieren mit deiner Verlaufenheit.
Ob die Polizei jemals in deiner Wohnung war?
Deine Bude hast du vorgefunden, wie du sie damals verlassen hattest am Morgen
vor dem Überfall. Als die Gangster dich zerlegt hatten.
Was ja zu deiner Ich-Abhandenheit führte. Es
ist im Grunde irrwitzig, dieses Du als Ansprechpartner seither. Wenn's auch
befriedigt. Mensch, wo ist dein Ich? – Eine tolle Frage. Hoffentlich bist du
nie undicht, dass das den Anderen mitkriegen, wie du dich so was fragst. Dann
bist du womöglich bald wieder in einer Anstalt, und zwar diesmal einer von
lauter seelenverlorenen Typen.
Jetzt sitzt du hier beim Doktor und
versuchst an nichts zu denken.
Wenigstens ist auch das letzte Pflaster weg.
Die paar Schorfe an der Stirn sind vorzeigbar.
Noch keine Spur von den Verbrechern. Die
Justiz schweigt sich aus und auch ihre uniformierten Gehilfen. Man wird sehen,
wie man die Staatsmacht wieder auf Trab bringt. Es wäre nicht das erste Mal.
Wenn du deinen Apparat in der Redaktion wieder in Bewegung setzen kannst ...
Deine Maschinerie, die du dir über die Jahre aufgebaut hast. So ein kleiner
Wettlauf wieder mit den Ermittlern um die verdammten Fakten. Du hattest ihnen
ja etliche Male richtig die Show gestohlen. Dann bist allerdings du dran gewesen.
Unangenehm piksende Repressalien, weil sie dich anders nicht zu fassen
kriegten. Mit Strafzetteln für Falschparken und Anzeigen ... Ruhestörung und
Hausfriedensbruch ... Schließlich hatte man dir im Betrieb die Klatschspalte
aufgedrückt. Eigenartig. Aus lauter Fürsorge für dich, dich sozusagen aus dem
Verkehr – den sie eine Schusslinie genannt haben – gezogen ...
Doch du hast bald wieder Apparat gehabt ...
Es ist ja sonderbar. Die lieben Kollegen,
haben in deinem Fall noch nichts angekurbelt, um der Polizei eine Nase zu
drehen. Sonst hat man da nichts ausgelassen – seriös hin, seriös her. Schon
wegen der Story, die immer in so was wie so einem Lichterloh wie dem Karl
Mentenheim seinem Schloss steckt. Mit Sicherheit auch in dieser Sache da mit dir
und deinen blauen Flecken. 'Journalist beim Einsatz schwer verletzt' haben sie
nur daraus gemacht.
Greife dir eine von den Zeitschriften da vom
Tisch.
Du wirst doch gelegentlich zu schreiben
beginnen. Seit dem Krankenhaus schiebst du es auf. Dabei gibt es wirklich noch
genug zu notieren. Um Karl herum und die ganzen verzwickten Umstände.
Man schaut sich immer wieder mal ganz
verstohlen an, hier. Genierlichkeit. Ein Monat alten 'Stern' hast du da
erwischt. Mal sehen, was die während deiner Krankenhauszeit gebracht hatten.
Es ist so in einem drin, das Schreiben,
sagst du dir. Du glaubst, du kriegst die Zeit in den Griff, wenn du sie auf
Papier noch etwas ausschmückst, bevor sie sich davongemacht hat. Du weißt
allerdings nicht, ob du deinen dienstlichen Apparat überhaupt noch in Bewegung
setzen könntest ... Ob es überhaupt noch deiner ist? Du bist ja sofort weg vom
Fenster, sobald du dich auch nur ein bisschen wegdrehst, das weißt du doch!
Sie hatten den Sänger Franz aus dem Bett
geholt, geht dir durch den Kopf. Gott hab' ihn selig. So plötzlich sein Abgang.
So wie zum Feierabend nach Hause gehn. Es sei ihm gegönnt. Und ab, gleich in
die Wäschekammer. Aus. Kaum zu glauben: Mitten im Satz war er weg. Da müsste
doch noch Geräusch kommen von nebenan. Aber nichts. Hast hinübergeschaut
...
Was er wohl noch sagen wollte?
Du hattest immerhin sogar
Respekt entdeckt für diesen Kriegs-, Alltags- und Weiberhelden. Er hatte dir zwar
immer wieder was rübergelassen. Was dir zuerst nur mief als verbaler Auswurf in
deine hohen Nase kam – du hochnäsiges Subjekt. Aber schließlich ging dir doch auf,
dass er es aus seinen Niederungen geschafft hatte auf eine dir jetzt respektabel
erscheinende Lebenshöhe zu kommen. Mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen.
Auch wenn der mit allen Tücken behaftet war: schmutzig, sumpfig – mit ein paar beblühten
Grünflächen vielleicht dazwischen ...
Der Gedanke an den Gewesenen lässt dich
nicht gleich los. Es überkommt dich dann allerdings dazwischen auch noch dein
mögliches Gewesen sein in deinem Job ...
Aufruf. Ein Name per Durchsage. Du bist es
aber wieder nicht. Neidische Blicke auf die Figur, die sich erhebt ...
Wie er da lag in der Wäschekammer. Zwischen
Bergen von dreckiger Wäsche.
Franz war dir allmählich doch schon so was
wie vertraut gewesen. Der Franz, in seiner Unverblümtheit und
Handgreiflichkeit. Was hat der Mensch aus dem Vollen gelebt. Wie er dauernd
beteuert hatte. Als ob er sich dessen selber dauernd versichern musste, um zu
glauben, dass es so war. Aber du hast es ihm abgenommen, weil du dir sicher
warst, dass sich das zumindest alles in seinem Kopf abgespielt hat. Unten
durchgehen, wenn alles oben drüber ist und dort angibt, hatte Franz gesagt.
Sollte vermutlich heißen: Die Herrschaft der Umstände unterlaufen.
Jetzt endlich der Aufruf. Das Heft weg, und
du trittst vor deinen Richter – überkommt es dich.
Dann bist du im Café und
ziehst deinen Notizblock. Du hältst das von vorhin fest, hast dich endlich
durchgerungen zu schreiben, bist darüber erstaunt, schreibst:
"Du hast dir
gesagt, während der Doktor dein Karteiblatt studierte, dass es ja noch ein
junger Mann ist, jünger als du. Als er ruckartig aufblickte, dich ansah und
seinen Befragungskatalog abspulte, da war plötzlich so ein Gefühl deiner
Wenigkeit da – so von Nummer, Gegenstand, Materie. Als du auf seine Frage hin
gesagt hast, dass du dich eigentlich wohlfühlst – weiter wolltest du gar nicht
ausholen –, da schien er es überhaupt nicht gehört zu haben. War natürlich nur
so eine Routinefloskel von ihm, diese Frage nach deinem Befinden. Klar, er
hatte dir ja mal gesagt, dass das Meiste, was Patienten sagen, nur Quatsch sei,
pure Fehleinschätzung des eigenen Zustandes, verwischt durch irgendwelche
Scheininformationen von ominösen Spaltenfüllern in Illustrierten, die sich als
Doktoren daherpralen. Die Leute wüssten meistens nicht mal, hatte er gemäkelt,
auf welcher Seite ihr Blinddarm im Gekröse sitzt – wenn dieser ihnen nicht
rausgeschnitten worden sei und sie es bei jedem Strip vor dem Spiegel an der
Narbe erinnern könnten.
Er war dann über dir
und betastete deine Narben. Ehe du noch etwas sagen konntest, da hatte er die
weitere Arbeit an dir, mit Blutdruck und so, schon delegiert gehabt an eine
seiner flotten weißen Mäuschen. Du bist hinauskomplimentiert worden. Der nächste
Patient war gleich dran.
Die Mädchen machten
an dir herum. Du hast noch mitgekriegt, dass der Weißkittel eine
Telefonverbindung wollte. In deiner Angelegenheit, aha! Das hat dich dann doch
gewundert. Du würdest liebend gerne wissen, was das für eine Nummer war, die er
verlangt hatte!
Nach einer Weile
tauchte der Doktor wieder bei dir im Vorzimmer auf, nahm dich etwas zur Seite
und richtete das Wort an dich: Du sollst dir einen Termin für die nächste
Sitzung geben lassen und dich natürlich weiter im Krankenstande wissen und dich
doch bestimmt erst einmal richtig auskurieren, damit du später wieder volle
Einsatzfähigkeit erlangst und nicht eventuell Dauerschäden zurückblieben, was
man auch bei äußerlich eher harmlos erscheinenden Frakturen niemals
ausschließen könne und dürfe ... daraus resultierende Spätschäden, die durchaus
zur Frühverrentung führen könnten ... und man wisse doch, wie belastet die
Sozialsysteme ...
Rente, war dir durchs
Hirn geschossen. Und das Aus. Da ist was im Gange, das hattest du sofort im
Gespür!
Das Telefonat vorhin! Dem wirst du nachgehen!
Das ist es. Das riecht nach Chefetage!"
Du trinkst aus, legst deine zwei Zwickel hin
und haust ab.
Zu Hause schimpfst du in dich hinein über
diese Halunken von der Direktion: Nicht mal die Freiheit des Krankenstandes ist
mehr vor dem Zugriff dieser Geier sicher. Überall die Klauen drin. Dann ist in
deinem Gedankenschwall auch noch diese prächtige Ausgabe von Äskulapjünger
dran. In dir kriecht der Verdacht hoch, dass es in deinem Betrieb als Vorteil betrachtet
wird, wenn du außer Betrieb bist. Der Gedanke frisst sich sofort fest – und
dich natürlich wieder an.
Dir wird es jetzt in deinen vier Wänden zu
eng.
Du latschst durch die Straßen. Ohne Ziel. Ob
dich die Schläger noch einmal packen, ist dir jetzt egal. Dann in die Kneipe.
Eigentlich wünschst du dir sogar, dass sie dich wieder greifen. Du kommst dir
dann am Tresen allmählich irgendwie verteufelt schicksalsbeladen – und darin
auch wieder richtig bedeutend vor. Zumindest vor dir selber. Als Lastenträger
erkennst du dich, wenn auch nur deiner selbst. Das drückt dir das zerfaserte
bisschen Innere wieder zusammen.
Und der Suff bläst es auf. Macht einen auf
Luftballon damit ...
Als du aufwachst in einem total behämmerten
Zustand, da ist alles gleich wieder da. Sie haben dich entsorgt, bist du dir
sicher. Da ist der Spruch plötzlich da: Wer sich abtakeln lässt, muss eben
rudern. So ein Einfall!, klopfst du dir auf die Schulter. Du nimmst das an.
Kommst wieder etwas hoch. Mit lauter solchen Einsichten, dass du etwas
unternehmen musst ...
Zeitung lesen, um am Ball zu bleiben,
freilich. Was tun. Darüber hat man ja auch schon geseicht, dass sich der
Arbeitslose selber fertig macht, wenn er nichts mehr macht.
Schnell hinaus und am Kiosk an der Ecke ein
paar Zeitungen holen. Aus Spaß einen auf Irrer machen, hasten, stoppen, sich
immer wieder ruckartig nach allen Seiten umsehen, weiter – und so weiter. Dann
am Kiosk. Der Blätterwald rauscht im Hirn. Du grinst in dich hinein: Dort im
Blätterwald den Förster machen, der in diesem Biotop auch der Beckmesser ist
und Reime auszählt wie der in der Wagneroper. Den Textpflanzern auf die Finger
sehen, die da herumgraben und ihre Buchstabengewächse in den Daseinsdreck
setzen. Du lachst darüber aus deinem Grinsen richtig laut auf. Etliche Mal. Die
Leute schauen. So als wollten sie wissen, worum es dir so lustig geht. Oder
einfach nur, um festzustellen, ob es sich um blankes Irrsein handelt. Abhauen
hier!
Deine Hand zittert dann
sogar ein wenig, als du zum eigenen Blatt greifst. Du zwingst dich, von vorne
an zu lesen. Nach einer Weile hält es dich nicht mehr, und du blätterst nach
der Kolumne. Nach deiner Kolumne? Wer verschmiert jetzt deine Spalte? Wer sitzt
auf deinem Stuhl? Der Faltmann! Mal sehen, ob sein Hinterteil dein Polster
ausfüllt! Du überfliegst die Zeilen, die du sofort als Geschreibsel entlarvt
haben willst: 'Der Bock trabt lüstern (da Brunstzeit) hinter der jungen Geiß
her. Die Rehlady ist schon über der B 17. Da kracht es hinter ihr. Ein
Bullengitter, von einem schweren Rover geschoben, setzt in der Nähe von Kinsau
dem Liebesspiel und dem Leben des Hornträgers ein jähes Ende. Die junge
Menschenfrau, die Vaters Jeep bis dahin nahezu erfolgreich gesteuert hatte! Sie
ist ob der plötzlichen Begegnung und dem abgelebten Galan auf dem Kühler ziemlich
geschockt. Sie verreißt ihr Kraftpaket. Es bleibt ihr infolgedessen die
Bekanntschaft mit dem nächsten Alleebaum nicht erspart. Weiter geht die Reise
etwas später, allerdings wieder wohlbehütet, im Hubschrauber in Richtung Klinik.'
Diese Lockerheit,
denkst du. Gar einen Ansatz von innerem Applaus genehmigst du dir. Aber
Boulevard!, holst du dich zurück. Gibst deinem Pfuiruf Schwung: Elendes, hier
gar tierschänderisches, darüber hinaus menschenverachtendes Boulevard. Das ist nicht
die von dir gepflegte Kunstform.
Stil ist so etwas wie
Berufung zur Mitteilung. Die eben auf einen kommt oder nicht. Den Faltmann
machst du zur Schnecke, wenn du wieder an Bord bist. Mit einem Mix aus
Nachricht und Unterhaltung verunreinigt der dir deine Spalte. Du hattest so
etwas freilich auch schon angedacht, denn so hinter dem Mond bist du nicht. Was
die Masse will, das muss man in dem Job auch wissen – allerdings nicht
unbedingt bedienen. Damals, etwa Anfang der Achtziger, bei deinen Recherchen
bezüglich der Bilder. Aber du hattest das verworfen. Die reine Unterhaltung,
die muss freilich auch ihren Platz haben in der Presse, allerdings von der
Nachricht getrennt, hast du immer wacker vertreten. Jetzt haben sie diesen
Faltmann auf deinen Stuhl gesetzt. Einen Kaffee machen.
Hasch mich, ich bin der Effekt, kicherst du
böse vor dich hin, während du Wasser zugießt. Als du dann den schwarzen Sud in
der Tasse dampfen siehst, wandelt es dich irgendwie biblisch an, so von wegen
Splitter im Auge des anderen – und da sollte natürlich auch noch nach dem
Balken im eigenen gesucht werden. Das willst du dir aber jetzt nicht antun,
nimmst einen Schluck, vertagst es.
Du ziehst wieder tagelang in Kneipen umher.
Fühlst dich gelegentlich verdammt arbeitslos. Immer wenn dich das überkommt,
erschrickst du richtig. Du willst das dann wegschwemmen. Lässt dich volllaufen.
Um dir zu entkommen, nutzlos, unbrauchbar, überflüssig zu sein. Dass du schon
dazugehörst zur Truppe der Unbrauchbaren, jammerst du dir vor.
In einem helleren Moment überkommt es dich,
dass man das jedoch in den Griff kriegen müsse. Du könntest versuchen, eine
Kultur der Nichtbeschäftigung, der gepflegten Untätigkeit zu entwickeln,
schwingst du dich sogar auf – wie eben auch eine Kultur des Altseines, holst du
aus. Dich überkommt es dann richtig missionarisch, wenn dich so was anfliegt.
Ist es bereits eine Marktnische der Betätigung für dich?, fragst du dich. Du
grinst dich selber an, als du im Spiegel deine Rasiergrimassen schneidest. Der
Mensch ist weder auf das Nichtstun, bekräftigst du, noch auf das Altsein
vorbereitet. Also, dozierst du, während du dich beschabst: Den Wissensdrang herunterblöden.
Die Habgier verbetteln. Den Aktionshunger bestillen. Einfach nur da sein und –
wo immer auch – sitzen, stehen, liegen können, indem du dir in der meisten Zeit
selber entfallen bist. Das Übel kommt in naher Zukunft von eurer Selbst-Gegenwärtigkeit,
wirst du den Leuten predigen. Diese kannst du dir in dieser Welt gar nicht mehr
erlauben, wenn du unbeschadet überleben willst. In einer Welt, in der die digitale
Künstlich- und Apparatlichkeit immer mehr Raum greift, in der der Mensch immer
mehr ins Virtuelle getrieben wird. Bis endlich sich selber erzeugende und
vermehrende Denk- und Herrschafts-Maschinen das ganze Dasein besetzen.
Diese Gedanken tragen tatsächlich wieder
eine Weile. Sie münden dann stets in Plänen, die mit Aufklärungskampagnen, ja
Schulungsunternehmungen und mit Risiko und Aufwand besetzt sind. Auf diese
Weise lassen sie sich dann getrost vor einem her schieben.
Tage.
Warten.
Morgens kurz zum Kiosk um Zigaretten und
Illustrierte. Die Zeitungen schmerzen. Es tut bereits weh, wenn du die
Aufmacher am Zeitungsstand überfliegst. Die Welt lieber nur als Bebilderung auf
Glanzpapier heimholen. Das reicht in deiner Begnügung.
Nach dem Kiosk noch in den Supermarkt. Dann
ein Tag wie ein Hausfrauentag mit diesem Ringen mit der Vergeblichkeit des
Haushaltens. Wobei man ja nur verlieren kann. Du beginnst die daheimgebliebenen
Mädchen zu verstehen.
Diese knalligen Illustrierten. Du blätterst
da in dem Zeug. Klar, die Kollegen vom Glanzpapier dürfen sich das Fernsehen
nicht davonlaufen lassen.
Das begießt du mit Bier
aus der Blechdose.
Du wagst dich jetzt nicht für länger auf die
Straße. Nur diese Besorgungen. Es könnte sein, dass du irgendwie von deiner
noch bestehenden Krankschreibung eingenommen bist. Eine Krankschreibung, die
krank macht.
Aus dieser Misere heraus willst du nun doch
auch noch das zweite Treffen mit Karl festhalten. Schreiben, wo du jetzt hier
rumhängst und gewissermaßen zum Schweigen verurteilt bist. Das Schreiben als
die bedeutendste Art des Schweigens ...
"Etliche
Zeit war vergangen. Ein paar Jahre nach dieser Begegnung da mit Karl Mentenheim
und dem Plausch im Café (es wird im Verlaufe dieser Niederschrift klar zu
machen sein, weshalb diese Einleitung zu wählen war und was der Vorgang mit
Freund Karl zu tun hatte).
Da hatten sie in der
Redaktion einen gesucht, dem sie eine Arbeit aufdrücken könnten. Um so ein Ding
drehte es sich, das sich sogar für unsereinen sonderbar ausnahm, der doch nicht
mehr so ganz neu war in dem Geschäft. So ein Ding mit einigem Hintergrund:
Dieser Angelegenheit lag zugrunde, dass einige Zeit davor wieder einmal
ziemlich was auszufechten gewesen war. Unser Dittl hatte nämlich damals eine
Serie Fotos gebracht und sie zur Besichtigung rumgereicht. Ist nichts
Besonderes, hatte man erst gedacht und sich gar nicht drum gerissen. Dittl
gehörte zur Hilfstruppe: knipste nur, schrieb nicht. Was würde der Dittl sonst
gemacht haben als eben Fotos? Man wurde aber gleich hellhörig. Der Nosmann, der
die Bilder zuerst hatte, pfiff immer wieder einmal irgendwie vielsagend vor
sich hin, während er die Serie durchging. Wenn einer das alte Schlachtross
aufregen kann!, sagte man sich – und gierte nach den Bildern.
Als man dann die
Sachen selber in den Fingern hatte, wusste man sofort: Das sind richtige
Volltreffer. Verdammt hinter der Hecke vor.
Die Bilder waren kaum
herum, da ging es gleich wieder ums Fleisch: Wie viel bloßes Fleisch dürfen wir
denn eigentlich bringen in diesem unserem Blatt? Dabei stand sowieso nur Busen
zur Debatte. Aber auch damit tat man sich schwer. Mit südlich der Taille hat
man erst gar nichts zu unternehmen brauchen. War es auch noch so ausgekeuscht
(wie wir das nannten). Aber man musste es immer wieder versuchen, auch bei
solchen Sachen, das war man der Zeit schuldig – und damit als Journalist auch
sich selber. Die Zeit begehrt immer Einlass, und sie pochte diesbezüglich bei
uns schon lange an die Tür. Die Zeit ist so, wie sie ist, sagten wir uns,
nämlich ziemlich nackt. Doch dann hatte der Alte seinen Auftritt. Wir
versuchten es auch diesmal wortreich wie immer (das Palavern darum war längst
zum Ritual geworden). Der Dittl saß nur da mit einer Miene, als ob man über ihn
zu Gericht säße. (Dittl war überhaupt ein bisschen schwierig, man hatte nicht
unbedingt gern mit ihm gearbeitet, er war etwas eigenwillig, kam einem mit
Kunst und so etwas, wenn es um bloße Tatsachen ging. Aber er war ein guter
Mann, verstand seinen Job.)
Nicht dass einer von
uns Verpackungen voll aufblättern wollte. Wie in anderen Blättern bereits an
der Tagesordnung. Man wusste ja, wo man arbeitete.
Wir hatten uns, lange
bevor Dittl mit seinem Material aufgekreuzt war, ein paar pfiffige
Lösungsmöglichkeiten ausgedacht. Mit Andeutungstechnik, wie wir es nannten.
Also nur ganz wenig Fleisch. Der Mann kennt das: Nur ein bisschen reicht, das
bringt es, das törnt an. Die Fantasie entblättert den Rest ganz von alleine.
Wir mit unserer Andeutungstechnik wollten irgendwie auch die Fantasie des
Lesers trainieren! Was ja kein zu unterschätzender volksbildnerischer
Nebeneffekt gewesen wäre, grinsten wir uns. Unser Angebot an den Alten stand
ganz unter dem Motto: Es reizt nur, was noch irgendwie verborgen ist. Die
Fantasie ist im Grunde tüchtiger als das Auge. Aber – und darauf kam es uns
eben an – man muss dieser Tüchtigkeit des Menschen einen Anstoß geben, indem
man den Weg zum Verborgenen aufzeigt.
Auf diese
intelligente Folgerung wollten wir uns etwas einbilden. Aber in unserem Laden
war so etwas in den Schnee gepinkelt. Die Beine, gut, da war was zu machen.
Kunststück. Wohl seit der Zeit, in der Marlene Dietrich so richtig voll drauf
gewesen war, haben sie auch in unserem Blatt Beine gebracht. Das wirkte aber
fad in der alten Mache, so unterhalb vom Straps, von der sie im Grunde nicht
abkamen. Ausgesprochen antiquiert. Wo war da das Neue, das unerhört Neue? Wo
war die atemberaubende Überraschung für den Leser, der ein Recht darauf hat,
für seine Lese- und Betrachtungsmühen entschädigt zu werden? Wo war da das
Aufreizende, Anhaftende, die Gedanken Besetzende, für das der Leser sein Geld
hinlegt? Wo war all das, was in seiner Summe seine bindende, verbindende
Wirkung tun könnte? – Bis eben anderntags die Ablösung davon durch brandneuen
Zündstoff auf den Markt katapultiert würde. Das belebt und bringt überhaupt
letztlich auch das Geschäft. Was sonst?
Man war schließlich
irgendwie Idealist und dachte sich: Wenn der Leser diese seine Zeitung
aufschlägt, dann muss ihm irgendwann die Spucke wegbleiben. Da muss er auf
einer möglichst hohen Stufe angenehm verwirrt sein. Und zwar so, dass es ihn
möglichst den ganzen Tag bewegt. Er muss ja doch hinweg über den blöden Alltags-Öd,
den fiesen Alltags-Mief, den vermaledeiten Alltags-Zoff. Unsereiner hat den
Menschen dabei zu helfen in dieser Zeit."
Deine Aburteilung des Alltags. Das ist dir
jetzt in deiner Warterei so flott aus der Feder gegangen. Freilich, dieser
Zustand! Du legst den Stift hin.
Etwas die Beine vertreten. Zum Fenster hin.
Es ist schön draußen. Irgendwie herbstlich. Mach das Fenster auf. Lasse den
Föhn herein. Die tief stehende Sonne. Du solltest hinausgehen. Aber da ist auch
deine Angst gleich wieder da. Doch wenn du unter Leuten bleibst, dann werden
sie dich doch nicht angreifen.
Dann entscheidest du dich für deinen Text,
weil dir da anscheinend ein Schmunzeln aus deiner ganzen Kümmernis heraus
gelungen ist ...
"Man
ist natürlich auch Aktivist, hat man sich gesagt: Die Leute sehen sich ja immer
mehr Gelaber ausgesetzt. – Da schmeißen wir unsere Aufmacher in den Ring,
flankiert von einem reizenden Bild. Da merkt der Mensch, dass er ernst genommen
wird und der Denkprozess etwas körperlich Ganzheitliches ist.
Die Leute sehen, dass
die Mitteilung allmählich zum Einwegprodukt verkommt. – Da setzen wir das heiße
Thema, garniert mit Kurven, und wir produzieren auf diese Weise das vielfache
Echo der Mitteilung, und zwar auf allen Kanälen der menschlichen Existenz. Auf
die Leute kommt totales Ex-und-hopp-Gerede zu und die Berge Wortmülls werden
höher und höher. – Da zünden wir die Rakete und überfliegen dieses sonderbare
Gebirge ...
Dieser
Vakuum-Gesellschaft stopfen wir die Löcher. Wir füllen die immer länger
werdenden Pausen zwischen den wirklichen Gesprächen. Und lauter solche Sachen
machen wir.
Aber wir schlagen
auch mal Brücken über die Klüfte zwischen den Menschen. Man ist eben auch
sozial gefordert. Wir tun das nicht mit Ballast, um den Leuten womöglich den
Kopf vollzustopfen. Wir sind ja keine Sachbuchschreiber, die Halbwissen säen –
und im Grunde nur Einbildung ernten.
Durch die immer
zahlreicher werdenden Hohlräume hindurch sollen sich die Leute ruhig einmal mit
der Schubkraft fesselnder Gedanken katapultieren – lassen. Oder sie sollen doch
wenigstens die Stellen ihrer Nicht-Vorhandenheiten mit irgendwas von irgendwo
auffüllen können. Sich so wieder näherkommen: Da liest einer des Morgens um
sechs in der trüben Stimmung des Arbeiterzuges seine Zeitung. Sein Gegenüber
graut sich in seine Tageserwartung hinein. Siehe da, sein müder Blick verfängt
sich: Da ist ein Aufmacher, ein Kasten, ein herausspringendes Fettgedrucktes,
und schließlich reißt ihn ein reizendes Busen-Bild aus seiner trüben Laune
heraus. Seine Fantasie macht sich auf den Weg, in Paradiesen zu wandeln. So
nähme der Tag am Ende doch einen guten Anfang."
Da ist dir plötzlich der Sänger Franz im
Kopf – und die Frage, was der wohl zu diesem Spiel mit der Blöße anzumerken
gehabt hätte. Du hörst ihn richtig poltern. Der Staatsanwalt hätte alle
Schreiberlinge von Schmutz und Schund ins Zuchthaus gesteckt wegen der Unzucht
von so etwas. Ob Sänger überhaupt Zeitung gelesen hat?
Jetzt sagst du dir, dass es schade ist um
ihn, den alten Schwerenöter – und um den Unterhaltungswert seiner verqueren
Sittsamkeit.
Du machst dich wieder ans Schreiben, dass
dich nicht etwa noch Trauer überkommt. Das fehlte noch ...
"Damals
das mit Dittls Bildern. Wir in einer Debatte. Mit einer unangefochtenen
Autorität der Führungsspitze, immer noch – oder schon wieder. Es zeigte sich
bei solchen Redaktionssitzungen gewöhnlich folgende Szenerie: Die Bude war
eingenebelt. Jeder qualmte sich seinen Frust weg. Der Alte, eine grau melierte,
krawattengeschnürte Kopie von Vorkriegsausgabe, thronte über uns und gab den
Ton an. Er ließ sich, insbesondere wenn er einen Widerspruch witterte, keine
Formulierung entgehen. Wir saßen da in unseren verschwitzten, nach Hektik
stinkenden Hemden (mit so einem Strick um den Hals als Krawatte, damals sogar
noch) und ließen uns aufrufen wie Schuljungen.
Bei Dittls Material
konnte man bei Körper mit noch so guten Einfällen kommen – wenn man aufgerufen
war. Es war bei Unten einfach kein Zugeständnis loszueisen. Man musste sich in
unserem Laden auf andere Zonen konzentrieren. Selbst da war auch gleich alles
ausgereizt.
Das Oben-ohne gehörte
bei der Konkurrenz zum Inventar, das man nicht der Illustrierten überlassen
wollte. Da war bei uns noch wegen jedes Millimeters Verpackungsverzichts am Dekolletee
Ärger mit der Geschäftsleitung vorprogrammiert. Es ertönten immer wieder solche
Sprüche: Man schmiert hier in diesem unserem Hause schließlich kein
Boulevardblatt zusammen, das an die niederen Instinkte des Mobs appelliert,
sondern man gestaltet eine Gazette mit einem unbezahlbaren, da nur äußerst
mühsam zu erarbeitendem Prädikat: Unser Traditions-Blatt ist eine
gutbürgerliche ... –
... Küche!, hatte da
der Wegmann einmal dazwischengefunkt und sich auch noch ergänzen trauen:
Gutbürgerliche Küche heißt es! Nämlich, dieses Gutbürgerlich ist mit Küche
besetzt! Es soll eigentlich nur heißen: 'gutbürgerliche Küche', nicht etwa
'gutbürgerliche Zeitung'!
... Wer das nicht
auszumachen in der Lage ist, polterte der Alte weiter – einen auf unbeeindruckt
machend –, der ist entweder dumm oder verfügt über zu wenig Geschmack! Oft
sogar beides. Und ...
Da stimme ich zu!,
lachte der Wegmann – und wir hatten zu tun, uns das Lachen zu verkneifen.
(Wegmann war bald darauf gegangen, und zwar in beiderseitigem Einvernehmen, wie
das beim Rausschmiss im Arbeitszeugnis so schön falsch heißt.)
So ein Hickhack um
etwas mehr Haut kam immer wieder mal auf. Was dabei rauskam, war auch gleich.
Wir haben am Ende natürlich auch mit Dittls Fotos zurückstecken müssen. Die
Geschichte mochte allerdings einen höheren Stellenwert gehabt haben, denn der
Alte wartete mit einem Verbal-Monster auf und brachte daher, was sie in dem
Laden, vermutlich in journalistischer Steinzeit, zur Direktive hochgepowert
hatten: Die ethische Norm solle nämlich auch jeweils eine ästhetische Größe
sein! Er hat das dann wie gewöhnlich noch philosophisch breitgewalzt. Vom
Werteverfall war selbstverständlich wieder die Rede, dem es entgegenzusteuern
gelte ...
Der Alte ist in der
grauen Vorzeit des Adenauerregimes vom erzbischöflichen Ordinariat hier
eingeschleust worden, sagte einer, als wir abzogen. Dem Erz-Bischof sein
Erz-Engel, setzte ein anderer noch drauf. Man sah dann zu, dass man irgendetwas
außer Haus zu tun bekam.
Es ging einem jedoch
noch lange im Kopf rum. Dittls Bildmaterial stellte einsame Klasse dar. Der
Junge verstand sein Handwerk. (Er hat auch bald nachher auf den Laden hier
gepfiffen und sein eigenes Atelier aufgemacht.) Schon richtiggehend
dokumentarische Kunst war das, auch wenn der Dittl einem sonst mit Kunst auf
die Nerven ging. Man schwang sich dann schon auch zu so einer etwas üppigeren
Konstruktion auf: Schier ein Knäuel von entblößten, glatten, wie im
lustverschlungenen Liebesspiel von Schlangen befangenen, glühenden jungen
Körpern.
Rings um dieses Wonneknäuel der duftende Blumenreigen einer
Sommerwiese.
Man muss sich das allerdings vorstellen! Das auf Bild zu
kriegen, mache dem Dittl erst einmal einer nach!
Da denkst du immer
wieder dran. Es geht dir dann gar nicht gleich aus dem Kopf: Dieser Akt
schließlich im Schatten mächtiger Bäume. Auch das holt der Dittl raus: Kein
Stamm zu sehen, aber du weißt sofort, da sind große Bäume, da ist
Parklandschaft: Satte Blumenwiese – Licht und Schatten treiben ihr romantisches
Spiel. Solche Sachen!
Wie der Dittl sogar
die Blumen rausgeholt hat. Oder dass er überhaupt die Blumen draufgenommen hat.
Als Gestaltungselement, nicht etwa nur als Beiwerk. Darauf muss einer erst
kommen. Integration. Noch dazu alles in Schwarz-Weiß. Holt der Bursche die
Blumen raus, dass du sie richtig duften siehst – und wie sie richtig tanzen.
Es kommt dir heute
noch irre vor.
Im Hintergrund zu
sehen sind nur Segmente von Schatten. Aber du weißt sofort: uralte Parkanlage.
Du kannst da gar nicht anders, du musst da denken: Villa und Wasser und Moneten
und ...
Irgendwie zelebriert,
wie Dittl es brachte: Auf diesem Altar Blumenwiese dieses Jugendopfer der totalen
Umschlingung und Durch- und besser vielleicht sogar Eindringung – und weiß der
Teufel was."
Du musst lachen. Bereits das zweite Mal
heute. Du holst dir was zum Trinken. Ja klar, gerade der Teufel weiß das, was
da war! Du alberst so vor dich hin: Grüß Gott, Teufel! Du kommst einem da in
den Sinn, wenn man so eine sonderbare Teufelserziehung genossen hatte. Bei
diesen Kloster-Brüdern damals, die einem heute noch ein Rätsel sind. Zu
glauben, dass bei so etwas der gute alte Widersacher seine Hand im Spiel hat,
kann da gar nicht ausbleiben. Es ist eben alles teuflisch gut gewesen, was
dieser Dittl gebracht hatte. Was der jetzt wohl macht?, denkst du dir, als du
die Cola-Dose aufgemacht hast. Die Sonne steht tief und ihr Licht fällt durchs
Fenster. Erst jetzt geht dir auf, dass das die Südseite sein muss, hier das
Fenster. Du langst dir an die Stirn: Mensch, sagst du dir, da musst du erst an
die Wohnung gefesselt sein, bis dir so etwas aufgeht. Jahrelang war es dir
entgangen in der Hektik und ja auch Gleichgültigkeit deines Alltags.
Da lenkt man sich lieber wieder ab ...
"Viele Leute
haben mit geschriebener großer Politik nicht viel am Hut. Das holen sie sich
alles über den Bildschirm, bunt und lebendig aufgemacht, mundgerecht
geschnitten, mit dem Blick in die große weite Welt gewürzt."
Politik, ach ja. Du nimmst wieder einen
Schluck aus der Büchse. Du hattest dich ja nie richtig erwärmen können für
Politikgeschreibe. Die Zeitungen, die im Hinterland als Heimatblatt
daherkommen, müssen sowieso mit dem Vor-Ort-Geschehen aufmachen und vor allem
ein gutes Gespür für die Stimmungslagen haben.
Doch das war zu der Zeit da mit Dittls
Bildern damals in der Redaktion ja kein Thema mehr für dich. Politischer
Journalismus, du lieber Gott, da warst du bereits drüber weg. Und zwar gerade
in Anbetracht des Abdriftens deiner immer noch hoch verehrten 'twen' in
politische Sphären. Du hattest das ja auch richtig gesehen: 'twen' ist wegen
seiner politischen Versuche in der Dutschke-Zeit Anfang der Siebziger
eingegangen ...
"Mit so etwas wie mit den Bildern von Dittl hätte man
aber lange nach Oswald Kolle eine zweite Aufklärungs-Welle starten und ganz oben
schwimmen können."
Über diesen Einfall musst du lachen, denn da
taucht die ganze Posse auf, die um die Aktionen zur Bewältigung der sexuellen Aufklärung
abgespult worden war. Damals als Knabe in der Kloster-Schule. An Pflanzen wurde
es dargestellt. Vertieft durch das Beispiel der Bienen. Es kam dann beim
Vollzug der Königinbegattung dahin, darauf hinzuweisen, dass diese Dame nur
einmal Verkehr habe und auch das nur mit dem Ziel des Sammelns von Genmaterial,
das sie dann ihr ganzes Leben und bestimmt ohne Lustempfinden einsetzen würde.
Während ihr an sich bedauernswerter Drohn eben auch nur ein einiges Mal den Akt
vollziehen könne, um am Ende sogar seines geschlechtlichen Werkzeuges verlustig
zu gehen. Dieses verbleibe sozusagen im Leib der Königin, um diesen einige Zeit
zu verschließen. Es schauderte den Knaben bei dieser Ausmalung. Mitleid überkam
ihn. Schließlich war man als Junge heil froh, nicht im Bienenstock das Licht
der Welt erblickt zu haben.
Das Eigentliche hat doch erst die Kolle-Zeit
in Angriff genommen. Da wurde sogar die als schädlich bezichtigte
Eigenbetätigung vom Verdacht befreit, sie zehre an Rückenmark und Hirn und
führe zur Verblödung und anderen Gebrechen.
Was soll das aber? Es hat sich bei dir das
alles sowieso als eine schier nicht messbare Geringfügigkeit eingerichtet.
Worin es keine richtigen Umtriebe mehr veranstaltet. Sonderbar. Wann hätte es
das allerdings bei dir je auf nennenswerte Weise getan?, fragst du dich jetzt.
Wenn du an deine Verflossene denkst: Elsbeth. Ach, du lieber Gott, dein
misslungener Versuch. Dein flachbusiger Bubikopf. Da kommt auch kein Quäntchen
Entzugserscheinung auf. Nicht mal jetzt in deiner Einsamkeit, mit der
Coladose in der Hand ...
"Mit Dittls
Bildmaterial wäre die Liebesbetrachtung immerhin dem Voyeurtum entrissen und in
Sphären der Kunst entrückt worden. Mit der Ablehnung dieser Kunstwerke wurde
hingegen gewiss eine große Chance vertan. Denn nicht etwa auf Geilheit zielende
Pornografie hat Dittl da aufs Tapet gebracht. Das war reif, um zum Beispiel
auch, entsprechend geschnitten und detailvergrößert, als Poster an der Pinnwand
zu landen. Was einige Kollegen eben genau so betrieben haben: Ordentlich
aufgehängt (auf den Zettelwust drauf, der da immer war) und alle paar Tage
ausgetauscht mit frischer Ware aus Dittls Serie. Eine aufwändige Sache das.
Aber lohnend, denn es erregte Aufmerksamkeit. Kunst an der Wand, und das in dem
Ambiente, und nicht nur der gewohnte Papiersalat. Hat richtig die Stimmung
gehoben. Allerdings nur bis zur nächsten Redaktionssitzung. Da hat es gekracht:
Da wurden die Akteure der Pinnwandszene vom Alten als perverse Fetischisten
gebrandmarkt. (Du hast dich nicht direkt betroffen fühlen müssen. Hast den
Anblick zwar auch irgendwie, vielleicht auch nur aus Protest gegen den Alten,
genossen und deine Bemerkungen losgelassen, aber du hast dir gesagt: Halte dich
ansonsten raus und fange nicht auch noch an, sozusagen Lustplakate zu hängen. Denn
da kommt was nach!, hast du dir gleich gesagt.) Dann noch die Frage vom Alten:
Ob sie sich unters große Heer der geistigen Kleinrentner (ein von ihm gern
benutzter Ausdruck) zu mischen gedächten. Dann sollten sie sich gefälligst
sofort den Jagdschein, nämlichen den nach Paragraf 51 StGB, verpassen lassen
und den Freifahrtschein in die Klapsmühle gleich dazu. Der Alte triumphierte
und klotzte noch einen drauf: Zahlt alles die Krankenkasse. Kurze Pause. Sie
sollten aber der Geschäftsleitung gefälligst den Kündigungskram ersparen, der
ob ständig fortschreitender Ver-Marxung der Gesellschaft immer umständlicher
würde. Das gefälligst, hat er noch draufgesetzt, bevor auch nur einer der
Großinserenten oder Anteilseigner erführe, in was für einer paradiesischen
Aufmachung seine Töchter hier aushängen. Wieder Pause. Fehlte gerade noch, dass
euch Brüdern auch die nackten Knaben zum Opfer gefallen wären. Mein lieber
Schwan! Das wäre die absolute Kriminalisierung! Noch, meine Herren, existiert
der Hundertfünfundsiebzig in seiner vollen Würde, Größe und Wucht im
Strafgesetzbuch und im gesunden Menschenverstand, selbst wenn da die vereinigte
politische Linke schon lange daran herumnagt! Dann holte der Alte noch mal tief
Luft und meckerte in einer Halblache: Die Schwulen und die Linken, eine warme
und gänzlich unappetitliche Bruderschaft! Das hatte damals schließlich nicht
erst der Führer erkannt!
Folgte aus unseren
Reihen so ein Geräusch in Tonlage und Volumen zwischen gequältem Winseln und
zur Hälfte im Hals stecken gebliebenem Lachen."
Du machst Pause und versuchst, den Mix aus
Winseln und ersticktem Lachen zu produzieren. Solche Kreationen der
gepeinigten Menschenseele hast du eigentlich nie mehr gehört. Du probierst es
noch mal. Aber es will dir nicht gelingen. Obwohl du gerade jetzt dafür
geeignet wärst, jammerst du dir vor. Da nimmst du doch wieder das Papier ...
"Der
Alte polterte noch, nachdem er uns einen triumphierenden Blick zugeworfen
hatte: Darf ja nicht wahr sein! So ein verrückter Affenstall! – Die
Großaktionäre, die immer besonders sensibel seien, sähen dieses an Gemeinheit
und Abartigkeit nicht mehr zu überbietende Machwerk eines ganz niederträchtigen
Heckenschützen mit einiger Sicherheit und erheblicher Abscheu als Spielart von
immerhin auch strafrechtlich relevantem Einbruch in die Privatsphäre. Zum
Schluss hat er noch einen scharfen Damokles über uns zum Schweben gebracht:
Wenn diese ganze Korona hier Muße hat, sich solche zeit- und obendrein
hirnraubenden Späßchen zu erlauben, sagte er und grinste überlegen, dann kann
man ja getrost unterstellen, dass man in der Redaktion personell viel zu üppig
ausgestattet sei!
Dann beim Hinausgehen
von einem Kollegen das: Das ist ja hier alles so verstaubt. Wenn einem auch nur
ein Furz auskomme, kriegten alle gleich das Niesen!
Freilich hast du nach
dieser Philippika wieder ruhig deiner Arbeit nachgehen können. Du hast dir ja
nichts vorwerfen müssen. Deinen geringen Bedarf an Nacktheit hast du immer
anders befriedigt als an der Bürowand. Man hat schließlich noch immer gewusst,
hast du dir sagen dürfen, bis zu welchem Punkt man gehen darf. Erziehung! Man
besaß die Reife und dachte jetzt durchaus mal an die Bemühungen der bekutteten
Klosterbrüder – im Nachhinein doch auch wieder irgendwie Freunde (die einen
vielleicht ein bisschen ver-, aber immerhin auch hingebogen hatten).
Die Angelegenheit um
Dittls Lustknäuel schien erledigt. Dir flimmerte höchstens noch dann und wann
mal was von diesem strammen Fleisch durch die Erinnerung – richtete aber nicht
gerade einen Aufruhr der Sinne an.
Etwas Zeit verging.
Während dieser muss allerdings jemand in der Angelegenheit um die Bilder
herumgestochert haben. Denn eines Tages war das ganze Ding wieder da. Der Alte
kam da frontal auf dich zu: Ob er sich mal setzen dürfe."
'Er kam auf dich zu', zitierst du dich
selber. Sieh mal an: Du! Da kommt es jetzt auf dich zu und will seinen Einzug
auch in den geschriebenen Text halten. Es ist ja verdreht. Du oder ichdu. Da
darfst du gar nicht weiterdrehen. Sonst nimmt diese kreisende Bewegung an
Geschwindigkeit zu und du läufst Gefahr, aus der Bahn geschleudert zu werden.
Und mehr als sowieso schon. Dabei ist das Zentrum dieser gefürchteten
Drehbewegung dieses dein verlorenes oder auch nur verborgenes Ich. Du wirst es
nicht so leicht klären.
Du musst weitermachen: Du begnügst dich ja
nicht mehr mit dem gedachten Wort in deinen Monologen. Nämlich seit du wieder
zur Feder gegriffen hast. Um dich zu umkreisen. Dabei sichtbare Spuren zu
hinterlassen. Warum solltest du nicht bei deiner Anrede bleiben?
Damit nimmst du deine
Notizen wieder auf:
"Das
schiere Erstaunen überkam dich nach diesem Auftritt des Alten. Du hast dich
gefragt, ob er sich nicht in der Tür geirrt hatte.
Er legte los: Einer
von euch muss dieser Angelegenheit da ... – na, Sie wissen doch, das mit diesen
– zugegeben gar nicht so schlechten – Bildern da hinterm Busch vor ... Aber das
bleibt verdammt unter uns. Wenn da auch nur ein Mensch was davon erfährt, mache
ich Sie zur Sau, dass Sie von Ihren vier Füßen dann keinen mehr auf den Boden
kriegen! Kurz: Einer hat der Sache mit den Bildern ein wenig auf den Grund zu
gehen.
Sieh mal an!, hast du
in dich hinein gestaunt und hast ihn fragend angesehen.
Die Arbeit hat, um
Gottes willen, äußerst dezent zu erfolgen.
Aha. Dezent. Was für
ein Fremdwort!, ging dir durch den Kopf, aber du hast das Maul gehalten. Was
für ein Begriff überhaupt und in unserer Zeit – und bei dem Job hier!
Um Missverständnisse
gleich auszuräumen: Das geschieht zunächst und hoffentlich überhaupt nur für
das Archiv.
Interessant!,
rutschte dir heraus.
Er freute sich über
deinen Einstieg und wurde ausführlicher: Es ist in einem Betrieb wie dem
unseren ein Sockel an Sach- und Personalakten vonnöten. Vorräte sammeln, mein
Lieber! Man muss seine Zeit samt Zeitgenossen im Griff haben, will man seinen
Einfluss nehmen. Sie können es meinetwegen auch anders umschreiben, nämlich mit
Grundlage zu solider Arbeit. Als nun doch bald alter Hase werden Sie das
natürlich auch ohne meinen Hinweis gewusst haben. Wir sind uns doch einig
darin: Wenn man Zeitung im wahren Sinne des Wortes sein will, dann darf man der
Zeit eben nicht müßiggehen. So eine gute Zeitung ...
Vollkommen richtig!,
hast du dich beeilt zuzustimmen – etwas zu früh, wie du sofort gemerkt hast.
Denn du hättest dich vor deinem Start erinnern sollen, dass er Unterbrechungen
jeglicher, auch zustimmender Art hasste. Er schaute dich bereits grimmig an und
holte auch tiefer Luft ... Er schien es sich dann anders überlegt zu haben und
machte friedlich weiter: Dieser Vorgang da, so unbedeutend er sich im
Augenblick auch geben mag, kann ja durchaus auch einmal zeittypisch werden. Und
zwar wird er es genau dann, wenn sich diese jungen Leute, um die es geht,
zeittypisch entwickeln. (Er hat dabei die Brauen hochgezogen und abgründig
schlau dreingeschaut. Schließlich hat er den Zeigefinger erhoben.) Dann holt
man eben diesen Vorgang hervor.
Er blickte dich groß
an.
Ein verteufelter
Schurke!, hast du in dich hinein geschimpft – und freundlich dreingeschaut.
Er glotzte dich immer
noch an und schien auf etwas zu warten. Du hast sofort begriffen: richtig! Ganz
so ist es!, hast du auch prompt ausgestoßen.
Er lebte unter deiner
Zustimmung auf und stieg ein: Dazu, mein Lieber, existiert doch tatsächlich ein
beinahe klassisches Beispiel, strahlte er. Im sattsam bekannten Magazin DER
SPIEGEL war seinerzeit über den Mord an der Hure Rosemarie Nitribitt keine
Titelgeschichte erschienen. Man stelle sich vor: zu der Zeit, auf der Höhe des
Wirtschaftswunders und mit der Spur in höchste Kreise! DER SPIEGEL, dieser
sensationslüsterne Verein, verzichtete! Hingegen schien dem Spiegel
Handlungsbedarf angesagt bei der Sexaffäre des britischen Ministers Profumo mit
einer gewissen Christine Keeler. Jetzt staunen Sie, Herr Kollege, über die
Begründung! Der Fall Nitribitt sei nicht zeittypisch gewesen im Gegensatz zur Profumo-Affäre.
Diese sei es in erheblichem Maße gewesen, weil sich darin doch ein
grundlegender Wandel des moralischen Empfindens der Gesellschaft gezeigt habe!
Der Alte hatte
wieder, nun jedoch nachträglich seinen Zeigefinger oben.
Feinheiten!, hast du
nur herausgebracht, doch gedacht, dass du gerne etwas von den Millionen abbekommen
hättest, die da als Schweigegelder geflossen waren.
Nachdem er sich wohl
sicher war, dich zum Komplizen erhoben zu haben, kam er zum Schluss: Das müssen
Sie einsehen, dass jemand diese Arbeit erledigen muss!
Sie denken da an
mich?
Nichts für einen
Anfänger!
Nun ja.
Niemand sonst im
Betrieb kommt dafür infrage – und darf auch nur eine Ahnung davon bekommen. Das
sage ich Ihnen gleich. Wenn da was durchsickert, sind Sie leider erledigt!
Du hast zwar
verständnisvoll genickt, warst aber überzeugt, dass diese Stinkstiefel wieder
einen Fußabstreifer suchten und kalkulierten, dass eine Solofigur leichter
abzuschalten sei, wenn was schiefgeht. Obendrein könnten sie mit dir als Ein-Mann-Truppe
Kosten sparen.
Der Alte sprang auf,
klopfte dir gönnerhaft auf die Schulter und zog ab.
Jedenfalls war da
zunächst nur ein großes Fragezeichen. Doch du hast dir bald gesagt, in diesem
Job darf einen überhaupt nichts wundern. Man hat es mit allem zu tun, was nur
immer irgendwie denkbar ist. Mit noch ein wenig mehr. Man tut überhaupt gut
daran, alles für möglich zu halten, was es noch gar nicht gibt. Das ist das
totale Über. Du kannst in dem Job nur immer eins tun, um das annähernd in den
Griff zu kriegen – oder doch wenigstens nicht abzusaufen, hast du dir gesagt:
Alles rest- und erbarmungslos aufzuspüren und zu erfassen, was du fassen kannst
und festhalten und bringen, auch wenn es dir über den Kopf wächst oder auch nur
gegen den Strich geht. Eine Entsorgung musst du betreiben, um nichts weniger,
als wieder Platz zu schaffen in der Welt, nämlich für alles, was da noch kommen
mag.
Okay, ein wenig
hochfliegend. Aber man muss auch einmal solche Drachen steigen lassen, wenn
einem der Wind danach ist.
Das ist aber fauler
Fisch, hast du dir gesagt, was dir der Alte da jetzt angedreht hat. Von wegen:
Das kannst nur du. Das macht diesmal angeblich nichts, wenn du dich zu sehr
festbeißt, hat er dir auch noch als Köder hingehalten. Das Archiv sei ein
Vielfraß. – Gerade du sonst mit deiner Schreibe! Zu viel Schulaufsatz, hatte
der Alte früher mal genörgelt. Aber diesmal soll es angeblich nichts ausmachen.
Sollte heißen: Du bist ein Danebenlieger. Da haut man einem sonst diese Drohung
um die Ohren: Rewriting. Ein anderer trimmt deine Schreibe. Macht sie aktiv.
Du stehst als Idiot da. Aber diesmal kannst du ja ...
Du bist abgezogen.
Dann bist du tagelang mit einer Frage rumgelaufen: warum gerade du?"
Du lässt jetzt das Schreiben sein. Während
du dann verschiedenen häuslichen Verrichtungen nachgehst, wirst du aber den
Gedanken nicht los. So als hättest du diesen bescheuerten Auftrag eben erst
aufgedrückt bekommen. Dann denkst du doch auch noch ab und zu an deine dir
entwischte Elsbeth. Diese ehemals wandelnde Gesprächsbereitschaft verlässt dich
eine ganze Weile nicht. Beim Abendessen sitzt sie im Geiste mit am Tisch. Was
hat man mit Elsbeth auch diskutieren können. Permanente Fortsetzung des soziologischen
Oberseminars in der chaotischen Wohnhöhle. Mit jemandem reden. Das wäre nicht
so schlecht, deswegen gönnst du dir hier jetzt die Erscheinung Elsbeths. Sie
wäre in diesem Falle und auch sonst nützlich gewesen, gestehst du deinem
Phantom ein. Im Übrigen hätte man von diesem Kolle einen Hinweis ernst nehmen
sollen. Die Frauen nämlich seien gar nicht so erpicht darauf, die männlichen
Ausscheidungen in sich zu empfangen. Sondern sie stellen eher auf die
Zärtlichkeiten ab. Deine verkorksten Bettgeschichten der Zeit mit Elsbeth
verwischen dir allerdings den ganzen Spuk ihrer Erscheinung von eben.
Am nächsten Morgen erinnerst du einen Traum:
Elsbeth hat dir etwas gedreht. Konnte eine Zigarette gewesen sein. Ein
auffallend langes, weißes Ding. Als du es reinstecken willst, da siehst du es
rausquellen, vorne und hinten. Du machst das weg, was da rauskommt und steckst
dir das lange, weiße Ding in den Mund. Da kommt aber immer noch was raus. Dir
in den Mund, das Zeug. Elsbeth steht mit dem Feuer da. Du fängst an rumzuspucken.
Sie steht da und schaut dir geduldig zu. Sie hat jetzt noch kürzere Haare. Du
quälst dich herum mit dem Spucken und dem Zeug. Sie steht da mit dem Feuer.
Nach einer Weile ist alles weg.
Um nicht bei diesen
Gedanken hängen zu bleiben, machst du weiter.
"Man
darf sich ja nach Jahren harter Arbeit wohl einbilden, Profi zu sein. Aber da
gibt es Sachen, vor denen du dann doch einen Bammel hast. Beim Essen kommt dir
der Gedanke, da schnürt es dich zu. Du gehst dich erleichtern. Du glotzt in den
Spiegel. Da fragst du dich, wer das dort ist. Ob du ihm auch noch die Hände
waschen sollst. Verrückt. Wie ein Traum.
Du warst also
auserkoren. Eine fragwürdige Ehre. Sie hätten sich das auch zwischen die Backen
schieben können.
Du bist nicht mehr
ganz neu und bereits etwas erfahren in heiklen Angelegenheiten, hat es
geheißen. Klar, du bist schon einige Male richtig auf die Schnauze gefallen. Du
wirst deswegen dieselbe tunlichst eher halten.
Da ist es dir wieder
hochgekommen. Zum vorerst letzten Mal warst du damals erst vor ein paar Monaten
ausgerutscht und hingeschlagen. Indem du zusehen hast müssen, wie der gute Tom
bei Gericht eine glatte Bauchlandung gemacht hatte. (Irre, in solchen Situationen
rufst du dich sogar als deinen Tom auf – um noch weiter weg zu sein von dir!)
Gut, war noch nicht
ganz wasserdicht. Die fette Story da mit der Schmierage im Bauamt. Was ja
nichts Besonderes ist und überall vorkommt: Da kriegt so einer mit 'ner dicken
Tasche eine Wiese aus dem öffentlichen und naturgeschützten, ja nachgerade
biologischen Heiligtum rausgemessen. Rand vom Stadtpark. Das auch noch garniert
mit unverbaubarer Sicht gen Süden: Berge und sonst was für die fette schlaffe
Seele und so. Das Ganze für 'nen Appl und 'n Ei. Dass die Pinke noch fürs
Häuschen drauf reiche, jammert der Raffke. Braucht was Standesgemäßes fürs
Heiraten vom Töchterchen und kann sonst nichts finden für die verzogene Göre.
Weil schon alles da ist. Noch ein üppiger Spruch dazu: Man will es gar nicht
für sich selber, überhaupt nicht – und für seine Kinder wird man ja noch sorgen
dürfen mit seinen Vaterpflichten, in einer Zeit verfallender Werte, in der sich
immer mehr Väter sonst aus dem Staub machen.
Jedenfalls das
gefundene Fressen. Wir, die Presse, die junge vierte Gewalt: Wenn die drei
Klassischen zu lahm sind und unter Altersschwäche leiden, muss eben die Jugend
die liegen gebliebenen Probleme in die Hand nehmen – und die Sachen zu Papier
und in die Öffentlichkeit bringen. Diese scharfe Story um den Grundstücksdeal
werden dir die Leute aus der Hand reißen, hast du dir noch vorgemacht: nämlich
die abgehetzten Umlandpendler, die gequetschten Wohnsilo-Sardinen, die
notleidenden Sozialinsassen. Das kratzt einen auf, wenn man wieder vor Augen
geführt bekommt, wie benachteiligt man ist in dieser aufgeblasenen Gesellschaft,
wo der kleine Mann dauernd irgendeinen Ellenbogen in die Rippen kriegt.
Mache es!, hattest du
dir noch gesagt. Oder ein anderer kommt und reißt sich die Story unter den
Nagel.
Du hattest die Sache
angeschleppt. Siehe da: So etwas durfte dann doch mal rein in die
gutbürgerliche Gazette. Klar, so etwas beschreibt das Über-Bürgerliche in einer
Erwischtheit. Die Anprangerung wird dann von den Nichterwischten akzeptiert und
mit einer stillen Wonne zur Kenntnis genommen. Als wäre es so eine öffentliche
Hinrichtung, an der man mit einem lüsternen Schaudern teilnimmt: Die
Nichterwischten fühlen sich schlauer, geschickter, glücklicher in ihren
Betreibungen jenseits der Gesetze. Was will man mehr? Gilt obendrein als
Lehrstück für den Zwang, höllisch aufzupassen, wenn man bleiben will. Also rein
in die gutbürgerliche ...
Aber das verfluchte
letzte Stückchen im Puzzle hattest du eben leider nicht beibringen können bis
zum Gerichtstermin. Eine popelige Kopie, ein paar Zeilen nur. Du hattest zwar
von der Absprache zwischen Bauamt und Baulöwen gewusst, drum warst du ja
eingestiegen. Dass sie es niedergeschrieben hatten, war dir auch bekannt
gewesen. Doch der teure Zuträger hatte kurz vor Torschluss das Gesangbuch der Mehrheits-Riege
im Stadtrat genommen. Was ihm die Stimme verschlagen hatte.
Nichts mehr rausgelassen, weder in Aussage noch Kopie.
Fünfzigtausend bei
Wiederholung. Das Dementi in die Zeitung. Und dieser Raffgeier, den man gerade
noch rupfen und braten wollte, der flog mit seiner Beute lustig (da Schonzeit)
davon.
Am Ende das
mitleidige Schweigen in der Räumlichkeit vor Ort.
Nun jedoch hier dieser
Bildkram vom Dittl, den sie dir aufgedrückt haben?, hast du dich geärgert.
Wie du dich aber auch
gedreht und gewendet hast, es blieb dir nichts anderes übrig, als dich
anderntags bereits ans Werk zu machen. Mit viel Vorsatz für die Recherche.
Wo aber anfangen?"
Wie dir die Bilder so durch die Gedanken
ziehen, da ist doch plötzlich wieder Elsbeth dazwischen. Mit ihr reden können,
kommt es dich an. Jetzt hast du nicht mal so jemand wie Elsbeth. – Da springen
die Gedanken auf das Finale mit ihr und aus welch einem Grund sie dich
versingelt hat. Das mit deinen Hosen will sie so abgestoßen haben. Dass die aus
deinem unergründlichen Antrieb immer sorgfältig auf den Bügel mussten, bevor du
zu ihr ins Bett gestiegen bist. Wo du es doch sonst mit der Ordnung nicht so genau
hast!, mäkelte sie stets. Solche Sachen, die sie widerwärtig gefunden hatte,
kommen dir. Sie hat dich dann ein rosaroter Teddybär genannt, als sie abzog.
Du wolltest bereits
anfangen, darüber nachzudenken, was damit gemeint gewesen sein könnte. Du
ziehst es aber vor, dich wieder auf dein Schreiben zu verlegen, weil dir gerade
dein Spiegeltheater in Erinnerung kommt:
"Am
nächsten Morgen hattest du den Kerl da dir gegenüber im Spiegel als einen
Hampelmann betitelt. Er hat dir beim Rasieren Grimassen geschnitten. Eigentlich
hättest du ihn Clown nennen sollen. Das eingeseifte Gesicht eines Nassrasierers
hätte eher für diese Bezeichnung gesprochen. Aber der Titel Hampelmann war nun
einmal verliehen. Der war ja auch ganz treffend: Da braucht nur einer an der
Strippe zu ziehen ... So eine Art Nabel oder eine Abhängigkeitsschnur. Und Tom
bewegt jedes Glied. Sogar sein Jim ist irgendwie so ein Ding, das sich von Terminen
hochziehen lässt. – Jim haben wir immer zu dem Ding gesagt, freilich. – Du hast
ja überhaupt nichts fürs Herz. Wo du dich mal ausschütten könntest.
Das ging so mit der
Nachdenklichkeit und hat dir zugesetzt. Bis du eingepinselt warst. Aber es hat
natürlich nicht viel gebracht. Was soll's auch? Allerdings weiß man, dass
Nassrasierer mitunter starke Naturen sind. Es ist fast eine Weltanschauung. Solche
Burschen sind nicht so leicht unterzukriegen, hast du dir vorgemacht – und zu
schaben begonnen. Dieser Akt lässt einen immer irgendwie eins sein mit sich.
Das Aftershave hat
auf der Haut gebrannt. Da war die Frage wieder: Wo anfangen?
Erst mal Kaffee
machen. – Noch dazu diskret! Wo das sowieso nicht unsere Stärke ist. – Drei
Löffelchen gleich drei Tassen. – Diskretion. Dass der Alte sich nicht entblöden
kann? Oder übersetzt er Diskretion anders? Vielleicht kann man da heutzutage
schon was rumdeuten daran und du weißt das noch gar nicht mit deinem fünf Jahre
alten Duden. – Brot auf den Tisch. Die Butter. – Duden her! Richtig: ...
Verschwiegenheit, Taktgefühl ... Du lieber Himmel! Da geht nichts! Und besinnungsaufsatze
das mal: Diese unsere Informationsgesellschaft hat ihr Futter nötig, will
bedient sein mit Öffentlichmachung. – Brot geschmiert. Einen Bissen. – Diese
Gesellschaft würde durch Diskretion in tiefe Depression getrieben; sie ersauft
lieber in wie auch immer gearteter Informationsflut, als auf dem Trockenen
sitzen zu wollen. – Eingeschenkt und dem Bissen nachgetrunken. – Diskretion
stellt heutzutage die Ausnahme dar und ist beim heutigen Menschen allenfalls
angesagt, wenn er seine Anstößigkeiten unter der Decke halten will. – Noch ein
Brot geschmiert. – Das Wort hat längst einen Bedeutungswandel durchgemacht. Man
ist sich jedoch noch nicht ganz im Klaren, ob es sich in Begriffen wie
Schweigepflicht und Datenschutz wiederfindet, weil es sich dabei auch nur um
löchrigen Käse handelt. – Die Marmelade ist angegammelt. Weg damit: Da ist
Aflatoxin drin, hat doch die Hummler von der Ernährungsspalte erst neulich
geschrieben, und du kriegst eine Fehlgeburt ... Eine Idiotie, dieses Gelesenhaben.
Man verwechselt sich bereits selber in seiner eingebildeten Informiertheit, ha
ha! – Weggespült. – Für den enormen Aufwand, der auch mit der gewandelten, um
nicht zu sagen degenerierten Diskretion zu treiben ist, muss man heute schon
einen guten Grund haben. Denn was kann überhaupt in dieser neugierigen
Massengesellschaft noch geheim gehalten werden? Es wird immer enger, und alle
hören und sehen überall mit. Aber wenn man etwas unter der Decke hält, die es
vielleicht doch noch gibt, um das diskret gehaltene Ding vielleicht irgendwann
einmal herauszulassen. Wenn es was bringt. – Heute eben Honig, obwohl der fett
und die Zähne kaputt macht, wie man immer wieder liest. – Das ist es! Jetzt
weißt du es wenigstens: Diese Bastarde von der Chefetage haben was vor! Von
wegen hier Stoffsammlung fürs Archiv! Ausgerechnet du musst ihnen den Schlamm
besorgen für ihren Sumpf! Diesen maßgeschneiderten Anzügen da oben, die immer
so sauber aussehen! Den gutbürgerlichen Sumpf mit Blütentreiben oben drauf, den
machst du ihnen zurecht! – Wenn es zu stinken anfängt, dann bist du eben das
Schwein gewesen!
Das nagt an einem!
Von einer Tasse Kaffee zur anderen droht es sich auszuwachsen.
Also den Verkehrsfunk
einschalten! Lässt einen irgendwo in einem Stau landen. Autobahnausfahrt
Bayreuth. Du bist erst dort gewesen und hast gleich wieder alles vor dir: die
Landschaft – deinen Blechkäfig um dich und deinen Hass auf alles Menschliche
vor und hinter dir ... Es dröhnt aus den Boxen, und es hämmert dir die Gedanken
aus dem Hirn. Was wir heute für eine derbe Musik haben – die man so aufdrehen
muss, damit sie sich überschlägt. Es entgeistet doch immer ganz zuverlässig.
Tut allerdings gelegentlich irgendwie wohl, wenn nichts mehr
da ist.
Auf dem Weg dann in
die Redaktion ist dir der Durchbruch gelungen. Ganz einfach, hast du dir
gesagt: Im eigenen Geviert mit dieser Recherche anfangen. Den Dittl anbohren,
diesen sturen Hund.
Tage dann. Du bist
auf der Lauer gelegen.
Der andere Kram: Du
hast nur Mumien aus der Schublade abgeliefert.
Du hast versucht, in
die Nähe von Dittl zu kommen.
Die Schublade hat
sich natürlich allmählich geleert. Du hast jetzt den Amateur an dich
rangelassen, der dir schon lange in den Ohren – und auf den Nerven lag (so ein
Leserbrief-Typ) und den du bis jetzt noch immer abgewimmelt hattest.
Du hast zwischendurch
immer wieder nach Dittl Ausschau gehalten: Eine Begegnung mit ihm musste ganz
zufällig aussehen, sonst hätte er dich ja bestimmt abblitzen lassen.
Dein Handlanger
brachte gleich zwei Vorstadt-Skandälchen. Um Baugrund (du lieber Gott:
Baugrund!) und Müll ist es ihm gegangen. Er hat aufgedreht, ohne Luft zu holen.
Du hast in Gedanken schon mit Rotstift – und Wonne – an seinem Zeug
rumgestrichen.
Da ist der Dittl
draußen im Gang aufgetaucht.
Du hast den
Quatschkopf rausgeschmissen und bist dem Dittl hinterher. Er ist auf dem Weg
zum Klo gewesen. Prima. An der Rinne geht vielleicht was. Da kann er nicht aus,
wenn er auf Strahl ist. (Das hatte man doch hin und wieder abgezogen, als man
noch übers Dorfparlament zu schreiben hatte: Wenn die Gemeindeväter an der
Rinne standen und es ihnen unten lief, dann lief es auch oben.) Es hat nebenan
geplätschert. Da hat der Dittl doch tatsächlich selber zu labern angefangen.
Hat von dir doch tatsächlich wissen wollen, ob dein Strahl auch so schwach sei
wie seiner. Ist so eine Sache!, ist dir nur eingefallen. Und er weiter: Das ist
die kranke Prostata. Du hast noch überlegt, was Prostata ist. Da hat er auch
schon wieder die Hose zugemacht und war weg. Auch gut. War immerhin schon mal
was. Du bist weiter auf der Lauer gelegen. Hast überlegt, was man bei Prostata
bringen kann, um wieder ins Gespräch zu kommen. Hast träge und wachsam gelauert
wie so ein Molch. Irrer Vergleich. Vielleicht mal beim Doktor anrufen wegen
Prostata. Hast gelauert, um gleich zupacken zu können. Hat ja mit Prostata auch
was sein können, was man selber gehabt und noch gar nicht gewusst hat. Den
Dittl erwischen, hast du dir gesagt.
Der Dittl ist aber
ein wacher Zeitgenosse gewesen. Man hat es nicht gleich geglaubt, hat ihn eher
für irgendwie behämmert gehalten. Es ist ja so, wer sich heute zurückhält, der
hat auch gleich seinen Doofmann weg.
Dann hast du es frontal
versucht.
Wie erwartet: Dittl
hat nichts rauslassen wollen. Nur einmal bisschen angetippt, da hat er es
sofort abgeschmettert: Kein Thema mehr für ihn, das mit den Bildern. Basta. Er hat
nicht mal mit der Geografie herauswollen, wo er da geknipst hatte. Hat partout
nicht sagen wollen, wo er angesessen war, als er seine scharfen Fotos
geschossen hatte. Ist immer noch pikiert gewesen, von wegen der Verunglimpfung
damals durch den Alten, der ihm die Qualifikation abgesprochen hatte. Dittl hat
dich wieder abblitzen lassen. Pech gehabt.
Also ab ins Archiv.
Gerade davor hast du dich die ganze Zeit gedrückt (und auch sonst). Man will
schließlich ins volle Leben greifen, wenn man wo hinlangt, bei diesem Beruf.
Archiv ist was für blasse Magazin-Typen, Hintergrundbeleuchter, Kommentatoren.
Das ist nichts für einen vollblütigen Zeitungs-Mann. Es lockt einen das
Pflaster, das Parkett – ach ja, die vielen Hochzeiten, auf denen man tanzen
will. Fester Boden unter den Füßen jedenfalls, eben Wirklichkeit, wie sie sich
gibt, diese Hure. Jetzt aber doch in diese Gruft. Du hast da gestöbert:
Einblick in weitere Zusammenhänge, Hintergrundbelege (offizielle Lesart). Immer
diese Frage natürlich, ob man dem Leser Zusammenhänge mit Hintergrundwissen
zumuten darf. Natürlich braucht man das in der Politabteilung, um auch einmal
daran zu erinnern, was dieser und jener Paulus wann und wo als Saulus gesagt,
veranlasst, verbrochen hatte. In deiner Angelegenheit ist da allerdings nichts
gewesen als Staub und tote Hosen: Deine VIP-Kids sind noch zu neu gewesen. Du
hast nur was über die Erzeuger von Dittls scharfer Schlangengruppe gefunden.
Wenn es wirklich die Alten von denen waren. Nicht mal das ist sicher gewesen.
Weit vorne anfangen. Du wirst jedoch gelegentlich vorschlagen, so etwas wie ein
Fama-Archiv anzulegen (um Worte wie Klatsch, Gerücht und ähnliche Abwertungen
für ein dringendes Bedürfnis unserer Tage zu vermeiden). Das ist dir beim
Wühlen in dem alten Kram aufgegangen. Die Öffentlichkeit ist an der ernsten
Politik immer weniger interessiert, ist bekannt, und zwar je komplizierter und
damit anstrengender die Dinge dort werden und das Stammtischniveau zu weit
übersteigen. Sie hätten das Vertrauen in die Politiker verloren, lautet dann
die Ausrede immer häufiger. Oder es ist auch die sachliche Kälte, dieser
vermehrt auftretenden grauen Politmäuse – die ja grau bleiben, auch wenn sie
sich zum Elefanten auswachsen. Man weiß es nicht genau. Aber die Öffentlichkeit
wendet sich mehr und mehr der amüsanten Mitteilung zu: Schwächen, Ticks,
Verrücktheiten, Ausrutscher und so etwas. Man darf das jedoch nicht als Klatsch
denunzieren. Darauf musst du sehen, hast du dir gedacht, dass Trends ernst
genommen werden, sonst wärst du fehl in deinem Beruf. Demnach darf in der
Bezeichnung dieses von dir vorzuschlagenden, vielleicht sogar zu gründenden
Archivs auch der Begriff Klatsch nicht erscheinen. Sammlung allgemeiner
gesellschaftlicher Ausdrucksformen, kurz Saga, könnte es betitelt werden. Man
muss in dem Zusammenhang natürlich auch beginnen, eine Bedeutungsskala
anzulegen, die Gradmesser für das öffentliche Interesse an einer Figur ist:
Wann, wie oft, von welcher Menge und aus welchem Grund wird jemand von der
Öffentlichkeit wahrgenommen ... Lauter solche Sachen sind dir damals durch den
Kopf gegangen. Auch, warum soll ein Drachen, den man bei guten Winden steigen
lässt, nicht auch einmal zum Flieger werden, der sich selbständig fortbewegt?
Oder gar zu einer
Rakete mutieren ...
Aber fürs Erste hast
du doch wieder auf Dittl setzen und nicht weiter im Archiv herumgruften wollen
– das ist es auch: An der Wirklichkeit muss man dranbleiben. Sie ziert sich
manchmal, bevor sie sich gibt, gewissermaßen, aber schließlich lässt sie doch
die Schleier fallen.
Dann irgendwann in
der Kantine! Du bist neben ihm zu sitzen gekommen. Du hast rumgenörgelt,
während ihr euch das Essen reingeschlagen habt. Über die immer unerträglicher
werdenden Arbeitsbedingungen hier, bist du hergezogen. (Du hast ja gewusst,
dass der Dittl die Schnauze voll gehabt hat, und du hast dir ein ganzes Bündel
Zustände zurechtgelegt gehabt, die du mit ihm entgegenkommender Weise
durchlassen hast wollen, um ihm zu helfen, seinen Frust zu überwinden und um
ihn freilich im Gegenzug zu öffnen für eine verwertbare Mitteilung in deiner Angelegenheit.)
Du hast noch ein paar Schüsse gegen den Saustall hier auf der Pfanne und hast
auch bereits angelegt gehabt. Der Dittl aber hat dich von der Seite angepeilt,
hat dich (dich!) bedauert, hat dir zugestanden, dass das alles hier einem Kerl
in deinem Alter an die Nieren gehen könne ... (der ist heute richtig redselig,
hast du dich noch gefreut) ... zumal in der Noch-Position, hat Dittl gesagt und
sich seine Pizza reingeschlagen.
Na schau an! Wegen
dieser Position, die du noch immer bekleidest, hat er dich bedauert. (Da ist
dir doch ein Licht aufgegangen: Deine Position! Verdammt, wie ist der Dittl
denn da draufgekommen?, hast du dich gewundert – und der Brocken ist dir fast
im Hals steckengeblieben.) Die ganzen Gemeinheiten hier, die du dir sicher auch
hättest gefallen lassen müssen, hat der Dittl weitergequatscht und dabei auf
ordinärste Weise gemampft. Der miese und fiese Kleinkram ... (Wie kommt Dittl
denn überhaupt auf dich, hast du dich gefragt, und in der Weise. Hier
losziehen, der Dittl, und sonst die taube Sau mimen. Für die nächsten paar
Minuten hast du im Kopf bloß noch Sprechblasen hochgekriegt – die du dann erst
gar nicht abgesetzt hast.) Da hat der Dittl einen Kaffee gehabt und ist wieder
drauf gewesen und hat dir sozusagen nachträglich pauschal in deiner Kritik
zugestimmt. (Welcher Kritik?, warst du verwirrt. Aber allmählich bist du
draufgekommen. Als er dir weiter zugestimmt hat, da ist dir aufgegangen, dass du
mit Thema und Ton bei ihm richtig gelegen warst. Klar, er hat ja die Schnauze
voll gehabt.) Allmählich ist man doch besser ins Gespräch gekommen. Er hat
rausgelassen, dass es ihm schon lang reiche und er bereits angefangen habe,
sich abzuseilen (was ja alle längst wussten). Selbständig machen hat er sich
wollen, hast du dir noch mal anhören dürfen. Um das hast du ihn dann pro forma
beneidet. Musste ziemlich ehrlich geklungen haben, dein Gesülze. Es kam jedenfalls
gut an. In dieser Gemütslage hast du ihn dann weich gemacht: Ein Mann wie er;
ein Spezialist mit diesen Fähigkeiten! Man muss ja nur diese Bilder da richtig
beurteilen! Klasse Material!
Dittl ist
eingestiegen und hat prompt die Story mit besagten Bildern aufgeblättert. Was
soll man da noch sagen?, hast du dich in seinen Vortrag hinein gefragt. Da
hockst du rum und passt ihn ab und zerbrichst dir den Kopf und da kommt der
plötzlich und im Grunde ganz unvermittelt von selber.
Der Rest ist dann wie
geschmiert gelaufen.
Du hast immerhin
erfahren, wodurch er damals fündig geworden war. Er nannte dir auch einen
abgehalfterten Tennislehrer. Der hätte ihm die Idee für die Bilder eingeblasen
damals.
Man muss auch mal
Glück haben, hast du dir sagen können.
Diese Wonnekids
kaufst du dir sowieso, diese vom Schicksal verhätschelte Horde dort von der
Blumenwiese, die hast du bereits an der Angel – oder so gut wie ... Sollte es
sich machen lassen, dann kaufst du dir die ganze Chefetage gleich dazu – oder
knüpfst du sie dir vor auf deine Weise (und mit deinen zwar beschränkten
Mitteln, aber immerhin). Die wollen sich nur ihre Stiefel an deinem Fell
wichsen – aber aufgepasst! Irgendwann geht es vielleicht auch andersrum.
In solchen
Augenblicken willst du voll reinlangen und aufdecken, die Decke wegreißen! Es
geht um nichts Geringeres als um die Wahrheit, sagst du dir jetzt noch. Das
baut auch moralisch auf. Man dient doch eigentlich der Philosophie des Lebens
in diesem Beruf, beteuerst du dir gerne in solchen Augenblicken. Die
Schwierigkeit besteht lediglich darin, die Wahrheit als solche noch
rüberzubringen. Bei der Komplexität, die der Wahrheit zu eigen ist, und bei den
leider beschränkten Möglichkeiten, die einem zur Verfügung stehen.
Du hast dich noch am
selben Nachmittag in der Redaktion abgemeldet und dich auf den Weg gemacht in
die aufgezeigte feine Gegend am nahen Starnberger See. Dort musste sich das
nach Dittls Fotos und schließlich auch Bericht ziemlich freizügige Völkchen tummeln.
Aber erst mal einen Tag ausgespannt. Du hast ja die immerhin schützende Hand
über deinem Haupte gewusst, aus der du den Auftrag genommen hattest.
Das Grüppchen
zunächst informativ einkreisen!, hast du dir gedacht, als du am Ufer entlang
spaziert bist.
Du hast auf den See hinauswollen und dir deshalb einen
Ruderkahn gemietet.
Das stellt die eigene Anschauung auf kräftige Beine, wenn man
sich so in immer enger werdende Kreise vorarbeitet.
Ob man es mal mit
Angeln versuchen soll?
Kein Termindruck. Man
muss mal was ausprobieren. Auch in die Kiste deiner Erfahrung greifen, Schatztruhe
der Erfahrung. Ein bescheuerter Begriff.
Dort ans Schilf ran!
Man müsste eine Angel haben, um einen dicken Fisch herauszuholen.
Ein richtiges kleines
Lehrstück müsste man konstruieren.
Das Rudern strengt
an, tut aber gut! Wenn's nur keine Blasen gibt an den Händen. Man ist
schließlich kein Handarbeiter – und hat seine schützenden Schwielen eher im
Hirn.
Man kommt jetzt in
ein Alter, wo man sehen muss, wo man bleibt. Oder was von einem bleibt,
vielleicht sogar. Also so richtig in die Zukunft weisen. Sein bisschen
Jetztzeit in Vorauszeit überschießen – wie der Philosoph sagen würde. Man
sollte doch wenigstens versuchen, dem Boden, auf dem man steht, seine Spuren
einzuprägen. Wenn man überhaupt Boden unter den Füßen hat, ist natürlich die
Frage. Ein Traum womöglich nur: Die Arbeit mit Hilfe der Objekteinkreisung
könnte ein Lehrstück für die nachfolgende Generation von Journalisten werden.
Du hast dann das
Rudern eingestellt und dir die Klamotten abgestreift. Im Adamskostüm hast du
dich auf dem Boden des Kahns in die Sonne gelegt.
Mein Gott, Traum! Und das in dem Job. Wenn man diskret mit
seinen Träumen umgeht ... – shit, diskret! – Man muss sich Träume ganz einfach
leisten. Als Jogging für die Seele ...
Deiner Vorstellung
nach mussten erst Informationsträger gefunden werden. Leute, die etwas über das
Objekt bringen konnten. Da ist dir gleich Dittls Tennisrentner eingefallen.
Klamotten an und
wieder ans Ufer zurück.
Es
war dann nicht allzu schwierig, diesen ortsbekannten Typ aufzustöbern.
Man traf sich in der Strandbar.
Ein Pils, bitte, und
der Herr hier einen Whisky.
Scotch, ergänzte der
Herr neben dir und geht mit den Augen über die Flaschenbatterie drüben im
Regal.
Selbstverständlich,
mein Herr, sagte der Barkeeper, griff nach einer Flasche und präsentierte sie.
Einverstanden, sagte dein Nachbar. Der Barkeeper machte sich daran, die
Bestellung auszuführen. Du konntest dir einstweilen etwas über Whisky anhören,
über Glenfiddich, der als 'Pure Malt' was ganz Besonderes sei – auch preislich.
Klar, dachtest du, geht auf Spesen, und da langt der alte Trittbrettfahrer hin.
Es ist dir, jetzt wo
du das hier alles festhältst, wie eben: Du siehst dem Barkeeper zu. Ein kleiner,
emsiger Mensch. Ein Gesicht – wie er das nur hinkriegt: so zwischen Traurigkeit
und Lächeln. Du hast es versuchst nachzumachen. Siehst dich im Spiegel hinter
den Flaschen. Es klappt nicht. Du lässt es sein.
Heiße Joe!, hörst
du neben dir.
Du drauf: Angenehm, Tom – einfach Tom.
Joe ist gleich
wieder woanders: Der Wind stand heute gut, ein Top Segelwetter! Er sieht dich
abwartend an.
Habe gerudert, sagst
du karg.
Ach, ist ja toll!,
lobt er dich und steigt ein: Macht enorm fit. Guter Körperbau, oben mit Breite
und Muskeln, stehen die Miezen drauf! Du willst etwas sagen, aber er ist in
Fahrt: Kajak? Oder was?, will er noch wissen, macht aber gleich weiter: Das
wäre doch auf gewissen Abschnitten der Ammer spitze. War man früher häufig
dort, also vor Jahren, harte Sache. Dann nach Garmisch zur Spielbank ...
Du lieber Gott!,
fährst du ihm in die Erinnerung, nicht gleich so aufwändig! Einfach stink
normaler Kahn!
Er scheint es
überhört zu haben, ist nämlich ganz woanders, schwärmt: Ich kann mir nicht
helfen, Tom, bei so einem Wetter, da sehen all die Mädchen einfach noch toller
aus. Da quillt das sündige Fleisch aus der Verpackung und es steht ein Duft in
der Luft und riecht nach Leben, ach ...
Wie das?, willst du
fragen, lässt es aber sein, denkst dir, dass er vielleicht ein romantischer
Mensch ist – und schaust dem Barkeeper zu. Du bekommst natürlich mit, dass Joe
noch bei seinen schönen Mädchen ist: Da stecke Sonne in diesen Körpern und
dringe tief übers Auge in einen ein. Bis in die Seele.
Ach, du lieber
Himmel, Seele!, wunderst du dich.
Das mache die Girls
knackig, zum Anbeißen!, begeistert sich Joe, nimmt einen kräftigen Schluck von
seinem Scotch und fährt fort: Sieh mir Seele nach! Weißt Du, man gerät jetzt in
die Jahre, wo man sich manchmal was ein bisschen durch den Kopf gehen lässt.
Er macht eine kurze
Pause.
Klar, Joe!, beruhigst
du ihn. Das ist so, wenn sonst nichts mehr geht, da geht's eben durch den Kopf.
Das ist prima,
Junge!, freut sich Joe und klopft dir auf die Schulter. Mit der Seele geht man
halt zu seinem Therapeuten. Aber nur wenn's klemmt!, lacht er. Sonst lässt man
sie besser in Ruhe, diese Wolke in einem!
Wie das?, willst du
fragen, grinst aber nur.
Der Mann hier ist von
der Zeitung!, tönt Joe über die Theke weg zum Barkeeper hin und deutet auf
dich.
Der kleine Mensch da
schüttelt gerade an einem Drink und dreht sich ein wenig mit dem Oberkörper in
deine Richtung. Du siehst jetzt ganz deutlich die traurige Seite seines
Gesichts. Angenehm, mein Herr!, sagt er zu dir her, macht einen kaum
wahrnehmbaren Bückling und schüttelt weiter. Richtig, die Drehung macht den
Dreh mit dem Gesichtsausdruck! Du freust dich und rutschst dich auf deinem
Hocker zurecht. Er hat wohl eine freundliche und eine traurige Seite oder
besser Gesichtshälfte, bildest du dir ein. Und er dreht immer die gerade
passende Seite dem jeweiligen Schwätzer zu. So ist es wohl, bildest du dir weiter
ein: Wo in der Mitte des Gesichts Traurigkeit und Freundlichkeit
aufeinandertreffen, da bildet sich diese unbeschreibliche Verachtung für das
Geschmeiß vor seinem Tresen, das sich einbildet, mit seinen Ordern auch Achtung
erkaufen zu können. Du glaubst jetzt, das Geheimnis der grauen Maus für dich
aufgedeckt zu haben. Du freust dich, planst sogar, dir auch so eine Visage
zuzulegen.
Dir fällt jetzt auf,
dass man offenbar im ganzen Raum mitbekommen hat, dass du als einer von der
Zeitung da bist. Denn als du in die Runde schaust, merkst du, wie sie
herfeixen, sich zurechtrücken, jederzeit auf den Schuss aus der Kamera
vorbereitet. Joe genießt die Situation, bist du überzeugt: Die Presse bei Joe,
Joe ist in. Man wird sehen müssen, wie man bei ihm steht, was er von einem weiß
und vielleicht der Zeitung verrät ...
Sehr
angenehm, mein Herr!, sagt der Kleine hinter der Theke hervor, als sich eure
Blicke treffen.
He! Was war das? Du
hast dich doch nicht verhört. Klar, ein neuer Zug an der grauen Maus: Da war
doch ... – wie soll man es nennen? War da so eine satte Portion Desinteresse
unterlegt, in Ton und Mimik? Der Mann ist gut, denkst du. Spitze!, sagst du
dir. Körpersprache nennt man das wohl. Wenn man das auch draufhätte. Da bringt
er schon dein Pils.
Bitte sehr, mein
Herr!, sagt er. Sie verzeihen, mein Herr, Pils dauert seine Zeit!
Er stellt mit
eleganter Handbewegung ab. Zum Wohle, mein Herr!
Klar, da war dieser
Sound wieder, ganz deutlich. Sein bizarres 'mein Herr', das er mit seinem Ton
ganz elegant sozusagen an den unteren Teil des Rückgrats setzte, samt diesem,
jedenfalls in feineren Kreisen unaussprechlichen Angebot, sich mit der Zunge
dort zu betätigen. Man hätte Film haben müssen. Daran hättest du dich dann
immer wieder aufrichten können, wenn dich einer mal wieder auf diese Weise können
sollte.
Danke, mein Herr!,
versuchst du nachzutönen. Aber dein '... Herr' ist dilettantisch. Den hast du
nicht hinten runter gekriegt.
Der Kleine wieselt
ab.
Du bist noch bei deinem
Problem mit dieser Anrede – und am Rand deiner Gedanken schwadroniert Joe.
Bitte sehr, mein
Herr!, hörst du wieder.
Auch mit Hollands
Claus wollte Joe Tennis gespielt haben, wird dir dann mitgeteilt ... Mein Gott,
Claus, krank und auf Tauchstation, wann kann Joe ihn getroffen haben? Aber an
dieser Stelle sind Joe's Darstellungen ins Stocken geraten. Du hast ihm angemerkt,
wie ihm die Stimmung abgesoffen ist: Alles läuft einem davon!, hat er noch
geblubbert. Jetzt solltest du eigentlich einspringen mit irgendeinem Stoff.
Aber du darfst noch nicht mit deinem Vorhaben kommen, warst du dir sicher. Er
ist womöglich noch nicht genug abgefüllt.
Du hast überlegt ...
Raunen um einen
herum, da und dort ein Kichern ... Bitte sehr, die Dame!, am anderen Ende der
Theke.
Du bist eine Weile
nur dagesessen. Ab und zu einen Schluck. Dann ist Joe wieder aufgetaucht und
hat gleich noch einen Drink bestellt.
Was war dieser Claus
doch für ein popeliger Botschaftsheini!, machte Joe wieder seinen Aufschlag.
Bitte sehr, mein
Herr!
Immerhin nicht
schlecht!, versuchst du einzuwenden, er hat doch ein Ass gelandet mit seiner
guten Prinzessin-Partie. Aber Joe hörte dich nicht und war ganz in seiner Welt:
Immer wieder wurde ein hoffnungsvoller junger Herr hier im Club angeschleppt.
Er setzt gleich die Story drauf, dass da einmal ein ganz toller Hecht aufgekreuzt
war. So einer mit Fleiß zwischen den Beinen. Zwar nicht sonderlich
erwähnenswert, meinte Joe, weil man in diesen Kreisen nicht gerade prüde sei.
Du überlegst dir
einstweilen, wie du der grauen Maus da hinter der Theke noch mal dieses
abgründige Bittesehr entlocken könntest.
Wenn dieser Bastard
von Mallmant aufgepasst und nicht gleich zwei Groß-Erbinnen geschwängert hätte!
Damals ...
Herrgott, wann war das
denn?, murmelte Joe vor sich hin. Dann stieg er wieder richtig ein: Jedenfalls
war das noch nicht so mit der Pille. Aber mit Holland war das, wo sie dann hin
sind und sich die Schande dann haben wegmachen lassen. Holland ist älter als
die Pille! Ein schicker Junge, dieser Mallmant, und die Ladys hinter ihm her,
sogar die alten. Da kriegt der Mann in einem doch fast einen Komplex, wenn er
das sieht, wie sie hinter einem anderen so her sind. – Ach so ja, wegen Claus
kam ich auf Holland! – Vielleicht waren sie so scharf auf den, weil er
irgendwie ein bisschen doof war. – Nicht der Claus etwa, Gott bewahre! – Es
ist eigenartig, das scheint Frauen anzusprechen. Man hat was zum Reden gehabt.
Also hat man auch seinen Spaß gehabt. Allerdings keinen von der feuchten Art,
wie die Akteure. Ich gehe jede Wette ein, hat Joe erklärt und dir auf die
Schulter gehauen, ich gehe jede Wette ein, dass auf den Mallmant auch Kerle
scharf waren. Weil es solche in Massen gibt, sage ich dir. Solche, die auf
beiden Schultern tragen ... – Joe habe das als ein aus der Ferne nüchtern
beobachtender Zeitgenosse mit doch immerhin einigem Vergnügen registrieren
wollen.
Du hast die Flaschen
im Regal drüben gezählt, und Joe ist noch im Spiel gewesen. Er hat sich diesen
Mallmant immer wieder vorgenommen: Ein Exote war er, hat Joe giftig gezischt.
War von seinem auf jeden Fall impotenten Vater aus der Karibik samt einer
mulattischen Mutter hier eingeschleppt worden. Ein Hurensohn!, ist Joe
plötzlich laut geworden, dass die Leute aufschauten.
Du hast dir natürlich
den mulattischen Hybriden vorzustellen versucht. Bist weggeträumt: braune Haut
und Palmenstrand und Urlaubsfrieden und Lustkonsum ...
Irgendwann hat Joe
mit jeder Menge Bällchen zu jonglieren begonnen, die er in seinem Leben in der
Hand gehabt haben will.
Warum gleich so etwas
Großes wie 'im Leben'? Was sonst denn als Bällchen bei seinem Beruf?, hast du
dich gefragt. Der hat vermutlich auch gar nicht viel mehr im Kopf als Bällchen.
Was soll er da anderes in der Hand gehabt haben?
Er hat weiter seine
Show abgezogen, und du hast schneller getrunken. Ein paar Bier, auch mal einen
Klaren dazwischen ...
Du bist allmählich
nicht mehr so richtig dabei gewesen. Aber was soll’s, hast du dir gesagt, man
muss die Leute erst die dünne Oberfläche abgießen lassen, um ans Dicke zu
kommen ...
Joe ist einstweilen
bei Sonne und Wind und rotem Ziegelstaub angelangt. Über Longline und Cross, Körpermaß, Rangliste geht es, falsches Bein und harter
Aufschlag – und du hast noch tiefer ins Glas geschaut – Volley-Stopp und Familien-Knatsch
und Aufschlagschwäche ...
Ist alles ein
bisschen viel, kommt es dir jetzt vor. Aber du bist ja dienstlich hier!, bist
du innerlich strammgestanden. Du musst noch warten!, hast du dir befohlen. Versuchst
dich abzulenken, kommst dann darauf, seine Töne irgendwie an sein Outfit zu
hängen: graues schütteres, welliges Langhaar ums hagere, faltige Gesicht; Goldkette
um den Hals. Eine verdorrte Bohnenstange.
Noch ein Pils, mein
Herr!, hast du dich wieder hören lassen. Mit wieder so einem missglückten 'Herr'.
Du qualmst zu viel!,
hast du dir vorgehalten. Aber was tun? – Oder? Wie ist das, sieht einer aus,
wie er daherredet? Gerade das Dahergerede ... Warum beglotzt du ihn so? Wenn er
das falsch versteht! Sein Haar hat einige Zeit keinen Kamm mehr gesehen. Auf
Cognac umsteigen! Von dem Bier musst du dauernd rennen ... Joe hat noch seine
Geschichten abgespult. Unverdrossene Weltsicht!, ist es dir durch den
vernebelten Kopf gefahren. Du hast aus den Augenwinkeln auf ihn geschielt.
Martin Heidegger ist dir plötzlich da gewesen wie ein Erlkönig:
'Selbstauslegung des Daseins', wie einer spricht ... Es hat dich gejuckt, Joe
zu fragen, ob er mit Heidegger auch schon Tennis gespielt habe. Aber Bedenken
haben dich zurückgehalten, dass er auch daraus eine Story machen könnte.
Bitte sehr, zum
Wohle, mein Herr!
Du hast jetzt Joe
richtig zuhören wollen. Da hast du gemerkt, dass er wieder sein Bällchenthema
variierte. Er macht jetzt Handbewegungen dazu: Handbewegungen mit nach oben
offenen, hohl gewölbten Handtellern, befühlende, wiegende, knetende
Andeutungen. So als läge darin etwas Weiches. Dazu seine lüsterne Faxe. Da erst
ist dir aufgegangen, was für eine Art Bällchen dieser Bock dauernd in den
Händen hielt.
Sie hatten ihn nach
dem Spiel immer wieder einmal zum Rückenrubbeln mitgenommen. Die jungen Damen
vom Tennisclub. Oder doch nur diese und jene. Sie hatten sich einen Spaß draus
gemacht!, hat er geklagt. Sie hatten ihn beim Duschen hinter sich kochen
lassen. Er war da auch immer artig gestanden, in seinen Klamotten, scharf wie
ein Messer und nass wie ein Pudel – aber immerhin kein Spielverderber. Er habe
immer gemacht, was sie ihm befohlen hatten. Joe ist dann sogar biblisch
geworden, hat das Beispiel vom armen Lazarus gebracht, der von dem leben
musste, was vom Tisch gefallen war ... Es kam am Ende etwas weinerlich rüber.
Da ist noch viel
offen!, hast du dann gehört.
Bei wem nicht?, deine
Frage.
Er ist schwer an der
Theke gehangen, und seine Goldkette hat aus dem Hemd gebaumelt. Nach einer
kleinen Pause hat er wieder an seiner Mitteilung zu arbeiten begonnen, ab und
zu tiefe Erkenntnisse eingeschoben – und sich allerdings weiterhin eine trockene
Zunge gemacht. Mit dem Glas in der Hand hat er jetzt ausgesehen wie ein
Maschinist mit dem Ölkännchen, das er dauernd an die Buxe setzen muss. – So ein
Eindruck von dir, der dich selber überrascht hat. – Joe ist Maschine gewesen.
Hatte er jedoch zunächst schnodderig einen auf Preußisch gemacht, so ist er
allmählich in einen Münchner Vorstadt-Slang geraten, hat am Ende genuschelt,
ist kaum noch zu verstehen gewesen. Dabei hat er immer wieder mal gegrinst und
wie ein Gaul geflämt, dass die gelben Zähne zum Vorschein gekommen sind. Er hat
sich schwergetan, aber er wollte sein Selbstgespräch nicht abdrehen. Du hast es
über dich ergehen lassen ...
Offenbar ist dem
Barkeeper dieses Szenario bekannt gewesen: Er hat in einem Sicherheitsabstand
herumgewerkt und die Gläser blank gerieben, dazwischen hat er mit dem Tuch die
Platte gewienert, auf die er die Gläser wieder abgestellt hat, immer wieder
einmal hat er am Zapfhahn herumpoliert. Zwischendurch hat er herübergeschielt.
Neben seiner Poliererei ist er eifrig um die Gäste am anderen Ende der Theke
bemüht gewesen. Wenn dort jemand auch nur den Arm hob, ist er sofort zur Stelle
gewesen. Die Nähe des Schwadroneurs an deiner Seite hat er gemieden, und du
hast dafür volles Verständnis gehabt.
Dann ist dir was gekommen:
Bring Joe doch Dittls Bilder vor die Nase! Der Einfall hat dich wieder etwas
klarer gemacht. Du hast dann immer ein Bildchen nach dem anderen aus der Jacke
gezogen, angeglotzt, auf die Theke gelegt. Hast es so eingerichtet, dass Joe
auch mal einen Blick auf besonders ausgeformte Sachen hat werfen können. Der
Stapel vor dir ist immer höher geworden – und dein Nachbar immer neugieriger.
Du hast ihm damit wieder richtig aufgeholfen. Er hat dann seine Sendung
eingestellt und dich um die Serie angehauen. Den Wunsch hast du ihm natürlich
erfüllen wollen und ihm den Stapel hingeschoben. Er griff mit zittriger Hand
nach dem ersten Bild und ist in eine tiefe Betrachtung getaucht. Er hat Namen
gemurmelt und jeden markiert: Mal hat er gejault, mal auf falsche Katzen und
anderes Viehzeug geflucht, mal hat er Koseformeln gehaucht und alle Leibesfreuden
beschworen – oder er ist auf ein Bild getroffen, bei dem ihm alles auf einmal
rausgesprudelt ist. Er hat sich ganz offenbar auf einem Trip befunden und in
einer anderen Welt. Dann hat er auch mal über ein Foto gestreichelt, es
hochgehalten und angestarrt ...
Der kennt jedenfalls
die Vögelchen samt Käfig in den sie gehören, ist dir klar gewesen.
Dann ist er gleich wieder voll auf Sendung. Macht richtig ein
Bilderbuch auf. Und du bist auf diese Weise mitten in deinem Thema gelandet.
Das wird dauern mit
seinen tollen Tagen, warst du dir sicher, hast dich auf deinem Barhocker
zurechtgerückt und abwechselnd vor dich hin und auf die Batterie Falschen im
Regal gestarrt und bist bereit gewesen, es über dich ergehen zu lassen ... Dieser Domestik einer Scheckheft-Aristokratie
wühlt im Abfalleimer, hast du noch riskiert, aber nur bei dir. Du bist allerdings
bald ausgestiegen. Hast noch gesehen, dass der welke Typ da neben dir mit dem
Kopf auf der Theke gelegen ist und mitgekriegt, dass er sich mit seinen
lüsternen Märchen an dem Frischfleisch auf den Bildern geklammert, von
sündteuren Bussi-Feten geträumt hat ...
Es hat dir im Hirn
schon geflimmert. Joe ist dir in einem Eintopf von Werbespots erschienen: Knorrig-abgeschlaffter
Zigarettenmann mit dem Loch im Schuh; eisige Sektmädchen stehen herum; irgendwo
ist sterilwilde Retuschennatur voll im Griff des Betrachters, Konsumenten ...;
es haut Musik in Joe's Erzählung; und sparkassengetreue Gummigebirge reißen auf
... und Joe geht ebenerdig durch, durch da durch und immer weiter ...
Du bist dann mit
Hilfe etlicher Cognacs fast ganz ausgestiegen. Immer wieder vornüber auf die
Theke gesunken. Sind dann für Augenblicke beide dagelegen. Das mahnende ’Aber-Meine-Herren’
der grauen Maus hat uns stets hochrucken lassen. Doch in allen Lagen ist das
Mundwerk von Joe nicht stillgestanden. Das ist dir bei dieser fordernden
Prozedur noch klar gewesen: Freilich, der Leser ist scharf auf so etwas wie
dieses Geseiche von Joe. Das ist das Leben!, hat dich bei der Stange gehalten
und dich sogar noch reinhauen lassen: Dann aufmüpft er, der Leser und Zeitgenosse:
moralisch und ästhetisch noch dazu. Oder auch bemüht intellektuell ...
Dazwischen immer
dieses Aber-Meine-Herren! Von jenseits der Theke. Im Fortgang sogar verstärkt:
Ich muss schon bitten ..."
Aha, murmelst du vor dich hin, als du etwa
gegen Mitternacht deinen Brummkopf vom Tisch erhebst. Du hast ja während deines
Schreibens dieses Theater richtig feucht nachgespielt. Die Sache mit deiner
Erinnerung – und dem Cognac vor allem. Den du in dich während des Schreibens
hast hineinlaufen lassen. Wo du dein Zu-Papier-Gebrachtes nun noch einmal
überfliegst, erkennst du auch, dass sich dir immer wieder einmal die Zeit
verspringt. Die Vergangenheit hüpft dir da und dort in die Gegenwart. Wo du gar
so engagiert bist, verrätst du dich eben dir selber.
Jedoch weiter:
"Du hast dich langsam vom Barhocker heruntergelassen,
dich ausbalanciert und dich davongemacht.
Frische Luft! Das
hast du jetzt noch als tiefen Eindruck im Kopf. Die Ruhe vor allem: Keiner hat
dich mehr in seine Welt mitzunehmen versucht.
Irgendwo noch das
viele Nass abgeschlagen. Dann ins Hotel.
Irgendwann ist nach einem
bisschen Restnacht der Sommermorgen durch die lappigen Vorhänge gesickert. Was
für ein Eindruck! Was fängst du daraufhin mit der Sonne an. Heute dein Kopf! Du
hast im Zimmer umhergestaunt. Da ist es dir ganz mies geworden. Es hat in der
Birne ganz gemein gezogen und gestochen. Dazu das Ambiente, des
abgewirtschafteten Ein-Stern-Hotels hier. Mit deiner komischen
Spesensparsamkeit: Eine gewinnliche Zweitrechnung nach ’eine Hand wäscht die
andere’. Du könntest jetzt vor dir selber ausspucken – wenn du keine so
trockene Zunge hättest. Du sparst immer, indem du dich so weit unten
ansiedelst. Sparschwein in dieser Absteige, diesem sozusagen deinem
Schweinestall. Jetzt auch noch die gequälte Lunge und das Husten am Morgen.
Dein Kopf vom Abend zuvor. Alles das. Wo warst du überhaupt? In den Gängen
Trampeln. Was stand eigentlich an? Dieser zerknitterte Kerl da. Der verfluchte
Alkohol.
Was hast du für einen
Job, Junge? – Mit dieser Frage bist du aus dem Bett gekrochen.
Dusche, Kaffee,
Zigarette – und ein paar Aspirin. Dann ist die Welt fast wieder die alte
gewesen: Eine Veranstaltung, in der man sich doch immer wieder auch einzurichten
vermag – koste es, was es wolle. Ganz einfach, weil man muss. Du wirst pro
Übernachtung in der aufgebügelten Koje einen blauen Lappen Schnitt machen,
klar: Sechzig echte Eier gegen hundertsechzig falsche, ein Geschäft. Wenn sonst
schon nichts Spaß macht.
Solche Gedanken an
solchen Tagen und in aller Herrgottsfrüh!
Schließlich hast du
dich durchgerungen. Du hast dir dann für einen Augenblick sogar eingebildet,
dass es ein wenig amüsant werden könnte, dort bei diesen Leuten etwas
herumzustochern. Auch solche Sachen haben ihren Reiz.
Aufgerafft und bei
dieser exklusiven Adresse wenigstens und fürs Erste ein bisschen sozusagen über
den Zaun geguckt! Du hast dann nach und nach Postboten, Putzfrauen und solche
allgemeinen (aber gerade deswegen mit einem geschulten Auge für das Besondere)
Personen befragt. Später noch einmal diesen Tennisrentner interviewt – und ihm
die Ehre widerfahren lassen, ihn vorzumerken für einen Platz in deiner
Zuträgerkartei.
Natürlich würde es
eine Weile dauern, war von vornherein klar. Nicht etwa die Erwartung aufkommen
lassen wolltest du, dass jeder Angesprochene sofort loslegen würde! Die Leute
drucksen häufig umso mehr herum, je weniger sie überhaupt wissen! So ein
dienstbeflissener Hausmeister etwa, der lässt dich nicht einmal im Mülleimer
wühlen – Behältnisse sind das ja, denen man in der Tat schon so manche
Information entnehmen konnte!
Lauter solche
Erkenntnisse haben dich heimgesucht.
Es war vielleicht
ganz gut, überkam es dich, dass du dir die Birne mit Alkohol ausgewaschen und
sozusagen desinfiziert hast. Jedenfalls sprühten bereits am frühen Vormittag
die Einfälle: Du würdest bei diesen auszuforschenden Herrschaften unter
Umständen sogar als Personal zu landen versuchen, um gründlich recherchieren zu
können. Nicht neu zwar, denn man hat schon von solchen Aktionen gehört, mit
denen diese Akteure den einen oder anderen Wirbel in der Öffentlichkeit
erzeugen konnten.
Es ist bekanntlich nicht einfach, Einblick zu erlangen. Und
zwar wegen der Verschanzungen, die diese Gesellschaftsklasse immer um sich
herum errichtet. Ein paar Bröckchen finden sich jedoch immer. Der Rest ist
meist ohne Schwierigkeit zu mutmaßen: In der Schüssel der Unterstellungen
gleißt so manches Körnchen Wirklichkeit. Das ist eben die Goldwäscherei der
Informationsbeschaffung, weißt du.
Du wirst aber immer
sehr vorsichtig sein müssen. Denn man könnte sich bei der Angelegenheit
freilich auch die Finger verbrennen. Diese Leute können nämlich unangenehm
werden, weiß man. Sie setzen alle Hebel in Bewegung, wenn sie irgendwo einen
Nachteil wittern. Aber der Auftrag hatte ja nur auf Nachforschung gelautet. Die
Ausfertigung der Angelegenheit würde ein anderes Problem sein. Es wird – mal
sehen! – nicht dein Problem sein. Du musst sehen, dass du keinen Sündenbock
abgibst.
Du bist schließlich
ein ganzes Jahr an diesem Auftrag kleben geblieben. Trotz der vielen
Lösungsmodelle, die du entwickelt hattest. Mal dahin, mal dorthin gereist. Noch
dazu alles neben der Alltagsarbeit. Also immer wieder ran: Das Spiel dieser
Riesenbabys über alle vier Jahreszeiten hinweg im Auge behalten. Die Hoffnung
wärmte etwas, auch einmal einen weiteren und lukrativeren Trip auf
Geschäftskosten machen zu können. Was hast du nicht alles zu drehen versucht!
Doch als die Schose am Ende wirklich interessant gewesen wäre, weil die Bande
im Sommer auseinanderstob, in die entferntesten Erdteile jettete, da wollte der
Laden nichts locker machen. Noch keine konkreten Notwendigkeiten für den
Kostenaufwand ersichtlich, hieß es. Überhaupt und um Gottes willen, wenn jemand
vom Aufsichtsrat dahinterkäme, was und bei wem allem da herumrecherchiert
werden sollte!"
Du legst das Schreibzeug weg. Jetzt etwas
essen. Der Apfel dort ...
Gut, dieser Hinweis auf den Aufsichtsrat
deiner Firma. Damit könntest du den Herrschaften über dir jedoch richtig Druck
machen. So 'ganz zufällig' etwas durchsickern lassen. Es könnte, wo sie dich
hier jetzt rumhängen lassen mit deiner längst wieder hergestellten Gesundheit
und wo du das hier niederschreibst, noch seine Bedeutung bekommen. Denn kannst
du wissen, wie es weitergeht, wenn du in der Redaktion wieder an Bord bist?
Wenn überhaupt! Sie aufs Kreuz legen könntest du sie mit ihrer eigenen Gemeinheit,
wenn sie so Angst haben vor ihren Geldgebern.
An der Bissstelle im Apfel Blut. Zahnfleisch
... Das auch noch. Das passt ja. Da riechst du wie ein Tiger aus dem Maul ... Ein
Raubtier, du ...
Dieser tierische Gedanke
hat richtig stark gemacht, genießt du – und machst weiter:
"Also
hier geblieben im Lande und sich, wie das Sprichwort lautet, redlich genährt!
Du sollst dich mit
der Abrundung deiner Gesamtsicht nicht so haben, hatte dich ja der Alte
ermahnt. Ob du denn noch nie etwas vom hohen ästhetischen Wert des Fiktiven
gehört hättest. Man müsse nicht gleich alles wissen. Niemand wolle das auch.
Die Erfindungsgabe sei eine Brücke über viele Abgründe, vor allem über die
tiefen Schluchten zwischen der einen zu den anderen Vermutungen. Dann hatte
sich ja der Alte noch aufgeschwungen: Die ganze Zunft der Dichter schöpfe seit
je aus diesem doch immerhin lauteren Brunnen der Erkenntnis. (Aus diesem
Vortrag war dir jedenfalls offenbar geworden, dass in der Chefetage auch mal
der eine oder andere Komiker sein Wesen treibt.)
Fernost oder Afrika,
du lieber Himmel, oder wo deine Objekte auch immer abgetaucht waren und sich rumaalten!
Das hätte dir auch verdammt gutgetan nach dem ganzen Stress.
Was fürs schon ein wenig schwammige Körperliche und so. Und fürs Gemüt. Was
ist einem die Psyche jetzt oft abgeschlafft in der Brust gehangen."
Da hast du dir selber ein Signal gesetzt: Die
Gesundheit. Du legst deine Aufzeichnungen weg und fasst den Entschluss, dich
zum Quacksalber zu begeben.
Diesmal hast du schlauer sein wollen und
bist am Mittwoch zum Arzt gegangen. Da lungern die Bummler vom vergangenen
Wochenende dort nicht mehr herum, hast du dir gedacht. Vielleicht sind die
Vorschussnehmer aufs Wochenende wenigstens so anständig, noch auf den Freitag
zu warten.
Du sitzt jetzt da und gibst dir Mühe, dich
in einen Artikel zu vertiefen, in dem der 'Stern' Bonns Kohl wieder einmal so
richtig auf der Schippe hat. Es ist allerdings nicht so sehr die Politik, die
dich interessiert. Es ist der peppige Ton. Die Kollegen vom Glanzpapier
scheinen den Dicken mittlerweile als ein den Deutschen vom Schicksal
maßgeschneidertes Stück Geschichte zu nehmen. Weil ihm vor ein paar Jahren auch
noch die Vereinigung des Vaterlandes in den Schoß gefallen war, sitzt er noch
fester – alles aus, hätten sie da früher ergänzt, lassen das heute aber sein.
Jedes Mal, wenn sich die Tür vom
Behandlungsraum öffnet, zieht das alle Blicke auf sich. Du kannst gar nicht
anders, als dem zu folgen – und kannst die Häme, die die Kollegen über den
grauen Dickhäuter ausgießen, gar nicht richtig genießen. Natürlich wartet die
Republik darauf, dass die kanzlerische Verheißung von blühenden Landen im Osten
endlich in Erfüllung geht. Die abgewickelten Ossis und die geschröpften
Solidaritätszugeschlagenen. Die Raffgeier und Gauner eher weniger ...
Wieder geht die Tür auf – aber du bist nicht
dran. Der Mief im Raum wird durch das Fächern der Tür verwirbelt.
Die nicht zur prophezeiten Blüte gelangenden
Landschaften werden mit unseren Milliarden gedüngt und womöglich überdüngt ...,
liest du.
Da bist du an der Reihe.
Der Medizinmann kommt gleich nach der Frage
nach deinem Befinden zur Sache, ohne die Antwort abzuwarten. Es ärgert dich,
denn du hattest dir einen Valentin zurechtgelegt: Könnte besser sein – muss
aber nicht. Er klopft und hört ein wenig an dir herum, tastet dich etwas ab. Du
hast das Gefühl, dass auch das zur Floskel verkommen ist wie seine Frage zu
Beginn. Er meint dann noch, dass man um eine Verlängerung deiner
Krankschreibung nicht ganz herumkommen werde. Aha, denkst du, das ist es doch
eigentlich. Wozu dann die Tarnung mit dieser Frage und dem Herummachen? Das
hätte dir das Personalbüro auch auf direktem Weg mitteilen können, dass sie
dich in der Redaktion nicht oder mindestens noch nicht brauchen können. Kaum
hat dieser Handlanger die Botschaft abgesetzt, ist er wieder ganz bei seinem
Computer und tippt herum, sagt nur noch einmal vor sich hin: Nein, nein, nicht
ganz!, und tippt und starrt auf den Schirm, gibt sich gar keine Mühe,
wenigstens so zu tun, als hätte das mit dir zu tun, was da aus seiner Kiste kommt.
Du traust ihm zu, dass er jetzt zur Entspannung Computerspiele macht ...
Sie kommen nicht ganz darum herum?, hast du
dich blöde gestellt. Also möchte es vielleicht genügen, mit einer teilweisen
Krankschreibung zu operieren, hast du gemeint.
Operieren?!, ist der
Weißkittel hochgefahren und hat dich mit halb zugekniffenen Augen bohrend
angeblickt.
Aha, denkst du, er hatte nicht zugehört und
ist mit den Gedanken ganz bei seinem neuen Spielzeug gewesen.
Das habe ich gar nicht gerne!, hat er
gemeckert. Ich finde es als Arzt nachgerade unmöglich, wenn Patienten meiner
Diagnose vorgreifen!, hat er sich erregt. Sagten Sie etwa operieren? Dann
glotzt er dich wieder so an.
Du freust dich, ihn auf dem falschen Bein
erwischt zu haben. Du beendest aber die Klamotte, indem du ihn aufforderst,
sich zu vergegenwärtigen, dass doch die meisten Menschen irgendwie krank seien:
Allerdings laufen sie gezwungenermaßen oder auch als eingebildete Gesunde
herum. Was er ja doch – wer sonst? – sehr gut zu beurteilen im Stande sei. Ob
eine teilweise, also zum Beispiel eine halbe Krankschreibung denn nicht machbar
sei – um den Begriff des Operierens zu vermeiden, der ja offenbar fest besetzt
ist und sich überhaupt in Besitz der ärztlichen Zunft – Pardon! – Wissenschaft
zu befinden scheint.
Während er dich wieder so anzustarren
beginnt – jetzt mit einem Schuss Entsetzen im Blick –, willst du noch ein wenig
ausholen, um ihm zu zeigen, dass du voll arbeitsfähig bist mit deinem Werkzeug,
dem Verstand. So willst du Verständnis äußern und Respekt für das vorsichtige,
um nicht zu sagen gespannte Verhältnis eines wirklichen Arztes, nämlich
Heilers, zu diesem Begriff Operation. Denn dieses Operieren hätte in der
Medizin etwa so einen Stellenwert wie in der Schreiberschaft der Begriff des
Redigierens.
Da hat dieser Mensch gelacht: Redigieren,
was für ein Wort!
Du wunderst dich über seine Heiterkeit. Du
versuchst, ihm zu erklären, was das Redigieren bedeutet: nämlich nicht etwa nur
Korrektur. Der Mensch unseres Kulturkreises kenne von Kind an die roten Schlachtfelder,
auf die er seine Texte in diesen heillosen Schulen, die er zu besuchen nicht
eingeladen, sondern gezwungen war, immer geführt hat, hast du gesagt. Diese
blutroten Niederlagen seiner Fantasie. Es mag ja ruhig so sein, hast du
eingeräumt, dass Kulturoptimisten im Redigieren eher so etwas wie
Schönheitschirurgie erblickten, bei der es sich allerdings gleichfalls
irgendwie um Amputation, also um Operation handele ...
Der Quacksalber schnellt hoch, stakt auf
dich zu, – du ein paar Schritte zurück – er erreicht dich und klopft dir auf die
Schulter. Seine irr bohrenden Blicke – die werden dir in Erinnerung bleiben,
bist du sofort überzeugt! Dazu seine irr abgehackten Worte, ob du denn nicht
auch einmal eine Überweisung haben möchtest.
Überweisung? Wohin denn?, hast du verwirrt
gestammelt.
Na, wohin denn wohl? Zum Neurologen
natürlich!, war er wieder ganz alltäglich.
Du bist erstarrt, stehst da wie angewurzelt.
Er hat einstweilen einen guten Nervenarzt
kennen wollen, der sich auch als Psychotherapeut betätige. Es könne ja nicht
schaden, ist er der Meinung gewesen, bei der Art deiner Verletzung, einen
Nervenarzt aufzusuchen. Wo doch mit Schädelfrakturen nicht zu spaßen sei ...
Du ziehst einigermaßen betroffen ab. Halte in
Zukunft das Maul!, rätst du dir. In dieser ausgesprochen lächerlichen
Zeitgenossenschaft darfst du keinen auf Humor machen wollen. Denn auch darin
hast du anscheinend keinen Ton für ein Publikum. Da hängen sie dir gleich eine
Macke an. In deinem speziellen Fall solltest du bedenken, hast du dir gesagt,
dass das durchaus ein Mittel wäre, dich zum Schweigen zu bringen. Du kommst
dann nämlich nicht wieder in deinen Laden, sondern du landest womöglich in der
Klapse und vermoderst dort und sie pharmazieren dich in die totale
Verrücktheit. Bilde dir ja nicht ein, hast du dich gewarnt, dass du dort so ohne
weiteres wieder herauskommst. Das ist ein ausbruchsicherer Knast, der allein
durch einen Wisch Papier, nämlich deiner Irrschreibung, absolut sicher
verschlossen ist.
Es dauert eine Zeit, bis du dich etwas von
dieser Gedankenqual befreien kannst. Dann schlägst du insgeheim zurück und
erklärst dir diesen sonderbaren Schamanen einfach für irr.
Um dich abzulenken, versuchst du jetzt am
besten, weiter in der Erinnerung zu kramen. Es ist ja nie ausgeschlossen, sagst
du dir, dass man in seinem eigenen Müll etwas Brauchbares findet.
"So
etwas wie ein Erinnerungsprotokoll:
Sie haben dich also
damals nicht zu deinen Kids in die Karibik – oder wo sie sich auch immer
herumgetrieben haben – jetten lassen. Hierbleiben ist angesagt gewesen. Du hast
weiter den Plattfuß machen müssen für ein kaum vorhandenes, jedenfalls sich die
Augen schonendes, nämlich nicht lesendes Publikum. Allerdings hast du auch
wieder Verständnis für die Leute gehabt: Wen jucken schon in der Ferienzeit
weit weg die ollen Kamellen von zu Hause? Aufbruch ist angesagt, auch wenn es
nur bei dieser Stimmung bleibt. Die Leute haben sich schließlich das ganze Jahr
die Bilder vormachen – und sich damit heißmachen lassen. Also weg hier.
Pünktlich zu Sommerbeginn haben alle die Nase voll (du setzt dir den Joke nach:
und nicht nur von ihren Pollenallergien). Woanders so eine Art Sommerfasching
machen.
Die Bildfläche ist
ziemlich geräumt gewesen. Wo keine Akteure, da keine Aktion. Sommerzeit – und
nix is easy! Man hat sich gequält, was irgendwie noch Anmachendes zu verbraten.
Die Schlauen unter uns hatten Eichhörnchen gemacht und haben jetzt wieder aus
der Schublade leben können. Da ist das Tiefgefrorene gelegen: Bizarre Sachen
haben da auferstehen können. Es hat manchmal richtig gespukt. Da ist der
Meppelmann eines Tages mit Gedichten aufgekreuzt. Man hat gelächelt: Gedichte
in der Zeitung, selbst in der unseren, im auslaufenden zwanzigsten Jahrhundert?
Nun gut, ab und zu mal so etwas wie Gebrauchslyrik auf dem Niveau: Werbung
weckt Wünsche. Früher, ja, da hatten sie immer auch richtige Kunst im
Feuilleton gehabt und sich sogar einen Verständigen dafür gehalten. Man hat
jetzt nur hie und da eine Buchbesprechung in Auftrag gegeben – und ist ganz
zufrieden gewesen, wenn wenigstens ein wenig Verriss dabei herauskam. Alles zu
Positive birgt schließlich die Gefahr in sich, als Waschzettel-Niveau
denunziert zu werden. Literatur ist schließlich mit dem Fortsetzungsroman
abgedeckt gewesen. Doch Lyrik? Nein, die würde ja völlig ausbremsen. Meppelmann
hat die Schwierigkeiten nicht gesehen. Dann ist der Bumerang gekommen: Bereits
am nächsten Tag haben sie einen ganzen Waschkorb voll lyrischer Ergüsse in die
Redaktion gebracht. Wir sind dadurch immerhin in den Genuss eines
Aha-Erlebnisses gelangt: Die Dichter unter den Zeitgenossen sind ganz offensichtlich
zu Hause geblieben! Wir haben gelacht und den Segen über Meppelmann ausgekippt.
Einfach drüber.
Dann hat Hartl diese
Betrachtung über liberalistische Tendenzen in Sendungen des bayrischen
Schulfunks aufgetischt. (Lebte mit einer Lehrerin; wir wussten also, wer ihm
die Büchse gespannt hatte.) Hartl hat über drei Spalten sich in einem Ton
ausgelassen, der den erzkatholischen Aktivisten vom Opus Dei mit einiger
Sicherheit ein Halleluja entlockt hat. Zum Ausgleich für diesen
kirchenfreundlichen Seim hast du dann etwas von einer prügelnden Nonne gebracht
(der im Altersheim immer wieder mal die Hand ausgerutscht sein sollte). Und
solche dann doch wiederbelebenden Sachen.
Dann ist der August
vorüber gewesen. Der Laden hat sich wieder gefüllt – mit lauter langen
Gesichtern.
Du hast dich
davongemacht. Für lumpige vierzehn Tage ...
Die so schnell vorbei
gewesen sind, wie das eben vierzehn Urlaubstage so an sich haben. Dann hast
auch du wieder ran sollen.
Jetzt auch du mit
einem langen Gesicht. Man muss, hast du dir gesagt, nach dem Urlaub erst wieder
seine Angelegenheiten – und sich selber sortieren. Die Angelegenheiten um
deinen Auftrag – auch so ein Sortiment. Dein Dauerauftrag.
Spätsommer war es.
Hinschmeißen. Aber
wie wäre das möglich gewesen? Wie hättest du dich diesem Auftrag, den jungen
Leuten aufzulauern, entziehen können? Gut, beim Alten hättest du einfach einen
auf Rückgrat machen und womöglich auch mit der Faust auf den Tisch hauen sollen.
Die Folgen? Ziemlich unkalkulierbar! Solche Leute, die sich quer stellten, hat
man nicht etwa gleich gefeuert. Nein, das nicht, das hätte man gar nicht am
Arbeitsgericht vorbeigekriegt. Als autoritär hat man in unserer viel
besprochenen und in seiner Schreibe selber gerne bemühten Demokratie auch nicht
dastehen wollen. Kritiker sind, besonders wenn ihnen auch ein wenig
Halsstarrigkeit anhaftete, zunächst kaltgestellt und allmählich abgebaut
worden. Sie haben ihnen ganz gerne mal eine Ente untergejubelt, sie mit etwas
auflaufen lassen. Das ging dann alles so lange, bis die Gemobbten (wie man
heute sagen würde) immer mehr geschrumpft sind. Bis sie sozusagen nicht mehr zu
sehen waren. So jemand geht dann in der Regel ganz von alleine – und entsorgt
sich somit als menschliches Wrack selber.
Nein, nein, dieses
dir nicht – nicht dir! Dann doch lieber in einem faulen Frieden leben, warst du
bereit.
Also wieder
auskundschaften, der Vorsatz. Wie du dann auf Tour gewesen bist, hast du eines
Tages etwas beobachten können, das dir zu denken gegeben hat. Einer der
Goldjungen hat beim Verlassen des 'Vierjahreszeiten' den Portier aufgefordert,
ihm Feuer für seine Zigarette zu geben. Dem Mann mochte der Ton missfallen
haben, jedenfalls gab er die Forderung dem Liftboy als Befehl weiter. Der Junge
war sofort mit einem Zündholz zur Stelle, und der Dandy hat das Feuer mit einem
Geldschein an seinen Glimmstängel gebracht. Es ist ein brauner Lappen gewesen.
Dann hat er sich einen Sektkübel kommen lassen. Einstweilen haben sich zwei,
drei aus der Runde hoch vergnügt in die Show eingeklinkt. Sie haben dann das
brennende Geld in den Kübel geworfen und sind gut gelaunt abgezogen –
wohlwissend, was passieren würde: Dass nämlich der Portier sofort mit der
bloßen Hand in die Flamme greifen würde, um den Brand zu löschen und die Reste
der Scheine an sich zu bringen.
Etwas hat dich an der
Szenerie fasziniert. Du hast dann zu Hause den Griff des Portiers nachgespielt.
Als du das dritte Mal in den Kübel mit dem brennenden Papier gegriffen hast, um
zu löschen, und dir wieder die Hände versengt hast, dass es bereits wie in
einer Hufschmiede stank, da ist dir etwas eingefallen. Klar, du hattest doch
vor einiger Zeit in einer Illustrierten etwas Ähnliches gelesen, nämlich dass
akkurat diese Nummer, sich eine Zigarette mit einem Geldschein anzuzünden, von
der Journaille bei irgendeinem Filmstar beobachtet worden war.
Es hat dir sofort
gedämmert: Die Berichterstattung von etwas ist durchaus auch Vorlage für etwas.
Die Verkehrung von Aktion und Berichterstattung vielleicht sogar. Oder der
einfache Nachahmungseffekt. Jedenfalls wandelt sich der Journalist mitunter zum
Autor von Gesellschaftstheater. Das macht doch auch irgendwie stolz?, deine
Frage.
Du hast dir gesagt,
da soll dir noch einer kommen mit schierer Berichterstattung. Dem Volk aufs
Maul schauen, hat man früher schon gewusst. Und du weißt jetzt, bist du
überzeugt gewesen, dass man eigentlich nur bringen soll, was auch irgendwie
verwertbar ist von den Leuten, die sich die Mühe machen, das zu lesen, was du
bringst. Den Gefallen muss man ihnen schon tun. Du hast dir gedacht, dass du
jetzt wüsstest, dass genau das der Ton für das Publikum ist, den du immer so
als deinen Gral gesucht hast.
Jedenfalls bist du in
der Lage gewesen, etwas richtig zu interpretieren, was dir kurze Zeit später
begegnet ist.
Es war bei dieser
Party damals in Bogenhausen, bei dieser Michi, dieser liebeserfahrenen Frau
(mit reichlich Geld, bei allerlei illustren Herren gesammelt). Da hast du einen
weiteren Beleg dafür erhalten, dass die Darstellungen eines Exemplars der
Regenbogenpresse als direkte Vorlage für die theatergemäße Umsetzung gedient
hat. Das hat wiederum eine Vorgeschichte gehabt.
Dir war nämlich
einige Tage zuvor beim Friseur eine Illustrierte in die Hände gekommen, die
mehrere Seiten über ein Fest bedeutender Amüsierzeitgenossen gebracht hatte: Da
war eingangs von einem Duell der Herren die Rede gewesen, die sich zunächst mit
freundlichen Bissigkeiten herauszufordern hatten, und die ihren Zweikampf mit
einem Korkenschießen aus Champagner-Flaschen beenden mussten. Der Getroffene,
quasi Abgeschossene, hatte bekleidet in den Swimmingpool zu springen. Im
zweiten Akt schluckten Damen Perlen; eine Gönnerin hatte ihr Collier geopfert.
Die charmanteste Bemerkung der Herren über Wirkung und Verbleib der Kügelchen
wurde prämiert – insbesondere jene Formulierungen, die sich am witzigsten
ausgenommen und am weitesten an das Problem Verdauungskanal herangereicht
hatten. Schließlich hatte das Blatt darüber berichtet, dass Nashorn-Horn-Pulver
gereicht wurde. Die Akteure hatten das alte fernöstliche Potenzmittel
einzunehmen und einen Stoß von zehn Visitenkarten auszulegen. Wessen Häufchen
nach einer Stunde am kleinsten war – eine unparteiische Person von etwa Achtzig
war als Notar vereidigt –, der hatte die Tage darauf mit dem zahlreichsten
weiblichen Besuch zu rechnen – selbstverständlich äußerst diskret protokolliert
– und sollte zu einem späteren Termin ausgezeichnet werden ...
Siehe da: Du hast,
nur wenig später, bei besagter Runde dort wirklich eine Kopie dieser
Darstellungen der Illustrierten beobachten können. (Bei nämlicher Michi hattest
du dich über die Party-Servicefirma als Kellner fürs Büfett eingeschlichen
gehabt und diese geschäftliche Verbindung dann später auch bei deinen
Spielkindern genutzt!) Es konnte ja sein, dass es für dein Lustvölkchen noch
andere Pfade der Kommunikation gegeben hat. Aber du bist dir jetzt sicher
gewesen, dass sie mindestens das eine oder andere aus den Darstellungen der
Klatschblätter richtiggehend als Vorlage für sich benutzt und den ganzen Irrsinn
nachgestellt, nachgeahmt und abgekupfert haben.
Du hast schließlich
bilanzieren können und deine Entdeckung als einen Ertrag einstufen dürfen, als
Erfolg. Du hast dich, wenigstens für eine Weile, gutgefühlt.
Das hat allerdings
nicht lange angehalten.
Du musst dir doch
irgendwie zu schade sein, hast du dir gesagt, derlei Aufführungen wohlstands-verwahrloster
Meuten auch noch zu verbreiten. Soll das der Ton für dein Publikum sein?
Da rührt sich dann
doch irgendwo im Innern das journalistische Gewissen, bist du dir sicher
gewesen.
Plötzlich durchfährt
es dich wie ein Blitz: Die Sache um die Recherche musst du ganz anders angehen!
Vielleicht solltest du doch versuchen, hast du dir vorgehalten, aus diesem
Material etwas für dich zu machen. Irgendwie ist es nämlich auch wieder zu
schade, um im Archiv zu verstauben. Allein wegen der vielen Arbeit, die du bis
jetzt hineingesteckt hast. Dein ganzer Idealismus, der da schon drinnen steckt!
Auch wenn es nur zu
so etwas wie zu einer Seifenoper taugte, müsste man es nutzen. Freilich, man
hat seine Anschauung, die sich im Laufe der Zeit schon mal zu Gesinnung und
Moral auswächst. Aber man muss auch sehen, wo man bleibt – oder dass man
überhaupt erst einmal wird. Ein Drehbuch für eine Seifenoper. Der Traum von
einer Serie im Fernsehen!, ist dir durch den Kopf gegangen. Gleich Serie? Wenn
schon Mist, dann gleich mehrere Fuhren davon, damit es auch richtig wirkt. 'Wo Mistus
/ da Christus!', hatten die alten Deutschen schon auch mal gedichtet. Du hast
eine Weile weiter gekalauert. Da ist Segen, wo Mist ist, und da wird Geld, wo fäkalisch
gekarrt wird. Mit deinem Stoff würdest du allerdings dann diese Häschen und
Rammler den breiten Zuschauermassen zur Wonne ihre Show abziehen lassen. Diese
Monstren aus einer klatschpresseernannten Highsociety und diese VIP-Idioten,
diese aufgeplusterten Very-important-People ... Man müsste natürlich aufzeigen,
wie diese auf alles scharfen Wichtigtuer ins volle Leben grapschen, wie sie
sich verlustieren und sich auch in der größten Dummheit noch überaus ernst
nehmen. Und solche Sachen. Nämlich die Unmoral aufzeigen, um vielleicht sogar
zur Moral zu führen. Deine Arbeit als moralische Anstalt: Hoch im Idealismus
angesiedelt, bei Schiller & Co. Du lieber Himmel – so weit zurück!
Man kommt
gelegentlich ins Schwärmen, wenn man zu den eigenen, häufig durch das
Alltägliche verdeckten Hintergründen vorstößt und sich einem die eigenen Motive
auftun: Mein Gott, die Welt verändern. Oder wenigstens mitgestalten mit seiner
Arbeit, indem man die Welt aufzeigt. Genau damit ist man doch angetreten. Wie
lang ist das her? Alle aus ihrer Dummheit und Dumpfheit reißen, das ist deine
und deinesgleichen verdammte Aufgabe und Pflicht und so weiter in dieser
unserer Gesellschaft des in seinen letzten Jahrzehnten liegenden zwanzigsten
Jahrhunderts: die Information als ein geistiges Grundnahrungsmittel.
Aber dann hast du
auch wieder die Gefahren gesehen. Alles, was du da in letzter Zeit bei diesen
Leuten beobachten konntest, in Szenen verpackt und illustriert zu wissen? Was
ja der artige Zeitgenosse eigentlich nur im Kopf haben darf und unter der
Käseglocke seiner Bravheit halten muss. Dieser Mitmensch, der sich zwar als
pantoffelschlurfender Spanner via TV mit seiner Freimachshow Tutti-Frutti,
seinem Jodeln aus der Lederhose und dem ganzen Fleischmarkt auch irgendwie
befriedigt. Jedoch sollte er, der Spießer (dein Freund und Kunde – da du
glaubst, jetzt den Ton für ihn gefunden zu haben), dieses nicht eigentlich mit
deiner Unterstützung tun können? Dazu bist du dir dann doch zu schade und
endlich auch wieder zu sehr auf der Linie des Hauses, dem du angehörst. (Auch
wenn man darüber in der Kollegenrunde gelacht hat und wenn es stark nach Bullshit
gerochen hat: Irgendwo hat ja der Alte immer auch ein wenig Recht gehabt mit
seiner Leier da von der Ästhetik und den ganzen Zusammenhängen.)
Du hast dann diese
Höhenflüge sein lassen und dich doch wieder mit deinem Auftrag begnügen und
nüchtern, sachlich und zurückhaltend sein wollen. Zumal das Ziel so ziemlich
erreicht gewesen ist: Die Archivreife des Stoffes hat dir im Grunde ja
vorgelegen.
Obwohl also gar kein
Anlass mehr bestanden hat, weitere Recherchen anzustellen, hast du dich noch einmal
am Tatort, wenn man so sagen kann, herumgetrieben. Vielleicht nur aus purer
Gewohnheit oder auch zum Abgewöhnen oder – aber das würdest du natürlich
niemandem gestehen – weil von dieser Gesellschaft doch ein gewisser Reiz
ausgeht.
Aber sieh an, was ist dir da begegnet?"
Du schreibst ja wie in einer Prüfung, so auf
Zeit. Wo du doch genug davon hast. Dein Schreiben. Wandern im Dschungel deiner
Erinnerung. Mit den paar lichten Stellen. Wo es doch ganz ungewiss ist, ob man
im Dschungel wandern kann. Bei den Gefahren dort, wo es in Wirklichkeit ums
Fressen und Gefressenwerden geht. Wenn du denkst, dass die Erinnerungen an
deiner Existenz nagen, dich auffressen. Eine verquere Vorstellung, das ...
Vielleicht suchst du sogar dieses Ich noch,
das dich gelegentlich anspricht. Und weißt es gar nicht richtig? Doch was weiß
man denn richtig? Wenn du so überlegst, dann irrlichtert es dir. Die Sache da
mit den Spielchen der reichen Leute, die du beobachtet haben willst. Oder die
du nachgeahmt gesehen haben willst. Du bist dir im Augenblick ja gar nicht mehr
so ganz sicher. Das Problem mit der in Wirklichkeit kaum fassbaren, stets
schier glitschig entgleitenden Wirklichkeit überkommt dich immer wieder. Ob
etwas bereits seinen Platz dort in der Wahrheit behaupten kann, der ganze Wust,
wenn es auch bloß wahrscheinlich ist. Unserem kleinen Verstand setzt der Zank
mit den Dingen zu. Der kleine Mann hat eben nicht den Eierkopf für die
Philosophie. Du an deiner Stelle solltest ja auch den Weg zum Publikum pflegen.
Den Ton für die Leute. Die Letter für das Lesepublikum.
Du glotzt müde ins Leere. Justament da kreuzt dir in der Erinnerung
Karl auf. Das hältst du fest:
"Es
ist an einem lauen Abend im Frühsommer gewesen, so ein Föhnabend, an dem man
nicht zur Ruhe kommt. Wochenende dazu. Dieser Segelklub am Starnberger See
dann. Du hast dir (heute rückblickend, vermutlich aus journalistischem Instinkt
heraus) Einlass verschafft. Auf die linke Tour, versteht sich, denn anders hat
unsereiner keine Chance, dort zu landen. Das hat deiner Firma einen
Spesen-Blauen wert sein müssen. Bei einem Cognac, nebst einer Flasche Weißwein,
hast du dann wieder deinem exzentrischen Grüppchen zugesehen (mit Cognac die
Zunge zu befeuchten, bevor du den Weißwein getrunken hast, hat dir immer einen
ganz intensiven Geschmack gebracht). Zwei Girls hatten sich neue Modelle
zugelegt. Wie man dir (wieder nach sattem Bakschisch) anvertraut hat, waren die
Neuerwerbungen zwei Gespielen von außerhalb der Clique. Gleich zwei auf einmal,
hast du dir gesagt, das ist, wenn auch nicht relevant für deine ohnedies
beendete Ermittlung, so doch möglicherweise ziemlich amüsant. Die würden
eventuell wieder so eine Show abziehen, um sich gegenseitig ein bisschen hochzupowern.
Du hast dann auch bald gesehen, dass die beiden Newcomer gutaussehende,
sportliche Typen und sogar ihren ersten verbalen Absonderungen nach mit etwas
Intelligenz ausgestattet waren.
Im Grunde sind es allerdings auch wieder Dressman-Typen
gewesen. Diesmal vielleicht aus der Universität gefischt, nachdem man
vermutlich den studentischen Job-Vermittlungsdienst bemüht hatte. Du hast noch
mitgekriegt, dass der eine auf Medizin gemacht hat und mit dem Studium fast
fertig gewesen ist.
Du hast dir noch eine
Zigarette angezündet (keine von den Selbstgedrehten, denn da hätte man
geschnuppert, die Nase gerümpft und dich gefeuert) und den Wölkchen
nachgeglotzt. Da ist der Jungmediziner zu hören gewesen. Du hast mitgekriegt,
dass Vater auch schon ... und er würde natürlich die Praxis kriegen. Er wolle
aber die Leute, die sich bei ihm etwa nur auf Krankenschein behandeln lassen
wollten, flugs zu den Kollegen schicken. Denn die wollten ja auch von etwas
leben. Er hat das so scharmant, jedenfalls ohne auch nur einen Funken von
Zynismus und Habgier darin aufscheinen zu lassen dargestellt, dass es ihm
niemand hätte übelnehmen können.
Vielleicht ein netter
Junge, dieser angehende Modearzt. Allerdings hast du gehofft, auch ein
richtiges Original in diesem Kreis hier zu erleben ...
Du bist dann bereits
in Aufbruchstimmung gewesen und hast die Rechnung verlangt.
Du hast gerade deine
Zigaretten weggesteckt. Plötzlich vernahmst du ein vielstimmiges, zu deinem
Erstaunen beinahe gleichzeitig einsetzendes Hallo vom anderen Ende des Lokals
her. Du hast aufgehorcht und abgewartet, was da sein konnte. Das aufgekratzte
Hallo ging allmählich in das gewohnte lässige Hey über, vereinzelt ist das
heimatliche Grüß-dich zu hören gewesen. Es schien jemand von Bedeutung
aufgekreuzt zu sein. Dem geräuschlichen Aufwand der ganzen Meute nach zu
schließen, war ein Star aufgetreten, ein Hauptakteur. Eine Stütze jedenfalls
dieser nach Ereignissen hungrigen, eben noch etwas abgeschlafften Schar. Der
Retter des Abends musste also erschienen sein, ein Muntermacher, ein Aufreißer
vielleicht sogar. Auch du bist wieder voll auf Empfang gewesen und hast die
Ohren gespitzt. Klar, ein männliches Wesen, hast du herausgefunden. Dieser Kerl
ist jedoch immer noch nicht in deinem Gesichtsfeld aufgetaucht, auch konntest
du kaum hören, was er denn an Mitteilung so von sich gegeben hat.
Donnerwetter, vielleicht haben sie da mal einen etwas
leiseren, verhalteneren Spielgefährten. Du hast dich gewundert. Ein ruhigerer
Mensch hier, Donnerwetter. Möglicherweise auch kein Schwätzer. Respekt! Woher
mag dann seine Anziehungskraft rühren?
Allmählich hat sich
die Schar doch wieder beruhigen können. Was dieser Mensch von sich gab, ist
ganz offensichtlich von großer Wirkung gewesen: Bei seinem knappen Vortrag hat
immer angespannte Aufmerksamkeit geherrscht. (Vielleicht ist sein Trick dabei
gerade der verhaltene Ton gewesen?) Wie auf Kommando füllte sich dann der Raum
immer mit vielstimmigem Geräusch, aus dem Zurufe erklangen und Lachsalven
hervorgeschmettert wurden. Dann für kurze Zeit auch wieder schäkerige
Konversation. Wieder sein Vortrag ... Dieses Wechselspiel ist eine Weile so
gegangen. Für dich ist es auch ganz lustig gewesen, dieses quasi nur
Geräuschhörspiel mitzuerleben. Ein wenig durch den Wein und seinen gebrannten
Verwandten betütert, hast du dich für eine Weile in diesen Schallcocktail fallen
lassen. Du warst allerdings gespannt, was da für eine tolle Figur herumweste
und welch ein Guru angenehmen Zeitvertreibs irgendwann mal endlich durch
deinen Nebel schreiten würde.
Du hast dich
jedenfalls wieder aufs Bleiben eingerichtet und noch einmal Cognac bestellt.
Deine Aufmerksamkeit
ist bei der Szene gewesen. Wenn dir dieser Supertyp dort hinter der Ecke nicht
durch sein Zutun ins Blickfeld kommt, hast du dir vorgenommen, dann bleibt dir
nichts anderes übrig, als deinen Platz zu wechseln.
Der Ober hat dir dann
den Cognac so unsanft, wie es Glas und Inhalt gerade noch erlaubte, hingestellt
und sich bei dir als sehr verehrten Herrn spitz erkundigt, ob er denn gleich
kassieren dürfe. Es hat wie 'Geld-her!', geklungen. Du hast ihm einen Zehner
mit der flachen Hand auf den Tisch geklatscht, ohne ihn eines Blickes zu
würdigen.
Im gleichen Moment
veränderte sich die Szene am anderen Ende des Raumes. Dieser Star ist jetzt in
dein Blickfeld geraten: Aha, sportlich straffes Fleisch hat da in einem modisch
saloppen Anzug gesteckt (und du mit deinen Jahresringen um den Bauch und deiner
Kluft wie aus der Kleidersammlung); das sportlich gebräunte Gesicht von vollem,
mittellangem Haar umflossen – umhangen – oder wie man das nennen soll ... Wenn
er nicht zu dieser versauten Brut da gehören würde, dann müsste dich der
aussichtslose Vergleich mit ihm in eine tiefe Traurigkeit über das eigene Outfit
stürzen – aber so ... Da riss es dich jäh aus dieser Betrachtung. Das hat doch
nicht wahr sein dürfen! Den Adonis dort hast du doch gekannt: freilich, Karl!
Da ist tatsächlich Karl gestanden! Klar, Karl Mentenheim war da.
Im Augenblick hat
etwas Ruhe geherrscht. Eine Wohltat. Die Schar hat sich nach der Aufregung
etwas entspannen müssen.
Karl aber ist lässig, die Linke in der Hosentasche, von Tisch
zu Tisch geschlendert, ist stehen geblieben, hat sich hinabgebeugt: Ein
hingehauchtes Wangenküsschen dem Girl (den beiden älteren Semestern, die heute
dazwischengeraten waren, hat er einen Handkuss serviert); ein kaum merkliches
Kopfnicken, aus dem heraus er den Rest mit einem Augenzwinkern wohl der alten
Freundschaft versichert hat. Das ging eine Weile so, und du hast wie gebannt
zugesehen. Inzwischen ist man wieder von den Stühlen gewesen und erneut durcheinandergewirbelt.
Du hast den Tisch gewechselt, um Karl nicht aus den Augen zu verlieren. Von
deinem neuen Beobachtungsposten aus hast du auch akustisch wesentlich mehr
mitbekommen. Einige haben Karl kurze Infos zugeworfen, allem Anschein nach
Mitteilungen aus der Zeit seiner Abwesenheit. Er hat nur jeweils ein paar Worte
Kommentar dazu abgegeben, wie du ihn ja gekannt hast: Betont trocken gehalten,
hie und da etwas mit Witz garniert, stets bemüht, nichts auszulassen, aber auch
in nichts tiefer einzusteigen. Freilich hatte er dich bemerkt und dir das sogar
mit einem kaum merklichen Kopfnicken auch zu verstehen gegeben. Doch es stand
aus den gegebenen Umständen überhaupt nichts dafür, dass wir uns etwa offen
begrüßt hätten. Wenn du jetzt nur daran denkst, dass du absolut underdressed
warst. Als er sich dann in die andere Richtung durch die Tischreihen scharmiert
und sich allmählich von dir entfernt hat, haben sich seine Worte für dich auch
verloren. Du hast Karl allmählich wie einen Pantomimen betrachten und sein
Gebärdenspiel mit deiner eigenen Vorstellung unterlegen können. Das ist allerdings
einigermaßen anstrengend gewesen. In deinem schon leicht benebelten Hirn haben
plötzlich Gestalten ihr Wesen getrieben. Die Fantasie ist dir immer wieder durchgegangen.
Sie hüpfte dir von der Figur eines Kavaliers der höfischen Zeit zu dessen
geleckten Nachfahren in der Operette bis zum pickeligen Tanzstundenklischee. Du
hast dich nicht festlegen können, welche Rolle nun Karl in seiner
augenblicklichen Aktion am nächsten gekommen wäre."
Du musst jetzt den Stift weglegen. Doch diese
Szene lässt dich nicht los: Es ist dir heute, wo du das niederschreibst,
irgendwie verständlich, warum dir Karl damals in deinen Vorstellungen so
missraten war. Es war wohl ein wenig Eifersucht, weil er sich von dir wegbewegt
hatte. Was dann vielleicht auch eine Ahnung von seinem wahren Charakter
aufkommen ließ. Vielleicht warst du dir bei der Rollenzuteilung auch deswegen
nicht ganz im Klaren, weil da in deinem fantastischen Sortiment noch etwas
gefehlt hatte. Du hättest dir auch den Hecht im Karpfenteich für Karl ausdenken
können, vielleicht treffender den im Goldfischteich.
Heute weißt du jedenfalls mehr. Du erlaubst
dir die kleine Weisheit, dass dazu das Heute ja auch da ist, dass man mehr
weiß. Solcher Art simpler Erkenntnis baut dich jetzt auch wieder auf, so dass
du weiter notieren kannst.
"Da,
wieder ein Blick von Karl zu dir herüber! Er hat sich fast am anderen Ende des
Raums befunden. Du hast jetzt schon zuwinken wollen. Etwas Erstaunen war jedenfalls
in seinen Zügen und so ein Anflug wie: Du immer noch hier? Vielleicht wunderte
er sich, dass du dich nicht mit dem ersten Blickkontakt begnügt hast und sofort
danach verduftet bist. Vielleicht hegte er Bedenken, dass du ihn nun sogar mit
einer Begrüßung, einem Auftritt in seiner Runde behelligen würdest?
Karl hat sich gleich
zu einem Bussi abwenden müssen, weil eine von den Süßen an seinem Jackett
gezupft hatte.
Was hätte er mit dir
auch anfangen sollen?, hast du ihn entschuldigt.
Am Ende ist die Welle
der Begeisterung an der Bar gebrandet. Du bist noch eine Zeit lang dagesessen
hinter deinem soundsovielten Glas mit der auch nicht mehr gezählten Zigarette.
Du hast Karl zugutegehalten, wie er seine mit Sicherheit knapp bemessene Freizeit
angemessen auszufüllen bemüht sein musste ... Wie er im schicken, versteht
sich, Sportwagen zwischen München, dem Starnberger See und Garmisch zu pendeln
gezwungen sein konnte, um außer Business vielleicht ein bisschen was vom Leben
sonst noch mitzubekommen, wenn nicht genügend Zeit war, irgendwohin ergiebiger
ins Vergnügen zu jetten. Denn für dich hat er zu dieser Sorte Geldarbeitstieren
gehört, wie man sie heute gerne bestaunt. Du hast ihn dir eben in der ganzen Zeitmaläse
eines Jungmanagers befindlich vorgestellt. Wie du dir für ihn auch ohne weiteres,
trotz seiner satten Dreißig, jede Menge flotter Bräute hast denken können. Und
so weiter. Aber diese Gesellschaft hier hat dich an Karl doch etwas irritiert.
Wie ein Kerl wie Karl so unter seinem geistigen Niveau verkehren könne.
So hast du dich denn,
am Ende doch die Schnauze von diesem Circus hier voll, davongemacht.
Am nächsten Tag ist
allerdings das Projekt Promi-Kids zu deinem eigenen Erstaunen wieder voll da
gewesen. Beim Frühstücken bereits. Du hast deinen Raucherhusten über den Tisch
gebellt – und dich über dich selber gewundert. Diese Truppe ist nämlich durch
das Auftauchen von Karl für dich wieder – oder überhaupt erst so richtig – von
Interesse gewesen. Nicht etwa, dass dir das Ansehen dieser Leute gleich
aufpoliert gewesen wäre. Du hattest da bereits zu viel gesehen. Und deine
Meinung schien einigermaßen gefestigt. (In deinem Urteil hast du dich ja immer
nach außen zurückgehalten. Du brauchtest dich nämlich nur zu erinnern, wie der Kollege
Möller über solche Leute hergezogen war: Du hattest ihm doch etliche von den aufwändigen
Spielchen dieses Lustzirkels geschildert. Konservativer Typ, der Möller,
praktizierender Katholik, wie er sich selber bezeichnete. Möller hatte sich
enorm aufgeregt und zu hetzen angefangen und sich zu dem jedenfalls für seine
Verhältnisse verblüffenden Schluss gesteigert: Man müsse sogar Verständnis
dafür aufbringen, dass Menschen sich Marx und Engels an den Hals würfen, und
zwar aus schierem Ekel vor solch kapitalistischer Wohlstandsverwahrlosung. Der
Möller hatte dich allerdings gleich am nächsten Tag inständig gebeten, diesen
seinen gewagten Ausspruch, wenn du ihn schon unfairer Weise weiterverwenden
würdest, um Himmels willen nicht mit seiner, Möllers, Urheberschaft zu
belegen.)
Dein Dauerbrenner
jedenfalls ist dir wieder aufgeflammt. Jetzt allerdings vorzugsweise mit Blick
auf Karl. Du hast den Entschluss gefasst, seinen Part in dieser Clique
auszumachen, in der er für dich vollkommen überraschend aufgetaucht war. Du
hast überhaupt wissen wollen, wie der Bursche da reingekommen war. Aber du hast
dir aus Gründen der Fairness und der Objektivität vorgenommen, jeglichen
persönlichen Kontakt zu Karl zu vermeiden. Wenn du dich schon zu Karl
vorarbeitest, hast du dir vorgenommen, dann doch mit Stil.
So hat es also wieder
mit der Ochsentour begonnen, mit eingrenzenden Erkundungen, wie du es immer genannt
hast. Immer noch besser herumzuschnüffeln, hast du dich getröstet, als im
Archiv zu wühlen. Es wäre natürlich einfacher gewesen, bei den Erkundigungen
direkt als Presse aufzutreten. (Man zapft damit die Leute ziemlich problemlos
an. Die meisten sind nämlich erpicht drauf, alles was sie von sich geben,
weiter ausgestreut zu sehen.) Du hast es dir jedoch nicht so einfach machen
wollen, Karls wegen. Als alter Schulfreund hat er dir den Aufwand wert sein
müssen. Du hast also diskret (mittlerweile hast du dich mit diesem Begriff
versöhnt gehabt) zu arbeiten begonnen."
Du machst jetzt wieder Pause. Aber während
du dann was futterst, überlegst du, wie deine Notizen weitergehen sollen: Du
hast zwar bald um das persönliche Verhältnis von Karl zum Inhaber von dem
Autohaus gewusst, aus dem er seinen Wagen hatte. Hast ja tatsächlich lange
überlegt, ob dort zuerst anzusetzen wäre. Weil ein Auto ja Charakter markiert
und Bewusstsein von dem Typ bringt, der sich mit dem Ding umgibt. Habe Kaufinteresse
an einem Gebrauchten vorgegeben. Standen einige rum von Karl, weil er die Dampfer
jedes Jahr wechselte – wechseln ließ. Da müsste doch Freude aufkommen beim
Händler, hast du dir gedacht. Weil es für die sündteuren Kisten bestimmt nur
eine sehr dünne Käuferschicht gibt. Klar, Mensch: Sechs Liter Hub versteuern
und einige hundert Pferdestärken versichern – und für den Aberwitz hundert
Mille und mehr hinblättern.
Jetzt hier: ‘nen Teller warme Suppe! Die
Schnitte Brot hat nicht vergeben.
Wie du auch aussiehst! In der Scheibe. In
einen Spiegel willst du gar nicht sehen. Um Gottes willen, wie ein Penner!
An die Klosterpforte gehen und um eine warme
Suppe betteln. Wo es überhaupt noch Klöster gibt? Dann dort sitzen und die
Plörre schlürfen. Die Klöster leeren sich. Immer mehr geben auf, wegen des
Mangels an Nachwuchs. So ist unsere Gesellschaft. Na ja, schau dich an – wie
lang ist es her, dass du dich wenigstens mal in eine Kirche verlaufen hast?
Was hatten wir das damals ... ach ja, in
unserm klösterlichen Kasten ... Was hatte man diese abgerissenen Kerle, die da
an der Pforte um eine warme Suppe gebettelt hatten, immer mit Neugier
betrachtet. Was für Menschen – ob es überhaupt Menschen sind, blödelte man.
Wenn es Menschen sind, dann eben welche aus einer anderen Welt, hatte man sich
gedacht. Als Karl dann da war, da hatte man das schon eingeordnet gehabt in
seine Anschauung von Welt. Man hatte diese wandelnden Vogelscheuchen in seinem Jungspießertum
abgrundtief verachtet.
Wie du jetzt so die warme Blechbüchse in der
Hand hast, da überkommt es dich tatsächlich. Wäre das was? In eine – in diese
andere Welt abdriften. Ein paar Tage, Wochen vielleicht nur. Aber immerhin eine
Möglichkeit, die du dir offenhalten willst ...
Oder in ein Kloster. Da
bieten sie jetzt so was wie Mönch auf Zeit an. Mensch, eine Option! – Wenn sich
auch nur ein Funke nötiger Gesinnung dazu einfindet wollte ...
Nun etwas von dem Futter aus der Büchse reingeschaufelt.
Dabei wieder Karls Auto im Kopf. Da hätte sich beim Händler ein Gespräch über
Karl einfädeln lassen sollen. Als du dich dann in Schale geworfen und dich so
im Spiegel betrachtet hattest, da sind dir Zweifel gekommen: Einem, der so
aussieht ... – das war doch der vor zehn Jahren gekaufte Anzug gewesen, der da
an dir hing. Nein, so einem glaubt man die hundert Mille für den bulligen
Schnickschnack auf vier Rädern nicht.
Aber dich haben ja die Klamotten gereizt, du
Penner! – Die Jacke hast du jetzt noch immer mal an. Deine Begabung musst du
schon mal ausmachen für den Trebegang ...
Du hast den Plan mit dem
Autolink verworfen. Obwohl du dir noch so einen Gag ausgedacht hattest:
Kaufinteresse an mehreren von diesen kleinen Omnibussen bekunden. Und zwar
zwecks Ostexporten, wo sie angeblich nach dem West-Abfall lechzen. Aber du
hast dir gesagt, dass das nicht ziehen würde. Ostexporte dieser Marke werden
heutzutage, hast du dir gekalauert, in der Regel nicht gekauft, sondern
sozusagen bargeldlos beschafft. Das hast du allerdings selber gar nicht
belachen können, so abgegriffen, wie es war. So ein Polenwitz, wie sie heute
immer noch auf Welle sind. Du lenkst dich besser ab:
"Dir
ist schließlich der Zufall zu Hilfe gekommen: Ein Studienkollege von Karl hat
sich ausfindig machen lassen. Man hat sich am Hauptbahnhof getroffen. Zuerst
habt ihr eine Currywurst verdrückt, denn dieser Mensch hat blass und hungrig
ausgesehen. Dabei – wie es der volle Mund eben zugelassen hat – habt ihr über
die vielen Türken dort gesprochen und die Ausländer überhaupt und wo das noch
hinführen soll – und solche Sachen, die kein Ende (allerdings auch nicht viel
Sinn) haben. Beim zweiten Bier seid ihr dann zur Sache gekommen: Karl hatte
seinen Dipl. Ing. in Maschinenbau gemacht und einen Doktor draufgesetzt, ist wegen
guten Examens zeitig in der Chefetage gelandet – allerdings seien (sicher
schwer zu ermittelnde) gute Beziehungen nicht unbedingt auszuschließen ...
Bon, das hat sich
bereits gut angehört. Beinahe ein Glücksfall, gerade auch wegen dieser schwer
zu ermittelnden Beziehungen. Derer du dich natürlich mit Elan annehmen wolltest
(so verrückt oder idealistisch bist du ja immer gewesen). Obendrein versteckt
sich der dicke Hund, der die fette Schlagzeile ausscheidet, oft hinter so etwas
mit einem Touch, der Ahnungen in alle Richtungen zulässt. Dazu hatte dir dieser
Mensch den Weg zu anderen Informanten weisen können. Der gute Mann war immer
redseliger geworden, doch er hatte etwas schwer zu verkraftendes Scharfes im
Unterton gehabt. Aber du konntest Verständnis für seinen Frust aufbringen. Hattest
du ihm doch abgenommen, dass er über mindestens ebenso gute Abschlüsse wie Karl
verfügte, jedoch immer irgendwo hängengeblieben war, und zwar genau dann, wenn
dieser Bastard von Mentenheim (wie er sich ausdrückte) sich in der Nähe seiner
Laufbahn herumgetrieben und ihm was vor der Nase weggeschnappt hatte: zuerst
den Doktorvater, hernach die Stelle als Oberingenieur. Er schloss damit, dass
er diesen Mentenheim einen ganz verfluchten Überholer mit ausgebuffter Ellenbogentechnik
nannte. Für dich war das allerdings lediglich der nun mal immer vorhandene
Gestank über dem Mitteilungskäse gewesen und hatte das Bild von Karl kaum
beeinflussen, zumindest zunächst nicht negativ verändern können. (Je besser der
Käse, hattest du dir bei deinen Recherchen immer schon gesagt, desto strenger
auch sein Geruch.)
Diese Infos von dem
verhärmten Kerl haben dich immerhin nur seine Zeche gekostet.
Du bist dann in der
Angelegenheit wieder einige Zeit umhergezogen und hast Eindrücke eingeholt –
beinahe Rosinen im Einheitsbrei von Verkehrsunfällen, Offiziellenhickhacks,
Eröffnungen und und ... Nach ein paar Monaten hast du allerdings ein retuschiertes
Bild von Karl gehabt: Er ist als der angenehme Zeitgenosse angesehen gewesen,
als den du ihn von der Schule her bereits kanntest. Wenn Karl irgendwo
aufgetreten ist, hat man ihn auch sofort zur Kenntnis genommen. Die aus den
erworbenen Titeln und seiner Stellung möglichen Verzierungen um Namen und
Person haben etwas dargestellt, das nur sein Sekretariat in dienstlichen
Angelegenheiten zu verwenden befugt gewesen ist. Karl hat sich, was in seinen
Kreisen schier nicht zu vermeiden war, im Tennis- und Segelsport betätigt, auch
Golf gehörte dazu. Er hat es jedoch mit einer der Verpflichtung gerade noch
gerecht werdenden, hinwiederum charmanten Nachlässigkeit betrieben. Karl hat
Interesse an moderner Malerei gezeigt – und gleichfalls einen Hang zu kurzen,
heftigen Vergnügungen und harten Getränken. Alles musste immer erlesen und von
bester Qualität sein.
Hübsche Wolke, auf
der Karl da wieder geschwebt ist (oder die ihn da umgeben hat, so wie: Adonis
in Schlagrahm, leistest du dir heute noch). Du musst dir eingestehen, dass dich
das doch enorm beeindruckt hat. Das hat sicherlich auch dazu beigetragen, dich
allmählich um eine andere Betrachtungsweise der dir zur Beobachtung
anvertrauten Gruppe zu bemühen. Durchaus Karls wegen! Am Ende bist du
tatsächlich in die Lage gewesen, eine völlig neue Sicht der Dinge zu gewinnen!
Es hat dir nämlich eingeleuchtet, dass es ja durchaus hat sein können, dass
diese Gruppe gar nicht die Zusammenrottung vermögender Müßiggänger gewesen ist,
als die sie dir immer erschienen war. Dass es sich vielleicht gar nicht um die
Rotte Schweine gehandelt hat, für die du die jungen Leute gehalten hattest, die
sich immer in goldenen Koben inszenieren musste. Du hast immerhin der Ansicht
nähertreten können, dass sich diese jungen Leute möglicherweise unter so etwas
wie einem Joch gehobener bürgerlicher Anstrengungen bewegt und gemüht haben.
Diese Jugend ist womöglich auch hin und wieder zwischen Erfolg und Misserfolg
ihrer Unternehmungen gependelt – und ist unter Umständen den gleichen Umständen
unterworfen gewesen wie gewöhnlicher Leute Kinder. Nämlich ohne dass da ständig
schützende Hände oben drüber und unten drunter gehalten worden sind. Es ist dir
dann als durchaus möglich erschienen, dass du dich vordem auch in der Annahme
getäuscht hattest, dass es sich bei dieser Vereinigung um eine Häufung von mit
Geld zugedeckter Dummheit handelte und um eine Ballung von Schwachsinn, der aus
vielen Quellen sprudelte – aber auch aus vielen Quellen subventioniert wurde.
Karl ist dir damals
als so etwas wie ein Bürge dafür gutgestanden, dass diese veränderte Anschauung
ihre Bestätigung in der Wirklichkeit besaß.
Du hast dich auf
Grund dieser Einstellung dann doch immer wieder dazu durchringen können, das
positive Beispiel zu suchen. Das ist deiner Arbeit auch in anderen Dingen sehr zustattengekommen,
da ja der Leser doch eher diesen versöhnenden, bisweilen erhebenden Zwischenton
bevorzugt in seiner sich so häufig garstig gebenden Welt."
Den Stift weggelegt.
Wo du das jetzt überliest. So ein Wandel zum
Positiv-Denken hin, dem Hort des Seelenfriedens. Man glaubt es kaum, wozu man
doch fähig ist. Daher weiter:
"Karls
Haushälterin oder Haussekretärin ist anzuzapfen – und so freundlich gewesen,
ohne Umschweife einen Blick in seinen Terminkalender zu werfen. (Du hast dich
am Telefon für seinen Anwalt Dr. Mühlportner ausgegeben und zur Absicherung
dieser Behauptung eigentlich noch etwas von einem Immobilienvertrag andeuten
wollen, der deiner Erkundung nach von Karl bei der Kanzlei tatsächlich in Gang
war. Aber die gute Seele ist bereits bei 'Anwalt' fühlbar innerlich
strammgestanden, so dass du nicht noch weiter lügen hast müssen.)
Es hat sich richten
lassen, Karl in Dachau aufzulauern. Wie rein zufällig hat es aussehen sollen.
Du bist dann auf ihn zugegangen, nachdem er seinen dicken Schlitten eingeparkt
und gerade den Schlag geöffnet hatte.
Hallo, wie geht's!
Sieh an, Tom, altes
Haus!
Er ist ausgestiegen.
Zeit hat er haben
müssen, laut ausgespähten Terminkalenders. Nur hast du natürlich nicht wissen
können, ob er sich diese für dich auch nehmen würde.
Wie geht's, Tom?
Man lebt!
Ein bisschen wenig,
finde ich! Aber der gute Tom ist bescheiden wie stets!
Es hat geklappt: Ihr
seid ein wenig durch die Stadt spaziert. Dann ist da ein Wochenmarkt gewesen
und ihr seid zwischen den Buden umhergeschlendert, in denen Obst und Gemüse
feilgeboten wurde. Beim Türken seid ihr etwas länger geblieben, und ihr habt
die vielen Köstlichkeiten bestaunt: Oliven, Käse und Paprika in Gewürzöl
eingelegt, Gehänge von Knoblauchknollen und Zwiebeln ... – ein Hauch Orient.
Im Getriebe, das vor
dem Stand geherrscht hat, seid ihr hin- und hergeschubst worden. Du hast im
Geschiebe versucht, ein paar Berufsschnurren abzusetzen. Vom Umgang mit der
Eitelkeit der Leute und der Betulichkeit der Politiker. Karl hat lächelnd
zugehört, soweit es eben in dem Gedränge möglich gewesen ist. Hausfrauen mit
prallen Taschen und Beuteln. Sie haben euch vorwurfsvoll angeschaut, weil sie
Mühe hatten, an euch vorbeizukommen.
Wohl noch den Orient
in der Nase, wollte Karl wissen, ob du schon einmal in der Türkei warst. Du
hast verneinen müssen – und schon sagen wollen, dass es ja sehr preiswert sei,
hast dir das jedoch verkniffen. Während du noch nachgedacht hast, hat Karl
berichtet, dass er letztes Jahr im 'wilden' Kurdistan war.
Aha, Karl May!, hast
du gesagt ... 'Durchs wilde Kurdistan', diesen Schinken hatten wir alle
gelesen, damals! Karl lächelte nur und war gleich wieder bei seinen hohen
Bergen und tiefen Tälern – und bei großen Herausforderungen. Sein Bericht vor
der Türkenbude hat ihn in ferne Städte geführt, zu fremden, doch zumeist
freundlichen Menschen und überaus bunten orientalischen Märkten ...
Ihr seid immer noch
vor der türkischen Bude gestanden, seine Schilderung hat dir ja beinahe einen
fantastischen Basar aufgetan. Karls Darstellungen haben sich allmählich von der
kurdischen Bergwelt entfernt und sich in eine allgemein alpinistische
Betrachtung begeben. Deine Gedanken sind häufiger abgeschweift. Es hat dir doch
allmählich eingeleuchtet, dass Karl mit seiner Frage vorhin, ob du in der
Türkei warst, wohl etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Richtig, er schien mit
seinem Vortrag zu Ende gekommen und hat schließlich von dir wissen wollen, was du
denn davon hieltest, in die Berge zu gehen, um zu wandern oder anspruchsvoller,
nämlich um zu klettern. Dir ist allerdings nicht sofort klar gewesen, ob das so
etwas wie eine Einladung war. Du hast jedenfalls nur die Achsel gezuckt und
die Situation mit einem 'na ja' auszubremsen versucht. Wie es eben Karls Art
gewesen ist, hat er darauf nicht sonderlich geachtet, sondern gleich damit
begonnen darzustellen, dass er die Bergwelt ausgesprochen nötig habe und er gar
nicht anders könne, als sich an ihren extremen Gegebenheiten zu messen. Von
Gemütsbewegtheit in diesen Dingen wolle er gar nicht sprechen, fügte er hinzu,
denn das liefe doch nur auf so eine heimatumwölkte Unerträglichkeit hinaus ...
Es ist jetzt an der
türkischen Bude ruhiger, ist dir aufgefallen, offenbar haben die vielen
Hausfrauen von vorhin bereits an ihren Kochtöpfen gestanden ...
Die Existenz dieser
im Grunde großen Steinhäufen, ist Karl noch bei seinem Thema gewesen, sei
schlicht und einfach eine Herausforderung für ihn ...
Toll!, ist dir dazu
nur eingefallen.
... um immer wieder einmal an seine physischen Grenzen zu
gelangen.
Respekt!, hast du
applaudiert.
Um dieses Bedürfnis
zu befriedigen, müsse er sich ab und zu aus seiner gewohnten Umgebung lösen,
die dann selbstverständlich eine Zeit auf ihn verzichten müsse.
Du hast diese
Mitteilung sofort mit seinem Auftritt von neulich im Segelklub verknüpft.
Karl hat einstweilen
wieder vom wilden Kurdistan erzählt, dass es dort gar nicht so ungefährlich
sei, auch wegen der schwierigen sozialen oder religiösen Verhältnisse oder
sogar auch ethnischen Probleme ...
Aha, ethnisch!, hast
du nur gesagt. Du hast allerdings wieder einmal eine ganze Weile in deiner
Allgemeinbildung kramen müssen. Nach einer Weile ist dir doch eingefallen, dass
sie die Kurden Bergtürken nennen, und du hast es Karl gleich mitgeteilt.
Ja, ja, kam nur von
ihm, denn er hat weiter auf Geografie gemacht.
Dann ist dir auch das
mit dem Ethnischen eingefallen, dass es sich dabei um Volksgruppe und den
ganzen Kram dreht. – Gruppe, ach ja, seine Schar: Seine Gemeinde hatte damals
unter Entzugserscheinungen gelitten, derer sie sich bei seinem Auftritt
entledigen musste. Da war er wohl auch irgendwo im Gebirge unterwegs gewesen.
Du hättest ihn fragen sollen. Rührend jedenfalls, so eine Anhänglichkeit.
Hättest du diese Verbundenheit unter diesen Menschen vermutet? Wieder ein
positives Argument in deiner neuen Sammlung von positiven Eindrücken.
Karl war einstweilen
bei den Zaubern der Natur des vorderen Orients angelangt ... Karl widmete da
noch etwas Bewunderung der Herbheit der Landschaft Kurdistans. Schließlich hat
er der Verlorenheit des Menschen vor der gigantischen Kulisse der Bergwelt dort
ein paar Gedanken geschenkt ...
Der Türke im
Marktstand hat bereits misstrauisch hinter seinen Gehängen von Knoblauch
hervorgelugt. Möglich, dass er uns für Kontrolleure von irgendeinem Amt hält,
deine Vermutung. Vielleicht hat er aber auch Schiss, dass wir zu diesen
Parasiten gehören, die den kleinen Geschäftsleuten auf sehr eindringliche Art
einreden, dass sie Schutz benötigten und für diese Dienstleistung etwas und
natürlich regelmäßig in barer Münze zu entrichten hätten, weil sie sonst ihnen
selber zum Opfer fielen.
Ihr seid dann weiter
durch die Budenreihen spaziert, wo die Händler jetzt wegzuräumen begannen. Als
du ihnen so zusahst, wie sie ihre Ware wegpackten und die Auslagedielen der
Buden zum Vorschein kamen, fiel dir etwas ein. Du hast Karl gleich die Story
von neulich aus deinem verrückten Laden zu erzählen begonnen. Vom Kollegen
Knöferl, der irgendwann damit angefangen hatte, das ihm zugeleitete Material
auf seinem Schreibtisch liegen zu lassen. Normalerweise wandert das meiste,
hast du gesagt, gleich in den Papierkorb. Aber der Kollege Knöferl hatte es
eines Tages ganz einfach eingestellt zu entsorgen. Über die volle Breite
verteilt, immer einen Zettel, einen Leserbrief, eine Pressemeldung, ein
Schreiben aufeinander. Immer noch einen Wisch drauf. Bis da allmählich Schichten
entstanden. Ein richtiger Berg von Papier. – Berge, überall Berge!, hast du
dich getraut, Karls Vortrag ein wenig zu parodieren. Ein Papierberg natürlich
nur, aber auch eine Herausforderung – du wirst gleich sehen, Karl!
Karl hat nachsichtig
gelächelt.
Die schiere
Überbeanspruchung, hast du weitergemacht, witzelte man bald und war gespannt,
wie der Knöferl die Halde wieder abtragen würde. Man war jedenfalls erstaunt
über den alten Kerl, den man diese doch irgendwie aufsässige Art gar nicht
zugetraut hatte. Da sieht man es, schwindelte man sich angesichts des sich
auftürmenden Papierbergs in die eigene Tasche, welch ein Pensum unsereiner bei
der Zeitung zu leisten hat – wenn er was leistet: Das ganze Zeug da lesen,
durchdenken und sonst was – ja, entsorgen! Der Knöferl musste sich doch
allmählich strecken, wenn er an seinem Schreibtisch saß. Man lachte, es sei ja
gut für das Rückgrat, was auch einem Journalisten nicht schade, dieses etwas zu
trainieren ...
Jetzt seid ihr vor
einem Gasthaus gestanden. Setzen wir uns ein wenig!, sagte Karl.
Kaum war bestellt,
hast du deine Schnurre fortgesetzt: Ließen es dann die Umstände zu, zum Beispiel
wenn der Kollege mal irgendwo unterwegs war, legte man eben auf den Papierberg
noch was drauf, entsorgte alles von sich. Da war dann schon durchaus einmal was
von Bedeutung darunter, was man dem Kollegen Knöferl da unterjubelte, irgendein
Erguss von einer öffentlichen Person. Der Berg wuchs und wuchs. Der Chef, der
sonst bei so was ausgerastet wäre, der hat eigentlich nur den Kopf geschüttelt
und gemeint: Der Herr Knöferl ist am Ende! Dieses höhnische Grinsen in seinen
Mundwinkeln wurde schon wahrgenommen, allerdings in die Richtung Kumpanei mit
uns interpretiert. Okay, hatten wir uns gesagt, das ist schon ausgemachte
Sache, dass er gefeuert wird. Wird vom Arbeitsamt noch ein paar Jahre
unterhalten, bis zur Rente, man gönnte ihm das selbstverständlich.
Am Ende konnte der Knöferl
nur noch im Stehen arbeiten. Dein Stehpult wächst ja ganz schön!, lachte man zu
ihm, und er alberte zurück, dass er demnächst wie so ein Schreiber in alter
Zeit mit Ärmelschonern hier aufkreuzen werde.
Aber siehe da, der
Knöferl war ja längst superreif! Der Kollege Knöferl ging eines Tages frohgemut,
von der Redaktionsleitung herzlich verabschiedet, in den Ruhestand. Seinen
verdammten Berg ließ er uns als sein Abschiedsgeschenk zurück. Du kannst dir vorstellen,
dass wir uns reichlich dumm vorkamen mit diesem Andenken – und einem angesichts
unserer Aufräumarbeit immer wieder mit dieser zynischen Grimasse auftauchenden
Chef.
So hat eben jeder
seinen Berg, vor dem er steht, wie der sprichwörtliche Ochs vor dem Berg steht,
hat Karl nur kommentiert. Er hat mir noch einen Seitenhieb verabreicht: Selbst
die Pointe ist mitunter so ein Berg, was Tom?
Du hast nach deinem
Bier gegriffen.
Karl hat seine
Kaffeetasse genommen und sie am Mund gehalten, als habe er zu trinken
vergessen. Dann hat er sie wieder abgestellt, dir auf die Schulter geklopft und
gesagt: Weißt du was, Tom, du kommst ganz einfach mit auf eine Tour – sagen wir
mal ... Er hat kurz überlegt. Während du noch mit deinem Staunen jongliert und
noch gar nicht gewusst hast, was du als Ausrede hättest bringen können, hat er
schon weitergemacht: Sagen wir mal auf die Kemptener Hütte! Das ist nur ein
Spaziergang zum Eingewöhnen."
Versuche es doch wieder
einmal anders. So die gesunde – he! Gut, probiere es eben schlicht mit deinem
Ich. Es war ja zur Genüge im Abseits. Jedenfalls was die Überraschung
anbelangt, in die er dich mit seiner Zumutung da versetzt hatte. Wenn du das
nun mit dem Berg hier aufs Papier bringen willst! Also beginne mit dem Jammer –
oder hole dir erst was zum Trinken, wenn du diesen Berg bezwingen willst. Dann
los, du ich:
"Ich
und in die Berge!, hing es mir im Kopf. Wie sich da jetzt rauswinden? Auf einen
Berg? – Ja klar, Tag für Tag an den Berg Arbeit auf meinem Schreibtisch ... –
Nicht noch so einen matten Joke!, mahnte ich mich und sagte ihm zu. Er nahm es
mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis, zückte sein Handy, erteilte jemandem
Weisung, ihm zwei Tage frei zu machen. Kurz darauf der Rückruf und dann seine Mitteilung,
dass es übermorgen und nur eben da möglich sei. Er zückte seinen Terminplaner
blätterte und kritzelte darin herum – gerade so, dass ich immer einen kurzen
Blick auf die eng beschriebenen Seiten werfen konnte.
Also abgemacht!,
entschied er. Dann schlenzte er mit einer eleganten Armbewegung eine Wucht von
Chronometer unter der Manschette hervor, warf einen Blick darauf und erhob
sich. Ich wollte ihm folgen: Okay, wenn's eilt, kam von mir, dann zahlen wir
eben an der Theke! Er aber bedeutete mir mit einer lässigen Handbewegung,
Platz zu behalten.
Servus, bis bald!
Einen Klaren, bitte!,
als er draußen war. Es wird nicht einfach sein, ganze zwei Tage wegzubleiben.
Da sind in der Zeitung neben dem Alltagskram etliche Veranstaltungen auf Spalte
zu bringen. Mal sehen.
Zahlen. Karls Zeche
selbstredend mit.
Der kleine Anstieg
dann auf dem Weg zur Wohnung. Brachte mich wie immer ins Keuchen. Registrierte
es besonders. Heute. Auf einen Gipfel. Ich! Wie die vom Wochenende!, maulte ich
vor mich hin. In Blechlawine hin. In Menschenkarawane hinauf. Wenigstens das
nicht!, versuchte ich mich zu beruhigen. Mitten in der Woche ... Ließ auch den
Aufzug sein. Treppe.
Schon mal trainieren. Mann, die paar Stockwerke. Der Puls.
Kann was werden. Mit Karl. Der hatte im Langlauf alle abgehängt. Damals in der
Schule. Und überhaupt. Die vielen Pfunde. Die sich immer ansammeln.
Dann waren da
anderntags im Schaufenster die Wanderutensilien. Sonst immer dran vorbei. Heute
.... Das muss ich erst richtig hinkriegen. Mit mir. Zur Arbeit wie zu einem
Fluchtpunkt. Auf dem Weg dorthin Lamento: Man ist ja von hier und hat bei Föhn
die Berge gleich vor der Stadt. Warum dann auch noch hin und hinauf. Bergkult.
Man könnte alp(en)träumen – machte ich mir zurecht.
Ich war jedenfalls im
Wort. Was würde Karl auch denken! Da blieb mir nichts anderes übrig, als die
notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Also Bergschuhe, Rucksack und das ganze
Zeug.
Doch wo würde es denn
eigentlich hingehen? Habe ganz zu fragen vergessen. So erwischt hatte er mich.
Wecker gestellt.
In aller
Herrgottsfrühe raus aus der Klappe. – Karl hatte am Abend zur Erinnerung
anrufen und Wecken per Telefon anbieten lassen. Dankend abgelehnt. Typisch, er
lässt arbeiten! – Die neuen Klamotten übergestreift. Vor den Spiegel. Was ist
denn das für einer?, fragte ich mich. Sieht aus wie Alpenfreak aus Übersee.
Diese knallig roten Kniestrümpfe auch! Der gelackte Laffe im Sportgeschäft
hatte mir das angedreht: Dann sieht der Hintermann – oder belieben mit einer
Dame? – beim Erklimmen der Wand immer gleich den Vordermann. Es wirke wie ein
Signal. Es käme zu weniger Unfällen bei Knallrot. Den Mund gehalten und
bezahlt. Als er den ganzen Plunder einpackte, laberte er noch daher, dass sie
heute sogar an Jäger Signalfarben verkauften. Tarnung sei nämlich total neandertalerisch.
Der moderne Mensch gebe Signal, und zwar überall, wo er gehe und stehe.
Weiß Gott!, zischte
ich Weiß Gott, das tut er, der Mensch!
Fünf Uhr. Zum Treff.
Karl bereits vor Ort. Sah von weitem, dass er am Auto auf und ab ging. Frisch
und munter. Ungeduldig. Ich sagte mir, er ist hell wach und strotzt nur so vor
Tatkraft. Ist ganz scharf darauf, den Trip durchzuziehen. Hau ab hier, Junge!,
kam es über mich. Das wird auftreibend! Konnte mich allerdings nicht
durchringen. Stellte mein Vehikel etwas entfernt ab und ging zu ihm.
Als er so unter der
Straßenlaterne deutlicher zu sehen war, blickte ich spontan an mir hinunter.
Diese Kniestrümpfe! Karl dagegen ganz adrett farblich abgestimmt. Zweifellos
alles maßgefertigt: Grüner Sportdress. In selbst bei diesen Lichtverhältnissen
sichtbarer Qualität.
Servus, auf geht's!,
hörte ich.
Hallo, Profi!, meine
Antwort. Stufte mich still als Berg-Clown ein, in meiner Verkleidung. Wo lassen
arbeiten, Herr Berg-Gentleman?, alberte ich in meiner Verlegenheit. Er hatte es
überhört und kam gleich zur Sache, beschrieb mir die Route, nannte Namen,
redete Alpinistendeutsch ... Was alles an mir so gut wie ganz vorbeiging. Sein
Ziel hatte mir bereits genügt: Allgäu. Ich war in Gedanken sofort in diesem
grünen Landstrich unterwegs und begegnete Rindvieh und Käse und kehligen Lauten
... Karl faltete die Karte auf der Kühlerhaube zusammen und meinte noch: Eine
ganz kleine Tour, nur so zum Einlaufen, um etwas Kondition zu bekommen. Er
plane nämlich, in der nächsten Zeit extrem zu klettern. In den Dolomiten. Heute
gehe es nur etwas über zweitausend 'Normal Null'.
Aha!
Dann also los!
Etwas über einen
Heilbronner Weg hörte ich noch, als wir anfuhren. Ich kramte den ironischen
Flachlandtiroler aus meinem Wortschatz. Um mich abzulenken. Dass dieser sich
immer gerne ganz weit oben namentlich zu verewigen suche. Im Gipfelbuch, das
sie hier manchmal beim Kreuz oben haben sollen. Heilbronn!, wich ich auf die
schöne Stadt aus. Es wurde mir unversehens romantisch zumute. Kleists Kätchen
tauchte dabei sogar kurz auf. Heilbronn. Städtisch kultiviert! Aber wir steuern
ja ganz woanders hin! Hoffentlich wenigstens ordentliche Gipfelgastronomie
oben. Das mit dieser Namensgebung lässt jedenfalls hoffen, dass man nicht in so
einer Bretterbude nächtigen muss. Wie sie sie sonst auf den Bergen haben und
folgerichtig auch Hütte nennen. Positiv denken!, wies ich mich an. Ich wollte
im angenehmen Summen von Karls edlem Geländewagen wegtauchen. Vor mich hin
dösen. Ein Nickerchen. Kräfte sammeln. Was mir Karl allerdings damit
durchkreuzte, mich davon zu unterrichten, dass es bei der angepeilten Höhe aus
der Vegetationszone hinausginge. Gleich war er auch bei der großartigen
Nacktheit der Felsregion. Er pries den reinen, weiten Klang eines jeden
Geräuschs. Egal, ob es von hinabschlagendem Gestein oder dem Pfeifen der
Bergdohlen herrühre. Selbst die bisweilen darüber hinweg donnernden
militärischen Jagdbomber erschienen ihm schier wie sinfonische Silbervögel.
Schreibst du heimlich
Gedichte?, wollte ich ihm uzen, ließ es jedoch sein. Jedenfalls war mir, als
habe ich seit heute Früh einen ganz anderen Karl neben mir. Mal sehen, was er
noch bringt. Vorerst noch mal wegdämmern. Er war allerdings sofort wieder voll
drauf. Schlug seinen Schaum von super alpinistischen Unternehmungen. Die Sierra
Madre tauchte auf und dann sogar dieser Popocatèpetl. Hier wollte ich mich
einbringen: Popocatèpetl. Über dieses Wort hatten wir in der Schule unseren
Unsinn getrieben. Der Popo von der Kati Petl – natürlich mit allem heiß
erträumten Drumherum bei Kati und ihres geschlechtlichen Gleichen. Ich wollte
Karl daran erinnern. Doch bis ich reagierte, bestieg er bereits den
Kilimandscharo. Hier beeilte ich mich, mit einem ´Ach ja` wenigstens eine
akustische Marke meiner Anwesenheit in seinem Redefluss unterzubringen. Ich
setzte nach: Schnee am Kilimandscharo! – Treffer! Wir unterhielten uns über die
Verfilmung dieses Romans. Waren uns gleich einig, dass es sich um die gelähmte
männliche Entschlusskraft gehandelt habe. Dass beim Manne heutzutage eh so
manches in Gefahr sei. Dass sie sogar festgestellt haben wollen, sein
allerheiligstes Y-Chromosom werde immer dürftiger.
Mir war richtig
danach, Karl etwas von einer Gefahr der in Reichtum und Luxus erstickten
Fähigkeiten hinzureiben. Passe auf, Karl!, lag mir bereits auf der Zunge, hüte
dich ... Wir waren allerdings am Ziel angekommen.
Raus aus dem warmen
Auto. In den rauen Allgäuer Morgen. Schuhe geschnürt und Rucksack geschultert.
Und los. Gottlob, erst Ebene. Im Gehen die Gegend betrachtet. Die Siedlung
immer schütterer. Bald hatten wir die Häuser im Rücken. Gepflegtes Grün
schluckte allmählich die Liederlichkeit vom Dorfrand. Stacheldrahtbewehrt. Aus
den Wiesen wuchsen Schuppen und Scheuern. Die Landschaft war mit großen braunen
Warzen übersät, konnte es einem vorkommen.
Der Körper kam auf
Touren. Über den Rücken breitete sich unterm Rucksack angenehm die Wärme aus.
Aus dem gedämpften morgendlichen Allerlei hoben sich dann knirschende Tritte
heraus. Vielfaches horniges Trippeln kam uns entgegen. Eine Herde. Ein Meer
brauner Fleischmassen wogte daher. Die Riesenleiber mit ihren Faden ziehenden
Flotzmäulern schnaubten geruchumhaucht an mir vorbei. Leben. Ich aus meiner
verstädterten Leute-Hunde-Katzen-Gesellschaft staunte bald wie ein Kind. So
etwas Uriges habe ich ganz lange nicht mehr so von Nahem gesehen. Zum Anfassen.
War ich je so nah an einem so großen Stück Leben? Diese Gestalt hinterdrein: hutzelig,
krumm – doch guter Dinge, wie es schien. Ein in braungrün getöntem Blau
steckendes Wesen. Urlaute immer wieder. Nicht ganz auszumachen, ob von Vieh
oder seinem Hinterher. Dumpf klatschendes Prügeln ab und zu. Mein, zugegeben
überspanntes, Hallo-guter-Mann! Als Antwort ein Brummeln, das nach einer hinterseitigen
Aufforderung klang.
Vorwärts!
Der Weg führte in ein
Gehölz.
Tautriefende!, rief
ich und wiederholte. Um dann 'Frische haftet am Blatt' anzuhängen. Ich hatte
die Absicht, so etwas wie einen Zeilensprung in die Abfolge der Worte zu
bekommen.
Absolut abnorm anhört
sich das!, nahm Karl den gleichen Takt auf und fügte hinzu: Wassers Tropfen
betauen den Nacken kalt.
Dieses Klangtrommeln,
ganz von vorgestern!, freute ich mich. Wie der Hermes gern in seiner
Deutschstunde. Erinnerst du dich?
Klar doch!,
antwortete Karl und war gleich ein paar Schritte weiter. Eigentlich sollte
meine Schrulle mit der sprachlichen Verrenkung nebst Denkanstoß Schulzeit zu
einer Plauderpause führen. Um ein wenig zu rasten. Um alles hier langsamer
angehen zu lassen. Nun stapfte ich aber Karl brav hinterher.
Ich streifte einen
Ast. Aaa, Schock!, mein Aufschrei. Ich hatte von diesen vorhin bedichteten
Tropfen eine ganze Dusche abbekommen. Ich blieb stehen und kramte das
Taschentuch heraus. Man könnte noch im Bett liegen!, überfiel es mich dabei.
Dann warm duschen, ließ ich den Gedanken weiterlaufen, während ich mir den
Nacken wischte.
Karl war
weitermarschiert. Ich musste Tempo zulegen ...
Eine Steigung. Die
Daumen an den Riemen eingehakt. Die Schritte kürzer. Das Luftkriegen geradezu
mit Bronchienflattern!, stöhnte ich mir. Da siehst du's: dein Qualmen
immer!
Dann, Gott sei Dank,
beinahe erholsam, auch wieder mal abwärts. Sich von der eigenen Leibesfülle
schieben lassen.
Immer wieder so. Rauf
und manchmal ein wenig runter. Da machte sich doch allmählich das Gestell
bemerkbar. Fahrgestell nannte man es als Milchbart!, kam mir auch sofort. Den
Einfall halten! Um von der Bedrängnis hier abzulenken. Man hatte Fahrgestell
natürlich auf Mädchen bezogen. Darin seine spitzen Wünsche untergebracht.
Schwerenöter sein. Herrje!, wie seinerzeit: platonisch, nur in der Fantasie und
so. Ein paar Bilder durchhuschen lassen: Entrockte, Bebadehoste ... – und etwas
abgelenkt sein. Zwischendurch meldete sich allerdings doch das eigene Gestell.
Mit all seinem Geplagtsein. Es verscheuchte schließlich die ganzen Zuckerbienen
im Hirn. Schweiß auf der Stirn. Kalt in der Morgenfrische. Mit der heißen Hand
drüber. Eine sonderbare Wohltat.
Karl war nicht mehr
zu sehen.
Jetzt ging es in
Kehren dahin. Dazu immer steiler. Deswegen dieser Zickzack, aha! Der kurze
Atem. Das Ziehen in den Waden. Es begann richtig zu zerren. Stehen bleiben.
Verschnaufen. Ich hielt nach Karl Ausschau. Fast Hilfe suchend. Welche denn?
Als ich ihn dann weit vor mir ausmachen konnte, wie er federnd und trotz der
Steigung so flott voranschritt ... – Ja, Mensch!, da wollte ich die weiße Fahne
hissen. Hier warten, bis er wieder zurück ist? He, Karl, wandle ruhig dahin –
lustwandle meinetwegen! Ich warte unten auf dich. Verlustiere mich im Gasthaus
unten. Gleich am Parkplatz – Ach ja, da unten jetzt sitzen!, packte es mich.
Jetzt ist Frühstückzeit, für Spätaufsteher. Nach einer langen Nacht. Etwa nicht
solo verbracht. Wohlbehagen. Frische Brötchen und Kaffee. Sich behaglich in den
Tag hinein plauschen. Eine Zigarette und die Zeitung und, und ... – Diesem
Gelüst noch ein wenig nachgehangen. Das wirkte für Augenblicke wie
Ersatzbefriedigung.
Ich musste mich
schließlich wieder einfangen: Das Weichei werde ich Karl nicht abgeben! Auf
geht's!, meine Weisung. Tempo zulegen! Die ersten Marterschritte hinter mich
bringen. Den Serpentinen nach. Aufwärts und obendrein herüber und hinüber –
herüber, hinüber. Abschalten! Hinauföden. Immer zu. Muss ja mal zu Ende sein
...
Das klappte sogar
eine ganze Zeit. Ich machte mir sogar so was wie Stress-Trance vor, in die ich
gerne eintauchen wollte. Machte mir dann vor, irgendwie so dahinzuschweben. Und
war dabei doch voll da. Mit meiner ganzen, in dieser Illusion sogar kaum durch
diese Plagen angefochtenen Leibhaftigkeit. Na so was!, wunderte es mich. Nun
vielleicht den Hirnkasten ganz abschalten. Nichts denken. Ruhe vor sich selber
haben. Wirkte gut. Eine gute Strecke klappte das auch. Blöderweise überkam es mich dann doch wieder.
Ich schaltete mich wieder an mit so etwas wie: Man erfährt erst in der
Herausforderung ... Was denn? Weg war jedenfalls die ganze nahezu spukige
Entrückung. Es anders versuchen, weiter- und von mir wegzukommen: So schaute
ich beim Gehen umher. Betrachtete linker Hand das steil ansteigende Stück Fels.
Stellte Schichtungen fest. Hatte sich alles abgesetzt, fiel mir ein, irgendwann
gehört zu haben. Alles einmal Meeresboden gewesen. So tief unten wie jetzt
oben. Ein Schauder lief mir unterm Rucksack über den Buckel und mündete im
Wunsch, jetzt an so einem Meeresstrand zu liegen und mir die Sonne auf die Schwarte
brennen zu lassen und das Rauschen des Ozeans zu genießen und nicht im Schweiße
meines Angesichts, sondern in den warmen Wellen zu baden ...
Um die Kante rechts
herum. Wieder links. Da hatte ich Karl im Auge. Weit vorne und ziemlich weit
oben war er. Zum eben noch angeträumten Meeresstrand müsste er mich mitnehmen.
Nicht nur zu so einer herben Walz hier. Er mit seiner Globetrotterei. Für seine
Wellnesstrips hat der Kerl freilich ein anderes Publikum. Habe es nun ganz
deutlich ausmachen können: Er war immer noch so elastisch drauf. Sein
Vorsprung. Der Bursche hatte die Gerade zwischen den Windungen genommen!, mein
Verdacht. Ich brav dem Weg nach mäandert. Stehen geblieben. Was an Kraft
gewonnen wird, geht an Weg verloren, heißt es. Und verflixt umgekehrt. Karl hat
es. Er kann Power einsetzen!, musste ich ihm doch lassen. Ich dagegen habe mich
mühsam hinaufzuschleppen!, gönnte ich mir Mitleid.
Überall. Oh, sogar im ganzen Leben!, legte ich noch drauf.
Stopp! Im Leben? Nicht gar so weit ausholen. Vielleicht sogar noch so was wie
Bürde-des-Lebens draufpacken? Damit alles noch schwerer wird? Mit meiner ganzen
Leibesfülle, die sich mir immer ansammelt hinterm Schreibtisch. Vielleicht
sollte ich mich Karl als den Verletzten ... Der ich doch im Grunde auch bin.
... also gar nicht nur vortäuschen! In meinem bedauerlichen Zustand. In den er,
ja er, mich getrieben hat. Ihn dafür sozusagen blechen lassen! Mit der baren
Münze seiner protzig zur Schau gestellten Energie. Ich würde mich an ihn
hängen. Zöge ihn runter. Saugte ihm nachgerade Saft und Kraft aus seinem
verdammt durchtrainierten Körper ... Den Hund mache ich fertig!, rutschte mir
dazwischen. Ich gönnte mir Wut. Ha! Die gedieh mir zum Kraftstoff. Trieb mich
voran. Wuchs sich zu einer richtig fetten Versuchung aus – und ist mit mir eine
Weile recht beschwingt dahingestapft. Ihn fertigmachen. Ihn aufreiben. Ihn am
Boden sehen ... Mit diesem Krümel Niedertracht im Hinterkopf ließ es sich
tatsächlich besser vorankommen. Wie im richtigen Leben!, erlaubte ich mir dann
doch noch.
Etwas später
allerdings – nun gut. Die Antreibe da vorhin. Die mit dem fertig zu machenden
Hund. Hatte an Wirkung verloren. Ich zieh mich der Niedertracht, wand mich
heraus und beschloss, mich der Natur hier zu widmen. Klar, das Grün
betrachten! Man müsste etwas auf Botanik machen! Wenn man darüber was wüsste.
Als Asphaltkreatur. Gras, ja. Alles was grün ist. Nun gut, der Ampfer dort.
Viel mehr ist doch bei mir nicht drin!, bekannte ich. Aus dieser Wissenslücke
ulkte ich mich schleunigst heraus. Mein
Blick war auf eine braun-grüne Flade gefallen: Kuhflatia Alpina, unser
Pennälerwitz kam mir: stengelloses Alpengewächs, das beim Hineintreten an der
Sohle haftet. Ich hielt eine Weile Ausschau nach Rindvieh. Vielleicht mit der
Hand übers Fell streichen. Sich mit der rauen Viehzunge den salzigen Schweiß
von Hand und Arm lecken lassen. Müsste wohl tun ... Ein Felsbrocken dann.
Stolpern. Ich landete zwar nicht auf dem Boden. War jedoch ganz bei meiner
Leiblichkeit: Das Wasser rann mir aus allen Poren. Wie aus lauter Lecks. Das
Hemd klebte an der Haut. Ich schleppte mich darauf richtig hechelnd dahin.
Immer weiter. Wollte mir nach einer Weile vormachen: Da wirst du durchkommen;
es hinter dich bringen; wie ein gestandenes Mannsbild; Charakterstärke. Was für
ein Monstrum, dieser Begriff!, packte mich. Und Mannsbild und ... Bis ich
wieder wo anstieß und einknickte.
Aufgerappelt. Nach der Ursache gesucht. Ein Holzprügel. Nein,
Wurzelstück. Umhergeschaut. Aha, der Baum da. Knorrig, zerzaust. Standfest –
gar standhaft? Jedenfalls gezacktblättrig. Ein Ahorn. Einen uralten Burschen
nannte ich ihn. Zu ihm hinaufsteigen. Gönnte mir diesen Aufwand, auch wenn es
mich ziemlich was an Anstrengung kostete. Lehnte mich brustseits an ihn. Umfing
ihn und bettelte: lasse etwas von deiner Kraft in mich fließen. Etwas von
deiner Standhaftigkeit. Eine ganze Weile hing ich so an ihm. Es tat wirklich
wohl. Wenn das jemand sähe!, lachte ich mich dann weg. Trennte mich von meiner
harten Buhlschaft.
Auf den Weg runter
und weiter. Immer hinüber und herüber.
Meine zu vielen Pfunde wollten hinaufgeschleppt sein! Sie drückten auf die
Sohlen ...
Karl war um eine Ecke
oder war hinter einem Felsvorsprung verschwunden. Ziemlich egal. Bei einem
Blick nach rechts – hinunter. Schock. Der Atem stockte. Mensch, da runter!
Abwärts da. Wahnsinnig steil. Stehen bleiben. Mal tief durchschnaufen. Das Herz
nicht mehr so im Hals fühlen. Dabei die Blicke immer wieder die Steilwand
hinabfallen lassen. Was mich dabei so alles anmachte! Peng, platsch. Fleisch
auf Fels. Natürlich nicht das eigene! Andres. Pervers! Täter sein! Es trieb
mich. Müsste ein dumpfes Geräusch abgeben. Von der Felswand gegenüber womöglich
im Echo verdoppelt. Zum dumpfen Trommeln anschwellend. Apokalyptisch
ausklingend ...
Schließlich den
Steilhang hinunter das Wasser abgeschlagen.
Dann wieder so ein
Start nach dieser abseitigen Einlage. Während es drückte und zerrte, jäh der
grelle Blitz: Wenn Karl hier über Bord ginge! Runter und über die Kante!
Konnte ihn weit vorne
ausmachen. Habe ihn mit dem Auge gepackt und ihn da hinuntergeschmissen ...
Dieser brutale Trip
tat mir gut. Ich holte mich davon zurück und konnte ganz entspannt nach dem
doch noch lebendigen Karl sehen. Er setzte freilich noch Schritt vor Schritt.
Wie eine Maschine arbeitete er sich im Gleichtakt den Berg hinauf. Dieser Hinaufsteiger.
Geht allerdings auch nicht stur dahin!, räumte ich ihm ein. Er wendete immer wieder den Kopf, mal nach
links, mal nach rechts. War zu vermuten, dass ihm sein Genick zu schaffen
machte. Endlich hat er auch ein Handicap!, wollte ich mich freuen. Da leuchtete
mir allerdings ein, dass er natürlich die Gegend betrachtete. Ich raffte mich
auf, in seine Nähe zu kommen. Es zehrte freilich zunächst – doch packte mich
Ehrgeiz. Allmählich konnte ich seinen Atem hören. Ein tiefes Schnaufen. Ein
Japsen fast. Aha, registrierte ich zufrieden, wenigstens das! Auch so ein
Vollmann muss um Luft ringen.
Die Landschaft hier
überall!, keuchte ich ihm zu, als ich dicht hinter ihm war: Lauter Landschaft!
Ich blieb stehen. Komisch. Wenn man mal ruht, schnaubte ich. Dann ist das
wieder ein ganz anderes Bild. Das man vor Augen hat. Anders als wenn man sich vorwärtsbewegt.
Da hielt er an.
Vielleicht geht man
an vielen Dingen vorbei, versuchte ich es gescheit. Nämlich wenn man richtig in
Bewegung ist. Jedenfalls lauter Bilder hier wie auf den Bildern. Die man in
Erinnerung hat. Die man von den ganzen Versuchen überall kennt. Den vielen
Fotos, Postern, Pinseleien. Also doch bekannte ... Der Gedanke verlor sich mir.
Ich musste eh aufhören mit meinen Ausführungen und um Luftbeschaffung besorgt
sein. Nach diesem Aufwand.
Ja, ja!, kam von Karl
zunächst nur. Nach einer Weile doch noch: Die dünne Luft hier, die bringt
vielleicht auch mehr Durchblick. Oder es ist das stärkere Licht in der Höhe.
Ich schaute ihn an,
wartete, ob noch mehr käme. Er soll doch wieder richtig schwadronieren wie
heute im Auto, wünschte ich mir. Das pumpte ihn aus. Ich blickte noch mal zu
ihm. So was wie einen Fernblick ist in seinen Augen, meinte ich. Er war sicher
mit den Gedanken ganz woanders, ganz weit weg. So etwas Ausdrucksvolles im
Blick, so wie Spiegel mit Landschaft drin, billigte ich ihm zu – und ließ es
sein.
Er hatte sich wieder
auf den Weg gemacht. Ich folgte ihm. Natürlich, die fiesen ersten Schritte!
Könnte man doch umkehren!, war bei mir auch gleich da. – Umkehren, um dann als
Spielverderber dazustehen? Nein, das nicht. Sogar einen Zahn zulegen. Um die
Sache hier hinter mich zu bringen. Um zu zeigen, dass da noch Reserven sind.
Möglichst in seiner Nähe bleiben. Mal genauer sehen, wie er drauf ist. Mensch!
Dass ich da jetzt erst draufkomme: Der Typ wirft bestimmt was ein! Dann hätte
ich ihn bis jetzt überschätzt. Der war doch bei den Indios in den Anden. Gut möglich,
dass er Koka hat! Ohne Stoff müsste er doch auch einmal einknicken. Wenigstens
ein bisschen. – Oder ich helfe da nach!, überfiel es mich wieder. Auf total
rohe Weise! Dass er nicht bloß einknickt. Sondern gleich ganz verschwindet!,
bewilligte ich mir. Meine Meuchelei da vorhin am Absturz. Ihn verflucht link da
hinunterbefördern! Es wenigstens mal planen. Ja, so was will gründlich
vorbereitet sein. Sich alles fehlerfrei ausdenken ...
Es mir auch nur
auszumalen. Tat schon richtig gut. Muss ja nicht gleich sein. Und überhaupt.
Man wird sich wohl seinen eigenen Kopfkrimi drehen dürfen!, meine Rechtfertigung.
Ich spürte deutlich, wie mich bereits die pure gedankliche Gemeinheit aufgebaut
hatte. Das wollte ich mir genehmigen dürfen. Erschöpft, wie ich mich eben
fühlte. Da kommt einem schon mal so was. Nachhelfen! Karl da hinunter!
Vielleicht auch nur selber stolpern. Kann ja sein. In diesem meinem Zustand des
Ausgepowertseins. Bei den Wegen hier obendrein. An ihn stoßen. Ihn nur eben mal
anstoßen. Schicksal ...
Es trieb teuflisch
an. Es ging schneller dahin. Es wurde mir sogar etwas leichter.
Allerdings auch
möglich, schlich es sich mir nach einer Weile düsteren Selbstgenusses ein, dass
ich mir selber davonlaufen wollte. Um des Anstands willen. Der doch auch immer
irgendwo lauert. Das muss man sich ja lassen. Selbst in seinen Anwandlungen der
anderen Art. Weglaufen. Aus dieser Schmuddelecke der Seele raus, wandelte es
sich mir an ... Seele, du lieber Himmel!
Karl blieb allerdings
unerbittlich gut drauf. Klar, Karl! Wäre ja auch schade um ihn!, zynelte ich
mir. Wie er doch Meter um Meter Höhe des jetzt noch stärker ansteigenden Pfades
nahm! Ich wollte wegsehen. Den Weg im Dahinschreiten unter mir durchziehen
lassen. Einbildung in Grau baute sich da auf. Die Illusion: Der Weg bewegt sich
dahin und du bist drauf und er nimmt dich mit. So wie Laufband in zivilisierten
Orten. Eine richtige Geschäftsidee bot sich zum Spielen an: Wäre doch überhaupt
was. Nämlich für fußmarode Wanderer auf den Berg. Erst recht für solche, die
Horror haben, in Kabinen nach oben geschwebt zu werden. Ja, Menschen und
Kapital bewegen, Management betreiben – und wer sein und was haben und von
allem nicht zu wenig ... Auf Augenhöhe mit Karl. Allerdings entlarvte sich mir
das gleich als eine Flause.
Dass das gar nicht so behaglich wäre, sagte ich mir in solchen
Kreisen ... Das ließ mir das Dorado von eben aus dem Blick geraten. Besser,
sagte ich mir, mich der Wirklichkeit zu widmen: Grüne Matten rechts!
Steinbesät, herrje. Matten!, was für ein Wort! Hängematten!, stahl sich sofort
herein ... Nein!, nicht wieder Wellness ins Hirn laden! Abschalten!, befahl ich
mir. Schluss. Möglichst ganz teilnahmslos weiterlatschen. Mensch! Ohne am
eigenen Tun Anteil zu nehmen. Die Lösung überhaupt. Auch für Killer. Runterstoßer
... – Weg aus solchen verzwickten Lagen!, meine Weisung. Links die Wand. Der
Weg war schmal geworden. Ein Steig. Ein Saum nur. Wenn mir was passiert! Richtig, ein Saumpfad, wie sie früher sagten.
Plötzlich doch diese tückische Sache vorhin um Karl wieder: Nur
ein kleiner Tritt daneben. Da hätte es sich gehabt mit ihm! Es packte mich
jetzt richtig lüstern. Bekäme von mir darauf einige Spalten Nachrufs im Blatt,
die ich sogar überregional unterzubringen versuchen würde: Sein fabelhafter
Aufstieg, überall, sein Doktor-Ing, und auf den Kilimandscharo ... Mit dieser Bergwalz
hier, untermalt mit seiner karrieristischen Existenz, passte alles zusammen:
Aufstieg und Absturz ...
Karl war tatsächlich
nicht mehr zu sehen. Wahnsinn! Vielleicht ist es wirklich schon passiert. Ohne
mich! Da tief runter. Stehen bleiben. Der Aufschlag? Niemand könnte ihm helfen.
Armer Teufel – nun ja, in der Hölle. Wo er auch hingehörte!, genehmigte ich mir
auch noch. Hilfe? Wäre auch überflüssig.
Nach dem Absturz. Aufsammeln am Ende nur. Zerschlagen.
Kein Knochen mehr heil. Nicht runtersehen! So eine Tiefe zieht
an und zieht runter. Wie im Leben. Scheiß Leben immer. Sieh zu, dass du selber
oben bleibst!, die Order. An der Wand entlang. Da sollten sie Drahtseile
verankert haben. Geradeaus sehen. Dabei dauernd doch das Szenario von vorhin
zugelassen, von Karls Abgang, das. Man muss das tun, spekulierte ich noch. Wenn
man es wirklich tun will. Da muss man sich erst daran gewöhnen. Als
ursprünglich sittsamer Bürger. Ganz irre schmal der Weg. An der Wand entlang
getastet. Der kühle Stein tat der aufgequollenen Hand gut. Wenigstens das.
Behutsam einen Schritt vor den anderen gesetzt. Ein Stolpern! Hatte mich gerade
noch fangen können. Herzklopfen. Anhalten. Und tief durchatmen. Gleich stellte
sich ein gutes Gefühl ein. Entspannte mich. Brachte mich noch einmal auf die
Natur: Doch nicht übel hier! Die frische, reine Luft. – Ich fühlte mich gut.
Sammelte weiter Eindrücke: Die Ruhe hier. Eigentlich Lautferne. Geräusch verlor
sich in der Weite der Landschaftskulisse, ging mir auf. So ähnlich, wie es Karl
heute in der Früh beschwärmt hatte. Fernlaute. Wird sich doch nicht etwa doch
gelohnt haben? Sich hier rauf zu quälen. Auch dieses satte steingesprenkelte
Grün: Satte Almen tragen Tiere. – Ha? Ich war ja richtig gut drauf. Unerwartet.
Es klappte sogar mit meinen Füßen. Überraschend. Wollte mich jetzt aus dieser
guten Lage heraus Feld und Flur widmen, um ihnen schöne Gedanken abzugewinnen.
Feld und Flur. Nein, schade. Die beiden sind unten im Tal. Dann eben Tiere: Was
da kreucht und fleucht!, war mir noch von irgendwann drin. Da!, drei braune,
possierliche Kerlchen. Wie große Hamster, bildete ich mir ein. Riesige Hamster,
vielleicht auch schon hier oben genverändert, überkam mich. Ich blieb stehen. Zwei
balgten sich, das dritte machte Männchen. Schien Schmiere zu stehen. Drei
Murmeltiere? Das müssen Murmeltiere sein!, rief ich. Ein Pfiff. Weg waren sie.
Als Stadtidiot beschimpfte ich mich. Darauf bog ich um die Ecke. Herrgott! Da
war gleich ein Rauschen. Was Nasses. Frisches. Nasse Eile!, sprudelte mir im
Kopf zusammen. Es wurde mir vom Hören allein so angenehm. Als ob da was Kühles,
Feuchtes, Belebendes über mich gerieselt wäre. Jetzt konnte ich es bereits
sehen. Wasser! Hier oben. Ein munterer Quell, du meine Güte, strömt übers
Gestein!, jubelte ich. Karl stand da. Ich erschrak. Schlechtes Gewissen?,
wollte es mir kommen. Wegen des mörderischen Gelüsts vorhin? Ich verscheuchte
das und sah ihn an: Tatsächlich, dieses feixende Gespenst, überkam es mich.
Karl mit immer noch seinem Gesicht, strahlend und bergverzückt. Ich rannte an
Karl vorbei auf das quellende Nass zu. Noch ein paar Schritte entfernt, da
tauchte ich bereits ein in den kühlen Hauch des Wassers. Was für ein Genuss.
Tief Luft geholt. Ein sagenhaft belebendes Gefühl. Niedergekniet. Den Bergquell
über den heißen Kopf rieseln lassen. Menschenskind! Wann fühlt man seinen
Schädel so? Wasser übers Haupt. Da lädt sich einem Wasser mythisch auf. Taufe.
Wahnsinn! Noch einen tiefen Schluck aus der hohlen Hand. Noch einen. Karl sah
mir wohl zu. Ich blickte auf. Wie er da an der zerzausten Latsche lehnte! Noch
einmal Wasser geschöpft. Karl im Auge, frischwärts wie Coca-Cola, leuchtete mir
die alte Anpreisung auf. Wie Karl auch da stand. In der guten Konfektion dieses
Bündel gute Kondition ...
Wegsehen! Dem Puls
noch Frische gönnen und dem Hals.
Karl bestärkte mich
in meinem Geplantsche. Denn bald gebe es kaum Nass, wenn kein Gletscherwasser
zu haben sei. Jedenfalls vorerst nichts zu sehen von Firn, geschweige denn von
Gletscher. Alles weggeschmolzen. Nun ja, das Klima.
Mein Vorschlag dann,
ein wenig Pause einzulegen. Denn es sei ja bereits reichlich gegen Mittag. Er
stimmte zu. Wir hätten keinen Rückstand gegenüber seiner Planung. Wir ließen uns
nieder und kramten Brot aus dem Rucksack. Beim Kauen die Blicke umherwandern
lassen. Da und dort länger verweilt.
Die ganzen Schönheiten
entdecken, Felsformation wie Skulpturen; Töne des Grün, aus dem vereinzelt
gelbe und rote Farbtupfen von Blütenwerk leuchteten ...
Ach ja, das
Plätschern hier neben uns!, kam es da von Karl. Es ging nicht gleich weiter. Es
hatte jedoch so geklungen, als hätte es mit mehr zu tun. Die Fortsetzung ließ
nicht lange auf sich warten: Vor einigen Monaten sei ihnen bei der Party spät
am Abend der Whisky ausgegangen ...
Ich war überrascht,
dass er nun offenbar eine Story liefern wollte. Hätte jetzt gar keinen Bock auf
einen Whisky!, ließ ich ihn wissen. So ein scharfes Zeug.
Gewöhnlich habe man
sich in so einem Fall etwas anliefern lassen. Ausgerechnet damals versteifte
sich die ganze Schar darauf, beim Nachbarn vorzusprechen, diesen am besten samt
seinen Vorräten gleich mitzubringen. Das bedeutete natürlich nicht etwa nur,
mal nebenan zu klopfen! Sie hätten sich seinerzeit am See aufgehalten und waren
sich natürlich bewusst, dass der nächste Landlord erst ein paar Hektar entfernt
zu finden sein würde – seien sich jedoch gewiss gewesen, dass dieser sich in
seiner zwar erholsamen, doch immerhin Einsamkeit über ihren Besuch mächtig
freuen würde ... Etliche hundert Meter am Ufer entlang – eben dieses
Plätschern, wie hier ...
Nicht, dass es mir
wichtig gewesen wäre. Ich meldete Karl trotzdem meinen Zweifel an, dass die
akustische Vernehmbarkeit des Wassers am Ufer eines Sees so klinge wie das
starke Murmeln des Baches hier.
Er nahm seinen Faden
wieder auf: Das muss irgendwer machen, habe die Clique keine Ruhe gegeben.
Karl, wie wäre es mit dir? Doch er müsse es in dieser Dunkelheit nicht ganz
alleine machen ... Selbst wenn man vorher telefonierte, hätten alle
hinterhältig beteuert, könne man höchstens auf Schleichwegen von der Seeseite
kommen. Denn einen Schritt auf die Terrasse würde man hier von gut bewaffneten
Nachbarn in Zeiten einer kriminellisierten Neidhammelgesellschaft gerade noch
erwarten können. Man könne ja per Telefon Klopfzeichen vereinbaren, ein
Losungswort auch ... Die Verschwörung
sei in vollem Gange gewesen. Er habe das natürlich nicht übersehen.
Gelegentlich sei es eben besonders reizvoll, beteuerte er und wendete sich
dabei mir zu, mitzuspielen und sich in Situationen schieben, ziehen,
hineinmanövrieren zu lassen ...
Mir kam es vor, als
wollte er mir damit einen Rat erteilen. Ich murmelte nur ein Jaja.
Also los, zu Fuß, und
irgendwer musste mit, aber wer nur? Na klar, Grit, sozusagen eine Amazone –
eine moderate Amazone, habe einer hinterhältig ergänzt ...
Grit, das ist doch
diese Penunzenprinzessin, die gelegentlich in unseren Klatschspalten
auftauchte, erinnerte ich mich. Ich wendete mich wieder der Bergwelt zu:
Umherblicken; den Lauten folgen; deren Ursache oder Urheber zu erspähen suchen;
Klangfarben ausmachen. Da, ein Krächzen. Den Kopf in die Richtung gerissen. Au!
... Als ich darauf wieder mit dem Stich im Nacken ganz bei Karls Erzählung war,
schritt der mit seiner Begleitung durchs Dunkel der Nacht. Ich hörte ihn
darstellen, seiner sozusagen trockenen Art auch dabei getreu, dass es bei
dieser Unternehmung tatsächlich wie aus einer Gebrauchsanleitung für
Liebesnächte romantisch gesinnter Gemüter gewesen sei. Eine föhnig laue
Mondnacht habe alles verzaubert. Rechter Hand, malte er aus, rollten unermüdlich
kleine, schaumbekrönte Wellen auf der Kiesbank aus. Ihre schlichte Melodie
mischte die Nacht ins tiefe Rauschen der alten Baumkronen zur Linken. Er wollte
das Mädchen an seiner Seite flüstern und Worte hauchen gehört haben und die
lieblichste Stimmlage aufbieten, bis hin gar zu einem katzenhaften Schnurren
...
Karl bremste seinen
Erguss. Er schien diese anrührende Aktion nur in Gedanken weiterlaufen lassen
zu wollen. Ich war es eigentlich zufrieden. Er erhob sich, machte sich auf den
Weg, merkte nur noch an, dass er mir ein andermal weitererzählen würde.
Unser steiniger Weg
führte steil nach oben. In Gedanken ging ich zunächst etwas seinem
romantischen Nachtwerk nach. Dann überkam es mich, dass ich da ja bei unserer
Rast eigentlich meine Schuhe hätte ausziehen können. Die Füße unters kühle
Wasser halten! ... Am liebsten hätte ich aufgeschrien bei dem Gedanken. Wagte
gar nicht mehr, mir die Wonne auszumalen. Plötzlich waren mir die Beine wieder
so vorhanden. Um meine Marter zu überspielen, wollte ich Karl was vormachen.
Wollte seine literarische Einlage vom Halt beim Bachgeplätscher ausweiten:
Naturlob!, japste ich zunächst nur und ergänzte: grüne Matten, satte – oder
so. Steinsaat. Luftfrisch ... Der Dampf war mir weg, fühlte ich deutlich. Ich hielt
den Mund.
Klar doch,
Bergkamerad, das ist ja so!, bemerkte Karl – spöttisch, wie mir scheinen
wollte. Er war auch gleich wieder weg und ich mit Abstand hinterher.
Diese pappige Zunge
allmählich. Schon wieder dieser Durst. Ich verordnete mir: Jetzt nicht trinken;
immer gleichmäßig durch die Nase atmen. Schont die Mundschleimhaut vor
Austrocknung!
Knirschen der Tritte
auf steilem, steinigem Pfad ... Es schreitet sich vielleicht leichter bei so
was im Kopf. Überall nahm der Stein überhand, hier oben. Zunächst noch grün
schattiert, mit Moos und Flechten angepolstert. Nach oben zu immer blanker und grau
getönt.
Ein langanhaltendes
Dröhnen irgendwo. Das vielfach gebrochene Echo. Ein talwärts stürzender
Brocken. Ein größeres Exemplar, wenigstens dem Gepolter nach. Das entsetzlich tiefe
Hinab hier immer. Diese Beklommenheit nun. Die Vorstellung von Losgelöstsein
und Fallen. Bodenlosem Sturz. Der kleinste Fehltritt. – Mensch, Fehltritt! Da
war es wieder. Meine kriminelle Wallung! Denn warum sollte denn ich hier
abgehen? Nein, nicht ich! In Karls Nähe kommen. Ein kleiner Schubs genügte ja.
Ihn vielleicht nicht mal berühren. Sondern nur erschrecken. Dass er stolpert –
und runter geht's mit ihm ...
Auch wenn ich es noch
eine Weile durchspielte. Es mir sozusagen wie einen Krimi abspulte. Nachdem ich
mich einige Zeit damit beschäftigt hatte, fand ich diesen Schurken für mich,
den Halunken, den Meuchelmörder doch auch irgendwie reizvoll. Ja, richtig
wohltuend unspießerlich, einen auf Verbrecher zu machen. So wollte ich den
Absturz dieses in diesen Augenblicken sozusagen entkarlten Subjekts da vor mir
auch weiterhin nicht ausschließen. War sogar irgendwie beglückt darüber,
erkannt zu haben, dass man als Erfolg anstrebender Täter sein Opfer erst zum
Gegenstand entpersönlichen müsse.
Ein Schrei von ganz
weit her! Ein Unglück? Das Echo. Jemand abgestürzt? Passte ja zu meiner etwas
abseitigen Lust eben. Vielleicht ist es Karl! Jetzt noch so ein ... Es klang
jedoch eher fidel. Von weit oben. Wurde etliche Male wiederholt. Klar, es sind
älplerische Jubelklänge! Da freut sich einer. Jodeln. Der hat es vielleicht auf
den Berg geschafft. Mit den Augen dem Klang gefolgt. Von da oben war es gekommen.
War das eine Aussicht, da zum Himmel hinauf! Firmament!, überkam mich. Dieses
Wort formte sich zum Begriff und packte mich und führte mich zu jener
farblosen Unendlichkeit über dem sichtbaren Blau. Zu diesem Himmel der
Prediger. Für einen Augenblick nur, doch immerhin. Ich wollte mich heute doch
lieber mit dem strahlend blauen Himmel begnügen. Warum auch der Sprung darüber
hinweg? Da tut es schon ein Gipfelkreuz, weiter muss man nicht. Mit den Augen
über die Höhen geflogen. Nirgends war eines auszumachen. Da tollte es mich
plötzlich an: Wenn da Bergfreunde mit Migrationshintergrund auch mal einen
Halbmond hinaufpflanzten! Ich erschrak über mich selber. Floh diesem Flop
geradezu – was immerhin meine Schritte beschleunigte. Dazwischen funkte es
immer wieder herein. Mit so etwas die berüchtigte Lufthoheit über den
Stammtischen zu erringen, kam mir. Irre. Doch beflügelnd.
Auch der Gedanke, in besagter Runde bei einem Bier zu sitzen.
Ich wollte hier wenigstens Rast einlegen: Sitzen, was trinken, was essen. Wenn
ich mich jetzt aber setzte, mein Einwand, dann quellen mir die Pfoten. Weiter.
Ich kramte im Gehen doch eine Büchse Bier aus dem Rucksack, riss sie auf. Alles
im Gehen. Aus Bange vor Ballonfüßen. Leerte die Dose auf einen Zug. Diese
Wohltat! Den dünnwandigen Hohlkörper mit Wut und Wonne zerknüllt. Gut tat es,
die Kraft in den aufgequollenen Händen zu fühlen. Das Blechknäuel wollte ich
eigentlich den Berg hinunter schleudern. – Wenn ich schon von Karl lasse ...,
wollte es sich wieder einschleichen. Ich habe es aber verscheucht und auch das
Blech im Rucksack verschwinden lassen. Anständig bleiben!, philisterte ich mir
vor.
Beharrlich voran. Vor
mich hin auf den Weg geglotzt. Erst nach einiger Zeit flüchtig aufgeblickt: Im
Lichte der sinkenden Sonne ... – widerfuhr mir sofort. Vielleicht ist ein
Gedicht in mir, das raus will, witzelte ich mir. Probierte es abzuwürgen.
Schaute eine Weile in die Gegend. Ließ mich dann doch noch auf einen zweiten
Anlauf mit dieser Zeile vorhin ein: Im sanften Strahl der sinkenden Sonne ...
Ich sah umher und entdeckte dabei Karl. Er saß auf einem Felsbrocken. Wird doch
nicht etwa Anwandlung bekommen und auf mich gewartet haben? Da rutschte mir der
Vers heraus: Im sanften Schimmer sinkender Sonne sitzt Karl auf einem Stein.
Ich solle mir meinen
Geschmack besser nicht mit altdeutschem Kitsch verhunzen, ermahnte mich Karl.
Er hatte dazu mit einem Anflug von Freundlichkeit gegrinst. Fügte aus dieser
Grimasse heraus an: Verderbe dir, Freund, feinen Geschmack nicht an süßlichem
Seim.
Ich klatschte Beifall
und bescheinigte ihm, damit recht zu haben. Denn ein jeglicher Schwulst,
schwang ich mich auf, sei allemal nur Schlagrahm auf einem ordinären Wortschwall.
Dabei ging mein Blick den Berg hinauf. Ich zuckte richtig zusammen und hob mit
einem zwar nur kleinen, dennoch Freudensprung ab und schrie: Du lieber Himmel!
Endlich diese verdammte Hütte, dieses Bretterbuden-Bergherberge-Ziel!
An Karl vorbei. Dann
noch die paar hundert Meter. Beinahe leichtfüßig, vom Trost getragen.
Schuhe runter. Diese
Wohltat. Einen Eimer. Die Füße ins Wasser. Wonne!
Ich saß lange da und
habe sinnlich doof vor mich oder sonst wohin geglotzt. Am Ende kippte ich mir
das Wasser über den Kopf.
In der Hütte dann
waren schon Leute. Scharen strömten noch herein.
Über
meiner Suppe wurde es draußen dunkel. Drinnen Wärme. Geborgenheit. Die Stimmen
vermischten sich mir allmählich zu einem wabernden Durcheinander. Tuchfühlung.
Die Luft bald zum Schneiden. Geborgenheit. Das Brot. Der Speck. Ein Bier und
noch eins. Aufgeräumtsein. Und die Füße waren weg.
Da hinein schwappte
der Hüttenzauber: Der Wirt blies Mundharmonika (den einer als Fotzhobel
bezeichnete), jemand füllte mit Gesang auf. Sofort stimmten noch ein paar ein
und der Funke sprang schnell über und bald war der ganze Raum in Laune:
Bergfreiheit, Kameradschaft, Liebe der Heimat, Treue der Maid, ... vorgesterte
es sich lautstark. Ich bemühte mich, nach jedem Bissen meinen Beitrag dazu zu leisten.
Dann wurde auch der Schütze Jennerwein gesanglich wieder gemeuchelt, vom feigen
Jäger und gemeinerweise von hinten her ... Weit in die Nacht hinein ging es.
Selbst Karl summte an einigen Stellen mit. Ich hing doch bald dumpf über meinem
Bierkrug. Aus meinem Dunst heraus versuchte ich trotzdem beim zweiten Mord am
Schützen, mit meinen Hervorbringungen wieder den Chor zu erreichen. Der war mir
allerdings immer ein bisschen voraus. Das bekam ich doch noch mit, konnte
jedoch nicht taktfassen. Habe es schließlich sein lassen. Eitel Eintracht. Bis
die Gesangesbrüder und -schwestern ermattet waren und ihre Mühe hatten und
allmählich einer nach dem anderen abtauchten. Der Raum leerte sich. Ich sagte
mir, dass ich eigentlich auch auf die Matratze sollte. Doch ich fühlte, dass
ich zum Schlafen von der Anstrengung her zu aufgezogen war. Es würde nur zum
Dösen reichen. Da zeigten sich einige jüngere Wanderfreunde noch unermüdlich.
Stellten die alte gesanggefasste Behauptung auf, dass das Zigeunerleben so lustig
sei. Einer tauschte dann beim zweiten Ansatz dazu das Zigeunerdasein gegen ein
job-loses Leben und dass man da der Steuer kein Geld zu geben brauche. Er trat
damit allerdings sofort einen Wortwechsel los. Als habe Karl Sorge, ich könnte
dazu meinen Beitrag leisten wollen, erteilte er mir den Auftrag, Speise, Trank
und Unterkunft zu bezahlen. Sein Zimmer, meinen Platz auf dem Matratzenlager.
Ich befolgte seine Weisung wortlos und rappelte mich auf. Ich stand wie auf
Schwämmen. Wollte mich wieder auf die Bank fallen lassen. Doch durchgestanden!
Ein paar Sekunden, bis es sich ausgependelt hatte.
Als
ich dann wieder zurück war und mich schwer schnaufend auf die Bank hatte sinken
lassen, hörte ich Karl reden. Eigenartig, so wie vor sich hin. Schenkte dem
erst keine Aufmerksamkeit. Fetzen des Disputs schwappten noch von der andren
Ecke herüber und überdeckten immer wieder Karls Aussendung – wenn es denn
überhaupt eine solche war und nicht nur ein Selbstgespräch. Allerdings tauchte
da ein mir bereits bekannter Name auf. Grit. Ich ahnte, dass er mit seiner Girly-Geschichte
weitermachte. Dann wurde Karl doch vernehmlicher: Diese Grit habe doch einen
geschlagenen Monat lang versucht, bei ihm zu landen.
Ich echote: Landen!.
Ich wollte es mit Humor nehmen: Grit sei ja eine Goldfee und als eine solche
lande sie nicht, sondern schwebe heran. Ich behielt es jedoch für mich und ließ
ihn an seinem Text: In ihren Aktivitäten soll sie nicht engspurig gewesen sein,
hörte ich. Ich konnte erfahren, dass Grit alle Register weiblicher Werbetechnik
gezogen hatte, von einer die Figur unterstreichenden Garderobe bis hin zu
nachgerade ausgebufften Mitteln – die ihm, Karl, jedoch seine Kavalierspflicht
zu verschweigen gebiete –, bevor sie, besagte Grit, zur Attacke für das letzte
Gefecht angesetzt hatte.
Karl beteuerte, dass
auf diese Weise und in dieser Situation selbst das simple Wort zu so einer
Liebesbeschwörung gedeihe, der man als Mann auszuweichen, wenn auch mitunter
Willens, so doch nicht so leicht in der Lage sei.
Er nippte noch einmal
an seiner schalen Neige.
Mensch, Karl!, dachte
ich mir, wann machst du Sendeschluss? Der Schädel war mir so schwer. Stützte
ihn auf beide Hände.
Dann wollte mir Karl
weismachen, zu dieser Grit trotz allem nur höflich gewesen zu sein.
Ich raffte mich noch
einmal auf, um mich Karl zuzuwenden und ihn fragend anzuschauen und bei mir etwas
Unwirsches wenigstens in die Miene zu kriegen.
Er ließ sich davon
nicht beeindrucken. War gleich bei dem Punkt, an dem seine meinetwegen schöne
und offenbar verknallte Begleiterin in ihrem Bedürfnis nach Hautkontakt seine
Hand suchte.
Mit Hänsel und Gretel
im finsteren Walde, habe ich mich auf Heiterkeit versucht. Doch auch das zog
bei ihm nicht.
Als Grit wegen eines
Geräusches, das aus dem Dunkel der Bäume gekommen sei, heftig erschrak, habe
sie sich an ihn gedrückt und umschlungen. Er wollte sie nur in einer väter-
oder brüderlichen Art beruhigt haben. Er gab vor, nach einer Weile Streichelns darauf
gedrungen zu haben zu versuchen, das vereinbarte Ziel zu erreichen. Nämlich
der Pflicht genügend. Selbst wenn es sich lediglich um Whisky handelte und eine
Party.
Karl leerte sein Glas
mit dieser nun schon urinig aussehenden Flüssigkeit und bekräftigte, dass er
tatsächlich sogar in dieser doch zugegeben eher gemütsbefrachteten Situation
den Begriff Pflicht verwendete. Er hielt drauf einen Augenblick den Mund.
Prima, dann werden wir
uns wohl endlich aufs Ohr hauen.
Als ich ihn dann anschaute, fiel mir allerdings auf, dass er
so ein eigenartiges Schmunzeln draufhatte. Da kommt noch was! Ich wollte
trotzdem vorschlagen aufzubrechen. Da war er auch wieder auf Ansage – und hat
immer noch dieses heitere Gesicht: Als er mit Grit und dem Whisky wieder durch
die Landschaft zog und das Wasser nun links seine Geräusche machte und die
Bäume logischerweise rechts rauschten. Da musste es Grit plötzlich sehr heiß
geworden sein. Sie habe sich flugs enthüllt und sei nackt wie Eva im Paradies
vor ihm gestanden und himmelte ihn mit großen Nachtaugen in seine Verwunderung
hinein an und sei dann weg und in den See hinein gelaufen. Wozu Letzterem er,
Karl, als guter Nicht-Spielverderber eilig nachzuahmen gezwungen gewesen sei.
Ein paar tolle Delfin-Schmetterer und auf sie zu, mit ihr dann herumgeplantscht
und gelacht und getobt und sich gehascht und gefasst und am Ende in Nähe des
Ufers, noch ganz außer Atem, gleichwohl von Tollheit getragen, getrieben,
aufgeheizt ... – Ob ich schon mal im Wasser ..., stehend? – Wunderbar! Allein
mit wunderbar nicht annähernd treffend zu umschreiben! Sie, vom Wasser
getragen, leicht wie eine Feder und gelenkig wie eine malaiische Tempeltänzerin ... Unsre heiße Laune – bis zum Hals im
kühlen Nass ... und Grits Schenkel um meine Hüften geschlungen ..., hat sich
Karl – in meinen Augen für seine Verhältnisse überraschend heftig – in diesen
Erinnerungsschemen fallen lassen ...
O Mann!, jammerte ich
in mich hinein. Die Füße waren mir wieder da. Ich führte das leere Glas müde
zum Mund, so nur als Geste oder Ritual der Verlegenheit oder sonst was – und
hoffte, dass mit dieser Rumschleimerei da im Wasser nun alles sein Bewenden
habe. Ein Wenn-sie-nicht-gestorben-Sind wollte ich ihm eigentlich als Finale
bieten.
Ich werde Grit in ein
paar Wochen heiraten!, ertönte es neben mir. So was von trocken war das rübergekommen!
Mensch, dieser stressige Tag, diese üppige Story, diese dürre Anzeige. Es
verwirbelte sich alles in meinem Kopf. Drüber kreiste die Frage, warum er
gerade mir das alles zumutete? Das setzte mir wohl den Schlusspunkt. Ich musste
richtig wegtaucht sein. Vermutlich schleppte mich Karl zum Matratzenlager und
ließ mich in der Dunkelheit dort irgendwo fallen – oder hat ... lassen. Bevor
er sich auf sein Zimmer begab.
Rumpeln, Umherhuschen
..., mein Brummkopf ... Noch stockdunkel – es musste jedoch Morgen sein. Also
hervor unter der Decke und angerüstet ... bei jedem Auftreten ... Rucksack
geschultert, Aufbruch. Die ersten hundert Meter waren die Schritte
auszubalancieren. Die Steine auf dem Weg. Immer wieder ein Umknicken. Dann das
Reißen ums Gerippe. Ich war obendrein in Gesellschaft eines Typen, der gestern
zu später Stunde mit seiner Liebes-Vita sozusagen vor meinen Augen abgestürzt
war. Über einen großen Felsbrocken führte der Weg jetzt. Oben kurz angehalten.
Du lieber Himmel! Karl und seine Wonneaktion. Der Kerl besteigt doch alles!
Demnächst erklimmt er auch einen Monetenberg beträchtlicher Höhe ...
Beim Abstieg begann
es zu schieben. Das brachte mich zunächst von Karl ab. Andere Muskelpartien
waren heute dran. Eine eindringliche Lektion in Anatomie ... Trotzdem schrillte
mir Karls bizarre Romanze immer wieder auf. Gewissermaßen als grelle
Zwischenmusik.
In dieses Konzert
hinein dröhnte hinter mir ein Paukenschlag: Du kommst zu meiner Hochzeit! Mit
einem Nichtwahr?, das er nachschob ein wenig abgedämpft, aber immerhin.
Ich war baff.
Vermutlich habe ich nur etwas irgendwie bejahend Klingendes gemurmelt. Ich
unter diesen gefirnissten Leuten! Wie sich kleiden, wie überhaupt auftreten –
und ein Präsent? In diesen Wirrwarr von Verlegenheiten
setzte Karl die Weisung: Dass er davon ausgehe, dass über sein Happening in
meiner Zeitung eine ganze Seite zu sehen sein werde. Er behielte sich
selbstredend das Plazet vor.
Noch beschäftigte
mich zwar auch meine bedrängte Körperlichkeit. Allerdings wurden meine Kopftöne
immer harmonischer. Denn ich entdeckte das Labsal, gefragt zu sein. Spielte mir
da sogar hinein, dass sich die ganze Plackerei hier gelohnt haben könnte. Es
gehe Karl doch nicht etwa nur um ein einfaches öffentliches Aufsehen, war ich
mir gewiss. Freund Karl hat mehr vor – wie stets. Nun sogar mit mir. Bei diesem
Einfluss dieser Großinserenten und dieser Anteilseigner, mit denen er verbunden
sein wird ...
Nachdem ich mich bis
ins allmählich wieder richtig üppig werdende Allgäuer Grün über die Umstände
meiner Wanderung und mich selber ausreichend gewundert hatte, sickerte mir
etwas mit aller Deutlichkeit ins Bewusstsein: War ich auch beim Aufstieg Karl
zugegebenermaßen etwas nachgestanden, so durfte ich mich jetzt wohl, wenn auch nicht
gerade oben-, so doch ebenauf fühlen. Diese Erkenntnis wurde von mir sofort
noch damit umrahmt, dass ich gewiss auch ein paar Pfunde von meiner Körperfülle
hatte abtragen können. So war ich mir sicher, dass mein Leben in jeder
Hinsicht bald leichter sein würde.
Wo ist eigentlich ein
Gipfelkreuz?, überkam es mich am Ende noch einmal. Es durchrieselte mich
angenehm: In gewissen Lagen des Lebens könnte man ja dem Himmel dankbar sein.
Den Blick nach oben, suchend, schritt ich aus – bis ich mit dem
Fuß an einen Stein stieß, strauchelte und beinahe ..."
Es ist jetzt Nacht geworden über deinen
Notizen. Diese Anstrengung. Du holst dir was zum Essen. Willst es fast
sozusagen hochstilisieren als Gipfelschmaus: Bergheil sagt man da und setzt
sich und futtert was. Dieses schwere Ich hast du da mitgeschleppt, kommt es
dir nun vor ... Aber weg davon, mache den Abstieg alleine!
Du hattest ja am Ende dieser Tour damals nur
noch den Gedanken gehabt, die Sache mit den Nackedeifotos abzuschließen. Indem du
von dieser Hochzeit berichten würdest. Das war bei dir sofort da, dass du
daraus was manchen würdest. Im Endeffekt würde dadurch diese Erzählung von Karl
einen gutbürgerlichen Schlusspunkt erhalten, war dir eingefallen. Mit
Pläneschmieden hattest du dich damals über deine Schmerzen an deinem
Fahrgestell hinweg einigermaßen bei Laune gehalten. Den Parkplatz bereits im
Blickfeld, ließ dich den Vorsatz festzurren, dass dein Bericht durchaus
angemessen sein sollte, nämlich üppig, dabei vollkommen bürgerlich anständig,
und zwar mit jeglichem Verzicht auf jedweden bissigen gesellschaftskritischen
Seitenhieb. Karls Hochzeit sollte stark herauskommen. – Und ist es dann
freilich auch. – Du könntest sogar versuchen, diesen Vorgang zum Ereignis des
Jahres hochzustilisieren. Du wärst das dem ehemaligen Schulkameraden geradezu
schuldig, klar, Ehrensache. Andererseits kämst du damit auch diesen Kreisen und
letztendlich der darauf gierigen Öffentlichkeit entgegen. Obendrein hättest du
dich mit einer noblen Geste aus diesem Fall verabschiedet – damit ja
gleichfalls von diesem Kerl, der immerhin einmal Charly und Charles gewesen war.
Und schier ein Halbgott.
Im Übrigen hattest du auch durchaus glauben
dürfen, dass nach dir gefragt werden würde, wenn du das mit dem
gesellschaftlichen Ereignis um Karls Hochzeit als Rakete zustande brächtest.
Dass du damit etwas Wesentliches für dich selber getan hättest und du fürderhin
in solchen Angelegenheiten gefragt sein könntest, von wem auch immer! Wie Recht
hast du gehabt, sagst du dir jetzt – und nimmst einen kräftigen Schluck ...
Schau den Tatsachen ins
Auge, sonst gehst du dir selber auf den Leim
Ein paar Tage hast du die Schreiberei sein
lassen. Du hast dich ausgeruht in der Vorstellung, dass dieses Schreiben ein Ordnungmachen
ist. Auch wenn dir immer der letzte Durchblick fehlt. Wer hat den aber schon,
bevor eine Sache ganz zu Ende ist? Was wiederum einer selber nicht erleben kann
– wie du es dir bereits ausgedacht hattest, nämlich als den Kalauer des Lebens:
dass ja keiner sein Ende erlebt.
Du bist für diese Weile zur anderen Seite
gewechselt und liest. Frischs 'Stiller' in der Hand. Du liegst auf dem Bett.
Das Buch sinkt dir immer wieder herab ...
Dann musst du wohl richtig eingeschlafen
sein. Wenigstens für ein paar Minuten.
Von der Türklingel bist du wach geworden.
Du nimmst den 'Stiller' und legst ihn zur
Seite – ach ja, diese Stelle, wo im Postskriptum notiert wird: 'Ich habe keine
Sprache für die Wirklichkeit ...', erinnerst du. Anatol Stiller hätte es auch
nicht in deinem Job geschafft, denkst du noch, während du dich in Richtung Tür
aufmachst. Du hast ja selber keinen Ton für ein Publikum, haust du dir um die
Ohren.
Du schlurfst verpennt und in deinem lappigen
Pyjama zum Eingang.
Wer denn hat eine Sprache für die
Wirklichkeit, die im Grunde unaussprechliche?
Du passierst den großen Spiegel. Da klingelt
es noch mal. Dir ist es egal.
Das Badezimmer mit dem Thron drin hast du
die letzte Zeit nur noch aufgesucht, um etwas abzuschlagen. Die Mutter – wo
kommt die jetzt in deinen Kopf? Zum Kotzen musst du aussehen. Ach, Junge, hätte
die Mutter gesagt, wie siehst du denn aus? Ach Junge!
Durch den Spion entdeckst du eine Uniform.
Sei wachsam, hast du dir die letzten Tage dauernd gesagt. Dein Schiss. Weil
dich die Gangster linken könnten, verkleidet und sonst irgendwie. Du nimmst
trotzdem die Kette weg und machst auf, und der Mensch starrt dich an, von oben
bis unten, fährt mit seinen Blicken ein paar Mal an dir rauf und runter.
Du nimmst die Hände vorne zusammen wie ein
Kicker beim Strafstoß. Und versuchst einen zornigen Ausdruck ins Gesicht zu
kriegen. Abwehr geht dir durch den Kopf: Ein Würstchen dir gegenüber, siehst du
auf den ersten Blick. Auch von Statur. Du wirst dich wehren. Den haust du glatt
über den Haufen, wenn es einer von den Banditen ist. In der Presse dann:
Journalist schlägt Gangster nieder.
Während du dich noch deinen Blödheiten
hingibst, wedelt der Mensch ungeduldig mit einer Post. Einschreiben, sagt er
barsch.
Du greifst danach.
Der Kerl zieht jedoch den Wisch weg, dass du
ins Leere greifst.
Das stinkt dir. Du müsstest erst ein
Autogramm geben, fordert er.
Er hält dir den Stift mit einer gnädigen
Geste hin und schaut dabei irgendwie wissend drein.
Das stinkt dir noch mehr als das vorhin. So
einem steht so eine Nummer nicht zu, regst du dich auf. Behältst es aber für
dich. Strafst ihn nur mit Blicken. Man muss über den Dingen stehen, sagst du
dir, während du deinen Namen hinkritzelst. Ein uniformierter Beamtentyp, denkst
du, gleich zwei Charaktermängel. Er hat so eine Bewegung gemacht, als wolle er
den Stift abwischen, bevor er ihn wieder wegsteckte. Du trittst grußlos den
Rückzug an und knallst das Loch hinter dir mit dem Fuß zu.
Musst du verpupt aussehen. Vielleicht war es
das? Wieder am Spiegel vorbei, ohne hineinzuschauen.
Drinnen erst liest du: Personalabteilung.
Das schockt. Personalabteilung. Das geht dir durch und durch. Du bist wie
angewurzelt stehen geblieben. Personalabteilung! Deswegen dieser Blick von dem.
Personalabteilung! Dieser Absender! Das kann ja eigentlich nur eines heißen!
Es krampft richtig in der Brust. Die vielen
Zigaretten immer. Du denkst bereits wieder dran, dir eine anzustecken. Jetzt in
dem Stress. Du bist am Tisch stehen geblieben. Und weißt nicht genau. Nur
Personal ... Nicht etwa Betriebsleitung. Bist du denn nur Personal? In deiner
Position muss es Betriebsleitung heißen, wenn es denn so sein sollte, wie du
befürchtest. Nämlich dein Aus.
Du bist zu feige zum Aufmachen.
Das Kuvert auf den Tisch. Du hast den Wisch
nur mit zwei Fingern angefasst. Du weißt erst nicht genau warum. Da fällt dir
Briefbombe ein. Sofort stürzt du dich auf diesen Einfall: Weiß man es? Wenn sie
dich beseitigen wollen, samt deinem Wissen um die Vorgänge da bei Karls Brand.
Dann gehen sie freilich in die Totale. Wie du sie jetzt einschätzt mit ihren
Verbrechern, die sie auf dich gehetzt haben. Wenn du überflüssig bist für sie,
bist du eben Abfall für sie. Die entsorgen dich nach Belieben ...
Du hast jetzt doch nach dem Messer
gegriffen. Zum Aufschlitzen. Du siehst auf die Schneide – und auf deine
Pulsadern ... Aber du lässt es sein – und auch diesen überraschenden Gedanken.
Du legst das Messer weg. Du legst das Kuvert mitten auf den Tisch. Ganz
herausfordernd gegenwärtig. Um dich selber für deine Feigheit zu strafen. Nicht
aufgemacht zu haben – und sonst was.
Diesem Briefausträger – und dem anderen
beamteten Pack im Staatsfilz – könnte das nicht passieren. Rausschmiss. Der
größten Flasche nicht.
Du hättest ja den Postboten fragen können.
Er hätte es dir sagen können, was er da expediert hat. Ein Postbote reibt den
Brief ein paar Mal zwischen Daumen und Zeigefinger und weiß dann, was da
drinnen steht, bist du überzeugt.
Du gehst aufgeregt in deiner Bude auf und
ab. Laberst laut vor dich hin.
Der täuscht sich
gewaltig, wenn er glaubt, er wüsste es. Da kann er noch so schlau dreinschauen.
Nicht mit dir! In deiner Position. Wenn schon Rausschmiss, dann Rausschmiss erster
Klasse und gefälligst vom Chefbüro und gefälligst mit Handschlag und was drin
in der Hand! Du hast ein Recht auf den Tritt ins Hinterteil mit einem
gewichsten Stiefel.
Eine Zigarette. Du bist wieder etwas ruhiger
geworden.
Ist es denn wirklich so, fragst du dich unvorsichtigerweise.
Gleich drauf kommt dir
der 'Stiller' wieder mit seinem Problem der Selbstverlorenheit. Ist das denn
deine Wirklichkeit?
Man weiß es nie so richtig. Jedenfalls hast
du dir jetzt mit der Frage nach der Wirklichkeit selber Respekt eingeflößt.
Dummerweise vor der Erbarmungslosigkeit des Ungewissen. Du lachst laut. Du
musst dich ablenken. Du schaust umher – und du wunderst dich, dass ein so
leeres Zimmer so unaufgeräumt sein kann. Dann musst du irgendwann eingenickt
sein. Du hast auch wieder geträumt, erinnerst du jetzt: Du wolltest einen auf
Vogel machen. Du wolltest immerfort fliegen. Da waren auch Zuschauer. Aber du
konntest die Gesichter nicht erkennen. Du gabst dir alle Mühe zu fliegen. Hättest
auch gerne die Gesichter gesehen. Das waren jedoch lauter visagelose Gestalten,
die dich da sogar in deinen Bemühungen ermutigen wollten. Dann bist du wirklich
geflogen! Wie ein Vogel. Mit nackten Armen. Auch kamst du ein ganzes Stückchen
nach oben. Die Leute waren jetzt weit unter dir. Du hast es immer wieder
unternommen. Und zwar unter dem Zuruf der Leute. Die da auch aus ihrer Mundlosigkeit
zu dir Laute ausstießen. – Dieses Sprechen ohne Mund, vielleicht war es das ...
Da liegt der Brief noch immer! Wenn
vielleicht auch keine Briefbombe, so doch jedenfalls eine Zeitbombe. Die längst
hochgegangen ist. Ganz absurd in der Allmählichkeit einer Zeitlupe.
Dieser Papierfleck hat sich nach der kurzen
Zeit bereits hier richtig eingenistet. Hier in deinem Loch – oder überhaupt in
deinem Hirn. Er wertet sich jedenfalls mit jedem Blick auf, den du draufwirfst:
Das Ding hat sich längst mit dem Staub auf dem Tisch verbündet, dehnt sich aus,
überzieht alles, quillt auf in deinem Bewusstsein.
Als du wieder hinsiehst, hat sich die
Tischplatte mit dem Graupapier und dem Staubschleier verbündet. Alles gegen
dich! Da beginnt es sich zu drehen in deinem Kopf und zu mischen – und mischt
dich auf.
Und steht wieder still.
Du greifst dir an den Kopf. So etwas
Verrücktes. Als du wieder einen Blick darauf wagst, entsteht gleich so etwas
wie Harmonie vor deinen Augen. Schier ein Stillleben wird daraus. So ein
Zusammenklang. Ein Vanitasbild, hat man gelernt – ja klar: Kult der
Vergänglichkeit, Kult der Vergeblichkeit ...
Nun muss auch der Rest zu Papier. Die ganze
Sache da mit diesem Bastard von Mentenheim. Bevor du draufgehst. Wenn sie
wieder Typen schicken, die dich vielleicht doch allemachen sollen. Oder wenn du
vor dem Finale für dich noch mehr Schiss kriegst. Lauter solche Gedanken
kommen, hier in deinem Alleinsein. Wo du mit deinen Verrücktheiten haust.
Diesen quirligen Stallgefährten.
Man soll das finden, wenn der Kratzfuß
gemacht ist. Man soll sich seinen Reim darauf machen, auf das alles, sagst du
dir. Man soll die Ermittlungen aufnehmen gegen die Verbrecher da ...
Aber erst etwas futtern, vielleicht kommen
solche Gedanken auch vom leeren Magen. Tische dir doch endlich deine paar
Tröstlichkeiten auf! Die dich wieder zurückholen ...
"Man
ist ja schließlich wer:
Nach all dem Zauber
da auf der Hütte hoch droben, nach der ganzen Plackerei um Aufstieg und
Abstieg, ist nicht daran zu denken gewesen, so etwas wie einen Kontakt zu Karl
aufrechtzuerhalten. Du hast bei dir nicht einmal den Bedarf ausmachen können,
zu Karl eine lose Verbindung aufzunehmen. Nicht nach diesem von ihm in der
Berghütte vollzogenen Outing. Karl hatte jedenfalls selber das schöne Bild von
sich durch diese unsägliche Ausbreitung seiner Liebesgeschichte zerstört. Eine
Vorstellung im Übrigen, diese Sache da mit dem Bild von sich, die dich freilich
hie und da auch wieder in eine Frage verwickelt hat: Zeichnet Karl denn für
sein Bild, das du von ihm hattest, wirklich verantwortlich? (Diesen Konflikt
bist du Karl schuldig gewesen, besonders in Anbetracht der deine Karriere
betreffenden Behilflichkeit von Karl, wovon hier noch die Rede sein wird.) Ob
deine Anschauung von Karl nicht auch nur deine eigene Angelegenheit war? Jeder
Mensch ist ja sozusagen sein Gestalter, malt sich sozusagen sein Weltbild
selber aus, samt der ganzen sich darin befindlichen Menagerie. Er kommt in
seinen Abbildungen jedoch selten über ein Hobbyniveau hinaus, hast du dir in
einem deiner formulierfreudigen Augenblicke gesagt (einer Berufskrankheit, wenn
man so will, mit der man sich nachgerade aufheizen kann und am Ende selber
glaubt, was man sich da zusammengebastelt hat). Bisweilen in so etwas wie
Gewissensbisse verfallend, hast du dir Vorwürfe gemacht, dass es eventuell
nicht so fair sei, jemandes Wesen in einem Abbild zu verdinglichen, das du am
Ende natürlich zu benützen, nämlich zu ge- und verbrauchen trachtest.
Beruflich war es dir
allmählich leichter geworden (vermutlich – wie angedeutet – dank Karls
Protektion). Zwar hast du mehr aufgebürdet bekommen, sogar Verantwortung
(nämlich für die Qualität, sprich Griffigkeit des Stoffs, und dass man in
Konflikten rechtlich stets ungeschoren davonkam). Dabei hat es sich um eine für
dein, zugegeben, Selbstwertempfinden einigermaßen bedeutende eigene Sparte
gehandelt, die sie dir aufgebürdet hatten (da focht es dich dann nicht so sehr
an, dass es dabei im Grunde lediglich darauf angekommen ist, platten Gesellschaftsklatsch
zu produzieren, respektive zu verbreiten). Du hast nun arbeiten lassen können,
und zwar von einem richtigen, zwar kleinen, aber immerhin Stab. An diesem
wiederum ist eine ganze Traube von Pflastertretern gehangen und Zuträgern. (Betrieblicherseits
hat man diese Quelle der Information gepflegt und hatte eine eigene Kasse
sozusagen als Fond für Eventualitäten eingerichtet.) Hervorzuheben, da sie in
der Regel kostenlos gearbeitet und nicht selten große Nummern gebracht haben,
sind jene Informanten, deren Motive auch einmal im Bereich der schieren
Eitelkeit, der Rachsucht oder auch nur der Wichtigtuerei gelegen haben mögen.
Du hast sie Idealisten genannt. Alle deine schreibenden Zuarbeiter sind von dir
mit Regeln konfrontiert worden, die du dir setzen und selbstredend in deinem
Büro gerahmt aushängen hast lassen ..."
Du musst einmal sehen, ob du etwas von
diesem Gebilde noch erinnern kannst. So etwas mit Satzbau war es, Kommas ...
Gehe möglichst .... Es ist ja eigenartig, dass man es, obwohl man es selber
verfasst hatte, jetzt gar nicht mehr richtig zusammenbringt. Obendrein hing es
– ja ... Menschenskind! ‘Hing’! Ob es da noch hängt, jetzt, wo du nicht mehr
dort bist? Ob es dein potenzieller Nachfolger ... deine Vertretung ...
Schrecklich, diese Gedanken! Du musst dich
ablenken!
Du musst ja hier irgendwo noch einen
Schmierzettel davon haben. Irgendwo in einer Schublade hier.
Das ist die Besonderheit
der liederlichen Leute, dass sie nichts wegschmeißen. Dass alles erhalten wird,
wo immer es anfällt.
Du gehst in diesem Vertrauen zu dir und
kramst in deinem Wust herum. Doch das ist nichts weiter als ein Herumwühlen. In
der Vergangenheit. Diesem Abfallhaufen! Mensch, eine Strumpfhose! In deinem
Kram ein solches Requisit? Du und so ein Ding. Du ein Travestit, Fetischist ...
Was für Sachen sie dir angedichtet hätten,
wenn die Polizisten deine Bude gefilzt hätten ... Kann nur von Elsbeth sein,
das Ding. Du wunderst dich, dass so etwas zum Vorschein kam.
Dann wunderst du dich,
dass Elsbeth überhaupt so etwas hatte – was du an ihr gar nicht erinnern
kannst. Wo sie doch Wollenes bevorzugte in ihren ewigen Sandalen.
Ach ja, Elsbeth, die Gute!
Hätte Elsbeth dir zugeraten oder hätte sie
dir abgeraten, so ein Plakat mit solchen Ergüssen auszuhängen? Sie war
Realistin, immerhin. Hätte dich ausgelacht. Bestimmt. Es läuft dir kalt über
den Buckel bei dem Gedanken, wie du dann wieder dagestanden hättest, ihr
gegenüber. Mit ihrer ganzen Überlegenheit ...
Hier! Jetzt hast du doch so ein Teil
tatsächlich hervorgekramt!
Ob Elsbeth verstanden hätte, dass dir das
ein Instrument war?
War?
Ein Werkzeug der Macht, sozusagen:
" - Gehe
möglichst über ein Komma in deinen Sätzen nicht hinaus, geschweige denn, dass
du Schachtelsätze baust.
- Versage dir jeden
Anflug von Elaboriertheit und vermeide bereits geschraubte Begriffe wie diesen
selbst. Unterlasse es nämlich, deine Bildung herauszukehren.
- Verfalle nicht der
Verhauptwortung, denn kleingeschriebene Wortarten wirken, in ihrer Unschuld
belassen, wesentlich aktiver.
- Die Konjunk- und
Genitive lasse den blaunäsigen, literarischen Schreibern.
- Riskiere
kleine Lapsus, damit solidarisierst du dich mit der Masse. Selbst den
Bildungsbürger befriedigst du, weil dieser sich immer dann überlegen und damit
wohlfühlt, wenn er jemandes vermeintlichen Bildungsmangel aufdecken, markieren
und zensieren kann.
- Stilistisch
halte dich auf Niveau der Schlagzeile. Es muss dir gelingen, die im Aufmacher
angeschlagene Tonart beizubehalten. Nur auf diese Weise kannst du deinen
eiligen Diagonalleser auch auf Zeile halten.
- Würze
die Information gut dosiert mit Klatsch, um Lesefreude zu stiften.
gez. ...
in Vertretung deines Freundes, des Anteilseigners"
Ja, man muss sich auch
einmal etwas Bizarres gönnen dürfen im platten Alltag!, schäkerst du in dich
hinein und schreibst weiter:
"Natürlich
haben sich die Profis nichts aufdrücken lassen, und die Amateure sind (das hast
du dir gleich vor Augen gehalten) damit bestimmt überfordert gewesen.
Vermutlich ist dieses
Unterfangen gelegentlich belächelt, möglicherweise selten ganz gelesen worden.
Diese Gebotstafel an der Wand hat allerdings seine Dienste getan, zum Beispiel
um den Anfängern die Texte (begründet!) gehörig röten zu können. In einem Fall
erhielt dieses Werk quasi die Krönung dadurch, dass es der Personalleitung zur
Abwendung der gerichtlich angeordneten Rücknahme einer Kündigung dienen konnte.
Sie hatten den Göllner wegen fachlichen Versagens oder so etwas
rausgeschmissen. Mit deinem Register konnte die Betriebsleitung immerhin
nachweisen, dass fachliche Spezifika als Forderungskatalog stets gegenwärtig
waren. (Sie haben jedenfalls bei Gericht im Verfahren, welches der
fortgeschickte Göllner angestrengt hatte, darauf zurückgegriffen. Du hast deine
Tafel allerdings vom Chef mit der doch immerhin rüden Bemerkung zurückbekommen,
deine Schöpfung ruhig wieder auszuhängen, aber nicht etwa fortgesetzt solchen Schwachsinn
zu produzieren, der einen ganzen Gerichtssaal wieder in Hohngelächter
ausbrechen lassen würde.)
Du hattest immerhin
das Erbe eines auf Intervention von außen hin zu Fall gekommenen Vorgängers
angetreten. Aufgrund dessen und des eben aufgezeichneten, im Grunde ja
wohlmeinenden Rates bist du auf Vorsicht getrimmt gewesen. So hat es unter
deiner Regie unerbittlich professionell zugehen müssen. Dir hat nichts entgehen
dürfen, weder in deinem Laden (was wird wo gehandelt; wer mit wem oder gegen
wen; wo wird gerade und mit welchem Mittel gesägt ...). Auch auf deinem
außerbetrieblichen, quasi makrokosmischen Beobachtungsterrain hat dir natürlich
nichts entgehen dürfen (grundsätzlich unter den Gesichtspunkten, die auch für
deinen Mikrokosmos Geltung gehabt haben). Es ist dein Ehrgeiz gewesen, vor Ort
führend zu sein – und es auch zu bleiben. Zugegeben, du hast in diesem deinem
Geschäft und bei den hohen Ansprüchen in der Sache, die du an dich und deine
Mitarbeiter gestellt hast, gelegentlich auch in die Kloake greifen bzw. greifen
lassen müssen und hast bei Botschaften nicht gerade auf reine Himmelsgeister
als Übermittler setzen dürfen.
Das ist jetzt Ihr
Ressort, hatte der Alte zur Einführung geknurrt. Aber wenn Sie stolpern, Mann,
dann kriegen Sie einen Tritt von mir höchst persönlich, und zwar noch bevor Sie
wegen ihres Versagens richtig am Boden liegen! Da fallen Sie noch, darauf
können Sie Gift nehmen, da spüren Sie schon meinen Stiefel am Hinterteil! Er
hatte nach dem verbal getretenen Gesäß ein paar Mal genüsslich an seiner
Zigarre gesogen.
Damit Sie gleich
ordentlich wissen, hat er noch eins draufgelegt, woran Sie bei mir sind: Die
beiden Sätze habe ich verflucht ernst gemeint. Aber ich habe sie nie
gesprochen, wenn mich jemand danach fragen sollte. Und ich schwöre darauf auch
vor jedem Gericht jeden Eid, dass das so ist!
Die Zigarre war ganz
breitgekaut, und der braune Sabber hatte dem Alten in den Mundwinkeln geklebt.
Du hattest dich dafür insgeheim gerächt: Was gewöhnlich als Mund bezeichnet
wird, sieht bei diesem Barbaren aus wie eine vergammelte Kloschüssel.
So etwas wie deinem
Vorgänger würde dir nicht passieren, ist einer deiner geheimen Leitsätze
gewesen. Du warst lange genug ein kleines Würstchen, und sie hatten dich in
deinen eigenen Senf getunkt, und zwar wann und so tief sie wollten, und sie
haben abgebissen von dir, was sie wollten. Nicht nur der große Alte, auch die
kleinen und ganz kleinen Alten. Jetzt aber musst du zu einer Kondition
auflaufen, hast du dir dauernd gesagt, dass einer wohl seine Schnauze so weit
aufreißen muss, dass es ihm den Kiefer aushängt, wenn er wieder beißen will.
In der neuen Position hast du Aufträge
zugeteilt, Themen ausgewählt, im Wesentlichen nur noch Ergebnisse stilisiert
(um Begriffe wie das Redigieren und das Rewriting zu vermeiden, unter denen man
selber so gelitten hatte). Aber immerhin. Man ist gewichtig in seinem Sessel
(dunkles Leder mit hoher Lehne) gesessen, ist nicht mehr so abgehetzt und auch
nicht mehr so hin- und hergerissen gewesen – zwischen den Polen seiner
lästigen, im Grunde doch stets undefinierbaren Innerlichkeit. Was sind auch
seit deinem Karriereschritt die Extreme gewesen? Doch nicht etwa diese
kindlichen Gegenfüßler Gut und Böse. Nichts steht still, auch das
Werteempfinden der Gesellschaft nicht, hast du dir mit deiner humanistischen
Bildung vor Augen halten können (denn auch die Moral hat ihr Verfallsdatum, da
kann sie beispielsweise im Schoße der Kirche noch so gut konserviert sein).
Zwischen Recht und dessen Verletzung hast du allerdings ab und zu geschickt
auspendeln müssen. Ob man das Küsschen-und-Mehr der Prinzessin, das sie einem
anderen als dem Ehemann geschenkt hatte, herausposaunen hat dürfen oder nicht.
Ob man das liederliche Verhältnis eines Ministers hat publik machen dürfen. Die
immer üppiger werdenden Schmiergeldgeschichten bei öffentlichen Bauaufträgen
... Jedoch sind die Grenzen der gesegneten freien Meinungsäußerung
bekanntermaßen ziemlich unscharf gezogen – unbeschadet dessen an manchen
Stellen vermint. Aber man bekommt mit der Zeit Übung als Grenzgänger. Man
gehört vor allem einer Elite an, die dem rechtlichen, moralischen und so weiter
Wandlungsprozess nicht lediglich Rechnung tragen kann, hast du dir beteuert,
sondern die sich nicht scheuen darf, diesem mitunter gestaltend, entwickelnd
und sonst was vorauszueilen, respektive ihn voranzutreiben.
Erfolg ist eigentlich
so ziemlich alles. Man hat dich von oben sehr deutlich wissen lassen, dass
besonders der wirtschaftliche Erfolg Herrschaftsinstrument sei.
Wenn man bei seiner
Arbeit unachtsam gewesen ist, hat es einem freilich teuer zu stehen kommen
können (der Hinweis da mit dem Tritt fiel bei dir natürlich nicht der
Vergessenheit anheim). Selbstverständlich hat man gut sein müssen, aber nicht
in verstaubter moralischer Auslegung dieses Begriffes. Man hat ganz cool den
meist sehr engen Raum der Sachlichkeit überschossen – und ist auf diese Weise
in ein Universum gelangt, in dem das Sein oder Nichtsein schlichtweg eine Frage
der Fähigkeit der Vermarktbarkeit gewesen ist: Das berufliche (und vielleicht
sogar das sonstige) Sein auf die Erörterung von Verwendbarkeiten gebracht. Eine
Erleichterung, fürwahr!
Allerdings hat es da
Augenblicke gegeben, wo aus irgendeiner Ecke so eine zwar nur symbolische, aber
immerhin moralische Sau gegrunzt hat. Wenn man z. B. gelegentlich eine
prominente Figur outen musste. Kiffender Starkoch, ehebrecherischer Minister,
pinkelnder Aristokrat. Ausrutscher in Wort und Tat, die den Charakter
entblößen, sind da immer eine große Versuchung für einen gewesen, der man
mitunter (allerdings letztlich nur dem Leser zuliebe) erlegen ist. (Vor
Offenlegung war auf jeden Fall peinlich genau zu ermitteln, ob die aufs Korn
genommene Person zum Ab-, wenigstens zum Anschuss freigegeben war.)
Im Großen und Ganzen
hast du jedoch bezüglich deiner Gebrauchsmoral gewiss von Erleichterung
sprechen dürfen, welche die Wirksamkeit der eingesetzten Arbeit bei
gleichzeitig ruhigem Gewissen wesentlich steigerte.
Die Grundlage zum
Aufschwung in deinem Status hast du dir natürlich (des Gerüchts um Karls
Protektion ungeachtet) weitgehend selber gelegt, nämlich seinerzeit mit deiner
nüchternen, sachlichen Handhabung der Angelegenheit um Dittls Bildmaterial, das
Grüppchen um Karl betreffend. Der originelle Abschluss mit der Inszenierung von
Karls Hochzeit im Blatt: Sonderbeilage mit Anzeigenkollektiv, damit die Kasse
auch gehörig klingelte. Das hat es deinen Auftraggebern mit Sicherheit angetan.
Wenn dich auch kein direktes Lob erreichte: Daran zu glauben, dass sie sich ein
solches mindestens gedacht haben, ist für dich heute noch eine Frage von nichts
weniger als des Selbstwertgefühls. Deine Art, verantwortungsvoll und
betriebsopportun mit Informationen scheinbar harmlosen Charakters umzugehen,
ist mit Sicherheit zur Kenntnis genommen worden. Der Alte hat es dir jedenfalls
ein paar Tage nach seiner Fußtrittsdrohung zwar nicht so direkt gesagt, wie er
jene ausgesprochen hatte, ist sich aber doch wenigstens nicht zu schade
gewesen, es anzudeuten. Deine Fähigkeit, Brisanzen zu erahnen,
nichtsdestoweniger hinzulangen und richtig zu verwerten, muss erkannt worden
sein. Das hat ja wohl bedeutet, dass sie dein selektiver Intellekt aufgespürt
und an dir zu schätzen begonnen haben, dass du in der Lage gewesen bist,
Informationen entweder verwertend für den Betrieb zu versilbern, andernfalls in
der Schublade oder gleich im Papierkorb verschwinden zu lassen."
Du überliest deinen Eintrag noch einmal.
Aber immer wieder zieht es deinen Blick zum Tisch hinüber. Wo dieser verdammte
Brief noch liegt. Das grauschleierige Vanitasbild, das du dir vorhin entstehen
hast lassen. Deine Schmutzgeister im Raum treiben damit im sonnendurchflirrten
Zigarettenqualm ihr Wesen. Ein Schleier von flimmernden, flitternden
Partikelchen schwebt über dem fremdbekannten Etwas und überdeckt es so
spärlich, dass seine geil-öden Konturen dich bei jedem Blick anspringen –
willst du dir ausgedacht sein lassen. Aber du wagst es am Ende nicht, diese
üppige Zubereitung zu dulden und dann womöglich auch noch mit dir als deine
Kummerlyrik herumzuschleppen.
So lässt du es sein. Du versuchst es doch
wieder mit dem Zurückliegenden, wenn das Gegenwärtige noch nicht zu bewältigen
ist.
"Du
bekennst zunächst – womit du dich sehr wohl gegen die vermutete Botschaft dort
auf dem Tisch zu verteidigen in der Lage bist, und zwar notwendiger Weise
zunächst vor dir selber: Noch bevor es sich endgültig erweisen hat können, dass
Karl dich in deinem Werdegang unterstützte, hast du dich ihm gegenüber bereits
erkenntlich gezeigt. In vorauseilender Dankbarkeit, gewissermaßen. Auf eine
stille, doch darum nicht minder effektvolle Art und Weise. So hat er sich doch
stets gewiss sein können, dass Meldungen aus seinem Hause prompt wiedergegeben
und Informationen über sein Haus einer Bearbeitung in seinem Sinne unterzogen
werden würden."
Wo wäre dann dein Fehler zu suchen?, springt
es dich jetzt wieder beim erneuten Blick auf das verteufelte Kuvert da drüben
an. Hast du nicht alles getan, was einer tun muss, der sich an die Oberfläche –
man will ja nicht gleich von Höhe sprechen – gearbeitet hat und sich dort auch
zu halten trachtet? Mit jedem Recht, das der Mensch hat, sich selber zu
erhalten!
"Du
hattest dich überwunden, deiner Karriere einen Schub mit der Energie aus einer
Ressource zu geben, die gar nicht in deinem Bereich lag. Als nämlich, wie
bereits erwähnt, die von dir hochverehrte 'twen' Ende der 60er daran
gescheitert war, hattest du dir geschworen, mit Politik nicht ausdrücklich
etwas am Hut haben zu wollen (wenn es sich in deinem Job nur einigermaßen
bewerkstelligen lassen würde!). Ohne diesen Schwur zurücknehmen zu müssen, hast
du es aber fertiggebracht, in deinem Laden für den Ruf zu sorgen, über
politische Richtung zu verfügen. Dabei ist dir natürlich zustattengekommen,
dass auch in der Redaktion politisch eindeutig Richtung gehalten hat werden
können. Die stabilen politischen Verhältnisse im Umfeld ließen das zu, ja
forderten es geradezu heraus, nicht zuletzt des wirtschaftlichen Erfolges
wegen. Dass man Tendenzblatt sei, hat man getrost von sich weisen können. Denn
andere Meinungen sind ebenfalls, wenn überhaupt wahrnehmbar, zur Geltung
gekommen. Mit dieser gesunden Mischung aus eindeutiger Richtung und Duldsamkeit
im Hinterkopf ist man vorzüglich gerüstet gewesen, die Meinung der
andersdenkenden Minderheit einzufangen und für den Leser entsprechend kenntlich
zu machen.
Eine weitere Tatsache
hat jedem in unserem Laden sehr bald eingeleuchtet: Dass es nämlich in einem
marktwirtschaftlichen Unternehmen, das seine Erzeugnisse an den Mann bringen
muss, lebenswichtig ist, Käuferinteressen gebührend zu berücksichtigen. Mehr
oder minder dezente Hinweise darauf durch die Betriebseigner sind zwar
gelegentlich erfolgt, wären allerdings nicht erforderlich gewesen; man hat das
politische Stimmungsbarometer zwar nicht unbedingt benötigt, trotzdem immer
rechtzeitig abzulesen und richtig zu interpretieren gewusst. Die Essenz dieser
Auslegung ist bis in den letzten Winkel gedrungen, sogar bis ins Feuilleton.
Im Allgemeinen ist
man sich darin einig gewesen, dass diese Grundeinstellung selbstredend rein gar
nichts mit Abhängigkeit und Afterdienerei zu tun gehabt hat. Bei den Sitzungen
der Redaktion hat niemand wegen seiner inneren Richtung Blähungen kriegen
müssen (auch die Zeiten der Minirevolten wegen ein paar entblößter weiblicher
Oberkörper sind ja längst vorbei gewesen): Wer sich konform fühlte, wenn ein
Gesinnungsthema aufs Tapet gebracht worden ist, und wer Lust verspürte, etwas
Konformes rauszulassen, der hat sich entsprechend geäußert – und ist damit,
wenn er diesen Schritt gelegentlich wiederholt hat, gewissermaßen dem Club
beigetreten, ohne dass er es (etwa mit einem Parteibuch) hätte zu dokumentieren
brauchen. (Man muss als Journalist wenigstens nach außen hin unabhängig
bleiben, hast du dir gesagt, will man sich die Zukunft nicht verbauen. Das hat
man am besten praktiziert, indem man hie und da oder da und dort, aber auf
jeden Fall vorsichtig auslotend, dann jedoch beherzt Partei ergriffen hat. Das
ist durchaus gelegentlich – wie etwa in deinem Fall – honoriert worden. Man hat
eben in unserem Hause auch ohne Redaktionsstatut mitarbeiterfreundlich gedacht,
ist dir bald aufgegangen). Wer jedoch anderer Meinung gewesen ist, der hat am
besten geschwiegen; was durchaus auch Opposition, nämlich eine der angenehmen Art
verkörperte. So hat für dich (wie du schon bald nach deinem Karriereschritt
erkannt hast) alles seine Richtigkeit in diesem deinem Betrieb gehabt, der auf
seine Weise, aber ganz offensichtlich freiheitlich-demokratischen Grundsätzen
verpflichtet gewesen ist. (Solche Attacken wie früher hat es im Grunde nie mehr
gegeben, nachdem sich die Crew meist durch persönliche Reifung und zum Teil
durch Kündigung gereinigt hatte).
Du bist zwar
hinreichend mit Aufgaben bedacht gewesen, Karl Mentenheim hast du nichtsdestoweniger
im Blickfeld behalten wollen. Schon besagter, wenn auch zunächst nur vermuteter
Erkenntlichkeit wegen. Karl hat dir das ohne Zweifel wert sein müssen. Als
Prominenter hat er ohnedies zur Klientel einer Redaktion wie der deinen gehört.
So hast du zunächst
einen Mitarbeiter, einen Anfänger, beauftragt, sein Augenmerk auf Karl zu
richten. Das zeitigte dann allerdings leider entsprechend dürftige Ergebnisse: Die
Mentenheims zögen alle paar Jahre in ein etwas größeres Domizil oder ließen erweitern.
Das erwecke den Anschein, die private Expansion stehe in einer Beziehung zum
Wachstum der Firma. Das Greenhorn protzte geradezu mit dieser Interpretation.
Du hast dem Jungen darauf natürlich die Flügel ein wenig stutzen müssen: Eine
harmlose Information, hast du ihn aufgeklärt, die fürs Publikum selbst dann
noch nichts hergeben würde, veröffentlichte man sie mit der Jahresbilanz von
Karls Firmengruppe – jedermann wusste ohnehin, dass sich diese bereits zum
Wirtschaftsimperium entwickelt hatte. Der Neid habe heute ein ganz anderes
Gesicht als zu Großvaters Zeiten, hast du dem Knaben zu verdeutlichen versucht.
So müsse man in unserem Fall die Rechnung völlig anders aufmachen. Der
Zeitgenosse begegne Auswüchsen des Wohlstandes (wenn man diese Ausdrucksweise
überhaupt noch strapazieren wolle) mit viel mehr Nachsicht. Und zwar im
deutlichen Gegensatz zu früher, wo noch manchmal echte Not geherrscht haben
mag. Wir lebten doch in einer Epoche, in der sich selbst ein Arbeiter einen
dicken Benz, wenn auch vorerst nur aus zweiter Hand, als Spielzeug und
Fortbewegungsmittel leisten könne. Was die Leute allerdings heutzutage auf die
Palme bringe, hast du dem jungen Mann stecken wollen, ist allenfalls das
Ärgernis, dass sie für die Erfüllung ihrer Wünsche in aller Regel länger
arbeiten müssen als die Paradiesvögel unserer Gesellschaft. Es ärgere besonders
die jungen Leute – insgeheim, verstehe sich –, dass sie sofort arbeiten
müssten. Nachdem sie sich so lange in Schulen abgemüht hatten. Die Zeit – und
vorwiegend sie – solle er endlich, hast du ihm empfohlen, als eine die Gemüter
bewegende Tatsache erkennen! Die breite Masse, hast du ihm zu denken gegeben,
erblicke heutzutage den Stein des Anstoßes doch beinahe ausschließlich in der
großen Menge Zeit, die ihr durch die Lohn-Arbeit von der wichtigen, notwendigen
und sonst was Freizeit-Beschäftigung verloren gehe. Ja viele, besonders die
jungen Menschen haben immer häufiger das Empfinden, dass ihnen auf diese Weise
die Freiheit, die sie als Freizeit sehen, richtiggehend gestohlen werden würde.
(Da das durchaus als etwas übertrieben hätte ausgelegt werden können, hattest
du spätestens an der Stelle versucht, den Schelm ins Gesicht zu bekommen.) Der
Arbeitgeber spuke heute als Freizeitdieb in den Köpfen der jungen Leute herum!
Das Ringen um freie Zeit treibt die Leute zumindest innerlich auf die
Barrikaden. Alle anderen Dinge, für die sich die Urgroßväter die Schädel haben
blutig hauen lassen, seien ja längst in den gesellschaftlichen Besitzstand
übergegangen, auf dem man sich getrost ausruhen dürfe.
Du hast damit nur
erreichen wollen, dass er dir nichts Kleinkariertes mehr bringt. Denn nichts
schadet dem eigenen und dem Charakter eines Blattes mehr als dieses. Es drückt
ganz einfach hinunter, macht mies und popelig. Die Leute wollen auch gar keine
grauen Alltäglichkeiten konsumieren, wenn schon, dann müssen sie flockig,
peppig, sonst wie aufregend oder einfach nur aus Königshäusern sein. (Diese
Wendung, zugegeben ins Parterre, hast du versöhnlich mit einem trockenen Lachen
bedacht.) Wenn die Leute sich in dieser Zeit der äußerst bequemen
elektronischen Medien der Mühe unterziehen zu lesen, dann muss man ihnen etwas
Besonderes servieren, und zwar vor allem gut zubereitet, gut gewürzt und auf
jeden Fall mundgerecht. Appetitliche Häppchen! Die Leute sind diesbezüglich
sehr geschmäcklerisch. Das zu glauben, gebietet der Respekt vor seinem
Leserpublikum, ohne den man unweigerlich zum Scheitern verurteilt wäre.
Aber der junge Mann
hatte vermutlich überhaupt nichts begriffen, denn bald nach dieser Lehrstunde
hat er dir so eine Beobachtung angebracht: Wenn Grit Mentenheim erkranke,
solidarisiere sich ihr Gatte Karl Mentenheim jeweils dergestalt mit ihr, dass
er sich ebenfalls unter einem gesundheitlichen Vorwand in Behandlung begebe.
Du lieber Gott! Es
musste ja ganz lustig anzusehen gewesen sein, wie das Haus Mentenheim in diesen
Fällen Kopf stand und die Leibärzte sich die Klinke in die Hand gaben. Du hast
Karl das auch ohne weiteres zugetraut nach den letzten Eindrücken von ihm. Da
hat auch seine Show mit seiner Kondition auf dem Bergmarsch nichts aufpolieren
können. Der Mann hatte ganz einfach seinen Zuschnitt verloren. Old Hemingway
und sein 'Schnee am Kilimandscharo' ist da wieder in der Erinnerung an die
Anfahrt zur Bergwanderung aufgetaucht. Diese Romanfigur, die sich sein Selbst
hatte abkaufen lassen. So etwas ist ja dem wirklichen Leben entnommen, wie du
an Karl bestätigt sehen hast können.
Vielleicht wäre aus
dem Krankengeschichtchen sogar etwas zu machen gewesen. Allerdings hätte man
daran gehörig drehen müssen. Das Verhalten des Paares hätte zum Beispiel in so
etwas wie den Zusammenhang gebracht werden müssen, dass die Krankheit in der
Hand von Frau Grit Mentenheim als ein Steuerungselement für die Arbeitswütigkeit
ihres Gatten Karl erschienen wäre. So einer wie Karl hätte sich in deiner
Spalte als Workaholic bestimmt ganz gut verkaufen lassen. Gleichfalls die
liebende, treusorgende und um das Wohl des Gatten besorgte Ehefrau, die man in
so einem Styling dann endlich einmal in diesen wohlhabenden Kreisen
nachgewiesen hätte. Du bist von diesen deinen Gedanken selber überrascht
gewesen – und du hast sie in Erinnerung behalten wollen! Vielleicht könnte man
es irgendwann gebrauchen. Sei es als Stoff für eine Seifenoper – oder hehrer:
Man wäre mit dergleichen in der Lage, eine Solidarität der fühlenden
Weiblichkeit zu stiften, und zwar über die sozialen Schranken, den Neid und die
Vorurteile hinweg, die heute so häufig wie ehedem das Miteinander in der
Gesellschaft vergiften. Das würde sich zu gegebener Zeit gut ausnehmen, bist du
überzeugt gewesen, da es einen eminent positiven Charakter beinhaltete und
Werte stiftete oder eben nur stärkte, wo sie bereits vorhanden sind.
Es war dir zu dieser
Zeit immerhin bereits gelungen, deine Kolumne in so eine Position zwischen
gemäßigt süßlichem Klatsch à la Regenbogenpresse und ein wenig
Gesellschaftssatire zu manövrieren. Bloß keine schiere Ironie! Nichts irritiert
das breite Publikum so sehr wie gerade diese. Es ist so, hast du dir immer
gesagt: Die Leute mit ihrem Leute-Verstand (welch selbigen Ausdruck du von
Thomas Mann erinnerst) haben immer Angst, dass sie einen Spott übersehen, der
ja gegen sie gerichtet sein könnte. So intelligent, elegant und voll Esprit
sich der feine Spott zwischen den Zeilen auch ausnehmen mag, so tödlich kann er
auch für eine Zeitung sein. Die Printmedien müssen den Leser leider mit den
Buchstaben und den auf den ersten Blick leeren Raum zwischen den Zeilen alleine
lassen. Du hast etwas darauf gegeben, dass die Texte für zwar durchaus auch
einmal kritisch mit gelegentlich einem Schuss Intellektualität und Bildung
versehen gewesen sind. Sie haben jedoch als gegenüber allen Seiten offengehalten
werden müssen. Vor allem das Niveau betreffend. (Die heißen Eisen, vor deren
vernichtender Eigenschaft du eindringlich gewarnt worden warst, hast du ja
unverzüglich weiter- und zu anderen Abteilungen geschoben. Du bist immer gleich
entsorgt gewesen davon – und du hast dir durch dein Verschuben sogar das
Verdienst erworben, kollegial zu sein und den anderen auch etwas zukommen zu
lassen.)
Aber diese Sache da
um die Krankheiten bei den Mentenheims hat dich immer wieder einmal
umgetrieben. Besonders an dem Bild von der treusorgenden Ehefrau bist du dann
doch hängen geblieben. Denn du hast dir gesagt, dass das doch in einer
eventuellen Veröffentlichung, Karl betreffend zu kleinbürgerlich rüberkäme und
daher unglaubhaft wirkte. Du hast das nicht so sehr als Problem der Mentenheims
gesehen als vielmehr des Niveaus deiner Spalte. Der Plan ist dann in dir
tatsächlich gereift, daraus ein Lehrbeispiel für deine Leute zu machen: Treu
sorgend hat Lieschen Müller zu sein. Die Upperclass-Frau hingegen ist in den
Augen der Leute emanzipiert, ein wenig verrucht. Sie sieht jedenfalls sehr
konzentriert auf sich selber. Sie anders aufzuzeigen würde mit der Vorstellung
der Leserschaft kollidieren und wäre demnach kontraproduktiv. Treusorgend, du
lieber Himmel, das ist doch das undankbare Geschäft des alltäglichen
Mütterchens – noch dazu alten Stils. Der Leser gibt doch kein Geld aus, um
seine eigene Banalität verherrlicht zu sehen. Er sucht in seinem Blatt Nahrung
für seine Fantasie, für das ersehnte Mehr an Leben, an Sex und sonst was
Viehisches, was er dauernd entbehren, weil er im Grunde immer zu Hause bleiben
muss. Jedenfalls hast du zunächst dem Greenhorn eine ordentliche Zigarre
verpasst – dir nichtsdestoweniger die Sache gemerkt, insgeheim vorgemerkt im o.
a. Sinne – und die Krankengeschichte der Mentenheims demonstrativ in den
Papierkorb geworfen.
Was du also an
Beobachtungen und Textvorschlägen in Sachen Karl vorgelegt bekommen hast, taugte
zu nichts. Karl ist dir für eine größere Ergiebigkeit gestanden, trotz oder
gerade wegen aller Erfahrungen mit ihm aus letzter Zeit. Du wirst vielleicht
etwas warten müssen, doch das wird sich mit einiger Sicherheit lohnen ...
Richtig ansitzen, dein Plan, dann kommt irgendwann das kapitale Stück aus dem
Dickicht ins Visier! So etwas wie Jagdfieber ist bei dir aufgekommen.
So hast du dich,
deiner sonstigen und nicht unerheblichen Belastung ungeachtet, der
Angelegenheit selber angenommen. Karl Mentenheim damit zur Chefsache gemacht.
(Zudem würde das nicht gerade der eigenen Kondition schaden, denn man hatte
bereits vielleicht zum Körperlichen auch geistig etwas Fett angesetzt.)
Nach einiger Zeit
hast du das Ergebnis deiner Recherchen sichten können: Karl war ziemlich
wohlhabend geworden, mittels Heirat. Dann war es ihm allerdings mit viel
Geschick gelungen, sich aus der Rolle des Prinzgemahls herauszuarbeiten. Er
verfügte wohl über ein kaufmännisches Naturtalent ..."
Ja, Karl. Die Sache da von damals in der
Schule, nämlich über so etwas wie das angeborene Händlerische, das angeblich
Jüdische. Das schießt dir da in die Gedanken.
Du machst wieder etwas
Pause und lehnst dich zurück.
Man kann es nicht lassen. Da ist auch die
Erinnerung an diese Auseinandersetzung vor langer Zeit im Internat, wo Karl,
wie du notiert hattest, gegen den Ägidius aufgestanden ist. Da ging es doch um
die 'nackten Neger' in der Rede des Ägidius und Karls Rassismusklage. Dass man
da nachher spekuliert hatte, ob Karl auch irgendwie rassisch nicht ganz sauber
sei und seine Familie deswegen bei den Nazis Schwierigkeiten gehabt haben
könnte.
Dieser verfluchte Ausdruck da: rassisch
nicht ganz sauber.
Wie in der Viehzucht! Aber man kann es nun
mal nicht lassen.
Oder mit den ganzen Ausländern, die man
heute hat. Worüber sich die Leute aufregen. Dann so schleimig: Man habe ja gar
nichts gegen die, aber ... Aber was? Du weißt es selber nicht.
So lange man mit diesen Menschen gut ist, so
lange ist der mögliche Jude oder heute der Türke in ihnen gut. Aber wenn man
Ärger hat, dann ... Was dann?
Du machst dir ein Brot und fragst dich,
während du die Leberwurst darauf verstreichst, warum du dir das alles antust –
worauf du wie so oft keine richtige Antwort weißt – und nun wenigstens den
körperlichen Teil deiner Leere mit einem Biss ins Wurstbrot beseitigst ...
"Jedenfalls ist
Karl bald im Ruf eines beachtlichen Sanierers gestanden. Er kaufte marode
Betriebe auf, gleichgültig, ob sie Feinbleche, Werkzeugmaschinen, Chemikalien
oder sonst etwas herstellten. Entscheidend war, dass die Eigner kurz vor dem
Ruin standen. Karl brachte die Unternehmen in verhältnismäßig kurzer Zeit
wieder in die Höhe. Wie einer seiner Kritiker einmal gesagt haben soll, sei
dabei seine Methode ganz einfach zu durchschauen gewesen: Mentenheim sei auf
mittlere Familienbetriebe spezialisiert gewesen, man könne auch sagen auf Traditions-Betriebe.
Die litten sowieso sehr häufig unter demselben Siechtum: Sie seien vor lauter
Altväterlichkeit in der Betriebsleitung und Patronisierungssucht im Umgang mit
dem Personal wie von einem Stahlkorsett umschlossen und würden obendrein von
Hand aufhaltenden, nicht Hand anlegenden Apanagen-Prinzen ausgeplündert. Den
Ausdruck Missmanagement wage man gar nicht in den Mund zu nehmen, da von
Management gar keine Rede sein könne. Karl sei stets aufgetreten wie der
wachküssende Prinz im Märchen, so mit Gewalt durch die Dornen und dann ran an
die Braut. Aber Karls Liebe habe, wie dieser das nun mal zu Eigen ist, immer
auch ein bisschen wehgetan – wenigstens fürs Erste. Er habe jeweils die
mörderische Hülle mit radikalen Einschnitten geöffnet (in der Regel begleitet
vom Wehgeschrei der Gewerkschaft und des Betriebsrates). Er habe grundsätzlich
die Betriebsleitung gefeuert und den Sumpf der korrumpierenden Gewohnheiten
trockengelegt. Es soll immer ein reinigender, wenn auch mitunter eiskalter Wind
der Sachlichkeit durch die Büros und Werkhallen gefegt sein. Nach einiger Zeit
habe sich die Entwicklung (nach oben) stets schier von selber getragen. Ein
Tausendsassa, dieser Mentenheim, war gelegentlich zu hören gewesen – klar von
welcher Seite!"
Du machst Pause mit deiner Erinnerung.
Das Wurstbrot hat nicht vergeben. Zur
Kochnische, um dir eine Büchse für Mittag heiß zu machen. Jetzt am Herd wirfst
du dir vor, dass du dir Mentenheims Praktiken hättest näher erklären lassen
sollen. Wie man eine Firma ausweidet, um Platz zu schaffen, um sich dann
reinzusetzen. Um sie so leicht zu machen, dass sie abhebt zu einem Höhenflug.
Mensch, das wäre doch eine Sache. Eines von diesen dahinvegetierenden kleinen Provinzblättchen
über so eine Sanierung wieder hochzukriegen!
Du mampfst deinen Fraß. Ob man das nicht
aufmotzen könnte, überkommt dich. Ein Ei drüber. Oder mehr Würze. Oder beides
... Unversehens springt dir dein feinschmeckerischer Eifer auf das Schreiben.
Du hast auch gleich den Knüppel in der Hand, den du dir zwischen die Beine
schmeißen könntest: das ganze Peppigmachen fader Ereignisse; der viele Senf zum
wurschtigen Tagesding ... Deine Ravioli rutschen auch unzerkaut die Gurgel
runter. Ein komisches Gefühl. Man schmeckt nicht so viel von dem Zeug.
Du behältst besagten Knüppel nur erst in der
Hand und machst dich weiter an deine Arbeit.
"Karl
hatte tatsächlich häufiger die Wohnung gewechselt. Wenn man bei ihm überhaupt
von Wohnung im üblichen Sinne noch sprechen konnte, was ja heißen müsste: Der
Ort, an dem man sich schwerpunktmäßig aufhält. Der Lebensmittelpunkt eben. Ein
Ort auch, der demnach einen persönlichen Charakter trägt. Wo alle Dinge einen
individuellen Anlass haben ... und dergleichen bürgerliche Überlegungen. Bei
Karl hat es sich doch eher nur um so etwas wie den statistischen Schwerpunkt
seiner verschiedenen Aufenthalte gehandelt. Um einen Ort also, wo die Mehrzahl
seiner Anzüge aufbewahrt worden ist, wo die Gattin am häufigsten anzutreffen
gewesen ist und so weiter. Ein Ort allerdings mit einer Distanz zu den Dingen
der Ausstattung, die aufträglich von Designern und Innenarchitekten
hindekoriert worden waren. Dein Informationsküken hatte natürlich Recht gehabt
mit der Annahme, dass Karl mit jeder wesentlichen Mehrung seines Kapitals
diesen Standort wechselte. Unter dem Personal kursierte der Joke, der Chef
fliehe immer vor den Leichen, die den Weg seines wirtschaftlichen Aufstiegs
säumten. Indes vermuteten Bewunderer Karls hinter diesen Aufbrüchen eine neue
Finte. Es handelte sich nämlich nicht um Umzüge im üblichen Sinne, wo man ein-
und woanders wieder auspackt. Bei den Mentenheims wurde richtiggehend aufgelöst
– oder besser, man ließ auflösen. Man ließ bisweilen versteigern, so dass sogar
der Eindruck entstehen konnte, es habe die Mentenheims nun auch (endlich) kalt
erwischt. Du warst bei so einer Show dabei, und die Aktion gestaltete sich da
nicht nur als Auktion im üblichen, von Sachlichkeit geprägten Sinne, sondern
als so etwas wie eine schwarze Party in einer absolut geilen
Untergangsstimmung. Man war maskiert erschienen, und zwar der Stilepoche
entsprechend, derer man bei der Versteigerung sozusagen gegenständlich habhaft
zu werden geplant hatte. Nicht etwa über die Maßen auffällig war diese
Maskierung. O nein, irgendwie Geschmack hatte man ja – oder gute Berater. Eben
mal eine Biedermeierfrisur, eine Rokokoperücke die Damen, einen
Vatermörderkragen die Herren oder dergleichen. So eine Art Diner der Köpfe.
Jedenfalls waren gleich beim Entree Grüppchen entstanden, die in einer geradezu
diabolischen Mischung aus Amüsement und Begierlichkeit gegeneinander antraten –
auf Kosten der Nerven des Auktionators, aber sich selber zum Pläsier ...
Auch sonst, wenn Karl Mentenheim und Gemahlin sich die Ehre
gaben, ist eine Veranstaltung immer zu einem rauschenden Fest aufgelaufen. Du
hast dich geärgert, dass du das nicht längst gewusst und genutzt hast und mehr
oder weniger durch Zufall, nämlich erst durch die Tapsigkeit eines Anfängers
draufgekommen bist. Jedenfalls hat dir das eine munter sprudelnde und vor allem
nicht so bald versiegende Quelle der Information verheißen. Gut so, hast du dir
gedacht, in diese Feste sind ganz offenbar die Body-Partys von ehedem gemündet.
Ein Teil der allerdings bereits etwas patinierten oder angeknitterten
Teilnehmer von damals ist deiner Beobachtung nach immer noch mit von der Partie
gewesen. Es hat natürlich wieder oder immer noch Exklusivität geherrscht. Die
Akteure und -innen haben sich jetzt allerdings auf eine ganz andere Weise
entblößt. Eine Art, die förmlich auf Öffentlichkeit zielte. Weil die
körperlichen Blößen wegen ihres angewelkten Zustandes zwar nicht mehr von
öffentlichem Interesse, aber deren überaus wertvolle Verhüllungen sehr wohl für
fremde Augen gedacht gewesen sind. Es hat sich (mit dir!) nur jemand finden
müssen, der sich der Sache auf gekonnte und gleichermaßen freundliche Weise
annehmen würde.
Die Society soll dem
jeweiligen Ereignis ihre ganze Aufmerksamkeit geschenkt haben, hast du von
verschiedenem Hauspersonal erfahren können. Es bedeutete offenbar so etwas wie
gesellschaftlicher Aufstieg bedeutet, zumindest Anerkennung, wenn die Einladung
der Mentenheims ins Haus geflattert war. Oder man düste sofort weit weg, wenn
man ausgespart geblieben war, um so zu tun, als ob man verhindert gewesen wäre.
Du hast dich zuweilen
der Spekulation hingegeben, was die Leute erregt haben mag, auf so einer Party
mit den anderen VIPs herumwesen zu dürfen. Du hast es, musst du dir jetzt
eingestehen, nie ganz ergründen können. Denn du hast ja nicht dazugehört, bist
eher, auf deine Weise natürlich, zu den bedienenden Randfiguren, zu den
Domestiken zu rechnen gewesen.
Doch du hast dich
früher oder später einer Interpretation stellen müssen. Wie hättest du sonst
mit dem stets für den Erfolg erforderlichen Tiefgang arbeiten können? So bist
du zunächst darauf gekommen, dass sich diese Leute dort nicht etwa nur zum
Zeitvertreib eingefunden haben. Nein, es hat mehr sein müssen! Es hat etwas von
der Größenordnung sein müssen, sich bei der Veranstaltung in nichts weniger als
in eine Grafik des Aufstieges gezeichnet fühlen und sich in der Fieberkurve des
Erfolges befindlich wähnen zu dürfen.
Karrieren werden wohl
in den Köpfen der Karrieristen geformt und irgendwann durch Berufungen und
Ernennungen ihren realen Anfang nehmen. Hingegen sind nennenswerte Aufstiege
nur in einer solchen Aura, wie sie stets Karls Veranstaltung innewohnte, erst
richtig mit Leben behaucht worden. Auf diese Weise, nämlich durch so einen
Schöpfungsakt in diesem irdischen Paradies, hat eine Laufbahn von Bedeutung
erst richtig Seele bekommen (nachdem sie zunächst lediglich als so ein zwar der
Schöpfungsgeschichte nach bereits geformtes, aber immer noch Häufchen Dreck
dagelegen war). Diese Seele war als Ebenbild dessen anzusehen, was sich so
anlässlich der Gelegenheiten, wie sie Karls Feste erzeugten, zusammengeballt
hat. Die Odemspender haben sich meist der Gewissheit hingeben können, ein
Ebenbild ihrer illustren Gesellschaft erschaffen zu haben. Die so beseelten
Kreaturen sind demnach durch die Teilhabe an solchen Ereignissen erst so
richtig lebensfähig geworden: Sie sind alsdann jedoch hellhörig gewesen, haben
sich in der Lage befunden, Zwischentöne zu erfassen (für private Accessoires
bei Geschäften); sie haben alsdann über besondere Sensibilität verfügt (für
geheime Regungen ihrer Klienten, Partner, Kontrahenten); haben vor allem die
ganz ordinäre, doch überlebenswichtige Fähigkeit erlangt, dicke Schleimspuren
nachzuziehen, die sie selber voran-, Verfolger aber zu Fall gebracht haben.
Du hast stolz sein
können, dass du bald herausgehabt hast, was da scheinbar nebenher, jedoch in
Wirklichkeit primär gelaufen ist."
Du weißt jetzt: Das alles gesehen und
durchschaut, sich aber nicht in Ekel abgewendet, sondern dafür auch noch ein
mehr oder minder tiefes Verständnis, ja annähernd Bewunderung aufgebracht zu
haben, ist ein Charaktermerkmal, das der näheren Beschreibung sicher nicht
bedarf. Dazu stehst du jetzt noch. Ja es tut dir ausgesprochen wohl, das auch
noch zu vertreten in dieser Zeit deiner Bedrohung mutmaßlich sogar aus diesen
Kreisen.
Wie war das aber mit diesem Ereignis damals?
"Die
Umstände bei der Erkundung sind dir (wohl nicht zuletzt wegen deiner damals im
Grunde positiven Einstellung zu den Dingen um dich herum) günstig gewesen. So
hast du dein bereits erwähntes, allmählich fetter werdendes Hinterteil aus
deinem weichen Ledersessel gehoben und hast dich wieder mal auf die Pirsch
begeben. Du bist dann an der Peripherie anlässlich der soundsovielten
Vermählung einer bekannten Dame umhergestrichen. (Nie direkt rangehen. So mit
Presseausweis und Bestelltsein, hast du dir – und anderen, besonders den Jungen
– immer wieder gesagt. Direkt ran ist dilettantisch. Da kriegst du nur das
Präparierte, das Glattgestrichene. Hingegen sind gerade die Krümel von
Aussagekraft, die bei so einer Gelegenheit wie der besagten Hochzeit unter den
Tisch fallen. Die haben für unsereinen mitunter einigen Nährwert. Insgeheim
darf man sich durchaus bewusst sein, dass man einer Spezies angehört, die sich
vom Abfall nährt. Man hat allerdings hie und da – der Selbstachtung wegen –
gegen den Eindruck von sich selber anzukämpfen, einer Gattung von Ungeziefer
anzugehören.) Die Dame, die da ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten war,
ist ein Prachtstück von dem Kaliber gewesen wie jene, die man erst vor kurzem
in den Blätterwald gezerrt hatte. Denn sie hatte mit einem politverankerten
Bank-Vorbeter getechtelmechtelt und nebenzu einem abgeschmierten
Fressketten-König die Bruchstücke seines Imperiums abgeluchst gehabt. Die
frisch geschleierte Fee war allerdings eine ausgesprochene Heiratsspezialistin.
Sie hatte sich mit vergleichsweise harmlosen, wenn auch ausnahmslos ziemlich
ergiebigen Eheverträgen ein sattes persönliches Vermögen angehäuft. Eine
delikate Nummer der heutigen Veranstaltung ist es gewesen, dass das nicht mehr
ganz taufrische Mädchen nach etwa einem halben Dutzend schieren Zivilehen es
nun auch christkatholisch versuchen und vor den Traualtar treten hat wollen.
Dass die Hochzeitsgesellschaft dem üppigen bayrischen Kirchenbarock durch das
eigene Outfit weidlich Rechnung getragen hat, hast du selbstverständlich
fotografisch festhalten lassen. (Es ist erst September gewesen, und man hat
dann bei der Auswahl der Bilder aufpassen müssen, dass das Ereignis nicht etwa
als verfrühter Fasching rüberkommen würde, denn immer mehr Leser geben auf und
wechseln ins Lager der Glotzer, die nicht mal mehr die Bilduntertitel zur
Kenntnis nehmen.) Du hast dir dann einen Kasten mit Weinflaschen gegriffen und
dich als Lieferant an den Kontrollen vorbei in die Küche vorgearbeitet. Dann
bist du an die Pinnwand gegangen, um das Menü der Gala zu erkunden (womit sich
der hungrige Leser immer noch sättigen lässt, wenn es sonst nichts gibt). Du
hast einen Blick auf die Gästeliste geworfen, die dort ausgehangen ist. Natürlich,
da sind sie wieder gewesen, die du ja alle bereits in der Kirche gesehen hast:
ein paar Figuren aus der Politik (allerdings nur mittlere Chargen), ein
Waffenschmied, mehrere Baufabrikanten, einige uniformierte Lamettaträger (die
sich im Übrigen unter den anderen Masken für das Auge sogar ausgesprochen
beruhigend ausgenommen haben), Prälaten, Geldverleiher ... Eben lauter
Staatserhaltende – und vielleicht auch das eine oder andere Mal durch den Staat
etwas Gehaltene (dass Letzteres selbstredend seine Bedeutung und obendrein
seinen Scharm besitzt, hast du nachgerade als deine Aufgaben betrachtet, dem
Leser zu vermitteln). Sieh mal an, da stand Dr. Ing. Karl Mentenheim nebst
Gattin! Klar, dass die auch bei so etwas mit von der Partie sind, denn da tut
sich etwas, da werden Geschäfte eingefädelt, wenn nicht gleich abgewickelt und
lauter solche Sachen. Das hättest du dir eigentlich gleich denken können. Aber
Karl, der alte Heide, hatte doch tatsächlich die Kirche geschwänzt. Wie dem
auch sei, da sind diese Namen also wieder gewesen, diesmal allerdings mit einer
Rubrik versehen von Hinweisen auf Leber-, Magen- und sonstige Leiden und daraus
zu folgernde Diätverordnungen. Interessant, hast du dir gedacht und notiert,
interessant alle Mal, zu wissen, wie siech und in welcher Weise angegriffen die
Spitze der Gesellschaft ist. Du hast dir gedacht, dass dir so manche vielleicht
sogar weltbewegende Entscheidung aus der fetten Leber, dem krebsigen Magen, dem
kranken Sonstwas des Entscheidungsträgers zu verstehen sein wird.
Eine weitere Spalte
des Aushangs hat die Essensgewohnheiten aufgezeigt, zum Beispiel dass Karl sein
Steak beinahe roh bevorzugen würde, seine Frau Gemahlin jedoch gar. Mein
lieber Schwan, hast du laut vor dich hin gesagt, das ist alles ungemein
wichtig.
Da müssen Sie sich
bei dem Geschmeiß nicht gleich einmachen, hast du hinter dir gehört.
Du hast dich
umgedreht.
Vor dir ist einer in
einem etwas fleckigen Weiß und mit dicken Schweißperlen auf der Stirn
gestanden.
Sind Sie von der
Zeitung?, hat er wissen wollen.
Also, dass Sie Koch
sind, hätte ich gesehen ...
Küchenmeister, mein
Lieber!, hat er dich korrigiert, und der Chef hier obendrein, und eigentlich
sollte man mich kennen!
Klar, Verzeihung!, hast du dich beeilt.
Küchenchef! Ist ja bedeutender als Beamter, hast du geschleimt, ein hoher
Beamter, sagen wir mal sogar bedeutender als Ministerialrat.
Kommt mir irgendwie
bekannt vor!, hat er gelacht.
Du drauf: Das ist vom
roten Saarland-Oskar. Damit ist ja immerhin bewiesen, dass man sich heute auf
nichts mehr verlassen kann. Man muss sich das vorstellen, diese
Hungerleiderpartei hält sich Chefköche wie andere Leute Rassehunde.
Den Hund nehme ich
Ihnen übel, Sie Bastard!, hat er gemault und ist weg und gleich bei seinen
Töpfen gewesen, hat dort wie ein Wilder gewerkt, seine Leute angeschrien, deren
Hervorbringungen beurteilend abgeschmeckt. Während er nebenzu etwas auf einem
Teller garniert – die Farben, die Formen der Zutaten – besser: komponiert hat, hat
er wieder zu schreien angefangen, dass die anderen ihre Pfanne hektischer
schubsten, die Gurke schneller scheibten, die Kessel energischer durchrührten
... Du hast noch gedacht, wie jemand, der etwas so Schönes macht, so schrill
und unsensibel sein kann. So ein kleines Gebilde auf einem unverhältnismäßig
großen Teller. Das sieht irr wenig, aber irr fabelhaft aus. So ein pervers
verführerischer Gaumenkitzel. Ein geiles Etwas. Du bist durch deine Betrachtung
von dem Gebrüll völlig abgelenkt gewesen. Du hättest um das faszinierende Gebilde
da direkt auch betteln können. Ob das wirklich so schmeckt, wie es aussieht?,
hättest du liebend gerne gewusst und hast gierig draufgestarrt.
Verstehen Sie denn
nicht?, hast du jetzt neben dir gehört.
War eben alles ein
bisschen untergegangen im Töpfeklappern hier, hast du geschwindelt. Du hast
wieder auf diesen ungemein kunstvollen Tupfen da auf dem Teller gegiert.
Soll ich Ihnen was
sagen über die Bande da?, er hat dabei auf die Gästeliste an der Pinnwand
gedeutet.
Ja, meinetwegen, hast
du gesagt, wenn es Ihnen ein Bedürfnis ist!
Er hat noch mal auf
die Liste gezeigt: Das ist mein Publikum! Gut, man lebt davon. Das ist eine
Saubande, sage ich Ihnen ...
Wenn du dich langsam
..., hast du dir gedacht, so während er quatscht ..., wenn man sich auf dieses
wunderbare Objekt dort drüben einfach ...
Lassen Sie mich
schätzen: Zirka ein halbes Tausend Leute da, ist er immer noch eifrig gewesen.
Die vielen Trittbrettfahrer und Ehehälften mal gnädig abgezogen ...
Wenn er sich umdreht,
hast du weiter spekuliert, dann einfach hingelangt ...
... so bleiben hier
ungefähr zweihundert ...
So einfach, wie man
es früher bei der Mutter gemacht hatte: Schwups, und weg war das Bonbon ...
Glauben Sie mir –
hören sie mir eigentlich zu?! – da sind drei- bis fünfhundert Jahre Knast
versammelt. Schieber, Betrüger, Steuerhinterzieher und Co. Es gibt so viele
solche Gesellschaften in diesem gesegneten Lande hier, dass man die gute alte
Republik mit Zuchthäusern zubauen müsste, gäbe es Gerechtigkeit. Diese vielen
Gefängnisse, die man bauen müsste! Womit wieder die Bauganoven ihren Reibach
machen könnten!
Der Koch ist von
seinem Einfall selber so überrascht gewesen, dass er sich mit der flachen Hand
auf den Schenkel gehauen hat, dass es geklatscht hat und seine Leute wie auf
Kommando hergesehen haben – in der Meinung, dass er wieder einen Befehl
absetzen wollte. Er aber hat eine lässige Handbewegung zu seinen Leuten hin
gemacht, so wie: weitermachen! Er hat drauf resigniert vor sich hingesagt: Ein
wahnsinnig ergiebiges Land hier, das wir da bevölkern – und das unsereiner mit
seiner Kunst verwöhnt ...
Das mit Ihren
versammelten Knastjahren da im Saal, hast du dann gesagt, habe ich auch schon
mal wo gehört.
Nicht wahr, ist er
gleich eingestiegen, ich habe doch so Unrecht nicht? Das sehen andere ebenfalls
so!
Überhaupt den ganzen
Strafvollzug privatisieren!, ist ihm noch eingefallen. Aufgepasst! Sofort legt
der Staat ein Programm für sozialen Knastbau auf ...
Ein Künstler, hast du
dir gedacht, der bringt schon wieder so ein buntes Gebilde hervor, wie das da
drüben zum Fressen ist ...
Jetzt noch mal
aufgepasst, guter Mann! Jetzt kommt nämlich die Pointe: Mit diesem Geld aus dem
Programm des Staates für den sozialen Knastbau, da baut sich dann tatsächlich
jeder Knacki sein Knast-Appartement selber.
Wenn einer ein
Künstler ist, ging dir durch den Kopf, dann ist er es überall und auf allen
Gebieten, und er sollte vielleicht in die Politik gehen, um sein geniales freies,
demokratisches Gedankengut auf kunstvolle Weise einzubringen.
Ach, du lieber
Himmel, was hat man doch den falschen Beruf, hat er geklagt. In die Baubranche
müsste man wechseln ...
Du hast gegrinst und
genickt. Du wolltest ihn schon fragen, ob er dir sein Kunstwerk zum Fressen
vermacht, denn er ist so gut drauf, dass er vielleicht sogar in Spenderlaune
...
Die hier so
friedlich versammelten und vor allem die so total unbehelligten
Salon-Kriminellen, ist er wieder in Fahrt gewesen, die sind nicht etwa vom
Gewissen geplagt, nein, höchstens von Gallensteinen und so etwas!
Gallensteine ...,
hast du in deiner Gier auf die appetitlichen Sprenkel doch noch mitbekommen.
Oh, hast du gesagt, Gallensteine hatte mein Vater auch. Du hast bereits
loslegen wollen, von Mutters Berichten über Vaters ...
Er ist aber wieder
bei den Töpfen und Pfannen gewesen und hat seine zwei Dutzend Leute gescheucht.
Du bist immer noch nicht wenigstens in der Nähe dieses exzellenten Desserts
gewesen, weil da einer aus der Küchenmannschaft zwischen dir und dem Objekt
deiner Begierde geschafft und tatsächlich ähnliche Werke hervorgebracht hat.
Da ist der Kerl
bereits wieder neben dir gestanden: Vergessen Sie alles, was ich Ihnen bis
jetzt gesagt habe, war nämlich alles Bullshit, denn an Gerechtigkeit zu glauben
ist tatsächlich kindisch!
Ja, gerne, wenn Sie
wünschen, bist du ganz verdattert gewesen.
Aber eines verrate
ich Ihnen noch, hat er gezischt und dich am Arm gepackt. Wissen Sie, warum ich
diese Leute, für die ich das Futter mache, so hasse?
Natürlich nicht, hast
du antworten wollen, bist jedoch gar nicht dazu gekommen.
Da liege ich in der
Nacht wach und überlege mir, wie ich ein Menü und noch eines und noch eines
verbessern könnte. Hole mir den zweiten Michelin-Stern. Drei Bücher über gute
Speisen habe ich bereits geschrieben, Fressbücher gewissermaßen ...
Haben wir doch sicher
besprochen!, hast du dich beeilt.
Er hat jetzt deinen
Arm losgelassen und sich an die Stirn getippt und dabei immer wieder 'gute
Speisen' gesagt. Du hast ihn angesehen und gewartet und dir gedacht, dass er
jetzt durchgedreht ist. Verdammt, das fehlte noch, weg hier, hau ab!
Da ist er aber
bereits wieder bei dir gestanden: Herrgott, dass man das noch nicht bedachte!
Da ist mir doch was eingefallen! Ich werde mir überlegen, guter Mann! Ich werde
darüber nachdenken, ob nicht so ein Fressbuch zu machen ist. Also eines, das
man liest und nachher richtiggehend auffressen kann. Verstehen Sie? Richtig
kochen, würzen, auftischen, fressen!
Spitze, mal etwas
vollkommen Neues!, bist du eingestiegen, da bringe ich was in der Zeitung! Das
garantiere ich Ihnen, das kommt dann ganz groß raus in unserem Blatt!
Okay, hat er gemeint,
aber die Sache muss über Agenturen gehen, am besten dpa. Das darf nicht bei
Euch hängen bleiben!
Lässt sich machen, da
habe ich so meine Beziehungen!, hast du angegeben. Du hast ihm die Hand
hingehalten, und er hat eingeschlagen. Dabei drängte es dich, das mit deiner
Lust auf sein buntes Kunstwerk anzubringen. Aber er ist gleich wieder ganz
anders auf Mitteilung gewesen: Das müssen Sie sich vorstellen, ich denke
intensiv nach, wie ich die Menüs zusammenstelle und wie ich das alles
immerfort verbessern könnte, schaue durchs Loch, um zu sehen, was am besten
ankommt, veranstalte Probeessen und so weiter. Dann stehe ich da und quäle mir
was ab. Stelle Dir vor, dann frisst diese heikle, verwöhnte, affektierte
Drecksbande gerade mal ein paar Happen. Stochert in der schönsten, besten,
gelungensten Kreation herzlos rum wie so einer von der Gewerbeaufsicht. Der
Rest, ja eigentlich doch das meiste, das jedoch vom Aussehen her mit deiner
Arbeit nichts mehr gemein hat, wandert – ja, heute nicht mal mehr in den
Schweinekübel, den man früher hatte. Der Rest wandert in die Kloake – und
wohlgemerkt nicht auf dem natürlichen Weg, wenn Du A... – er bremst sich doch
aus und lenkt um: Armleuchter verstehst, was ich meine ...
Das bringe ich auch,
hast du ihn beruhigen wollen, das ist ein Sittenbild unserer Tage!, beteuerst
du.
Was willst Du
bringen?!, hat er dich plötzlich angefahren.
Ein Sittenbild?!, und
ist ausgerastet, Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank! Jetzt hau ab hier,
von wegen fremde Person in der Küche, he, verpiss' Dich schnell! Die
Gewerbeaufsicht! Du verfluchter potenzieller Ausscheider! Ist ja irre,
Sittenbild! Salmonellen im Pott ...
Er hat mit den Armen
wild herumgefuchtelt, ohne weiterzureden. Du hast dir für einen Moment gedacht,
dass er dich womöglich anfallen könnte. Doch er ist zu einem Herd gerannt, hat
sich ein Stück Fleisch gegriffen und es in Scheiben geschnitten und weiter
geschrien: Du komischer Pressefuzzy! Kriechst denen ja ins miefe Hinterteil, um
an ihr Hirn zu kommen! Nichts sonst! Weil du so blöde bist und glaubst, dass da
in diesen Köpfen überhaupt und für dich was drin ist ...
Du bist wie
angewurzelt stehen geblieben und hast ihm fasziniert zugehört und zugesehen,
wie er in und mit seinem Wahnsinn hantierte. Toll, ein Künstler und ein Genie
und der Wahnsinn ... und dieses von dir immer noch angegeierte kleine, bunte
Gaumenmärchen dort, das dich auch noch verrückt machen wird ...
Am liebsten hättest
du ihn damit beruhigt, dass es mit deinen Kreationen – zwar nur in
Druckerschwärze – auch nicht anders ist als mit seinen Gaumenfreuden. Sie
wanderten ja ebenso im Grunde ungenossen und nur zerfleddert – und nicht mal
wie früher zu hinterlistigen Zwecken zerkleinert, sondern gleich in die
sozusagen Kloake, ins Altpapier ...
Doch du hast es für
dich behalten, und er hat ja auch bereits zu seinem Schlussgedanken angesetzt
und dabei das große Messer geschwungen, dass du unwillkürlich einen Schritt zurückgesprungen
bist: Das hasse ich, dass die feine Gesellschaft auf ihren Tellern so
herumstochert, als wäre das auch nur so ein idiotisches Statussymbol. Die
kleinen Leute, die lobe ich mir, die fressen wenigstens ihren Teller leer. Wie
wenig Mühe kostet es einen, in der Vorstadt den guten Ruf zu kriegen, große
Schnitzel für wenig Geld zu machen!"
Bereits während du das mit diesem Koch
aufgeschrieben hast, ist es dir flau geworden im Magen. Vielleicht solltest du
doch einmal richtig speisen gehen. Wenn es dieses Kochlöffelgenie noch gibt,
gehst du mal zu ihm. So eine kantige Figur mit bizarren Launen. Vielleicht zu
ihm und dir dieses Gedicht von Dessert wirklich einmal auftischen lassen. Soll
es ruhig einen Braunen kosten.
Mit deinem Saufraß da immer und deinem
Pfadfindertrick mit der eingedellerten Dose, bis die Beule im Feuer rauspufft.
Aber dieses Kunstwerk von damals ist nur zum
Träumen. Da kommst du nicht ran. Wer kommt schon an seine Träume ran? Mensch,
dein Kunstwerk da auf dem Tisch! Zum Anfassen! Aber du Feigling kneifst.
Nimm doch das graue Papier, das dich so fies
anmacht, und schmeiß es zum Fenster hinaus. Klar, dazu raffst du dich sofort
auf. Weg mit dem Dreck! Du nimmst den Brief und schmeißt ihn hinaus. Wie er
schön segelt. Gleich eine Drehung um die eigene Achse. Flickflack? Oder wie
sagt man? Dort noch einen. Kindlich amüsant. Er bekommt etwas Aufwind und
segelt fast waagrecht zum Spielplatz hinüber. Drauf eine Spirale. Schon landet
der Fetzen auf dem Rasen ...
Der Küchenbulle hat dich rausgeschmissen,
einfach so ...
Aber seine Show ist ja auch zu Ende gewesen.
Du hast eigentlich auch genügend Material gehabt. Dann bist du doch noch zu
dieser Veranstaltung gegangen, wie man es immer gemacht hat. Man ist in die
Nähe der Leute – ja was denn? Gekrochen? Oder wie der Küchenheini gesagt hatte:
aftergekrochen ...
Dir ist plötzlich gekommen, was mit Karl und
dir war. Aber eben jetzt erst. Dafür allerdings ganz klar und unwiderlegbar.
Das muss zu Papier!
"Um es gleich zu notieren: Karl hat dich benützt! Immer üppiger hat die Quelle der
Pressemitteilungen aus dem Hause Mentenheim gesprudelt und sich über deinen Schreibtisch
ergossen. Man hat ganz vornehm per Boten überstellen lassen. Diese Flut hat
dich erstaunt. Das können eigentlich nur die Folgen deiner Berichterstattung
über die Hochzeit von diesem alten Mädchen sein, warst du, zugegeben ein wenig
stolz überzeugt. Es ist ja sonderbar, diese Arbeit in diesem Spektakel hattest
du mit einigem Widerwillen erledigt. Das Ergebnis war dann textlich eher knapp
ausgefallen, allerdings üppig mit Bildmaterial unterlegt. Damit konntest du
offenbar einen Volltreffer landen.
Nun eine der Folgen,
per Boten überbracht: 'Karl Mentenheim für acht Tage nach Taiwan',
vorgefertigter Text dazu. Was fängst du damit an?, hast du dich gefragt – und
dich ans Telefon gehängt.
In den fernen Osten.
Geschäftlich ist das gemeint, dessen können Sie gewiss sein, konntest du
erfahren (und du hast dir dabei diese Quelle blond vorgestellt, mit Dauerwelle
und mittleren Alters). Bestimmt nicht etwa zum Vergnügen!, hat dich die etwas
grelle Frauenstimme weiter in Kenntnis gesetzt (steckt in einem Kostüm dieser
dem Tonfall und der Akzentuierung nach dürre Leib, in gedeckten Farben, Grau-
oder Braunton). Alle Welt rede nur noch vom Vergnügen!, setzte sie noch ein
Ausrufezeichen.
Oh, gewiss doch!,
hast du wieder ins Gespräch zu kommen versucht ...
Wenn harte Arbeit und
Geschäfte für den Herrn Doktor Mentenheim nicht überhaupt und grundsätzlich
Vergnügen sind!, ist die Vorzimmerstimme (bis oben zugeknöpft und von Frau Grit
Mentenheim persönlich ausgesucht) auf ihre Alle-Welt von vorhin eingeschwenkt
– und hat mit ihren Worten sozusagen mit dem Finger auf dich gezeigt: Wenn Sie
Vergnügen schon ins Spiel gebracht haben wollen, Herr Redakteur!
Bei Gott, nicht dass
ich meinem Schulfreund etwas Schlimmes unterstellte!, wieder dein Startversuch
...
Sie hatte sich
offenbar in ihre Schlechte-Welt-Kritik verbissen (da hatte auch der ihr
hingeworfene fette Brocken 'Schulfreund' nicht besänftigen können): Vergnügen,
ohne das es ja heutzutage offenbar gar nicht mehr geht ... (eine Ausgabe von
Elsbeth, in Einsachtzig und Kostüm, wolltest du dir weiter einbilden). Sie muss
doch wieder einmal Luft holen, hast du geglaubt und wieder einsteigen wollen.
Aber zu spät: Ein Rückfall, sage ich Ihnen, mein Herr, ein Rückfall in das
Kindergartenalter und ins Lustprinzip, Herr Redakteur! (So eine Wächterin als
Abschreckung ins Vorzimmer setzen, mag sich Grit bei der Auswahl gesagt haben,
so eine ist wie ein Liebestöter. Denn wenn du schon fremdgehen musst, lieber
Karl, wie eben alle Männer deiner Ausstaffierung, dann auf deinen
Geschäftsreisen und weit weg. Ich will nämlich meine Hörner nicht auch noch in
meiner Nähe aufgesetzt bekommen. – Sagt man bei einer Frau eigentlich Hörner?,
hat dich während des Vortrages am anderen Ende der Leitung beschäftigt.)
Sind Sie eigentlich
noch da?, hat es am anderen Ende gekreischt. Gleich der Ansatz, ihr Thema von
vorhin fortzusetzen: Wissen Sie, das ist sehr gefährlich ... Sie hat den
Gedanken nicht ausgeführt, sondern liefert einen Schluss wie ein Absturz: Ich fordere Sie auf, etwas zu sagen! Ich höre
Sie atmen!, hat es geschrillt, so als habe sie da einen fernmündlichen
Sittenstrolch am anderen Ende der Leitung hängen. – Sagen Sie etwas, oder ich
lege auf!
Oh, hast du dich
heimlich gefreut, das gönnt man Karl, ein weiblicher Zerberus bewacht das
Allerheiligste – und dich dann doch wieder gemeldet: Aber Gnädigste, wer wird
denn da so obszön von Vergnügen reden wollen, da wir doch alle nur unsere
Pflicht tun! Sie jedenfalls unbestritten!
Diese Botschaft musste
bei ihr angekommen sein. Du wolltest doch noch wissen, wenn auch der Inhalt der
Geschäfte da in Taiwan nicht direkt zu erfahren sein würde, ob und wenn ja in
welcher Begleitung der Herr Doktor denn zu reisen beliebte. Zu deiner
Überraschung gab sie prompt ein paar Namen preis und erwähnte sogar, dass die
Herrschaften erst in Athen zusammenträfen, um die Reise gemeinsam fortzusetzen.
Du hast dich bedankt
und ihr avisiert, dich gelegentlich mit einem Strauß Blumen persönlich melden
zu wollen.
Es hat dir dann keine
allzu große Mühe bereitet, diese Athener Gesellschaft gewissen heiklen, von
Friedenskämpfern sogar als unmoralisch bezeichneten Exporten zuzuordnen, in
denen die Bundesrepublik immerhin mit an vorderster Stelle gestanden ist.
Doch, was tun? Etwa bemäntelnd schreiben, dass
da drei Manager in der Welt umherreisten, um letztlich deutsche Arbeitsplätze
zu sichern, indem sie sich bemühten, diese bundesrepublikanische
Welthandelsstellung noch weiter auszubauen?
Eine verdammt komplexe
Angelegenheit, war dir sofort klar.
Im Grunde ist so eine Meldung auch gar nicht deine Sache,
leuchtete dir ein. Aber kommen muss etwas, Karls wegen, Ehrensache, das! So
könntest du deine Infos ja weiterschieben – wie andere knifflige Sachen sonst
auch. Zu den Kollegen von der Wirtschafts-Redaktion. Doch wie die einzuschätzen
waren, hätten die sich die Finger auch nicht verbrennen wollen.
Du hast dann doch
selber aus der Mitteilung ein paar Zeilen gemacht, die besagt haben, dass Karl
da gereist ist (sich ... begeben hat), um Handelsbeziehungen in Fernost
auszuloten und nach Handelspartnern Ausschau zu halten ... Da laut
Firmenstatement und sattsam bekannten Klagen aus Wirtschaftskreisen der
fernöstliche Markt ungemein vernachlässigt worden, aber wegen der enormen demographischen
und gleichfalls bedeutenden ökonomischen Entwicklung von höchstem Interesse
sei. (Diese Aussage allerdings in deiner Weise formal abgespeckt!) Du durftest
es nicht versäumen, diesen brisanten Zeilen doch noch über das Formale hinaus
auch inhaltlich deinen Stempel aufzudrücken. So hast du den Herrn Doktor
Mentenheim zweireihig in Konferenzblau reisen lassen. Du hast die Vermutung
geäußert, dass bereits im Flugzeug eine Besprechung mit Geschäftspartnern
anberaumt sei. Dass nämlich in diesem zwar Champagner-Havanna-Ambiente erster
Klasse doch nur hart gearbeitet werden würde. Am Ende den ganzen Sermon noch aufgespeckt
mit einem (freilich fiktiven) Zitat Dr. Meintenheims: Unsereiner kann sich zwar
die Businessclass leisten, nicht aber das bloße Herumzusitzen.
Dass du damit
selbstredend (trotz deiner Boulevardgirlande) deine Kompetenz im Hause doch
erheblich überschritten hattest, bist du dir zum einen bewusst, zum anderen
jedoch auch bereit gewesen, (mit dem getrost einzukalkulierenden Beistand
Karls) durchzustehen."
Es ist dir jetzt etwas besser zumute. Nicht mehr so nach
Selbstverletzung. – Menschenskind! Welch ein Begriff hat dich da heimgesucht?
So ein Monster: Selbstver...
Du greifst
dir, sozusagen selbsterschreckt den Whisky ...
Der Bote für die Mitteilungen aus dem Hause Mentenheim, Karls Fahrer, Diener, einfach sein
Faktotum. Er sollte dir ein paar Zeilen wert sein, sagst du dir dann.
Was würde er sich denken, wenn er dich in
deinem abgerissenen Zustand zu sehen bekäme? Deine verkommene Bude. In der er
ja auch schon war. Allerdings zu einer Zeit, da sie sich noch in einem
einigermaßen aufgeräumten Zustand befand. Wenigstens einmal in der Woche war
die Putzfrau hier am Werken gewesen ...
"Der
Diener Johann, mit richtigem Namen Konrad: Der gute Mann (Ende vierzig, etwa einsfünfundsechzig,
leicht untersetzt) begegnete dir als ein bayrisch geprägtes Original
(Trachtenjanker, pech-schwarzer Schnauzbart). Gleich bei euerem ersten Meeting
offenbarte er ungeniert seinen Hang zu gutem schottischem Whisky. 'Pure malt',
darunter ist mit ihm nichts zu machen gewesen. Ging man jedoch darauf ein, zeigte
er sich in vielen Dingen ungemein erkenntlich. Dass du zu der Zeit (bevor dir
der Arzt das über deine Leberwerte steckte) selber einen ausgeprägten Hang zu
diesem Gebräu hattest, ist dir ihm gegenüber zustattengekommen. Du fühltest
dich diesem Burschen bald irgendwie herzlich verbunden. Du konntest (von
geschmierter Zunge) so manches erfahren, woran man sonst nicht so leicht kommt.
Du hast Konrad, der im Dienst von den Mentenheims tatsächlich John genannt
worden ist, zum Lohn für seine Offenheit mit kleinen Schulgeschichten bedient.
In diesen Schnurren spielte sein Chef Karl Mentenheim immer seine
bekanntermaßen herausgehobene Rolle.
John/Konrad konnte schließlich gar nicht
genug davon bekommen. Natürlich war diese Decke nicht lang genug, und du
musstest da mitunter gewaltig anfabulieren. Dabei konnte es gar nicht
ausbleiben, dass du dich auch eingebracht hast.
Es ist dir im Übrigen
gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass es doch als ein Vorzug anzusehen sei,
dass man ihm den alten Johann als Diener nicht angetan und ihn stattdessen
modern John nannte. Du allerdings wolltest nicht so direkt auf diese Benennung
zurückgreifen, sondern hast ihn gebeten, ihn mit beiden Namen ansprechen zu
dürfen. Allerdings (durch eure Trinkfreude in gehobener Stimmung) wolltest du
ihm den Bindestrich auch nicht zumuten und ihm versichert, dass du tatsächlich
einen Teilungsstrich verwenden würdest, also John/Konrad, solltest du je in
die Verlegenheit geraten, seinen Namen schreiben zu müssen.
Wir haben uns gerne
mit unserem flüssigen Freund in gute Laune begeben. Auch hat das Getränk – wie
allgemein bekannt – als Schmierstoff, gewirkt, das jemandes Zunge zu lösen im
Stande ist. So durftest du die Erklärung dafür erhalten, warum John/Konrad für
deine Shortstorys aus der Schulzeit so ein lebhaftes Interesse gezeigt hat. Er
hatte seinem Bekunden nach eine höhere Schule besucht, diese jedoch nach ein
paar Jahren verlassen müssen. In seiner Begründung ist es um den früh
verstorbenen Vater gegangen, um die kranke Mutter und um die Nachkriegszeiten,
die seine Familie besonders hart getroffen habe. Du bist da nahe dran gewesen,
hier mittels Einbringung deines Loses daraus ein Duett werden zu lassen. Du
wolltest dich jedoch nicht ganz auf seine Ebene herablassen. Mithalten hättest
du ohne weiteres können, wie du es dir selber damals schriftlich dargelegt
hattest. Du hast ihm jedoch empfohlen, sich die Story gut auszubauen, um sie
gegebenenfalls vor Gericht einzubringen, sollte ihn das Schicksal einmal – was
Gott verhüten möge – vor dessen Schranken zerren.
Man einigte sich in
der Anrede bald auf ein Dscheke – mit einer Klangschleife zwischen dem E und
dem K, so etwa: Dsche-i-ke. Denn deinen John/Konrad hat er doch irgendwie
bescheuert gefunden – im Originalton: So blöd wie einem Preißn sein Friedrich-Bindestrich-Wilhelm
oder die allerweil mehrer werdenden Bindestrich-Weiber, die wo heutzutag rumlaufn,
wenn's überhaupt noch heiratn und nicht bloß irgendso g'schlampert zusammenlebn.
Die Aufträge, die
Freund Dscheke vom Hause Mentenheim überbrachte, sind natürlich bisweilen eine
Zumutung gewesen: Da sollte beispielsweise ein Beitrag anlässlich Schwiegermutters
Fünfundsiebzigstem erscheinen. Da es doch ein wenig unter deinem Niveau gewesen
wäre, so etwas selber zu erledigen, hast du einen Volontär damit beauftragt. Du
hast ihm allerdings die Weisung erteilt, ein bisschen von den Golden Twenties hineinzuzaubern.
Das ist dem Jungen tatsächlich einigermaßen gelungen: Er hat die alte Haubitze
gekonnt vom quirligen freisittigen Kniefrei-Bubikopf der End-Zwanziger zur 'Grande
Dame' der Hautevolee der Landeshauptstadt mutieren lassen. Er schlug eine
geradezu wundersame, eine ausgesprochen literarische Brücke. Er ließ die alte
Madame über diese Brücke, auf den Strom der Zeiten hinabblickend, schreiten. Er
ließ sie diesen ihren Weg von allem (bis natürlich auf das allmähliche
Dahinwelken) unbehelligt zurücklegen. Der Junge verstand sogar die Heimsuchung
von Herrn Doktor Alzheimer bei der alten Dame, als eine scharmante Geste des
Schicksals zu deuten, der dieser obendrein die geistige Teilhabe erspart hatte
an ihrem Umzug in eine Seniorenresidenz. Der Text strotzte nur so vor
Anspielungen, war jedoch so voll Esprit, und damit erschien die Gesellschafts-
und sonstige Kritik, deren sich die Jugend nun einmal nicht enthalten kann,
eher als versöhnliches Lächeln. Mit deinem Korrektureintrag machte das
Artikelchen enorm was her. Freilich mit der Folge, dass etliche VIP-Sippen
ebenfalls ihre Wracks auf diese (im Übrigen gar nicht mehr zu wiederholende)
Weise zu Denkmälern umarbeiten und auch auf einen Sockel haben hieven lassen
wollen."
Wo du dich all dieses Positiven entledigst,
überkommt es dich wieder ...
Du überfliegst die
Sache noch einmal. Erkennst, dass das ja ganz anders ist als deine Gefühlslage
jetzt. Ganz entgegengesetzt. Irgendwie bejahend, wenn auch auf deine
zerbrechliche Weise. Sattelfest. Zukunftoffen ... Damals?
Das ist jetzt raus. Und auf Papier. Weg ist
es, das spürst du ganz deutlich. Es fehlt dir jedoch irgendwie, fühlst du.
Diese Leere breitet sich wieder aus. Dann schaust du dich an. Dein Äußeres.
Wenn man so abgerissen aussieht, folgerst du, dann braucht man eigentlich auch
kein Obdach mehr. Hier diese Höhle. Der Penner steckt in einem, kommt es dich wieder
an. Frage immer nur, wann er bei dir raus will oder kann. Wollen tut er es
schon immer. Das weißt du ja. Diese Statistik damals im Blatt über das
Ausbrechen aus der Gesellschaft und Zum-Penner-Werden. So in der Mitte des
Lebens kann es einen erwischen. So mitten in seiner fettleibigen
Bürgerlichkeit. Irgendwas mit den Bindungen hat es zu tun. Aber wie war das
genau? Du kommst nicht mehr drauf. Es ist allerdings egal, wenn einer abhaut.
Diese Statistiken. Als ob das so oder so immer pralle Leben in eine Schublade
passte.
Aber wenn du so überlegst, da musst du gar
nicht lange ... Du bist doch ungebunden. Jetzt allemal. So ungebunden, wie es
sich ja gar nicht mehr steigern lässt. Was hält dich denn noch? Vielleicht
deine Schreiberei. Die irre Ordnung damit oder sonst was. Oder du klammerst
dich mit deiner Schreiberei am Vergangenen fest. Weil du nicht in dein Jetzt
rutschen willst. Obwohl du weißt, dass immer längst schon drinnen bist. Das
Schreiben als etwas, das einem Halt bietet – einen papierenen. Ob das auf Dauer
reicht?
Ein neuer Gedanke vielleicht. Wenn es nicht
gleich wieder so ganz ...
Die Sätze brechen dir ja im Kopf ab.
Da bringe sie eben weiter aufs Papier. Dass
du was vor Augen hast!
"Und
ein paar Schritte weiter:
Die Angelegenheit mit
deiner dreisten Kompetenzüberschreitung hat keinerlei negative Folgen gehabt
(allerdings klopfte dir auch niemand auf die Schulter). So hättest du ruhig
wieder einmal einen Schritt über deine Grenze hinaus tun zu können. Nach
Rückkehr aus Fernost verfolgte Karl nämlich die Absicht (und ließ dich das auf
seine Art wissen), in einem seiner Werke ein paar Abteilungen
wegzurationalisieren. Es sind Entlassungen an- und ihm sicherlich ärgerliche
Szenen ins Haus gestanden. Die Sache ist dir allerdings doch zu aufwändig
gewesen. Du hättest dich auf wirtschaftskundlichem und möglicherweise sogar auf
sozialpolitischem Gebiet kundig machen und vermutlich Stellung beziehen müssen.
Da beriefst du dich dann doch vorsichtshalber auf deine Nichtzuständigkeit. Du
hast an die Wirtschafts-Redaktion weitergeleitet, bei der Karls Anliegen
vermutlich in guten Händen war. (Womit du Karl immerhin die Soft-Marxisten von
der Sozial-Redaktion erspart hast)."
Warum machst du es nicht einmal. Weg. Raus
hier. Weg von allem hier. Eine quasi Kompetenzüberschreitung deiner
Alltäglichkeit. Nur so zur Probe. Von allem weg. Abhauen. Auf die Straße. Wo
dich hier gar nichts hält. Was soll die Einbildung mit dem Texten hier. Die
vielen Luftballons, die du da immer noch aufbläst?
Einmal auf Trebe gehen und unter die Brücke.
Dem Jahr ist auch fast die Luft raus. Du
musst sehen, dass du einen guten Mantel hast.
Einen Mantel, der es auch in der Nacht tut.
Dass du dir nichts abfrierst.
Da hängt doch noch das alte wadenlange Ding
im Schrank. Wadenlang ... Hin zum Schrank und das Ding rausgeholt ... Zum
Spiegel. Übergezogen. Das ist noch nicht so, wie man sich diese Burschen von
der Landstraße vorstellt. Kann aber bald so werden. Sowas passt sich den tiefen
Wünschen an ...
Da leuchtet dir ein, dass das die reine
Maskerade ist. Unecht. Dazu bist du noch nicht so weit ... Der brave Schreiberling
in dir.
Du arbeitest eben das, wie du es immer
gemacht hast, wenn du dir entkommen wolltest:
"Wenn
J/K seinen Auftrag überbracht und so seine dienstliche Pflicht erfüllt hatte,
ist er meistens – wie bereits angeführt – zu einem guten Tropfen zu überreden
gewesen. Er rächte sich dann häufig, während er ein Glas nach dem anderen von
dem braunen Saft in sich hineinlaufen ließ, an dem Teil seines Schicksals, wo
es sich anbot, tüchtig gegen seine Brotgeber vom Leder zu ziehen. Da sind zwar
viele Zwischentöne herauszuhören gewesen, die zur Polsterung guter Storys von
dir zu gebrauchen gewesen wären. Hingegen konntest du dich bei etlichen
Passagen des Eindrucks nicht erwehren, dass J/K sich einer ausgesprochen
sozialistischen Redeweise befleißigte, die mit Enteignung und Gleichschaltung
nur so gespickt war. Das, obwohl er, wo es sich nur immer anbot, auf dieses
gerade im Osten wohl in seinen letzten Atemzügen liegende politische Monster
aus vollem Herzen schimpfte. Wenn das Karl Marx wüsste, was seine Bastarde
treiben!, ist eine gerne von ihm benutzte Formel gewesen. (Gerade an solchen
Stellen hast du ihm ordentlich nachgeschenkt, damit er wieder von der
verkorksten Weltrevolution weg- und auf andere Gedanken komme.) Das Repertoire
von J/K's Randbemerkungen war jedoch doppelschichtig. Sichtbar, wenn er sich zu
markigen Auslassungen über Rasse, Lebensraum und Führerschaft herbeiließ.
Beides gelegentlich auch in einem Gedankengang. Du wärst allerdings nie auf die
Idee gekommen, das alles nach außen, sprich ins Haus Mentenheim dringen zu
lassen. Du wolltest es bei einem erstaunten Kopfschütteln belassen. Gönntest
dir allerdings den klamaukigen Einfall, dir deinen nach allen Seiten offenen
Gast mit grauer Marxmähne und schwarzer Rotzbremse unter der Nase vorzustellen."
Wo mag er sein, Karls Laufbursche? Mit J/K
hätte es Spaß gemacht. Auf der Straße. So durchs Land zu ziehen. Er hatte so
einen trockenen Witz. Mit seiner nach allen Seiten offenen Art hätten wir
überall landen können. Cool, wie man sagt. Hat gequatscht und auch zugehört.
Ein richtiger Kumpel eigentlich. So mit einer angelebten Bildung des Herzens –
du meine Fresse, dieser Ausdruck! Jedenfalls nichts Angelerntes. Und der Suff. Bloß die teuren Sachen, die hätte er sich
dann allerdings abschminken müssen. Es sei denn, die Einnahmen von den Bettlern
sind tatsächlich so satt, wie die Leute immer behaupten. Doch was hätten die
teuren Sachen dann noch für einen Stellenwert? Wenn man einen auf Abgerissen
macht ...
"Dass
J/K jetzt nach dem Fall der Mauer häufiger seinen famosen Chef in den
aufgeknackten Osten kutschieren musste, hast du zunächst als ganz gewöhnlichen
Vorgang registriert. Du konntest dem Finanztourismus der kleinen Leute von Ost
nach West und jenem der größeren Nummern in umgekehrter Richtung nichts
Besonderes beimessen. Es hätte dich eher gewundert, wenn Karl dort drüben nicht
mit von der Partie gewesen wäre. Es ist besser, warst du überzeugt, solche doch
noch irgendwie gesellschaftlich zu kontrollierenden Zeitgenossen machen es. Es wäre
nicht so vorteilhaft, wenn da mafiotische Halunken aus der ganzen Welt dort
aufkreuzten und vor Anker gingen und unsere gebeutelten Brüder und Schwestern
(nicht die der Prediger 'im Herrn', sondern jene aus den verklungenen
Sonntagsreden salbadernder Politiker) noch mehr aussaugten."
Mit J/K auf der Trebe? Alles immer wieder
hinter sich lassen. Raus, wenn du mal wo drin warst. Immer die Türe wieder zu,
wenn sich da eine aufgetan haben sollte. J/K war hingegen bestimmt bis ins Mark
vermiest. Dem Gehabe da immer, dem er stets ausgeliefert war in der fetten
Umgebung seines Arbeitsplatzes. Erst recht, wenn er als Chauffeur auf engstem
Raum dem überhaupt nicht ausweichen konnte und es richtig im Genick hatte. Wenn
er das Monetenpack kutschierte. Alles immer um die Penunzen. Und Einfluss. Und
Macht. Da bleibt auch was hängen bei dem, den es eigentlich davor graut. Es
kommt dem dann bestimmt immer mal in irgendeiner Verkleidung hoch. Irre, so
zwischen seinem ganzen Nazimarxismus. Das würdest du dann nicht ertragen. Wenn
man weggeht aus seiner alten Welt, da muss man die Türe hinter sich richtig
zumachen ...
"Bald
bist du mit einer unangenehmen Besonderheit im Gefolge von Karls Ansinnen
konfrontiert gewesen.
Eigentümlicherweise hat nämlich auch jeweils die Konkurrenz
mit diesen Infos aufgemacht, die sich Karl scheinbar nur von dir veröffentlicht
wünschte. Das nagte etwas, wenn auch nicht gerade gleich an deinem
Selbstwertgefühl, so doch an deinem Vertrauen zu dem alten Schulfreund, dem du
doch stets artig zu
Diensten gewesen bist. Genaugenommen hättest du ja von
Treulosigkeit sprechen können. Zwar hast du zu Hause vor Wut darüber einen
Küchenstuhl zertrümmert. Doch damit ist die Sau rausgewesen. Du hast es dir in
der Folgezeit angelegen sein lassen, einen kühlen Kopf zu bewahren – und
darüber nachzudenken, wie du die Konkurrenz parieren könntest. Du bist zunächst
sogar dazu bereit gewesen, die anderen damit zu linken, ihnen hie und da eine
Ente unterzuschieben. Doch davon nahmst du Abstand (offen gestanden weniger aus
ethischen Erwägungen heraus, denn diesen Aufwand mussten dir diese
Trittbrettfahrer nicht wert sein, sondern einfach deswegen, weil sie dich im
Falle einer Aufdeckung ordentlich am Arsch gehabt hätten). Es gelang dir
schließlich auf ganz einfache und einigermaßen unverfängliche Art, den anderen
immer um eine Nasenlänge voraus zu sein. Das polierte dir obendrein in deinem
Laden das Ansehen gehörig auf. Du konntest dir daher des zwar
unausgesprochenen, aber doch unumgänglichen Lobes der Betriebsleitung
einigermaßen gewiss sein. Denn es gibt wohl auf dem Informationsmarkt neben der
Qualität nichts Wichtigeres als die Geschwindigkeit, respektive die ständige
Verkürzung des Abstandes zwischen Geschehnis und dessen Kundmachung. Du willst
allerdings hier auch festhalten, dass dir bei deiner Aktion J/K's, des
trinkfreudigen Boten, Erzählfreudigkeit einigermaßen zustattenkam. Er steckte
dir nämlich regelmäßig, wo er ebenfalls ein Kuvert abzugeben habe. Es ließ
sich mit etwas Bakschisch, zum größten Teil in flüssiger Form, so richten, dass
K/J den jeweiligen Auftrag mit einer angemessenen zeitlichen Verzögerung zu
erledigen bereit gewesen ist."
Verschnaufen! Schreibe kurz weg! Der
Einbildung etwas nachgegangen, während der Qualm kleine Wölkchen macht. Da
überkommt es dich: Die edelsten Erfolge sind jene, will dir einleuchten, an die
man sich ihrer kurzen Dauer wegen im Gemüt erst gar nicht gewöhnen kann. Genau,
ein guter Spruch. Den man ebenso aufs Verlieren anwenden könnte. Solche Sprüche
klopfen! Mit so was auf die Straße – wenig Gepäck, alles beidseitig tragbar
...
"Deine
Informationsquelle versiegte leider allmählich. War bald versickert und dann
einfach weg. Du hast dich gelegentlich über dich selber gewundert, dass du dem
nicht nachgegangen, geschweige denn irgendwie nachgehangen bist. Im Gegenteil.
Alles was man zu lange gebraucht, das verbraucht sich auch allmählich, bist du
damit zu deiner eigenen Überraschung eiskalt umgegangen. (Auch wenn dir der
Kerl da vorhin wieder im Kopf stand. Du protokollierst es an dieser Stelle,
dass er dir Episode bleibt!)
Dass Karl eines
Tages ein Schloss erworben hatte, erfuhrst du jedenfalls nicht mehr von
K/J."
Was dich heute hier so alles überkommt. Das
mit der Straße ist schon wieder da. Jetzt allerdings ohne Begleitung. Es ist ja
auch kein Wunder mit deiner Verhocktheit zurzeit. Die eine schiere
Versessenheit ist.
Du solltest doch endlich hinschmeißen.
Aufstehen und gehen. So wie die Burschen, die sagen, dass sie sich nur
Zigaretten holen gehen. Sich selbst nur in Hausschuhen auf den Weg machen. Und
nie mehr wiederkommen ....
Man müsste jedoch seine vier Buchstaben erst
mal hochkriegen ...
Natürlich treibt es dich um. Jetzt auch noch
als Vorwurf, dass es bei dir nicht einmal dazu reicht. Einfach ... – Es mag
dann eine Schachtel Zigaretten gedauert haben, bis da etwas einigermaßen
Tröstliches heraufzog: So etwas, das gleichsam als ein Ersatz herhalten könnte
für das immer wieder mal angedachte Anders-Handling deines ... – ja was denn?
Deines Lebens? Gleich so viel? Bleibe bei dieser Frage nicht hängen!, bestimmst
du dir. Gib dir einen Ruck und versuche wenigstens eine andere Schreibe. Lasse
dir die Geschichte um Karls Schloss ein gefundenes Fressen sein und noch einmal
durch den Kopf gehen. Mache doch etwas anderes daraus als nur so eine Notiz
wieder.
(Damit nach Wochen die
Erfüllung deines schreiberischen Selbstauftrages. Du gönnst dir hier wieder
eine ganz andere Rollensicht – nämlich deine eigene und seit einiger Zeit ja
fremde.)
"So
eine heiße Pracht:
Es mochte Ende der
Neunziger gewesen sein, da hatte endlich einer dieses Schloss erworben. Es lag
immerhin inmitten herrlicher Natur und obendrein in Großstadtnähe. Allerdings
halste sich der Käufer damit eine Ruine auf.
Nachdem sich das
Erstaunen darüber gelegt und sich herumgesprochen hatte, um wen es sich bei dem
neuen Schlossherren handelte, wurde in der Zeitung eine kulturelle und
heimatpflegerische Tat der Familie dieses Industriellen daraus. Dies geschah
sozusagen auf Vorschuss, der Zustand des alten Gemäuers ließ jedoch gar keinen
anderen Schluss zu, als dass zumindest bauliche Erhaltungsmaßnahmen ergriffen
würden.
Kein Museum sollte
daraus entstehen, das war schnell klar.
Es sollte neben der
Möglichkeit zur Repräsentation auch Wohnlichkeit hergestellt werden. Die Pläne
dazu lagen bald auf dem Tisch – gefolgt von den Bedenken des Denkmalschutzes.
Mit Anwälten und Fachgutachten war jedoch Paroli zu bieten. Als sich am Ende
doch noch das Bauamt an den geplanten sanitären und sonstigen Installationen
als erheblichem Stilbruch festbiss – und dies mit möglichem Erfolg, kam der
Prozess ins Stocken. Jedenfalls vertagte sich der Bauausschuss, ohne einen
Beschluss fassen zu wollen. Darauf nahm die Presse einen tiefen Atemzug von der
Luft über den Stammtischen und brachte einen Leserbrief:
'Da
will ein zwar gewiss nicht mittelloser Mitbürger sein Geld immerhin in das
erhebliche Risiko des Erhaltes eines altehrwürdigen Gemäuers stecken. Er plant
das unter Opfern und Mühen, anstatt sich problemlos etwas Neues hinstellen zu
lassen. Da ist dieser Heimatfreund und Kunstkenner unter Zurückstellung von
Eigeninteressen bereit, der Öffentlichkeit ein Stückchen örtlicher Vertrautheit
und baulicher Kultur zu bewahren.
Gerade staatliche Stellen hätten bei ihrer chronischen Geldknappheit
dankbar sein müssen, dass ein privater Investor für eine im Grunde öffentliche
Aufgabe die Geldbörse öffnet.
Es leuchtet aber einigen Köpfen in der Kreisverwaltungsbehörde
nicht ein, dass sich ein Mensch unserer Zeit kaum nur mit Wessobrunner Stuck
und Marmorsäulen begnügen kann und dass er auf Ausstattungsstandards gar nicht
verzichten kann. Jedes Bauernhaus hat heute elektrischen Strom und fließend
Wasser.
Es ist kaum nachvollziehbar, dass behördliche Stellen wieder
ihr Knüppel-zwischen-die-Beine-Spiel betreiben und den Fortgang der
Restauration des Bauwerkes mit Behördenkram behindern.
Tatsächlich vernichtet das kleinkarierte, kurzsichtige Paragrafenreitertum
ein großherziges Konzept zum Erhalt des unwiederbringlichen Kleinods. Man muss
mit größtem Bedauern feststellen, dass dieses Stück Heimat nun wohl dem
endgültigen Verfall preisgegeben ist.
Auch wird die heimische Wirtschaft das Nachsehen haben. Dass
sich auf einen Investor dieses Kalibers mit Sicherheit bereits andere
Gemeindesäckel freuen, ist abzusehen.
(Name der Redaktion bekannt)'
Das hätte wirken und
den Bauausschuss in eine positive Entschlusslaune versetzen können. Es war
indessen durchgesickert, dass sogar ein Golfplatz und ein kleiner Flugplatz
geplant seien. Gleich stürzten sich die Naturfreunde darauf. Ihr Kampf um den
Erhalt 'des idyllischen Fleckchens Erde' begann mit Leserbriefen. Die
Heimatzeitung hat sich, wenn auch mit gehörigen Kürzungen eingreifend, dem
nicht ganz verschließen können, war jedoch sozusagen zwischen zwei Stühlen
platziert. Denn einerseits haben die Ökokämpfer mit ihrer Angriffslust das
Meinungssediment aufgemischt und somit gewiss Lesebereitschaft mobilisiert,
andererseits hat man sich der Stammleserschaft verpflichtet fühlen müssen, die
so einen Wirbel immer als störend und unerquicklich ablehnte.
Die Schwierigkeiten
des Schlossherren mit den Behörden wurden dann im Wege mehrerer Zugeständnisse
beseitigt und die ökologischen Einwände, da sie politisch dort
hineintransportiert worden waren, vom Kreistag niedergestimmt. Die
Mandatsträger waren offenbar überzeugt worden, dass sie nur die Wahl hatten zu
entscheiden, ob das heruntergekommene Gemäuer im Rokokostandard ganz verfallen
oder aber auf modernen Level gebracht, nämlich mit elektrischem Strom, Heizung,
fließend Wasser und zeitgemäßer Infrastruktur ausgestattet, überleben sollte.
Lediglich der
'Indoor-Swimmingpool', der in der Schlosskapelle hätte eingerichtet werden
sollen, hat sich nicht durchsetzen lassen.
Schließlich stand die
Einweihungsparty an. Von der Presse wurde alles gründlich vorbereitet, so dass
auch das gemeine Volk darin schwelgen können würde.
Als es so weit war,
fuhren die Erwählten auf, entschwebten oder entkrochen dem Fond der großen Limousinen,
deren Türen gemeinhin von Chauffeuren geöffnet worden waren. Große Abendrobe,
schwarz-weiß – schimmernd, glänzend, gleißend die Damen, nach außen gekehrte
Safes. Zwischen den Pinguinen auch mal ein blauer Frack oder jemand mit einem
Halstuch statt des Binders. Mit ein paar Zupfübungen wurde die üppige Kleidung
zurechtgerückt, natürlich ohne die mühsam erzeugten Lässigkeiten in spießige
Ordnung zu bringen. Dann schritt man und trippelte frau, locker untergehakt,
zuweilen gnädig lächelnd, von rokokolivrierten, fackeltragenden Lakaien
geleitet, ins strahlende Palais.
Auch die Presse hatte
sich etwas fein gemacht, wenigstens obenrum. Ihr Vertreter erschien mit
Krawatte und dunklem Jackett. Untenherum musste der ausgebeulte Pumpwurm
genügen.
(Es ist zwar
anstrengend – jetzt schon. Aber du wirst noch einen draufsetzen! Du wirst jetzt
versuchen, ein Spielchen mit dir selber zu treiben und sogar zu wagen, in dein
Ich zu schlüpfen – um dich dir fernzuhalten.)
Dieser in der eben
beschriebenen Kleidung steckende Zeitungsmann soll von nun an aus seiner Sicht
Bericht erstatten, da er ja bei dem Event zugegen war. Er war seit längerem mit
der Angelegenheit befasst gewesen. Es war sogar schon gemunkelt worden, dass er
diesen zitierten Leserbrief fingiert hatte. Sein Name braucht allerdings nicht
erwähnt zu werden – was gerade in einem solchen wie dem darzulegenden Fall
durchaus ratsam ist. Er wird also persönlich weiterprotokollieren.
Nun gut: Ich drängte
mich dann – nämlich nach dem vorhin geschilderten theatralischen Aufzug – in
einem Pulk bestellter Zuschauer und abgestellter Dienstboten zum Eingang und
erzeugte mit den anderen Fotografen Blitzlichtgewitter.
Am Portal machten die
Livrierten Halt, warteten ein wenig, bis die Herrschaften in die von Lüstern
erhellte, mit Musik ausgeschallte Freundlichkeit weggetaucht waren.
Nachdem das
Hauptkontingent der Gäste eingezogen war, wurde das Spalier aufgelöst. Die
Dorfbewohner, die meisten in Tracht, bekamen etwas abseits eine Kleinigkeit zu
essen, origineller Weise in ein weißblaues Tuch gebunden. Vergelt‘s Gott!,
hörte man immer wieder.
Eigentlich wäre es
das jetzt auch für mich gewesen, denn ich hatte Fotos und wusste, wer alles
aufgekreuzt war. Aber ich wollte das Feld noch nicht räumen, auch deswegen
nicht, weil mir der Magen knurrte und ich Atzung witterte. Es wäre zwar möglich
gewesen, mit Presseausweis den Haupteingang zu benutzen. Ich hätte dann aber
wegen meiner Kamera dauernd ihre Schöngesichter sozusagen auf dem Hals gehabt.
So drückte ich mich durch den Lieferanteneingang ins Innere.
In der Halle gelang
es mir, auf der Galerie hinter einem Säulenpaar Stellung zu beziehen. Zwischen
den Säulen hindurch konnte ich gut beobachten und sogar fotografieren. Vor mir
spielte sich nämlich alles wie auf einer Bühne ab, nur eben tiefer gelegen. Ein
ausgezeichneter Platz. Es rührte sich üppig da unten. Hier oben ist sonst
keiner. Es ist hier richtig angenehm.
Man könnte einduseln,
war ich versucht. In dieser Position, mit diesem Überblick oder besser sogar
Einblick – auch in die Balkone der tief ausgeschnittenen Damen. Vielleicht was
zum Futtern mausen. Was Flüssiges auch. Dann einfach nichts tun. Irgendwann
gibt es womöglich etwas mit der Kamera einzufangen. Wie auf einem Ansitz fühlte
ich mich, auf einem Jägerstand. Sie waren noch bei der Begrüßung, konnte ich
sehen, immer wieder offene Arme, Bussi.
Dieser
vielstimmige Chor im Parkett. Geräuschkollektiv der Beauty Peoples. Doch immer
noch reichlich verhalten. Sie sind noch nicht auf Touren. So eine Gedämpftheit
ist nicht ihre Art. Bei so einer Fete wie hier jedenfalls nicht. Allenfalls bei
der Abwicklung ihrer Geschäfte. Wenn es etwas unter der Decke zu halten gilt.
Ab und zu lösten sich
doch ein paar Gesprächsfetzen: ... wie in der heiligen Wieskirche kommt man
sich hier vor, nur mit lauter ungetauften Geistern dort über einem an der Decke
um diese Jagdgöttin ..., lästerte einer, ... sozusagen weit über uns getauften
Heiden hier unten!, lachte er seinem Einfall nach. Ich folgte seinen Worten
nach oben. Eigentlich hatte er Recht: Der rankende Stuck; die bunten, mit Natur
und schwebenden Gestalten gefüllten Fresken – die Decke schien zu schwingen.
... exzellent, diesem Hausherrn seine Buchhaltung möchte man mal durchstöbern
..., hörte ich noch.
Gute Akustik hier,
war ich überzeugt.
... und dem seine Konten in der Schweiz. Man muss ja zusehen, dass
man sein Geld am Finanzminister vorbeibekommt, wenn man es nicht hier mit ein
paar Subventionskröten staatlicherseits alimentiert unterbringen kann. Unsere
Politik ist mit dem neuen Osten so meschugge, dass sie einem das Geld aus der
Tasche zieht, um es dort drüben hineinzupumpen ...
Ich wäre gerne noch
etwas näher an den beiden Finanzjongleuren gewesen. Die hatten vermutlich noch
mehr von diesen Schlauheiten auf Vorrat – und nicht nur Ansichten über diesen
Schlossherren M. (der Name darf aus presserechtlichen Gründen leider nicht genannt
werden!).
Diener schritten
immer wieder an die Grüppchen heran. Jetzt war einer bei den beiden, deren
Gespräch ich belauscht hatte. Sie wechselten das Thema und begannen, über die
Zigarren auf dem hingehaltenen Tablett zu diskutieren. Der Diener ertrug es mit
Geduld, eine ganze Weile so dastehen zu müssen. Diese Haltung, ein Mix aus
Artigkeit und Würde. Mir fielen jetzt die vielen Butler auf. Alle wie man sie
vom Film kennt. Sie waren weiß behandschuht, hielten ihr Tablett auf
angewinkeltem Arm, boten Champagner oder Zigarren und Zigaretten an, reichten
den Rauchern Feuer.
Ich sitze auf dem
Trockenen, packte mich der Neid. Ein in Rokoko gewandeter Maître de Pläsier
ließ einen Tusch ausbringen und ersuchte die hochverehrten Damen und Herren um
geneigte Aufmerksamkeit. Während zwei Posaunen erschallten, deutete der Maître
mit einer ungemein graziösen Geste auf eine Tür. Ich hatte kaum Zeit, über
diese Verrenkung zu reflektieren, denn da schwebte bereits ein Dutzend
Schürzchen und Häubchen herein. Das Aufsehen war groß und die Küchenfeen wurden
mit Beifall bedacht. Jede der kurzberockten Maiden hatte auf elegante Weise ein
Tablett mit Häppchen geschultert. Sie tänzelten hin und her und zwischen den
Grüppchen hindurch.
Die Posaunen zogen ab
und machten fünf feixenden Violoncelli Platz.
Bald waren etliche
Tablettserien abgeräumt und die Mägen fürs Erste wohl gefüllt.
Die Ballerinas
tanzten ab.
Die Cellisten hatten
immer noch ihr Grinsen, während sie die Instrumente stimmten. Etliche Herrschaften wandelten nun ein wenig
plaudernd umher.
Jetzt schienen die
nach Ansage akademischphilharmonischen Musiker ihre Instrumente auf Klang
gebracht zu haben. Ihre Mundwinkel waren immer noch honigkuchenpferdesüß, als
sie zu einer Melodie ansetzten.
In die ersten Takte
hinein hörte man jemand mit erhobener Stimme zu einem Vortrag ansetzen. Aus der
Ecke zur rechten Seite kam es und steigerte sich. Die Musik nahm sich höflich
zurück. Nach und nach hörten alle dem Störenfried zu. Man verstand ihn
allerdings trotz seiner Lautstärke nicht genau, denn er hatte offenbar
Schwierigkeiten, seine Zunge zu steuern. Ungefähr in der Mitte der Treppe zur
Galerie stand er. Ein etwas struppiger Mann in mittleren Jahren. Er steckte in
seinem Frack in einem buntkarierten Hemd. Er redete und redete und fuchtelte
dazu wild mit den Armen.
Man merkte sofort,
dass er zu dieser Stunde bereits gehörig abgefüllt war. Wissendes Lächeln in
seiner Zuhörerschaft. Er war offenbar in diesen Kreisen eingeführt – und ich
wunderte mich, dass er nicht auch bereits pressebekannt war, was ich natürlich
bei Gelegenheit zu korrigieren dachte. Auf dem Gipfel seiner lautlichen
Möglichkeiten angelangt, brüllte er mit überschnappender Stimme ein Wort in den
Saal. Exalismus!, oder so ähnlich hatte es geklungen. Es hatte sich wie eine
Drohung angehört. Alles verstummte im Nu. Er schrie es gleich noch mal.
Tatsächlich: Exalismus. Die Leute in seiner Umgebung wichen etwas zurück, man
konnte ja nicht wissen. Dagegen haben sich etliche Damen und Herren, die im
Saal weiter weg ihrer Unterhaltung nachgegangen waren, der Szene genähert. Von
diesen Zuwanderern wollte wohl einer den Redner noch mehr entflammen: Dieser
Sartre, dieser wunderliche Ober-Existenzialist, ist doch zu den Bader-Meinhofs,
dieser ganz ordinären Mörderbande, ins Zuchthaus gepilgert!
Etwas Unruhe im Saal.
Laute, die wie 'pfui Teufel' klangen, waren zu hören. Dazwischen ein verlorenes Kichern. Es war
für einen Moment ganz ruhig. Ich wunderte mich. Selbst an den Celli wurde nicht
mehr geschabt. Der Mann stand jetzt auf seiner Stufe ganz allein und glotzte
ins Publikum. Das rotkarierte Hemd ätzte noch intensiver aus dem Frack.
Das ausdrucksstarke
Nichts ist da zu betrachten, jenes mit Sartre und Co.!, war aus einer Ecke zu
hören.
Den Worten folgte ein
schütteres Klatschen.
Ich hatte mich nur
für einen Moment gebückt, um die Kamera vom Boden zu nehmen, und wollte mich
jetzt wieder dem Rotkarierten auf der Treppe zuwenden. Der Existenzialist war
aber verschwunden. Nun, er war wohl irgendwie abgetaucht, um den Abend
schlafenderweise, unter einem Tisch vielleicht, zu verbringen.
Nach dieser kleinen
Einlage nickten sich die Musikanten zu und begannen unter ihrer Grimasse, die
Saiten zu greifen und zu schrubben. Wagners 'Einzug der Sänger auf der
Wartburg' erklang prall aus den Bäuchen der Instrumente und rief bei etlichen
älteren Herrschaften leises Entzücken hervor.
Ich wechselte meinen
Standort und besetzte einen Platz, der mir einen günstigeren Blickwinkel
bescherte: Frisurenlandschaften taten sich auf, speckig glänzende Zonen
dazwischen. Einige Paare schlenderten umher. Es wogte dort unten – und manchmal
direkt im Takt der seifigen Musik. Die ganze Szene war eingerahmt von Greisen
und Matronen, die in Polstersesseln hingen und in Gedanken, Gespräche und
Genüsse vertieft waren.
Bewegung, Geräusch –
und Erwartung. Natürlich, das hätte ruhig noch eine Zeit so weitergehen dürfen.
Aber das geht hoffentlich nicht dauernd nur so weiter! Doch nicht bei diesem
Malefiz, der nun auch noch Schlossherr war! Man kannte ihn ja, diesen famosen
Kerl. Er hatte doch immer noch etwas in petto, mochte in den allmählich wohl
etwas gelangweilten Köpfen umgegangen sein.
Vielleicht wird nach
der Show mit den Häppchen bald das große Buffet eröffnet, bewegte mich. Ich war
fest entschlossen, mich mit einer allerdings noch zu erfindenden List darüber
herzumachen. Nur etwas Genierlichkeit wegen meiner knautschigen Klamotten hätte
mich zurückhalten können, offen in Aktion zu treten.
Es zog sich noch eine
ganze Weile so hin. Die Musik, mal Offenbach, dann wieder was von einem
Walzer-Strauß. Die milden Klänge durchzogen die Gesprächskulisse und dieses
Gemenge schwappte zu mir herauf. Gelegentlich konnte ich da und dort ein Gähnen
beobachten. Das war ansteckend. Abwechslung wäre fällig gewesen ... Rauchen
habe ich auch nicht dürfen. Da hätte mich der süßbrandige Qualm meiner
ordinären Selbergedrehten als Fremdkörper verraten.
Auf einmal begann sich ein Paar zu dem Streichen zu drehen.
Es waren ältere
Leute. Die Umstehenden nahmen es kaum zur Kenntnis, machten lediglich ein wenig
Platz. Die schiere Verzweiflung, lästerte ich. Zwei, drei Paare ließen sich
schließlich anstecken.
Das mit dem bisschen
Tanz konnte es ja auch nicht sein. Man wartete weiter auf etwas, was neuen
Auftrieb gebracht – und vielleicht ein wenig voneinander abgelenkt hätte.
Die Celli schrubbten
allerdings, durch die spärliche Verwertung ihrer Kunst herausgefordert, um
einiges wackerer. Doch das verebbte dann auch wieder, nachdem die Tänzer nach
und nach ihr Drehen eingestellt hatten.
Zwar etliche
Gesprächsinseln. Aber Stumpfsinn hing im Raum – wie die Tabakhechte da und
dort. Die Damen und Herren sind schon von einem Bein aufs andere getänzelt.
Etliche hatten sich auf den Stufen niedergelassen.
Gelangweilte Blicke
zur Decke. Ich folgte ihnen. Ach ja, die Fresken, in Stuck gefasst: Eine
barockfüllige Diana mit Pfeil und Bogen in angenehmer pastellfarbener Natur,
von drallen Putten umschwirrt. Raffiniert streckte Diana ein üppiges Stuckbein
aus dem Fresko. Dieses Überquellen der Körperlichkeit: Vielleicht ein Fall für Weight-Watchers,
kicherte ich mir zum Zeitvertreib.
Wie ich so vor mich
hin ödete, schockte mich der Gedanke, dass da noch die Ansprachen zur Eröffnung
ausstanden. Um Gottes willen, das würde besonders unangenehm werden, wenn
Politiker anwesend sind. Ich suchte nach welchen. Bestimmt werden dann im ganzen Haus alle
Toiletten besetzt sein.
Ich guckte umher,
dieses und jenes fiel mir auf, nichts Besonderes zunächst, doch war ich immer
sozusagen sprungbereit, etwas einzufangen. Das ist der Beruf, sagte ich mir.
Ich hielt Ausschau über die Köpfe hinweg und auch zum Portal hin. Da! Es
durchfuhr mich wie ein Blitz! Was war denn das für einer? Ich starrte dorthin
und riss die Kamera hoch. Eine bizarre Gestalt war am Eingang aufgetaucht.
Kurioses Outfit: Schlapphut, Sonnenbrille, lappiger Trenchcoat ... Sonnenbrille
hier und jetzt? Wie in einem miesen Krimi. – Den Fotoapparat in Anschlag
gebracht. – Wie dieser Bursche durch das Foyer hastete und schnurstracks die
Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal. – Abgedrückt! – Hatte nicht nach links,
nicht nach rechts gesehen. Kopf eingezogen und durch. – Noch ein Bild, denn das
könnte irgendwie interessant werden! – Ach ja, mit einem Koffer war der Mensch hier
durchgerannt, erinnerte ich, als er bereits weg war. Auch das Gesicht! Das
musste schon einmal etwas von einer Schrotladung abbekommen haben.
Diese Beobachtung
hatte mich richtig aufgekratzt. Ich dachte mir, dass da endlich noch etwas
anstünde, was wieder Laune bringt. Dann machte ich mich an die Flasche heran,
die da jemand abgestellt hatte. Erst schnuppern, sagte ich mir, denn da kann
alles Mögliche drin sein. Vielleicht hatte gar einer Rokoko total gespielt,
blödelte ich bei mir, wo sie keine Toiletten in ihren Schlössern hatten. Aber
es roch angenehm nach Sherry.
Diese Pulle setzte
mir allmählich zu. Ich war bald ein wenig benebelt. Die Musik, das
Stimmengewirr und die Mixtur des Echos von den hohen, kahlen Wänden her. Dieses
Gedröhn, das bei mir ankam. Ich setzte mich und lehnte mich lässig an die Säule.
Da zerriss ein
schrilles Kreischen meine Dunstglocke.
Im Saal herrschte
augenblicklich Stille. Überraschung.
Kommt jetzt endlich
etwas? Abwechslung, Aktion, Amüsement?
Die akademischen
Philharmoniker blickten sich eine ganze Weile erschrocken an. Sicher, der Laut
hatte ihre Harmonie zerfetzt. Die freundliche Larve war nicht mehr im Gesicht,
und sie vergaßen zu streichen, ließen den Bogen an den Saiten entlang nach
unten schaben. Aus den Bäuchen der Instrumente kamen noch ein paar Grunzlaute.
Alles lauschte. Dann
schaute man etwas ratlos umher und wartete auf eine Fortsetzung, wenigstens
Wiederholung, besser natürlich noch Durchführung, von was auch immer, aber
immerhin von etwas.
Doch da kam nichts
mehr. Achselzucken.
Schließlich fiel alles wieder in diese träge
Bewegung. Die Musik hatte auch wieder ihr Gesicht – und 'Donau so blau'
erklingen lassen.
Ein gellender Schrei
vom Treppenhaus her übertönte die Donauwellen. Es hatte fast so geklungen, als
hätte da jemand Feuer gebrüllt!
Prompt versiegte die
blaue Donau, und den Leuten hatte es mitten im Satz, mitten im Wort die Sprache
verschlagen. Man stand wie angewurzelt da.
Feuer!, zerriss diese
gespannte Lautlosigkeit. Das hatte geschockt, alle waren im selben Augenblick
zu so einer Bewegung wie zu einem Knicks zusammengezuckt.
Jetzt packten die
Gesichter ihre Instrumente und machten sich davon. Die Herrschaften beachteten
diese Flucht nicht. Sie standen immer noch beinahe reglos da.
Jetzt ein Winsellaut
von irgendwo da oben. Es hatte schier etwas Komisches an sich. Man hätte lachen
können – wenn einem da nicht doch noch der Schock von vorhin im Griff gehabt
hätte.
Die Blicke bewegten
sich zur Galerie hinauf. Doch da war nichts auszumachen. Alles suchte die Decke
ab – und man wanderte in seiner Angst ganz unsinnig mit der Göttin Diana durch
heitere Landschaft.
Es brennt!, gellte es
gleich darauf.
Die Leute standen
starr wie Skulpturen da.
Nach einer Weile
löste man sich wieder, schaute im Raum umher und hinauf ... Es schien fast so,
als ob alle auf eine Wiederholung warteten, vielleicht zur endgültigen
Bestätigung des noch immer Unglaublichen. Da kam tatsächlich ein Kreischen:
Es brennt! 0 Gott, es
brennt alles!
Es hatte sich
eigenartig hohl angehört.
Ein Verdacht keimte
auf. Richtig wie im Theater hatte es sich angehört und hinter der Kulisse
hervor. Ein Schauerstück! Alles fast so wie inszeniert! Verdammt, das war es
doch auch!
Einer der Gäste stieß
Laute aus, die sich wie Lachen anhörten. In die Gesichtszüge kam wieder Leben.
Da, ein Meckern, das
wieder ein Lachen gewesen sein konnte. Prompt das Echo von irgendwo im Saal.
Das ist Theater!, war
eine sonore Stimme zu hören, sie klang bedächtig, fest und Vertrauen
erweckend.
M.!, rief einer in
diese karge Heiterkeit. Menschenskind, das ist es ja! Das habe ich mir doch die
ganze Zeit gedacht! Der Sprecher blickte in die Runde und holte tief Luft: selbstverständlich!
Ich habe mir doch gedacht, verehrte Freunde, dass hier bei unserem M... noch
etwas kommen müsste! Der Herr wendete sich zur Treppe und rief ins Leere
hinauf: Meister! Wo bist du denn überhaupt, alter Junge? Er lachte trocken und
feixte in die Gesellschaft. Alle hielten Ausschau nach dem Hausherrn. Ich ging
hinter der Säule in Deckung, als die vielen Augen meine Gegend erreichten. M.
war jedoch nicht ausfindig zu machen. Es war allerdings zu spüren, wie die
Ablenkung von der Horrormeldung, die ja jetzt als Klamauk gedeutet war, die
Stimmung gelöst hatte. Die Herrschaften begannen zu plaudern, führten ihre
Gespräche fort. Ein Kichern da und dort.
Siehe da! Auf der
Bühne dort drüben saßen auch wieder die Kniegeiger und grinsten und machten
ihre Musik.
Eine verflucht heikle
Sache, das!, durchdrang eine mahnende Stimme das tönende Allerlei. Die Musik,
allmählich darauf eingestellt, hielt mitten im gerade angeschlagenen Takt inne.
Alle Augen wandten sich dem Rufer zu. Das sage ich ihnen, meine sehr verehrten
Damen und Herren!, setzte der nach, um seine Warnung zu bekräftigen.
Zunächst kam nichts
mehr. Man konnte den Mahner nur orten, wie er, grau und fett, mit Sektglas und
Zigarre – und bereits wieder in seine Unterhaltung vertieft – an der Treppe
stand.
Ungemein gefährlich!,
trompetete der Mann dann doch noch ins Publikum, als dieses sich bereits
abgewandt hatte. In diesem alten Kasten hier ist es allzumal gefährlich. Mit
dem uralten, zunderdürren Holz!
Während die meisten
jetzt diesen Worten durch Nicken ihre Zustimmung erteilten, machte er sich
daran, ein paar Stufen zu erklimmen. Es dauerte etwas, die alten Knochen nach
oben zu bekommen. Jetzt legte er die Stirn in Falten und alarmierte weiter: Da
darf man Feuer nicht mal auch nur mit nackten Worten heraufbeschwören!
Erneut zustimmendes
Nicken, das sich langsam steigerte, als immer mehr Leute diese Bewegung als
eine allgemeine erkannten. Der ganze Saal nickte bald so.
Von
wegen alter Kasten!, wagte sich da einer. Was für ein stilloses Wort für dieses
Prachtstück hier!, setzte er hinzu. Hier ist ja immerhin beinahe alles so gut
wie neu, und was sollte denn da passieren?
Diesen Worten
begegnete man allerdings mit etwas Murren. Dahinein drang von der Galerie her
ein Summen, ein Zischen, durchsetzt von einem Knistern.
Was war denn das
wieder?, dieses komische Zischen und Knacken vorhin!, hörte man eine ängstliche
Frauenstimme.
Aber Gnädigste!,
wurde sie beruhigt. Das ist das neue Material. Das Neue stellt sich jetzt
sozusagen dem Alten vor, mit seinen lauten Äußerungen! Mehr kann es ja nicht.
Wir wissen doch alle, dass das Neue das immer auf diese unangenehme Weise
unternimmt, denken wir nur an unsere Jugend!
Man freute sich: Ja,
ja, in der Tat!
Ich habe es gleich
gewusst, meinte ein Herr noch. Das habe ich nicht nur geahnt, dass unser M. da
etwas inszeniert! Zum Teufel, das ist diesem Gauner denn auch gelungen!
Die Angelegenheit um
das Feuer schien fürs Erste erledigt:
Das Ganze eine
Möglichkeit, freilich! Freilich auch mit einem gewissermaßen hohen
Unterhaltungswert von schauerlicher Schönheit, die der Gesellschaft dort
allerdings weniger das Zwerchfell als sie außen herum mittels Gänsehaut pflegte.
Jetzt rührte es sich
wieder im Parterre, lebhafter noch als vorhin, allem Anschein nach richtig
entspannt. Man war gelöst und über die bisherigen Attacken hinweg und konnte
das mittlerweile anstrengende Lachen als freundliches Schmunzeln in den
Mundwinkeln verschwinden lassen.
Freilich, was kann
denn an unserer genormten, nachhaltig überprüften Sicherheit so einfach
vergänglich sein? Das fragte sich sicher auch unser Gewährsmann. Er fuhr wohl
mit den Augen das Säulenpaar empor, um sich der Geborgenheit zu vergewissern:
Diese mächtigen marmornen Stämme! Sie ragten in die Höhe und haben ja Dianas
Himmel getragen, und das bereits seit etlichen Jahrhunderten.
Als dann sein
Augenmerk in Richtung Treppe ging, fiel ihm ein Tischchen auf. Drauf befand sich
ein Tablett, auf dem irgendwelche Engel eine Pyramide von Köstlichkeiten
aufgeschichtet hatten. Ein Geschenk des Himmels, dachte er sicher, begab sich
hin und griff zu.
Ich hätte jetzt
eigentlich ein paar Fotos von dieser heiteren Gesellschaft da einen Stock unter
mir schießen können. Aber um Gottes willen, jetzt kein Blitzlicht!
Ich steckte gerade
noch einen Happen in den Mund, da stach mir etwas in die Nase. Ich war
erstaunt: Das ist doch nicht das Rauchfleisch in deiner Hand! Ich beschnupperte
das Restchen zwischen meinen Fingern – und konnte verneinen. Aber gleich war es
noch deutlicher in der Nase. Ein beißender Gestank. Klar, etwas Verbranntes!
Tatsächlich, etwas massiv Angesengtes. Ich würgte den letzten Happen unzerkaut
hinunter, dass es im Hals schmerzte.
Etwas Öliges, etwas
irgendwie verflucht Chemisches! Schiere Wirklichkeit! Kein Witz mehr!
Mir hatte es den Atem
verschlagen. Jetzt holte ich tief Luft und wollte schreien: Feu... Ich
schnappte wieder nach Luft, als wollte ich die paar schon ausgestoßenen
Buchstaben wieder einsaugen. Menschenskind, mit so einem Warnruf trete ich
Panik los und ein Fliehen, Stürzen, Niedertrampeln vermutlich!
Dass ich ihnen das
nicht antun dürfe, davon war ich überzeugt. Sofort überkam mich auch gleich
wieder der Zweifel.
Ob dieser Qualm nicht
doch zu einer Show gehörte, einer mit maßlosem Aufwand betriebenen Show, die
man einem reichen Exzentriker durchaus zutrauen könnte?
Ich beruhigte mich
damit, dass die feine Gesellschaft es ja jeden Augenblick selber merken und
entscheiden würde. Ganz gewiss. Alle Zeichen sprachen dafür. Diana war nämlich
fast hinter einer grauen Wolke verschwunden. Nur dieses üppige Bein lugte noch
hervor. Das beißende Grau quoll aus den oberen Gängen nur so nach ...
Da konnte ich mich
ruhig heraushalten und sie die Entscheidung wirklich selber treffen lassen.
Worin sie ja inzwischen Übung hatten. Bei den vielen Warnrufen bis jetzt.
Ich gönnte mir einen
Schluck Sherry.
Als ich die Flasche
neben mich stellte und ins Parterre sah, fiel mir auf, dass dort eine ganz
eigenartige Betriebsamkeit herrschte. Die Musik war verstummt – und gar nicht
mehr anwesend. Richtig! Obgleich keine Warnrufe zu hören gewesen waren, hatten
sie, anscheinend nur ihrer Nase, ihrem Auge folgend, die Gefahr erkannt. Na,
siehst du!, sagte ich zufrieden laut vor mich hin.
Hektik hatte alle
erfasst. Alles strömte dem Ausgang zu.
Das sah wirklich nach
Flucht aus. Von meiner Empore aus behielt ich das Szenario unter mir im Auge.
Ich fühlte mich in
der zwar immer beißender werdenden Luft noch irgendwie sicher. Also etliche
Fotos geschossen. Unten erkannte ich hinter den Rüstigen und Jüngeren einige
Lädierte humpeln. Ihr Jammern erweichte immer wieder einmal jemanden, und es
wurde Platz gemacht. Ein alter Herr wurde von zwei Livrierten in seinem
Lehnstuhl weggeschleppt, er teilte fortwährend mit seinem Gehstock ins Leere
hinein Hiebe aus.
Noch ein paar Fotos!
Das durfte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen!
Ein Torflügel war
zugefallen. Du lieber Gott, bei dem Run darauf!
Ich schoss in das
Geschiebe und Gedränge und sagte mir bei nahezu jedem Abdrücken, dass die
Öffentlichkeit ein Recht darauf habe, das alles festgehalten zu bekommen.
Ein Auflauf war
unten! So etwas wie ein Flaschenhals war entstanden. Einige Männer mühten sich
ab, den zweiten Flügel zu öffnen, doch der Gegendruck von innen war stärker.
Eine ganze Serie
festhalten!
Ich entdeckte einen
großen Sektkübel, griff ihn mir und stülpte ihn mir als Helm über.
Der Pulk der Fräcke
und Roben saß an der Engstelle fest.
Ein immer heftigeres
Stoßen und Drängen. Angstschreie, Schmerz, Empörung. Dazwischen Befehle. Einige
liefen wieder in den Saal zurück, irrten klagend umher, einen anderen Auslass
suchend, kehrten zurück.
Ein Bild und noch eines!
Das ist Dokumentation: Wer alles war es oder wer war es zuerst, wer alles ist drüberweg
getrampelt? Das kann wichtig sein, danach ... Da wird man der Öffentlichkeit
zeigen können, wie es um die Verantwortung für den Mitmenschen in solchen
Situationen gestellt ist.
Ich stand immer noch
an meiner Säule, die mir wie ein treuer Wächter das Gefühl von Sicherheit schenkte.
Ich beobachtete und versicherte mir, dass das meine ureigene Aufgabe sei hier
und mein verdammter Dienst an der Allgemeinheit.
Einige irrten ziellos im Saal umher ... Noch
ein paar Aufnahmen.
Angesichts immer
dichter werdender Schwaden sah ich mich dann doch genötigt, mich in Sicherheit
zu bringen. Dabei kam mir zustatten, dass sich da ein von meiner Ebene aus gut
zu erreichendes Fenster befand. Es war durch zwei Säulen verdeckt und von unten
nicht zu erkennen. So konnte ich mich ungestört vom Ort der Katastrophe
entfernen und in Sicherheit bringen. Ich nahm den zum Schutzhelm umfunktionierten
Sektkübel vom Kopf und sprang die vielleicht nicht ganz zwei Meter hinab ins
Freie.
Ich saß eine Weile im
Taunassen mit dem Rücken zur Wand. Eine Wohltat, die frische Luft! In
Sicherheit und in einer alles in allem schönen Nacht. Tief durchgeatmet und das
Ambiente genossen, noch etwas von den Köstlichkeiten aus meinen Taschen zu mir
genommen.
Es war wieder an der
Zeit, meine Aufmerksamkeit den schlimmen Umständen zuzuwenden. Dem Schreien und
Kreischen nach zu schließen, das durch die Fenster drang, herrschte im Saal
noch Panik.
Ich hatte mich schon
etwas entfernt. Da hörte ich aus dem Inneren des Schlosses ein fürchterliches
Ächzen. Gleich krachte und polterte es und stürzte prasselnd zu Boden. Die
Fenster barsten und die Funken sprühten durch die leeren Höhlen. Die Decke samt
Deckenbalken! Ach, die barockdralle Göttin Diana war aus ihrem Himmel gefallen
und in Staub und Asche gesunken.
Welch ein Gleichnis,
armer Krösus! Dass deine Götter aus deinem Himmel fallen, ging mir durch den
Kopf.
Im Park suchte ich
einen Weg um diesen gewissermaßen riesigen Ofen herum.
Ich verirrte mich
zwar ein paar Mal. Der unaufhörlich anwachsende Schein der gigantischen Fackel,
die das Schloss abgab, führte mich zurück. So gelangte ich auf die Frontseite,
wo sich noch vor wenigen Stunden die Auffahrt der Gäste ereignet hatte.
Umhereilen
dienstbarer Geister. Eine Überraschung für mich: Etwas abseits flanierten die
Herrschaften umher, Arm in Arm oder solo. Die Geretteten. Kein Hinken und
Humpeln mehr wie vorhin bei der Flucht. Andere standen nur da und betrachteten
das glühende Schauspiel.
Plötzlich begann ein
Deuten und Winken zum Schloss hin. Sie mussten etwas entdeckt haben. Ich konnte
ausmachen, wie ein paar rußgeschwärzte Figuren durchs Portal wankten. Sie
wurden mit Klatschen empfangen, umarmt und geherzt.
Die Damen und Herren
waren lange und ausgiebig mit den Herzlichkeiten anlässlich des freudigen
Wiedersehens befasst. Sie dehnten ihre Übungen auf ihre ganze Ansammlung aus. –
Ein paar Bilder. – Auch diese menschliche Seite musste dokumentiert werden.
Als die feine
Kommunität nach einiger Zeit des Herumquetschens überdrüssig sein mochte,
widmete sie sich wieder dem Untergangsgeschehen, dem Umherhasten der
Dienstboten vor allem. Ein Herr meinte, man müsse aufpassen, dass diese Leute
nichts beiseiteschaffen, was dann erst im Antiquitätenhandel wieder auftauchen
würde.
Ein dienstbarer Geist
kam jetzt mit einer Schubkarre voll Flaschen an. Es dauerte nicht lange und das
lustige Knallen der Korken war zu hören. Gleich machten die Flaschen die Runde.
Selbst feine ältere Damen unternahmen es nach einigem Zieren, daran wenigstens
zu nippen. Da und dort Wölkchen Tabakrauchs. Man war deutlich entspannt, stand
nur so da oder spazierte gemächlich umher – hatte sich und im Grunde auch die
Vergnügung ins Freie und damit ebenfalls in Sicherheit gebracht.
Wo ist eigentlich die
Musik?, wollte jemand wissen.
Beim Untergang der
Titanic hat man auch bis zum Schluss seine Musik gehabt – jedenfalls im Kino!,
erinnerte sich eine Dame feixend.
Durchdringende
Geräusche vom Brand her, da war ein Knallen wie von einer Salve von Böllern.
Das war Gas!, glaubte ein Herr erkannt zu haben. Alle wandten sich dem
Geschehen zu.
Von dort strahlten
Licht und Wärme herüber – in der beginnenden Kühle der Nacht eigentlich
angenehm. Eben schlugen Flammen aus den oberen Fenstern und große Teile des
Dachs sah man lichterloh brennen. Die Dienerschaft eilte nun noch aufgeregter
umher. Diese braven Leute sammelten unaufhörlich Dinge auf oder schleppten
Gegenstände, die wohl gleich zu Beginn in rettender Absicht aus den Fenstern
geworfen worden waren. Dadurch wurde es für die feine Gesellschaft immer
gemütlicher und fast wohnlich, denn man hatte jetzt Stühle und Tische zur
Verfügung, konnte sich auf Teppichen bewegen und sein Glas, das es jetzt auch
bereits wieder gab, abstellen.
Nun auch mal wieder
auf den Brand gehalten und abgedrückt. Erst jetzt erkannte ich, dass schon ein
Feuerwehrtrupp dagegenzuhalten versuchte – und hielt das natürlich fest.
Noch immer war es mir
nicht möglich, den Schlossherrn ausfindig zu machen. Wie gerne hätte ich auch
von ihm ein Bild gehabt. Ein paar Worte vielleicht auch. An ein Interview wagte
ich gar nicht zu denken.
Vom Dorf her drang
nun das Tütatü einer Feuerwehr.
War die Gesellschaft
bis jetzt nur mit sich beschäftigt, konnte sie nun dem Auftritt dieser Truppe
Aufmerksamkeit schenken. Es dauerte nicht lange, da stand auch diese prächtige
Wehr, wohl von etwas weiter her kommend, mit ihren großen, vor Sauberkeit im
Feuerschein blitzenden Fahrzeugen vor Ort.
Die Uniformierten sprangen
heraus, setzten sich in Trab, und gleich rollten die Schläuche. Behände wurden
sie an die noch freien Hydranten angeschlossen. Alles lief perfekt auf Kommando
und im Takt ab. Die Leitern waren kaum ausgefahren, da sah man auch schon die
Männer mit ihrer Spritze oben stehen. Wasser marsch!, ertönte der Befehl mit
fester Stimme. Wasser marsch!, klang die Annahme des Befehls aus den Kehlen der
Retter.
In den Schläuchen
rührte es sich jetzt. Lagen sie bisher platt und schlaff am Boden, so erwachten
sie nun zu Leben und begannen sich zu regen. Zusehends füllten sie sich und
wurden prall und steif.
Eine ältere Dame war
zu hören, wie sie zu ihrer Nachbarin sagte, sie wolle bei Ernst-August in
Zukunft auch auf 'Wasser marsch' setzen. Gewieher, und etliche begannen zu
skandieren: Wasser marsch! Immer wieder: Wasser marsch! Bis die Orgie durch die
strengen Blicke des Feuerwehrhauptmanns allmählich abklang.
Daraufhin stand man
oder saß wieder ruhig da, beobachtete beinahe stumm das Tun der strammen Retter
oder glotzte minutenlang in die Flammen und genoss es, als hätte sich da der
heimatliche Kamin zum Monster ausgewachsen.
Ein Donnerschlag! Die
Gesellschaft tat wie auf Kommando einen Sprung zurück. Der Aufschrei war den
Leuten im Hals stecken geblieben. Einige standen eine ganze Weile mit offenem
Mund da. In ihren Horror hinein fuhren fauchend Stichflammen aus den
Kellerschächten und züngelten blitzschnell die Stockwerke bis zur Dachtraufe
hinauf. Für Sekunden war die Nacht
knallrot zerrissen.
Dann waren da noch
Schreie, Schmerzensschreie.
Sie galten vielleicht
dem Tritt, den jemand beim Rückzug von seinem Vordermann erhalten hatte.
Oder sie galten einem
anderen Ereignis. Denn da war ein Feuerwehrmann von der Leiter gestürzt, war
jetzt zu sehen.
Vermutlich war er von
der Wucht des Feuers hinabgeschleudert worden. Was auch immer, der arme Kerl
lag jetzt am Boden.
(Man kann sich an
dieser Stelle gut denken, dass unser Reporter sofort in Versuchung war, das
ausgestreckte Elend auf Film zu bannen. Aber er hielt sich zurück und wollte
erst in Aktion treten, wenn der Unglückliche gerade, auf Trage verbracht, in
den Sanka geschoben wird. So würde er nämlich den Ernst der Lage gleich mit
erfassen.)
Die meisten eilten
zur Unfallstelle, drängten sich schon und bildeten einen Kreis um den
Pechvogel. Die Helfer hatten es schwer, durch das Spalier der Gaffer zu
gelangen, bis jemand zornig schrie, dass sie sich hier alle in größter
Lebensgefahr befänden, jeden Augenblick sei es möglich, dass irgendwelche Teile
herabstürzten, vielleicht sogar ganze Mauerpartien einbrächen oder weggesprengt
würden mit ungeheuerer Wucht.
Das hatte die
Neugierigen verscheucht. Während sie dann so beisammenstanden, versuchte ich
herauszufinden, ob es wirklich alle geschafft hatten, den Festsaal zu
verlassen. Ich zählte und kam auf die von mir allerdings nur zu schätzende Zahl.
Trotzdem vermisste
ich etwas. Das rotkarierte Hemd fehlte. Sie haben wohl ihren Exoten da liegen
und verschmoren lassen, war ich gleich überzeugt. Schade, dachte ich mir, denn
diesen Sonderling wollte ich auch einmal meinem Lesepublikum vorstellen.
Ich hatte keine Zeit,
diesen Gedanken um meinen Verlust weiter nachzugehen, denn da rollte eine dicke
Limousine an. Eine mittelgroße, etwas pummelige Figur entstieg ihr, der
Landrat. Er vollführte ein paar gymnastische Übungen, um sich zu lockern, und
sondierte dabei das Terrain. Ihn habe die Nachricht von dieser Katastrophe hier
während der Generalversammlung des Gartenbauvereins erreicht, bekundete er. Er
sei jetzt angesichts dieses Trauerspiels hier heil froh, damals sein Bauamt
angewiesen gehabt zu haben, wirklich alle Sicherheitsmaßnahmen zu veranlassen.
Denn was wäre das für ein Debakel, wenn beispielsweise zu wenig Hydranten für
das Löschwasser zur Verfügung stünden? Alle würden sie wieder über ihn und
seine Beamten herfallen.
Es war natürlich
allen bekannt, dass das Amt bei der Baugenehmigung für M. zunächst sehr
verhalten, dann aber mehrere Male – um welchen Preis auch immer – über das
Gewöhnliche hinaus entgegenkommend gewesen war. Niemand wollte daher das Haupt
dieses Instituts vergraulen und sich damit seine eigenen Möglichkeiten
verbauen. Etliche werden versucht haben, in die Nähe des quirligen Ankömmlings
zu gelangen, einen Smalltalk zu starten oder eine witzige Bemerkung, vielleicht
über das höllische Wetter an diesem Abend, abzusetzen.
Nachdem ich mich eine
Weile dieser sich selbst verzehrenden Pracht dort zugewandt hatte, war ich mit
Gedanken bei M. Mein Gott, der Arme! Ich hielt Ausschau nach ihm. Er wird sich
zurückgezogen haben, dachte ich, und noch um Fassung ringen müssen. Ich ging umher. Um mich genauer umzusehen,
blieb ich immer wieder einmal stehen. Der vom Schicksal Geschlagene, wie ich
ihn nun schon betitelte, war jedoch nirgendwo aufzuspüren. Dennoch erwies es
sich als ganz interessant, diesen glühenden Untergang da vor mir, dieses
sündteuere Feuerwerk, von immer anderen Stellen aus zu betrachten.
Ich wollte noch um
die Ecke dort hinten und um den Mauervorsprung von der alten Befestigungsanlage
herum. Dort ist man ganz nahe an der Brandstätte und hat doch Deckung, meinte
ich. Deckung vor den jederzeit möglichen gefährlichen Auswürfen dieses
Höllenfeuers. Deckung auch vor den Blicken der Anderen, denn als Beobachter bin
ich immer am liebsten selber unbeobachtet geblieben. Es war obendrein leicht
möglich, dass sich da hinten auch abseits des Brandherdes etwas Sehenswertes
ereignet. Wer weiß? Dass sich dort Leute herumtreiben, die sich etwas von den
erlesenen Kostbarkeiten aus dem Schloss krallen und davontragen.
Zwielichtige
Gestalten ... Aufregende Dinge gingen mir bei meiner Pirsch durch den Kopf.
Dazu passend überlegte ich mir, wie ich einem Schurken die Augen verblitzen
würde, sollte er mich angreifen wollen ... Gleich hinter der etwa mannshohen
Wehr lagen qualmende und teilweise noch glimmende Holzstücke.
Plötzlich ein dumpfes
Dröhnen!
Ich war hinter einen
Baum in Deckung gesprungen, hatte mich unwillkürlich geduckt, mich dann aber
doch beeilt, in die Richtung zu sehen, aus der das Getöse gekommen war. Ich
durfte nichts zu versäumen. Teile des Dachs waren abgesprengt worden:
Dachplatten und Blechteile lagen herum. Das hätte mir ja zusetzen können! Ich
grinste in Gedanken meinem Sektkübel-Helm nach, den ich bei meinem Sprung ins
Freie zurückgelassen hatte, und atmete tief durch. Ob es wieder einen von der
Feuerwehr erwischt hatte? Es rumorte weiter im flackernden Haupt des sterbenden
Prunkkörpers, hie und da löste sich daraus eine ganze Serie von Explosionen.
Ich wartete auf den nächsten größeren Ausbruch dieses bizarren Vulkans. Während
ich so dastand, wollte sich mir sogar so etwas wie die Schönheit dieser
Tragödie da vor meinen Augen offenbaren: Es war mir nämlich so zumute, als
würden die aus dem Flammenmeer ausgeschleuderten Geräusche vom Park wieder
zurückgeworfen werden; als würden sie sich an den glühenden Mauern aufheizen,
neue Kraft gewinnen, um erneut zwischen die Bäume zu schlagen, um, jetzt
vertont, eine Sinfonie des Grauens ... Ich bremste mich allerdings bei dieser
schieren Ästhetisierung, dieser immerhin zumindest ein wenig verrückten In-Schönheit-Setzung
sofort wieder aus – oder hatte gar keine Zeit, damit fortzufahren, denn da bot
sich immerhin ein grandioses Schauspiel: Das glühende Gerippe des mächtigen
barocken Dachstuhls sank stöhnend, knarrend, krachend in sich zusammen. Überwältigend!
Ich stand wie gebannt da und genoss das Schauspiel dieses prächtigen
Untergangs: Eine Fontäne von Funken sprühte flammendurchsetzt empor und
übergoss den weiten Umgriff mit seinem sanften Licht und überflutete die Schatten
des Parks.
Von Ferne tönten
begeisterte Rufe zu mir herüber, Jauchzen und lautes Klatschen. Das entriss
mich meinem beinahe ekstatischen Zustand.
Ich betrachtete
jedoch weiter das Sterben des stolzen Herrenhauses – und in einer zugegeben
etwas süßlichen Anwandlung dachte ich, ihm damit die letzte Ehre zu erweisen.
Ernüchtert begab ich
mich zurück zur Vorderseite – ... des Schlosses, wollte ich gar nicht mehr
denken, aber eben Ruine auch noch nicht! Jedenfalls versuchte ich, in die Nähe
der Gesellschaft zu gelangen.
Ich staunte nicht
schlecht, dort tatsächlich M., den ja jetzt wohl gewesenen Schlossherren – und
auch in voller Aktion erkennen zu können. Er schien ausgesprochen – und für
mich ebenso verwirrend – unbeschwert. Er war der Herr dieses seines Kreises.
Alle hielten sich an
M. – wenigstens in seiner nächsten Umgebung – und mit dem Glas in der Hand an
seine Plaudereien. Die altbekannte Form von lässig überspielter
Aufgekratztheit und um pointierte Mitteilung bemühter Gesprächigkeit war
wiederhergestellt.
Die Feuersbrunst, wie
sie einer der Herren bezeichnete, erwärmte Leib und Gemüt jetzt noch mehr oder
jetzt erst richtig. Ausgesprochen angenehm war es. Wurde es einem doch zu warm,
war mit ein paar Schritten in Richtung Park die Kühle der niederrieselnden
Frische des nächtlichen Taus zu genießen. Das hier alles kredenzt mit flüssigen
und festen Genüssen des Leibes und im das Gemüt beruhigendem Bewusstsein, den
Herrn, dessen Pracht da vor ihren und seinen Augen in Schutt und Asche sank, in
völlig gelöster Stimmung in ihren Reihen zu wissen.
Ein nachgerade genial
guter Verlierer, dieser M.!, war zu hören. Da war auch einer, der dauernd den
Kopf schüttelte und anscheinend etwas gar nicht fassen konnte. Ich wollte
wissen, was ihn umtrieb. Brillant!, sagte er immer wieder vor sich hin,
brillant! Dieser Mensch ist sogar noch bei so einer Pleite einsame Klasse! Das
war zwar nicht viel, aber ich hätte da auch nichts ergänzen können.
Man hatte sich
jedenfalls wieder und beschäftigte sich miteinander und stellte so etwas wie
eine Insel der Seligen im immer noch irgendwie hastigen Getriebe dar. Eine
Menge Menschen bewegte sich nämlich um dieses Eiland der Unbeschwertheit:
Uniformierte Helfer von der Feuerwehr waren natürlich noch da, die ihren
Spritzkameraden zugearbeitet haben; die Hüter des Gesetzes, die ihren Dienst
taten; hilfreiche Geister aus dem Dorf, welche, sich immer noch redlich mit
geretteten Gegenständen abmühend, hin und her eilten; anderes Volk, das zwar
nur gaffte, jedoch mit seinen erstaunten Augen wie Kinder am Weihnachtsbaum und
daher beinahe rührend anzusehen war.
Es drehte sich wieder
alles um sie, die Society. Auch war da ja immer noch das Schauspiel dieses
Verlustes der ganzen Herrlichkeit – jetzt bereits nur noch als Kulisse des
Promitheaters: Es rauchte und roch und machte seinen Spektakel, loderte auf und
fiel in sich zusammen ... Jetzt freilich bei weitem gedämpfter als zu Beginn
und allem Anschein nach gebändigt.
Da jettet man durch
die Lüfte und weit weg und überall hin, um etwas zu erleben, hörte ich einen Herr,
als er sich gerade eine Zigarre angesteckte, und dann erlebt man auf
heimatlicher Erde dieses hier und noch dazu so absolut überraschend, wo es doch
sonst für unsereinen eigentlich gar keine Überraschungen mehr gibt. Bei diesem
M., den man doch auch schon mal auch irgendwie ein wenig für einen Halunken
gehalten hatte oder es eben nicht ausschließen wollte. Es gibt nun mal
Geschäfte, bei denen einer immer irgendwie mit einem Bein im Gefängnis steht.
Doch auch die müssen gemacht werden. Nun ja! Aber jetzt erleben wir ihn doch
als einen tadellosen, generösen ... – was auch immer –‚ einen Gentleman eben.
Auch da hätte ich
nichts hinzufügen können.
Der feine Herr paffte
mit dem Qualm seiner Zigarre Ringel in die Luft und sah ihnen gedankenverloren
nach, wie sie der Luftzug vom Feuer her in den Park trieb.
Alle kamen sie gewiss
auf ihre Kosten. Es ging bis in den Morgen. M. und seine Freunde wollten sich
am Ende noch einen Spaß daraus machen, die Männer von der Feuerwehr zu Gast zu
haben. Die gegen Morgen zu etwas verbrauchte Stimmung der noblen Runde sollte
durch den Mutterwitz der einfachen Leute aufgemöbelt werden.
Die wackeren und ob
ihres Einsatzes doch ziemlich abgespannten Männer zögerten zunächst. Sie
wollten erst darüber beratschlagen, ob man 'bei den Bonzen da' mitmachen solle.
M. wusste sich auch dabei zu helfen, indem er, mit merklich schwerer Zunge
zwar, aber jedenfalls in scharmanter Art, der Truppe einen Zuschuss für die
Anschaffung eines neuen Löschfahrzeuges auslobte. Sie sollten kommen, um den
Betrag bei einem Fass Bier, das bereits auf das Anzapfen warte, auszuhandeln.
Nun gut!, sagte der
Hauptmann. Die Feuerwache müssen wir sowieso halten!
Das frische Bier
schwemmte dann die Genussnacht aus dem Gebiss der Herrschaften und schenkte der
Feuerwehr frischen Mut. Es ging bald hoch und laut her.
(Nun soll jedoch
unser Berichterstatter wieder seiner Muße nachgehen und sich erholen können;
allem Anschein nach wird er es nötig haben.
Wir müssen jedoch
tatsächlich weiter bei der bis jetzt geübten Zurückhaltung bei der
Namensnennung, insbesondere des M. bleiben, jetzt allerdings gar nicht mehr so
sehr nur aus presserechtlichen Gründen. In letzter Zeit wurde nämlich bekannt,
dass in dieser Brandsache staatsanwaltschaftlich ermittelt wird. Über den
Grund kann vorerst leider nur spekuliert werden. Dabei braucht man jedoch nicht
bloß im Nebel herumzustochern. Es liegt nämlich direkt auf der Hand, dass M.
sein Schloss hatte ... Na ja.
M. gehörte zu denen,
die treuhandlich abgewickelte DDR-Betriebe aufgekauft hatten, und zwar in
seinem Fall im großen Stil. Das war weithin bekannt, denn M. hatte sich von der
Presse als Wohltäter feiern lassen, der Vermögenswerte und vor allem
Arbeitsplätze erhalte. Er war also im neuen Osten mit einigen Geldmitteln
eingestiegen.
Fehlte ihm dann das
Kapital, das er in sein Schloss gesteckt hatte? Oder drückte ihn diese
Kapitalbindung, weil er noch ein weiteres Betätigungsfeld dort drüben im Auge
hatte? Wird er sich folglich sein Festgelegtes wieder lockermachen haben
wollen, nämlich mit Hilfe der Brandversicherung?
Wie auch immer, das
werden Gerichte festzustellen haben. Selber muss man mit seinen Mutmaßungen auf
der Hut sein, sich nicht das Mundwerk zu verbrennen, solche Leute hetzen gleich
ihre Anwälte auf einen – wie an anderer Stelle bereits dargetan.
Sehr viel
unangenehmer könnte es jedoch für unseren Augenzeugen werden, der uns seine
Erlebnisse schilderte. Er hatte ja mit einiger Sicherheit Beweismaterial
geschossen. Man muss sich nur daran erinnern, dass er zum Beispiel diese
wunderliche Gestalt auf Film nahm. Jenes hereingehuschte Gespenst mit
Sonnenbrille und Schlapphut. Da hatte er mit der Kamera doch bestimmt einen
Ganoven eingefangen. Es wird auch zu ermitteln sein, was dieser in seinem
Koffer hereingeschleppt hatte!
Das ganze
Bildmaterial! Wenn diese umfangreiche Dokumentation nicht ein oder gar der
Schlüssel ist zu einer Beweisführung in Richtung Brandstiftung!
Also ist auch sein
Name sozusagen unter sicherem Verschluss zu halten. Verschluss, ein Stichwort!
Nämlich für den Umgang unseres Informanten mit seinem Filmmaterial. Am besten
ganz weg damit, möchte man ihm raten. Freilich! Ob das aber genügte? Denn da
ist vor allem auch sein Beweismaterial in seinem Gedächtnis.
Man kann ihm nur
wünschen, dass da nicht ein kriminelles Entsorgungsteam bei ihm auftaucht, das
ihm dann das Material sogar aus seinem Hirn wischt.
Gehört hat man schon
von solchen Praktiken.)".
So, das war es und ganz verdammt entfremdet
obendrein. Deine ganze Schreibe immer. Es ist die Zeit, die du dir zurückholen
willst. Das siehst du jetzt deutlich. Es ist so wie Antiquitäten zu sammeln.
Bruchstücke vielleicht auch nur. Frage dich jetzt nicht, was damit anzufangen
wäre! Das tut man als Sammler nicht. Dieses Ich, das dir da wieder begegnet
ist? Es ist beunruhigend. Schiebe es wieder weg – vielleicht solltest du dir
den Joke genehmigen, dass man mit Antiquitäten äußerst vorsichtig umzugehen hat.
Je wertvoller sie sind. Wieder Distanz markieren zum Gegenstand. Bon! Mit
dieser Sache da um M.s Feuerwerk sollst du nichts mehr zu schaffen haben.
Dieser Buchstabe. Diese Namensverweigerung ... Herausgeschrieben, ausgeleert,
aus. Als Schnurre nur noch tauglich. Du warst auch zu lange an diesem Stück
Dreck Vergangenheit. Es hat wahnsinnig angestrengt. Du spürst es. Jetzt auch
so ein Drehen. Beinahe so wie damals. Als sie dich plattgemacht hatten. Anderer
Schutt kreiselt sich da ein. Aha, in deine Leere schwappt es. Die Vermutung um
den Brief vom Tisch drüben. Dessen du dich entledigt haben wolltest ...
Da muss noch eine Pulle Sherry im Keller
sein. In den Keller zu deinen Bildern solltest du sowieso mal wieder ...
Wahnsinn. Jetzt kommt so ein Verlustgefühl
auf. Dieser graue Wisch, den du aus dem Fenster hast segeln lassen. Er scheint
dir plötzlich zu fehlen. Vielleicht nur Neugier darauf. Was die dir mitteilen
wollten. Eventuell sogar eine Einladung. Zu einer Betriebsfeier ... Es
schüttelt dich vor Lachen. Dass du husten musst wie einer aus der
Lungenheilanstalt ...
Es hat gedauert, bis du wieder klar warst.
Da sucht dich doch sofort Karls Feuershow wieder heim. Den Typ mit dem Koffer
hast du vor Augen. Standbild auf deiner Mattscheibe. Wie er durchgeflitzt war.
Wie einer, der Dreck am Stecken hat.
Dazu das entsorgte Stillleben, das da auf
dem Tisch gelegen war.
Es flimmert wieder im Kopf. Da geht alles
durcheinander ...
Es sind die Zusammenhänge, die einen so
leicht abhandenkommen, indem sie sich verwirbeln.
Du musst Klarheit schaffen! Einfach wie
Frischs Anatol Stiller abhauen und auf einen anderen machen. So was flirrt dir
jetzt mit all der Wirrnis auch noch durch den Kopf. Identität. Es gibt so viele
Möglichkeiten immer. Ein Trost. Mit jeder Geschichte, die du für dich erfindest
...
Du brauchst ja Tage, bis du dir sagen
kannst: Jetzt doch nicht wieder das mit dem Abhauen. Noch nicht wieder ...
Jetzt wird es dir auch wieder klarer im Hirn:
Was ist dran an den Bildern von dem Strolch, der da durch Karls Prachtbau
huschte? Als es noch ein solcher war! Herrgott, dass du die Bilder hast! Ganz
bescheuert hinterm Ziegel. Du hast ihn doch geschossen! Du hast ihn richtig von
vorne erwischt. So Perspektive: Passfotoqualität vermutlich. Ein Fahndungsfoto!
Ab in den Keller und an deinen
Steinzeittresor! Auch nach was Trinkbarem suchen. Mit dem du die Eindrücke
wegwaschen kannst. Die dich vielleicht zu ersticken drohen. Wenn du sie sich
auswachsen lässt in dir.
Du greifst dir den letzten Apfel und beißt
hinein, dass es knackt. Wieder das Blut, als du hinsiehst. Das passt ja. Die
Psyche blutet im Mund – oder so was ... Zu deinem Outfit auch noch das.
Aber heute noch in den Keller?, bremst dich
aus. Es ist bereits duster geworden mit deiner Schreiberei. Wenn du da unten
mit Licht rummachst? In deinem Kellerverschlag. Kann doch jeder reinglotzen.
Und überhaupt, jetzt wo dir die Ganoven sicher noch auf die Pelle rücken
wollen! Die mischen dich wieder auf, wenn sie dich zu greifen kriegen. Noch
dazu mit den Bildern aus der Wand. Gerade wenn du das alles in der Hand hast und
die Pulle dazu. Dass sie dir wieder alles wegsaufen bei ihrer
Lieblingsbeschäftigung, Fleisch zu klopfen ...
Es dauert, bis du dein Grauen ein wenig im
Griff hast. Man muss sehen, sagst du dir dann. Die Tür auf. Oder erst einmal
eine Zeit lang den Eingang beobachtet. Das Kommen und Gehen. Ob da fremde
Gesichter auftauchen. Oder durch den Keller und alles durchsucht!, riskierst du
kühn. Jede Ecke. Ein Messer. Die Lampe. Dann soll so ein Fiesling auftauchen!
Man verludert, so allein und in der
höllischen Angst, gibst du dir dann zu.
Erst mal doch erst den Eingang beobachtet.
Dein Spiegel. Diese tolle Autorücksicht vom Vorbewohner noch: Wenn es unten
läutet, dann siehst du von hinter der Gardine vor in die Richtung, ohne dass
die Gardine wackelt.
Überraschend läutet es an der Tür. Du
schrickst richtig zusammen. Warten. Wer will denn zu dir? Da hat sich bestimmt
wer vertan.
Dann klingelt es noch mal. Jetzt länger. Es
kommt dir noch lauter vor.
Das lange Küchenmesser!
Du schleichst dich zum Guckloch. So
behutsam, dass keine Diele knarrt.
Du tust den Blick durchs Loch.
Da ist nichts.
Will dich wer narren? Kinder?
Vielleicht sind es die Gangster!
Du willst schon weg und ans Telefon ...
Aber das ist alle. Sie haben das Telefon
abgestellt wegen der Rechnung.
Es geht dir kalt in die Knochen. Du bist
allein. Die brauchen doch nur gegen die Tür zu treten. Dann ist die auf. Du
hast richtige Schiss ...
Da hörst du was draußen. Ein Hüsteln. Feine
Stimme ... Du siehst wieder durchs Loch. Da steht so ein Zwerg, siehst du
jetzt. Was soll das denn? Aber du atmest erleichtert durch, legst das Messer
weg und machst auf – erst noch mit der Kette vor, denn wer weiß, ob die Göre nicht
nur vorgeschickt ist ...
Das Kind hält dir einen dreckigen Fetzen
hin: Der hat auf der Wiese gelegen, und die Mama hat gesagt, bring ihm dem
komischen Kerl da oben. Aber ich darf nicht reingehen und muss gleich wieder weg
...
Das Papier sieht aus wie ein Brief – dein
Brief, dein ganz ...
Im Zimmer lachst du laut. Du hältst dir den
Bauch vor Lachen. Du lachst. Das ist gar kein Lachen mehr. Das ist so ein irres
Brüllen, stoßweise. Bis es dich in der Lunge sticht ...
Im Kopf dreht es sich wieder ...
Dazwischen so schwarze Löcher ...
Als du wieder zu dir gekommen bist, rennst
du zur Tür und siehst nach, ob du überhaupt zugemacht hast. Weil du so ein
Irrer bist ...
Die Fliege sagt: Ich
setze mich auf die Fliegenklappe, da weiß ich gleich, wenn einer danach greift,
um mich zu erschlagen
Du kriegst dich am Papier. Das kommt dir
ganz klar, als du deine Ich-Zeilen noch einmal überliest. So ein windiger Halt.
So ein Hirnwichser, wie du bist ...
Und dieser Schluss. Mit dem man es sein
Bewenden haben könnte ... Als ob es nicht immer weitergeht. Jetzt nichts mehr hinpinseln
von all dem Möglichen immer. Es reicht ja, wenn es da ist. Als Vorstellung.
Oder so windig wie eine Vermutung nur. Du kommst eben über deine Einbildung
nicht ... Die du vielleicht sogar zur Ahnung verwolken lassen solltest. Das
wäre dann irgendwie versöhnlicher alles. Und nicht mehr so begreifbar. Und
nicht fest umrissen. Und auch nicht kantig. Und nicht verletzend vor allem für
dich ...
Du hast ja damals ... Irgendwann in dieser
Nacht hast du deine Zurückhaltung aufgegeben. Dich einfach unter diese
abgewrackte Bagage gemischt. Wegen dem Kohldampf vielleicht. Oder so etwas. Die
Leute sind alle so blau gewesen. Du bist keinem aufgefallen. Bestimmt. Alle
waren so fertig. Verausgabt bei dem Angebot da. Du konntest dann den Vorsprung
von denen einholen. Neigensaufer. Restefresser. So eine ganz verteufelte Nacht.
Sie kauerten sich irgendwo zusammen. Lehnten sich an jemand an. Streckten sich
einfach wo hin.
Am Ende bist du ebenfalls auf der Strecke
geblieben.
Erwachen. O Gott, so ein elender Tag dann.
Das viele Licht ist das Schlimmste an so einem Tag. In das man gar nicht
passte. Dass man sich selber peinlich war.
Karl ... Wer sonst als Karl? ... hatte so was wie einen Aufräumdienst
organisiert. Für liegen gebliebene Gäste. Der ganze Unrat dort. Der Mensch als
Rückstand.
Das hattest du noch mitgekriegt. Mit einem
Pulk Taxis und so. Klar, Karl war längst wieder hell wach gewesen. Hatte Pläne
geschmiedet. Wie immer. Hielt alle Fäden in der Hand. Hat sogar dich zu deinem
Laden karren lassen.
So muss es gewesen sein!
So wusste Karl Mentenheim auch. Dieses Aas.
Wo du dich aufhältst!
Du dann wieder eingeschlafen. In deinem
Geschäft im Klo. Auf der Schüssel ...
Du dann wach. Neben der Schüssel. Da hast du
dich gefühlt! Wie eben nach so einer Nacht. Und so einer Schlafstätte. Gut,
dass niemand mehr im Büro war. Du hast dich nicht mal getraut, in den Spiegel
zu sehen beim Waschen. Doch den Text bereits im Kopf. Eine Vorstellung, welche
Bilder.
Da war noch Zeit. Irgendwie. Eine Stunde
vielleicht. Warum?
Den Cognac eingeschenkt. Warum nicht auch
jetzt was, wo dir das durch den Kopf geht?
Eine Idee jetzt. Du richtest dich danach.
Weil du dir gesagt hast, dass man den Teufel
am besten mit Beelzebub austreibt. Solche Sprüche immer.
Du hast noch nicht daran genippt. Da, dieses
Getrampel. Da, diese verfluchten Kerle im Büro. Haben an dir ihre dreckige Show
abgezogen ...
Genau das ist damals abgegangen. Was dir den
gesegneten Krankenstand eingetragen hat. Dich drin hält. Für alle Zeiten. Die
so richtig krank machen ... Dieser Satan von Mentenheim hat gewusst. Wo du zu finden
bist ... Das muss sich jetzt erst setzen! Was sich da aufgewühlt hat. Was sich
aufdrängt. Was du noch gar nicht so richtig kapieren willst, obwohl du weißt,
dass es wahr ist, diese Wahrheit, die man nicht verstehen kann, obwohl man
will, die sich einem verschließt oder so eine Verhextheit. Da macht sich alles
zu. In der Birne ...
Die Schreiberei aufgegeben. Alles gesagt.
Bis auf ein paar Stücke vom Nur-Denkbaren. Der ganze Spuk da zwischen den
Zeilen. Der sich immer einschleicht. Der dich packt beim Lesen ...
Dieser verteufelte Brief da! Den du auch
nicht loswirst. Du wieder dauernd dran vorbei. Du kannst dir noch so oft sagen,
dass es bescheuert ist – und er ist sogar richtig dreckig von seinem Ausflug –
Ausflug bringt dich zum Lachen, aus-geflogen ist er ja im wahren Sinne, du
haust dir auf die Schenkel wie so einer vom Gebirgsvolk und springst wie so
einer von denen in der Bude umher und lachst dabei, bis dir die Puste ausgeht.
Das hat sauwohl getan, schnaufst du dich noch frei ...
Musst dich irgendwie zur Ruhe bringen. So.
Oder wieder mal flüssig vielleicht und irgendwie doch ...
Das Muffensausen vor den Gangstern ist es.
Das muss auch irgendwie weg. Waffe besorgen. Umlegen, wenn sie auftauchen.
Befreiungsschuss. Jetzt das Filmmaterial. Das kann vielleicht ablenken. Auch
von den ganzen idiotischen Quergedanken. Endlich aus dem Kellerloch geholt. Es
wird ja über die ganze Schose Gras ... Jetzt schon? Das bissl Zeit danach.
Oder aus dem Haus. Das blöde Zeug da im
Keller. Was sich da vorhin als Verdacht gegen diesen Mentenheim aufdrängte am
Dampfen lassen! In deiner vielen Zeit. Da gehst du ja immer wieder mal zur
Brandstelle. Sozusagen im Kopf. Oder du weißt gar nicht. Warum nicht auch
heute. Aber richtig. Eigentlich sollte man dem Kopf misstrauen. Der einen so
oft in die Irre führt. Tun. Es könnte erhellen. In der Dunkelheit immer.
Die Schläger sind bis jetzt nicht mehr
aufgetaucht. Wer vergreift sich auch an einem wie dir, der so angeschlagen ist.
Nicht das mieseste Menschenvieh. Es gibt sie vielleicht doch, die vorerst
leider nur literarisch hervorgezauberte Ganovenehre der Schreiberlinge. Sich
einfach den Luxus des Glaubens an die Menschheit leisten. Kurz vor dem Irrsein
wenigstens. Ihn dort mit hineinnehmen. Haha, als satte Mitgift. Als reicher
Wahnsinnswerber.
Von Polizei keine Spur.
Fühlst dich irgendwie aufgerufen. Es geht
schließlich um Ordnung. Innere Ordnung willst du dir nicht gleich wieder
behaupten. Das ist immer zu viel ...
Raus also. Durch die Straßen. Du zwingst
dich. Keinen Blick mehr nach hinten zu tun. Auch hier schon im Zimmer. Das
Zurücksehen holt dir deine Gespenster immer alle aus den Löchern, über die man
sonst hinwegsieht. Aus Angst oder sonst was. Du zwingst dich: Geradeaus gehen
und sehen ... Dann in deine Nuckelpinne und ab. Was die ausgelutschte Pflaume
hergibt. Du fährst in deinem Kopf ... Du siehst gleich vor deinem inneren Auge.
Dieser lächerliche Ausdruck. Nun schon das abgebrannte Ding noch mit seinen
bloßen Mauern. Was noch vor kurzem so fein war. Natürlich, was sonst? Immer
alles vom Feinsten. Bei diesen Affen in ihrem Geldurwald.
Wenn du es innen bei dir nicht siehst, dann
siehst du es eben überhaupt nicht.
Wenn du eintreffen würdest, da könntest du
sehen, dass sie eigentlich nur ein wenig sanieren. Mauerkanten abdecken. Damit
das Regenwasser nicht den Ziegel angreift. So mit Frost zusammen, erklärt dir
einer vom Bau.
Du gehst zu dieser Perversion von 'Indoor-Swimmingpool'.
Da könnte sogar das Dach noch drauf sein. Der größte Kitsch findet nicht nur
die breiteste Zustimmung immer, sondern hält sich auch noch am längsten, weiß
man ja. Du siehst ganz deutlich, dass es die Schlosskapelle war, die sie da mit
dem Planschbecken vergewaltigten. Den Altar haben sie gelassen. Das sieht alles
unbeschreiblich verrückt aus. Du läufst in diesem Irrenhaus mit offenem Mund
herum. Hinterm Pool fällst du dann geradezu auf die Knie. Es überkommt dich. Du
wunderst dich über dich selber, als dir ein Gebet durch die Sinne zu fließen
beginnt: Ave ... sie sagen jetzt nicht mehr Weiber bei der Gebenedeiung
...
Es tut doch gut. Der Kopf erspart einem die
Handarbeit und Mundarbeit und alle Bewegung, die oft so mühsam ist. Solltest
dafür dankbar sein.
Du würdest ja weitergehen und da und dort
näher hinzutreten. Ein Plausch hier, ein Schwätzchen dort mit den Typen vom
Bau. Du warst noch immer gleich mittendrin im alten Job: Ein wenig
herumgestochert. Hier im Schutt gegraben, sozusagen. Ohne sich dreckig zu
machen, gewissermaßen.
Auch im Abfall, im Auswurf gewühlt, wenn es
sein musste: Zum Stochern geboren, zum Wühlen bestellt; mit Auswurf
verschworen, gefällt uns die Welt. So hat man schon auch mal seinen Meister
Goethe missbraucht.
Sie haben eine verkohlte Leiche ausgegraben,
könntest du erfahren. Du wüsstest das natürlich sofort einordnen und denkst an
den buntkarierten Besoffenen, der wider den Stachel gelöckt hatte und dann
unter den Tisch gesunken und ganz vergessen worden war. Du hältst aber dein
Sprechwerkzeug. Hast den Kopf gleich woanders. Träfe sich gut, das mit den
Bildern. Du könntest vergleichen. Dieses da, und jenes dort. Aber du müsstest
das Fotowerk doch endlich aus dem Loch im Keller holen. Und entwickeln. Dich
trauen. Das ist es eben.
Erst mal zuhören. Die Leute reden gerne.
Am liebsten mutmaßen sie. Mit dem schönen Bekenntnis: Ich glaube das und das.
Glauben muss man doch dürfen. Wenn man es kann, dann ist man sich oder sonst
wem den Beweis nicht schuldig.
Zu Hause hier wieder an die Bilder gedacht.
Was denn dran ist? Man müsste die Feuerpolizei anbohren. Was war überhaupt die
Ursache dieses Brandes? Man hat gar nichts gehört. Verdächtig. Oder sattes
Schweigegeld. Die meisten warten jeden Monat auf ihre paar Kröten für ihre
viele saubere Arbeit. Wie viel Cash geht immer rüber bei den gemeinen
Geschäften. An den meisten braven Leuten vorbei ...
Du stapfst mit den Gedanken weiter ab und
zu auf der Baustelle herum. Gestern erst wieder. Oder ist es heute? Du weißt
nicht recht. Aber du grüßt freundlich. Und zwar immer, wenn du am Spiegel vorbeigehst,
grüßt du dich, den du für irgendwen hältst.
Man wird sich ja noch selber grüßen dürfen.
Du stelltest in die Bauhütte einen Kasten Bier hin. Ins Ingenieurbüro eine
Pulle Whisky. Und du gäbest dich ansonsten scheinbar nur anwesend.
Wo bist du wirklich? Und die Zeit?
Warum wartest du eigentlich? Dass du wieder
arbeiten darfst für die paar Kröten? Das ist es auch, warum du den Brief nicht
aufmachst.
Du lässt alles mit der Zeit kommen und
gehen, schiebst es ihr in ihre großen Taschen. Wie lange schon oder noch? Dann
lässt dich bestimmt auch die Angst aus ihren Klauen. Du lässt das Leben, diese
blöde Gewohnheit.
Wenn dir gelegentlich einer von der
Baupolizei über den Weg liefe, würdest du ihn ausquetschen. Ja nicht hingehen.
Das sähe nach Schnüffelei aus.
Dann doch endlich mal die Bilder. Oder?
Du hast noch gar nicht richtig einen auf
Recherche gemacht. Da hättest du bereits in der Bauhütte ihrem Diskurs lauschen
dürfen. Die Leute wären offen. Man dürfe aber nicht zu viel erwarten: Zum Teil
würde da öffentliches und letztlich Versicherungsgeld in der Baukasse klimpern,
hättest du von allen hören können.
Oder hörst du so etwas jetzt schon, ohne die
Ohren aufgemacht zu haben? Ein immenser Fortschritt. Brauchst du die Anderen
jetzt womöglich gar nicht mehr mit ihrer ekelhaften Zuträgerei? Dieser
unappetitliche Mundgeruch immer, wie wenn sie grade immer Käse gegessen hätten.
Das mit den öffentlichen Geldern wäre ja
nicht neu. Ansonsten brächten dir die rauen Burschen vom Bau ja mehr über ihre
Urlaubsorte zu Gehör.
Und über ihren Durst. Der dich jetzt auch
wieder plagt. Und über ihre liebestolle Tüchtigkeit auf der ganzen Welt. Weiße,
mal eine Schwarze, Gelbe, Braune. Die ganzen Farben durch. Und es hätte auch
nicht lange gedauert.
Da wären die jungen Königsfrauen in England drangewesen.
Wären sowieso überall dran. In der Presse und dann auch in den Köpfen in der
Bauhütte. Wenn du nur aufpassen wolltest auf so was.
Der Sänger Franz käme dich jetzt häufiger
besuchen und wäre ganz wohlauf. Der alte Bock. Dem du jetzt und immerfort den
Respekt nicht mehr schuldig bleiben willst.
Nicht ergiebig, hast du dir gedacht. Aber
das kennst du ja als Jäger, der du stets bist: Du musst erst eine Menge
Kleinzeug aus dem Niederwald passieren lassen. Bis vielleicht endlich auch ein
kapitaler Hirsch im Sucher ist. Dann abgedrückt und abgeknallt und umgelegt und
gründlich ausgewaidet ...
Du öltest die Kehlen der Männer vom Bau
gelegentlich weiter. Oder nur die deine? Im alten Brandkasten wüchse jedenfalls
kaum Innenleben. Der vorherige bauliche Standard wolle und solle anscheinend
auch nicht mehr hergestellt werden. Leuchtete dir ein. Wie Recht sie hätten. So
eine Sache nämlich. Wenn sie diesen Kitsch da veranstalteten und
rekonstruierten und das alte Zeug nicht sterben ließen, was ihm ja zustände wie
dem Menschen, der ja auch seinen Kratzfuß machen will, aber sich eben nicht
gleich traut. Das hätte der Denkmalschutz auch bereits eingesehen, erführst du
vom Ingenieur anlässlich der Visite des Konservators, der doch irgendwann mal
kommen müsste. Trotzdem sollte es Geld geben für eine Ruinensanierung. Pervers
alles. Wo du hinsähst. Da wäre die Verschwendung schon lange dort.
Du bist jetzt noch häufiger vor Ort. In der
Fantasie. Die jetzt immer leichter werden. Es spielt sich alles so beschwingt,
duftig, luftig im Hirn. Gar nicht mehr so drückend und bedrängend ...
Auch die Gemeinde greife in das Säckel,
wolltest du gehört haben. Karl Mentenheim sollte zugesagt haben, dass sie ein
Heimatmuseum in der verschont gebliebenen Kapelle einrichten dürften, wollte
einer von der Bauhütte wissen, der einen Vetter im Gemeinderat haben soll.
Jedem Gerede müsste man nachgehen. Man müsste es nachzeichnen in seinem Kopf,
ja immer wieder der Kopf, das Haupt obendrauf und nicht nur die Pforte fürs
Fressen und Getränk, sondern ein Stockwerk höher im Gewerke. Das alles hast du
immerhin noch nicht verlernt. Du dehntest dein Interesse aufs Rathaus aus. Der
Hausmeister dort. Der ließe blitzschnell den Fünfziger in der Hosentasche
verschwinden. Eine Geschicklichkeit, die auf Training zu schließen Veranlassung
zeitigte. Er ließe raus, dass die öffentliche Hand auch den Umbau der vom Feuer
gänzlich verschonten Stallungen im Schloss finanzieren würde, da dort ein
Schulungsraum für die Feuerwehr geplant wäre. Das spuke alles jedoch vorerst
nur in des Herrn Bürgermeisters und des noblen Herren Mentenheims Birne
gespenstisch herum. Natürlich in seinem, des Hausmeisters, Ohr, wo es seine
Wirklichkeit hätte. Nämliches, dass er es, das Ohr, anlässlich geheimer
Besprechungen beim Bürgermeister nur ans Heizungsrohr zu drücken bräuchte. Was
er selbstverständlich aus Gründen des Anstandes grundsätzlich nicht, sondern
nur in Ausnahmefällen durchführe.
Irgendwann steckte dir der Sänger Franz,
dass er jetzt eine kleine Freundin hätte. Es hieße auch junge Freundin.
Matratze, hätte er gesagt, obgleich du dich verhört haben könntest. Ganz egal,
selbstredend, ob klein oder jung. Das wäre dem Franz wurscht. Er hätte gelacht,
dass die jetzt wartete, dass er abkratze. Um das Haus zu kriegen, diese vier
Wände, respektive mit dem Dach über dem Kopf, wie es heißt. Dass sie dann mit
ihrem jungen Kerl einziehen könnte. Von dem er natürlich auch wisse, weil er
nicht ganz so blöde sei. Was die dauernd miteinander für Sachen treiben, die
eine Sünde sind, im Sinne der Unzucht. Was ihm auch nichts ausmachte. Solange
sie ihn und ihm saubermachte. Jedenfalls sagte der Franz dir immer, dass das
die billigste Art wäre, alt zu werden. Die angenehmste obendrein. Bei den
gestiegenen Preisen in ihren Altersheimen.
Es wäre nichts so falsch. Auch nichts so
neidisch. So gemein. Und so weiter. Dass nicht doch ein bisschen Substanz dran
wäre. Das beteuerst du dir immer. Ein Freundeskreis zur Erhaltung der Kultur
des barocken Bauens – FEKbB e. V. hätte sich gebildet. Hieße es. Freunde der
sich arg gebeutelt gebenden Familie Mentenheim, fürs Erste, sollten die Urheber
sein. Sogar die Anerkennung der steuerlich so begehrten Gemeinnützigkeit würde eifrig
betrieben. Weil die reichen Leute keine Steuern bezahlen wollten und das im
Gegensatz zum kleinen Mann und seiner Frau von einer ebensolchen geringen Größe
auch bewerkstelligen könnten. Darauf könnte mit einiger Sicherheit
Verschiedenes finanziert werden. Was die Arbeitsplätze an dieser Baustelle
wenigstens für einige Zeit erhielte. Sonst müsste man sich halt weiter mit
billigen Polen und Tschechen behelfen. Du freutest dich mit deinem Informanten.
Für den armen Karl. Du würdest dich aufs Amtsgericht begeben zum
Vereinsregister. Um dich ein wenig schlauzumachen.
Man
wäre der King. Wenn man alles im Kasten hätte. Wenn man autark wäre bei seinen
Ermittlungen. Im Grunde keinen mehr brauchte.
Donnerwetter! Wer vereinsmeierte denn da
alles so schleimig gemeinnützig? Es wäre ja die vereinigte Elite der immer
reicher werdenden Steuer-nichtbezahlen-Woller. Die vereinigte
Katastrophengesellschaft auch von neulich. Die du hier namentlich aufgeführt
sehen könntest. Alle wollten den gebeutelten Karl ein wenig mit den dem Staatssäckel
vorenthaltenen Spenden bedienen. Sie wären alle so freundlich und geduldig zu
dir. Denn sie hielten dich für verrückt. Das hättest du natürlich längst
gemerkt.
Du wärst wieder im Geschäft. Glaubtest du
fest.
Ach ja, glauben! Es wird dir urplötzlich
ganz hell, wie man es über Erscheinungen immer wieder mal hörte, dass da etwas
meist von oben, dem Himmel eben, auf oder über einen komme. Wie viel hat so
ein satter, gleichsam erhebender, von der elenden Schwere der Erdlichkeit
zumindest etwas entlastender Glaube nicht schon bewirkt?! Bei dir vielleicht –
dann allerdings ohne dass du es sonderlich wahrgenommen hättest. Vielleicht
auch wieder mal einen Versuch starten mit dem Glauben. Es ist ja immer so
unfertig. Du hast es trotzdem schon so oft unternommen, erinnerst du jetzt
doch. Mindestens so oft, wie du das Rauchen aufgeben hast wollen. Eine gewisse
Zeit auch durchgehalten. Zu beten durchaus sogar, was ja zum Glauben gehört wie
der Schnee zum Winter. Das alles als Ersatz für dein aufwändiges Schreiben
setzen möglicherweise.
Allerdings nicht übereilt – daher wieder
vertagt, zunächst.
Zurück zu dem, was du professionell
beherrscht: die Recherche. Denn das mit dem Glauben hat man ja doch nie richtig
gelernt. Also: Die Mehrzahl des von dir zwecks Nachforschung angegangenen
Volkes wäre ganz bereit, in der Brandsache und Bausache seine Stimme zu
erheben. Wenn auch in aller Regel nur, ohne den Mund aufzutun. Aber als
Fachmann wüsstest du mit dem ausdrucksstarken Schweigen gehörig umzugehen. Du
wärst mitunter gezwungen, teils wegen des Mangels an einigermaßen brauchbaren
Beweisen im manchmal doch dann auch wieder erheblichen Gesabbere, das
demoskopische Verfahren der Informationssichtung anzuwenden. Wenn sich
Behauptungen häuften. Wenn sie sich in einem Punkt schnitten. Dann erkenntest
du auf vox populi. Auf Stimme des Volkes. Von welcher man schließlich seit
jeher vermutet, dass es sich dabei um nichts Geringeres als um Gottes Stimme
und damit doch wieder um eine Glaubensfrage handelte.
Es ist dir schon wieder so zumute, als
wurde eben deinetwegen auch von jemand Unbekanntem oder einer Lichtgestalt
selber das Licht angeknipst in deinem Hirnstübchen. Du fragst dich, wo du in
der ganzen Dunkelheit rumgelaufen warst und wie du das überhaupt durchstehen
konntest ohne diese Be- und gar Erleuchtung.
An dein Filmmaterial im Keller denkst du
jetzt in der Helle. Du machst dich jedoch nicht darüber. Dazu verzichtest du
auf den eigentlich erforderlichen Schwung, der auch gar nicht nötig ist. Das
räumst du dir ein. Die Leute wissen gar nicht, wie fertig es einen machen kann,
dauernd etwas zu wollen, sondern geben dem Müssen alle Schuld.
Alte Pläne tauchen wieder auf: Aus solchen
heißen Sachen eiskalt etwas machen. Und sei's bei der Konkurrenz. Es den
Kraftmeiern in der Chefetage zeigen. Wenn sie dich am gestreckten Arm
verhungern lassen wollen. Mit ihrer bescheuerten Idee vom aufgedrückten
Krankenstand. Aber Pech gehabt!
Karl hat begonnen, wird dir dann klar,
Aktienmehrheiten der Baubranche zu erwerben. Also nicht mehr bloß einen alten
Kasten sanieren! Man dürfe getrost behaupten, dass er auf diese Weise für sich
selber baut. Das hat es sicher bedeutet. Gepowert durch öffentliche Gelder. Die
immer auch vom vielzitierten kleinen Mann und seiner kleinen Frau stammen. Ein
Klacks für so einen Geldsack und für ihn eigentlich nicht der Rede wert. Man
muss weiter sehen bei so einem! Der immer weiter ausholt. Nun haben wir
schließlich die Wiedervereinigung mit ihrer Abwicklung. Da kann einer wie Karl
selbstredend nicht anders. Als sich von der sogenannten oder auch Treuhand. Die
den Osten plattmacht. Auch etwas abwickeln und in seine großen, gar nie zu
füllenden Taschen stecken zu lassen.
Doch dich lässt die Firma weiter auf kleiner
Flamme garen. Du wartest ja immer noch. Dass sie dich wieder holen. Da musst du
ja gar nicht diesen Brief da auf dem Tisch aufmachen. Musst du dir auch
gestehen. Und du, wenn du bisweilen zu dir ehrlich bist. Dann gibst du dir zu.
Dass du noch wirklich krank wirst vom Warten. Oder sie sollen dir ein Geld
schicken. Ein sozusagen Schweigegeld.
Um an die großen Fische ranzukommen,
müsstest du ... Nein. Um mit den großen Hunden laufen zu können, da musst du
das Bein sehr hoch hochheben können. Hat neulich einer im Film gesagt.
Wenigstens dein Team haben, besser aber noch Geld ...
Aber du gibst nicht auf.
War jetzt der Sänger Franz nicht doch im
Altenheim, bis zuletzt? Seine Hände immer ...
Du bleibst dir treu. Im Allgemeinen
journalistisch redlich. Wenn man so denkt, muss man ganz einfach immer
recherchieren. Man muss nachgerade erbarmungslos hineinlangen im Geiste ... (der
Demut und mit zerknirschtem Herzen ... – war dir gerade doch tatsächlich aus
dieser alten, immer runtergeleierten Bußformel durchs beknackte Hirn
gerauscht!). Worauf wäre da auch Rücksicht zu nehmen? Ist das Leben
rücksichtsvoll? Wenn du Leben bringen musst. Was bleibt dir da anderes übrig,
als zu leben? Das ist so schrecklich synchron alles Gesunde, vor Leben
Strotzende, zwischen seinen Zahnrädern den ganzen Sand im Getriebe Zermahlende!
Es beschenkt sich fortwährend mit dem Optimismus. Möglich, dass sie die brutalen
Fleischklopfer gar nicht mehr schicken. Sie sind doch so knauserig. Selbst
dabei, nämlich im Verbrechen. Wenn jemand umzubringen ist. Denn das geht
billiger und letztlich nicht so verfänglich wie mit solchen Typen. Die halten
dich einfach fern von deiner Arbeit, die dein Leben ist. Die ja einfach deine
heilige Kuh ist. Die immer gemolken sein will.
Du hast den Schritt in die nicht zu
versperrende Freiheit ja auch längst getan. Bist eigentlich schon draußen aus
dem Zuchthaus der Verbindlichkeiten. Innerlich. So wie du aus dir selber
draußen bist. Im Grunde.
Die Fenster öffnen, und es lüftet sich.
Selber weiter machen? Auch da darf es keine falsche Rücksichtnahme geben. Dabei
erst recht nicht. Wenn du an der Arbeit bist. Man muss alles aufdecken.
Vielleicht einmal bei Karl und seinem roten Hahn auf dem Dach in Richtung
Betriebsfinanzen und Versicherung gehen?
Die verrückten Bilder können sie sich sonst
wohin stecken. Bloß die Sache da mit dem Kerl damals bei dem Fest. Wie er da
plötzlich mit dem Koffer auftauchte! Dieser sonderbare Typ. Im Hintergrund
vorbeirauscht. War eigentlich Fremdkörper auf dem Fest ... Kurz drauf wird es
plötzlich so warm! Die sattsam bekannten Verdachtsmomente bei solchen Vorgängen
mit Versicherung und Brand und Betriebsfinanzen. Nun durchaus auch bei diesem
feinen Herrn Karl Mentenheim zu sehen: Wenn einer sich verkalkuliert hat und
durch so einen warmen Abriss die Geschäftsbilanz zu korrigieren versucht. Wenn
so einer dem Konkursverwalter den Stinkefinger machen will!
Da musst du selber hinlangen! Die Bilder
sind vielleicht doch nur Schrott. Die schickst du ihnen glatt. Mit 'Porto zahlt
Empfänger' oben rechts. Du schreibst keinen Absender. Wenn sie's nicht annehmen
wollen aus Sparsamkeit. Irre: Dann bleibt's bei der Post. Und ist dort in Verwahrung.
Auch wenn die rumschnüffelt, woher es kam. Dich schüttelt es vor lauter
Heiterkeit. Du kannst deinen eigenen Einfall nicht fassen. Diese
Selbstverwirrung also einfach weglachen ... Als du wieder da bist, weißt du
plötzlich auch: Das mit diesem Koffermenschen da genauer untersuchen! Wo der
schließlich seinen Koffer gelassen hat. So doch nicht etwa. Wie der Koffer in
Berlin: Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin!
Dann macht das mit der Versicherung auch
mehr Sinn. Abbrennen kann jeder. Aber wie es ihm geschieht. Oder er es sich
selber besorgt! Genau dort einhaken! Alles klar! Du müsstest dem Staatsanwalt
zuvorkommen. Selber ganz groß rauskommen! Ein Entree im alten Laden und daran
vorbei in andere Gefilde. Nach der verordneten Krankheit bei deinem Wiederauftritt.
Dass sie sich denken: Ein verdammter Könner, dieser Mensch, den wir verkannt
haben, und bares Geld dazu kommt da wieder rein. Die Bilder aus dem Kellerloch
holen! Endlich. Angefangen mit der Arbeit dran. Taschenlampe. Das lange
Küchenmesser. In Zeitung gewickelt und ganz heiß nur ins eigene Blatt von
dieser verruchten Firma, die dich kaltstellen will. Denn wenn sie dich im
Treppenhaus mit der blanken Klinge sehen! Dann ab. Alles in einen Einkaufskorb,
dass die Leute denken, du gehst nach sonst was in deinen Kellerverschlag,
Kartoffeln ... wie Mutter Huber von nebenan. Und ab.
Weiter zu dienen und zu dienern?
Altdeutsches Arbeitsabhängigkeitsverhältnis. Die können dich mal auf Altdeutsch!
Wo du so etwas wie eine Marktlücke entdeckt hast. Als Zulieferer von
Verdachtsmomenten. Es ist ja heute alles ganz anders. Der fortschrittliche
Mensch mit seiner Chance zur Bildung in einer Zeit. In der die Information als
Voraussetzung dazu so breit gestreut ist wie nie zuvor. Käme dir auf deinem
Trip in den Keller. Der erwartet gar keine fertigen Lösungen mehr. Er verbietet
sie sich ausdrücklich. Wenn du unter diesem Aspekt deine Verdachtsmomente nur
einigermaßen mit Fakten ausstatten kannst. Du musst ja nur von der
Auffälligkeit über die Spekulation zum Anfangsverdacht kommen. Die
erforderlichen Schlüsse soll der mündige Bürger selber ziehen dürfen und die
Gerichte. Die Endwahrheit ist nicht dein Geschäft. Arbeitsteilung ist angesagt.
Du bist wieder voll drauf. Das spürst du. Dann los, bevor du wieder in ein Loch
fällst! Im Weiteren zwar erst, aber immerhin gilt es, Karl Mentenheims
Machenschaften aufzudecken. Licht gemacht im Kellerloch. Oder besser dunkel
lassen und mit Taschenlampe? Sieht verdächtig aus. Mit dem Messer den Ziegel
aus der Wand geholt ... Wenn jetzt einer von hinten käme! Du wirfst den Kopf
herum. He, verdammt, das hat im Genick richtig geknackt! Sticht wie tausend
Nadeln ... Lege dich flach ... Erst den Ziegel ... Wie das ganz verhext zieht!
Flachlegen! Du müsstest den Koffermann identifizieren. Jetzt wird es allmählich
wieder. Freilich, was da in dem Koffer reingeschleppt wurde! Aber nicht
bewegen! Eigentlich müsste man ganz stark hinlangen! Die beiden Ganoven von
ihrem Auftraggeber weglocken, glatt wegkaufen. Etwas den Nacken massiert.
Kaufen? Da ist dir der Daumen zu kurz. Denn mit dieser Sorte Käufer kannst du
ganz bestimmt nicht mithalten. Aber in der Sache, wie du sie siehst, da ist
Kohle drin. Damit müsste man sie eigentlich rüberholen können. Das tut gut. So
ein richtiges Team machen mit den Schlägertypen! Ein ganz ausgebufftes und wenn
es sein muss obendrein ganovisches Infobeschaffungsteam ... Das klingt
aufreizend nach Zukunft ... Du musst demnächst mal sehen, wo sie den
Brandschutt hinhaben. Dort nach den Kofferresten suchen. Nadel im Heuhaufen ...
Die Filme aus dem Loch geholt! Dann weg hier und nach oben ...
Heute noch wischst du dir mit diesem
idiotischen Brief das Hinterteil. Du musst dir eine Aufbruchstimmung zulegen,
sonst vermoderst du hier in deinem Loch. Wie viele gute Storys waren in der
Vergangenheit in den Archiven geblieben. Und sind es noch in dieser Geschichtengruft,
die auch ein Kerker der Geschichte als solcher ist und bleibt. Ab jetzt aber
wird ausgestreut. So bist du jetzt richtig in Fahrt gekommen. Nun ist dir noch
aufgegangen. Dass da was mit diesen Ostfahrten gewesen ist. Laut John. Der
angeblich auch wieder mal hier gewesen wäre bei dir. Da war doch auch einmal
die Meldung. Dass der Mentenheim mit abgewickelt hat dort drüben. Im großen Stil,
versteht sich, wie Karl das eben immer so gemacht hat. Die eigene Stilgröße
ist wie die eigene Konfektionsgröße. Die sich für gewöhnlich ändert. Wie einer
vollgefressen ist. Wie denn, wenn sich der Mentenheim bei seiner Abwickelei nun
doch einmal verkalkuliert hätte. Jetzt gehst du dir was zum Futtern machen.
Sogar der dicke Kanzler hat sich verkalkuliert mit seinen blühenden
Landschaften aus der Westentasche. Nur dass er daran nicht erstickt ist. Es
liegt ja alles plötzlich auf der Hand: Wie der Kanzler seinen Irrtum aus der
Steuerkasse zahlen lässt. So könnte ja Karl auch die Öffentlichkeit ein wenig
anzapfen. Nämlich die gute Gemeinschaft der Brandversicherungsnehmer und solche
Zahlreichheiten. Schlau muss man sein. Selbstverständlich. Dieses jetzt
versengte Märchenschloss war eben so ein Traum von Karl. Den er sich zur
falschen Zeit geleistet hat. Nämlich im Jahr der Wiedervereinigung geleistet
hatte. Damit hatte er sich finanziell zu stark gebunden. Das siehst du jetzt
genau mit deinem geschulten inneren Auge. Bei diesem warmen Abbruch war gewiss
so viel drin, dass er im Osten was Ordentliches damit anfangen können wird.
Plus Anschubfinanzierung vom Steuerzahler und seiner Frau. Versteht sich. Oder
irgendwas. Die Sache ist so reich an Facetten. Dass für dich eigentlich auch
etwas drin sein müsste an sattem Ertrag – für die ganze Plag (gönnst du dir gedichtlich,
wie sie immer auch gereimt haben mit ihren Weisheitsverpackungen in alter Zeit).
Wenn du ihnen nur den Kotau machen gingest, um wieder reinzukommen. Diese Leute
immer. Die sogar ihre Träume korrigieren können. Da bist du entschieden gut
drauf. Zum Überschnappen gut. Das ist dir gleich ganz deutlich vor innerem
Auge, das noch nicht zu kurzsichtig ist. Es hat mit der Entschiedenheit zu tun,
die du allerdings doch erst ganz einfangen musst. Grundsätzlich könnte
jedenfalls gelten. Es ist sie freilich. Die einem ja bedauerlicherweise so
häufig fehlt. Bei den ganzen Facetten immer des Daseins und der Begegnungen,
die einem widerfahren. Entschiedenheit. Es ist wäre genau nicht irgendeine,
sondern die Entschiedenheit für sich? Dazu der irre Mut. Die Anderen damit zu
enttäuschen. Wenn man so ganz unverrückbar bei sich stünde, säße und sonst was.
Bis sie dich in eine Anstalt steckten zu den anderen. Die ihr Schicksal befreit
hatte. Die auch jenseits des von den Angepassten für normal Gehaltenen herumwesen
dürfen. Ein echtes oder vielleicht auch nur, aber immerhin ein Gegenvorschlag zum
Grab ...
Mit der unerbittlich
entschlossenen Entschiedenheit für dich ...
der Komödie
Tom hatte sich ja in
seinem Job als Journalist, nämlich in seinem Bemühen, nichts weniger als die
Zeit zu dokumentieren, in genau dieser verloren. Es war schließlich alles ganz
schlimm für und über ihn gekommen. Am Ende balancierte er am Rande des
Wahnsinns entlang und geriet zumindest zeitweise ganz in diesen.
Nun, da er nicht mehr über sich, geschweige
denn für sich sprechen kann, muss jemand anderes diese Aufgabe übernehmen. Da
sei zunächst offen gestanden, dass sich jemand in dieser Stellung eines
stellvertretenden Sprechers in diesem Fall in der fast misslichen Lage der
schieren Unkörperlichkeit befindet. Anwesend nur auf und zwischen der
jeweiligen Zeile – und man kommt sich in dieser Rolle vielleicht doch auch
einmal vor wie ein Gespenst. Das überall sein Wesen treibt, und zwar im Innen-
wie Außenleben der zu vertretenden Figur. Bei diesen Umtrieben soll man sogar
als der allwissende Erzähler firmieren müssen, wie gerne behauptet wird.
Bei der Geschichte von Tom kann eben nicht darauf
verzichtet werden, von dieser anderen Erzählhaltung aus zu agieren. Tom
scheint, wie bereits angemerkt, für eine Weile nicht in der Lage zu sein,
seine Interessen beispielsweise mittels Personenrede, wie er es vordem gerne
getan hatte, selber einer einigermaßen gerechten Darstellung zuzuführen.
Nun gleich zur Sache: Da hatte unser Freund
noch persönlich in der vor Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemachten
Darlegung mitgeteilt, dass der Name Tom nicht etwa von seinen Erzeugern für ihn
gewählt, sondern ihm von seinen Mitschülern gewissermaßen verpasst worden war.
Sein richtiger Vorname lautete ... – er behauptete, dieser Name klinge genau
so, wie man seinerzeit als Junge einen Zigarettenstummel bezeichnet hatte: Hugo
nämlich.
Pinser hingegen, Toms Familienname, kann
ohne Vorbehalte verraten werden. Obgleich Tom auch diesbezüglich seine Bedenken
hegte. Sie hatten nämlich in seiner Schule so ihren Spaß, indem ihn immer
wieder einmal jemand fragte, wie wohl sein Name auf Chinesisch ausgesprochen
würde. Die Antwort – die er allerdings Schwächeren gegenüber mit Fußtritten
ahndete – lautete 'Pinsel'.
Mit dem ihm von den Klassenkameraden
aufgenötigten Namen Tom hatte er sich dann nur in Abwägung mit seinem Hugo
abgefunden. Denn auch Tom erschien ihm nicht eben respektabel, da er in Toms
Schulwelt von dieser Figur aus dem Roman 'Onkel Toms Hütte' herrührte. Aber Tom
gelang es, damit seinen Frieden zu schließen, da den Anderen die Herkunft des
Namens bald nicht mehr erinnerlich war. Wie es bei Namen eben so ist. Tom,
alias Hugo, konnte sich also mit seinem geburtsurkundlich verbürgten Namen im
Grunde nicht wirklich abfinden. Ob sich so ein Konflikt nicht grundsätzlich auf
die Einrichtung der gesamten Person im Umfeld, das man das soziale nennt, auswirkt?
Es ist bekannt, dass viele Menschen sich in einer ähnlichen Lage befinden und
sich mit ihren Benennungen lediglich irgendwie arrangiert, indessen nicht
wirklich identifiziert haben. Sie leben dann ihr Eigentliches, zumindest
Wünschenswertes mitunter bei allen sich bietenden Gelegenheiten in allerlei
Verkleidungen aus. Die Frage – die Tom im Übrigen schon auch einmal gestellt
hatte – ist, warum sich denn jemand überhaupt seinen Namen gefallen lassen
muss.
Über Tom kann nunmehr für den Fortgang
dieser Darlegung hier etwas Wesentliches eröffnet werden. Sein Aufenthaltsort
war für einige Zeit ein in der Nähe von München eingerichtetes Irrenhaus. (Dass
es sich bei dieser Benennung um eine beim Fachpersonal dieser Anstalten
verpönte Begriffswahl handelt, sei aus Gründen der angemessenen Distanzierung
angemerkt.)
Sie hatten Tom nämlich in der Fußgängerzone
dieser reizenden, in ihrem Herzen überaus gemütlichen, jedenfalls Störungen
ziemlich abholden 'Weltstadt mit Herz' aufgegriffen. Er war mehrere Wochen dort
(zunehmend abgerissen in seinem Outfit und auch in seinem Geisteszustand
angeschlagen) umhergestrichen. Passanten, besonders die vielen lässigen
Flaneure, hatte er angemacht (wie das salopp genannt wird). Er agierte unter
der Vorgabe (und immerhin in alter Profession), die Leute zu interviewen.
Das war wegen Toms äußerer Erscheinung und der
nur als ein wenig wirr empfundenen Ausbrüche als groteske Bereicherung in der
Fußgängerzone begriffen worden. Ja, viele Male hatte die Leute es sogar begrüßt,
belacht und willig mit eigenen Blödheiten bedient. Tom hätte sich über die
ganze Traube belustigter Interessierter freuen können (sollte er sich – was allerdings
zu bezweifeln ist – als Fußgängerzonen-Clown betrachtet haben). Ansammlungen, die
sich immer wieder einmal bildeten, wenn er mit lauten Reden so richtig in Fahrt
war.
Unter günstigeren Umständen wäre Tom sogar
in der Betrachtung der Einheimischen ein Platz als Original eingeräumt worden
(etwa eingereiht in die Gruppe der zwar auch ein wenig bedauernswerten, doch eigentlich
liebenswerten Gestalten – wie etwa ihrerzeit das Entenmutterl, das nämliches
Tier immer in einem Kinderwagen durch die Stadt geschoben hatte). Über die
Grundvoraussetzung dafür, nämlich gar nicht auf Wert- und Liebschätzung abzuzielen,
hätte Tom mit Sicherheit verfügt.
Es mochte sein, dass viele (Bedenkenträger) annahmen,
Tom laufe sich immer mehr aus dem Ruder und bringe es damit zur Gefahr nicht
nur für sich, sondern auch für einen als arglosen Mitmenschen selber. Nämlich,
wenn man in einer bei so einem durchaus ständig zu befürchtender explosiver
Krise in seine Nähe gelangte.
Wie dem auch sei, schließlich griffen die
städtischen Ordnungskräfte ein – und fest zu. Einigen Passanten sollen überdies
Toms Auftritte 'politisch zu einseitig und über die Maßen garstig' (so die
Formulierung einer vornehmen Dame) erschienen sein. Was dieser Mensch da von
sich gebe, verlautete dann später bei den Einvernahmen von Zeugen, sei
gelegentlich nicht nur ordinär, sondern drifte obendrein gefährlich politisch extrem
links ab. Damit war so etwas wie ein Stichwort gegeben, und jetzt sprudelte es
heraus: Dieser Mensch habe sogar zu so etwas wie einer Revolte gegen einen
bestimmten Personenkreis aufgerufen. Jeder habe immer sofort gewusst, um wen es
sich in diesen Ergüssen nur handeln konnte. Es sei da nämlich um Leute
gegangen, die durch Geschick, Glück oder einfach nur durch Erbe zu etwas
gekommen waren. Wofür man sie ja schließlich nicht verurteilen könne.
Groteskerweise über das Anzünden von Schlössern habe Tom flammende Hetzreden
geführt. Weswegen die Zuhörer sie dann kaum noch als Ulk haben hinnehmen
können. Am Ende habe sich ein Unbehagen eingestellt. Dieses gefolgt von der
Überzeugung, dass solche bereits Agitation zum einen in diesem unserem Lande
mit seinen architektonischen und sonstigen Kostbarkeiten und noch dazu in einer
Zeit des zunehmenden Terrorismus' völlig unerträglich sei.
Tatsächlich, Tom hatte ganz offensichtlich
bei sich selber tiefsitzende, aus misslichen Begegnungen und Begebenheiten
traumatisch begründete Überzeugungen wiedergegeben. Das alles hatte er immerhin
einer sich selber natürlich als rechtschaffen einschätzenden Gesellschaft
lauthals richtiggehend um die Ohren gehauen. (Nun gut, erinnert werden darf an
dieser Stelle, dass Tom von seinem ehemaligen Kameraden, einem gewissen Karl
Mentenheim, den er seit der Schulzeit bewunderte und dessen grandiosen Aufstieg
zum Topmanager er beinahe andächtig verfolgt hatte, ausgenutzt und niedergemacht
worden war. Und zwar dann, als Tom Einblick in dessen kriminelle Machenschaften
gewonnen hatte. Dass er im Krankenhaus lag, nachdem er niedergeschlagen worden
war – vermutlich von Banditen, die im Auftrag des Mentenheim angeheuert worden
waren. Und dazu sein Aus am Arbeitsplatz. Diese Menge Unheils erträgt nun mal der
Mensch nicht ohne Folgen für sein seelisches Wohl!
Dazu kam noch, dass Tom in seiner
partnerschaftlichen Beziehung zu seiner Elsbeth gescheitert war. Also auch
dieses Haltes verlustig war.
Dass er die wohl etwas derbe, aber gute
Haut von einem Bettnachbarn im Krankenhaus, einem gewissen Franz Sänger, als
unverbildetes, vitales Prachtexemplar erkannt hatte, tröstete zwar ein wenig.
Allerdings entzog ihm das Schicksal auch diesen Helden des Alltags via
Dahinscheidens.)
Es steht jedoch gleichfalls zu vermuten – um
nach dieser kurzen Rückschau den Faden der unmittelbar anstehenden Geschichte
wieder aufzunehmen –, dass auch Toms äußerer Zustand Anlass gab, ihn aus der
Öffentlichkeit, der sozusagen guten Stube dieser Stadt zu entfernen. Denn
bekanntermaßen ist diese von Publikum aus aller Herren Länder bevölkert, das
sich beispielsweise zahlreich zur Betrachtung des spielwerklichen
Schäfflertanzes zum späten Vormittag am Rathaus zu treffen pflegt. Gerade da
und genau zu der Zeit dieser Abhaltung tauchte Tom nämlich, seiner Ausströmung
nach gewissermaßen aus dem Kanal auf und ging die Gaffer an. Dass ihn dieser
nahezu fäkalische Geruch umgab und er sich extrem underdressed zeigte in dieser
immerhin einigermaßen schicken Flanier- und Einkaufsmeile, mochte der
vorherrschende Grund gewesen sein, dass man ihn weggeschafft hatte.
Das Gemeinwesen hatte damit natürlich seine
Chance, ein Original und damit eine weitere Steigerung seiner Anziehungskraft
zu gewinnen, gründlich vertan. Denn man hätte sich ja einmal etwas vor Augen
halten können. Nämlich, dass wahre menschliche Individuen zunehmend seltener
werden in einer immer unruhigeren, nachgerade ferngesteuerten und immer weniger
sesshaften Gesellschaft. Diese neige zwar zur Zusammenballung, doch auch zur
gegenseitigen Abreibung und folglich Gleichmachung. Ein menschliches Juwel, zu
dem Tom heranzureifen ohne Zweifel begabt war, bedürfte einer gewissen
Beständigkeit, um als fassbare, heitere, doch außerdem zum Nachdenken
anregende Überzeichnung des Einzelwesens überhaupt erkannt zu werden. (So weit
der Versuch, Toms journalistische Essayistik in seiner Abwesenheit, allerdings
sein Einverständnis damit unterstellend, ein wenig fortzuführen – wohl wissend,
dass er Satzlänge und Elaboriertheit der Darstellung gerügt haben würde, s. o.
seinen Aushang, S. 162).
Trotz der Berechtigung all dieser Erwägungen
muss natürlich ebenso die Erkenntnis Raum greifen, dass Toms In-Obhut-Nahme
sozusagen doch irgendwie auch zu seinen Gunsten geschah, da er sich outdoors
mit einiger Sicherheit doch allmählich aufgerieben hätte.
Bei der Einlieferung dann, nämlich in die
Irrenanstalt (um sich dieses volkstümlichen Ausdrucks weiterhin, freilich mit
allem Vorbehalt zu befleißigen), hatte Tom alles ihm Vorgelegte willig und ohne
auch nur den Anschein zu erwecken, dass es ihm lästig sei, unterschrieben.
Einen Stift in der Hand zu halten und damit sich – wenn auch nur äußerst
bescheiden mit seinem Namen oder auch bei einem Papier mit drei Kreuzen – skribentisch
zu betätigen, schien ihm gutzutun. (Er hatte da unter Zuhilfenahme seiner
Finger die Zahl der Zeichen ermittelt.)
So konnten sie sich gleich über seinen
körperlichen Bewuchs hermachen und ihm vor dem Baden die grau melierte Matratze
aus dem Gesicht zuerst scheren und nachbearbeitend schaben (Und Letzteres zu
Toms offensichtlichem Ergötzen mit so einem altväterlichen Instrument, das
zunächst auf einem Riemen gegeigt werden musste, um die nötige Schärfe zu
erhalten.) Dieser Befreiungsakt war für die Pfleger und Schwestern dortigenortes
zwar nichts Ungewöhnliches. In diesem Fall blieben einige jedoch wenigstens
für einen Augenblick stehen, um zu sehen, was für ein menschliches Exemplar
unter dem überständigen Material hervorkommen würde.
Dass jetzt die glatten Gesichtspartien die
lebenszeitlich bedingt eher faltigen wieder ausglichen und das Aussehen dieses
Menschen mit seinem wirklichen Alter versöhnt sei, bemerkte die junge
Lernschwester mit dem Henriette-Schildchen am Kittel (tatsächlich so oder so
ähnlich wertvoll formuliert).
Dass sie offenbar eine für den Job hier für
sich persönlich recht gefährliche ästhetische Ader habe, lästerte der mit dem
Josef-Abzeichen am Gewand. Und schwang dazu den Scher-Apparat in seiner Hand.
Sie solle damit auf jeden Fall gerade vor Ort bei ihrem dienstlichen Einsatz
sehr zurückhaltend umgehen. Vor allem, was ihre mutmaßlichen Erwartungen
bezüglich Verfeinerung des Arbeitsklimas in Bezug auf Patienten anbelange. Der
Scherer lachte seinen Worten hinterher – und machte sich mit der Maschine auch
übers schüttere Haupthaar von Tom. Der schien sich darüber zu freuen, grinste
die ganze Zeit genüsslich und fuhr sich am Ende mit der Hand über seine glatte
Schale und lächelte zufrieden.
Henriette
zog mit einer Träne auf der Wange ab. Sie wusste aber nicht, ob sich diese
Gemütsflüssigkeit aus dem Auge wegen Josefs Häme oder aus Rührung über den
jetzt Entmummten und zum wirklichen Patienten Mutierten gelöst hatte.
Toms Behandlung nahm sodann ihren Lauf. Eingeleitet
wurde das mit der Ausstattung mit sowohl (kordelloser!) bequemer wie auch
zeitloser Anstaltskleidung. Danach folgte die Einweisung in eine Abteilung
(Haus Johann Baptist Ertl – eines verdienten Anstaltsgeistlichen, wie auf einem
Schild neben der Pforte vermerkt war), also in Wohn- und selbstredend
Liegestatt.
Da über den Fortgang der Behandlung zuverlässige,
nicht minder denkwürdige Aufzeichnungen vorhanden sind, sollen diese
nachstehend zu Rate gezogen werden.
Demnach also aus dem Krankenbericht der
Heilanstalt:
Aktennotiz 1
Der Patient wurde der Beschäftigungstherapie
'Keramik' zugewiesen. Seit etwa zwei Wochen, so die Stellungnahme der
Abteilung, wühlt und knetet P. zwar mit schon lüstern zu nennendem
Gesichtsausdruck an der ihm vorgelegten Lehmmasse herum (Formulierung des
Betreuungspersonals). Bei welchem Mienenspiel zunächst nicht ausgeschlossen
werden soll, dass dieses ein gewisses Maß an Wohlbefinden verrät. Aus diesem
Grund (nämlich des vermuteten Wohlbefindens) wurde seine Aktion lediglich
beobachtet und auf einen leitenden Eingriff verzichtet. P. zeigte sich jedoch
gänzlich außerstande, dem ihm gegebenen Auftrag auch nur im Ansatz
nachzukommen. Dieser hatte gelautet: P. habe die ihm persönlich wichtigsten
Individuen seines sozialen Umfeldes als Tier-Personen darzustellen. Die
Ergebnisse könnten im Grunde nur als unförmige Klumpen interpretiert werden:
vermuteter Kopf (winziges Kügelchen), möglicher Korpus (so etwas wie eine dicke
lange Wurst von ungefähr zweifacher Fingerlänge), davon im hinteren Part (vom
mutmaßlichen Kopf aus gesehen) unten abzweigend, ein nach vorne gerichtetes
dünneres längliches Teil. Diesem Element wurde vom Patienten doch immerhin und
ganz offenbar mehr Aufmerksamkeit und Formintensität, vor allem aber Zeit
gewidmet. (Es steht nach Aussage der Betreuung zu vermuten, dass es sich dabei
nicht etwa um einen tierischen Schwanz, sondern viel eher um ein maskulines
Geschlechtsteil handele).
Aktennotiz 2:
Wiederholt, so auch heute berichtete der
Patient von nächtlichen Besuchen einer von ihm 'Sänger Franz' genannten
männlichen Person fortgeschrittenen Alters, einfacher Wesensart und dem
Anschein nach der sozialen Unterschicht zugehörig. Es sind hierbei ggf. Träume,
evtl. auch Zustände halluzinatorischer Qualität zu diagnostizieren.
Maßnahme:
P. ist dahin zu bringen, seine nächtlichen
Eindrücke ('Begegnungen', nach seiner Darstellung) erzählerisch auszubauen und
nach Möglichkeit zu formen und zu fixieren.
Terminsetzung: Die Ergebnisse sind sofort
nach Fertigstellung sicherzustellen. Es ist jedenfalls zu verhindern, dass
Retusche vorgenommen und damit die Ursprünglichkeit des Materials verfremdet
wird. Die Elaborate sind jeweils anderntags zur Vorlage und Besprechung zu
bringen.
Von der Arbeitstherapie wurde P. bis auf
weiteres freigestellt – was er allerdings mit einigem Bedauern (relativ
verhaltenem, jedenfalls nur schwach aggressivem Trotzen) quittierte. P.
schloss mit der Bemerkung, nun dieses Formen am eigenen Körper vornehmen zu
wollen.
Die Pflege erhält hiermit den Auftrag,
diesem Patienten im Hinblick auf besagte Ankündigung besonderes Augenmerk zu
widmen und zu gegebener Zeit Vorkommnisse und Auffälligkeiten schriftlich zu
dokumentieren.
Fortsetzung und erste Aufarbeitung der
Darstellung des P.:
P. erschien pünktlich nach T-Vorgabe mit
seiner ersten, ihm unmittelbar zuvor wieder ausgehändigten Arbeit: Er berichtet
darin über die o. a. maskuline Person Sänger Franz und deren Schilderung von
einem Schmieden von Nägeln. Als Geselle sei dieser Sänger Franz in den zwanziger
Jahren der Handwerksordnung gemäß gewandert. Übers Land sei er gezogen und von
Ort zu Ort, bis eine geeignete, das hieß ordentliche und Lohn versprechende
Werkstatt gefunden war. In der Regel habe er, Sänger Franz, zur Probe Nägel
schmieden müssen. Dieser Vorgang sei folgendermaßen abgelaufen: Nach
Aushändigung von Werkzeug und Material habe der Meister eine Sanduhr
aufgestellt und damit gemessen, wie ergiebig die Menge der Probeproduktion des
Bewerbers ausgefallen sei.
Auf die therapeutische Frage nach dem
Realitätsgehalt der Darstellung des P., nämlich welchen Zeitumfang die Sanduhr
wohl erfasst habe, erging seitens P. folgende Antwort: Dass Zeit immer erst im
Empfinden des Betrachters entstehe und da er (der Patient) nicht anwesend
gewesen war, könne er nicht Auskunft darüber erteilen, welche Zeit sein
nächtlicher Nägel-schmiedender Gast vor langer Zeit in Anspruch nehmen hatte
müssen. Um jedoch aufs Große und Ganze im richtigen Leben zu kommen und sich
über die Froschperspektive zu erheben, wolle er die Feststellung treffen: Eines
jeden Lebenssanduhr sei unterschiedlich groß und ebenso natürlich und von
jedermann gewusst, sei auch seine Lebenszeit von unterschiedlichem Ausmaß.
Diese simple Weisheit, als welche diese Feststellung doch zu bezeichnen sei,
lasse sich ohne weiteres auch auf diese Sanduhren in Schmieden übertragen.
P. drang mit bohrenden Blicken ins Auge des
hier Unterfertigten, um seine Worte bestätigt zu erhalten. Im Übrigen wäre sein
Gast, nämlicher Sänger Franz, im Augenblick seines Berichtes eben auch nicht
mehr bei diesem Nagelschmieden anwesend gewesen, sondern nur in seiner
Erinnerung. Dieser Rückblickerei sei immer aufs Schärfste zu misstrauen.
Allerdings diese, nämlich die Berichtzeit des Sänger Franz, könne er schon
umschreiben. Nämlich mit dem allseits bekannten Begriffszwilling 'kurz und
bündig'. Wie es eben einer guten handwerklichen Arbeit entspräche, wenn es sich
um eine ehrliche solche handle.
Obwohl P. anschließend von stoßweisen
Lachattacken heimgesucht wurde, fuhr er dazwischen fort zu deklamieren. Das
dabei ausgeworfene verbale Konglomerat konnte Unterfertigter mit einiger Mühe
sinnvoll zusammenfügen. Es hieß da: Viel interessanter und vor allem lustiger,
um nicht zu sagen lustvoller seien die Vortragungen des Sänger Franz gewesen.
Es habe den persönlichen Nachklang betroffen, wenn er an einer Stelle
existenziell vor Anker hatte gehen können. Dass das auch neben so manchem Wirt
auch das eine oder andere Mädchen amüsiert habe. Natürlich hielten diese
Mädchenfreuden nur an, solange Sänger Franz nicht auch seine genetischen Spuren
bei ihnen hinterlassen habe. Was bei den ehemals mangelhaften Vor- und trotz
der teuren Nachsorgemöglichkeiten durchaus auch gelegentlich geschehen sei.
Mit fortdauernder Erregung merkte P. an,
dass da dem Zuhörer doch der Schauer über den Rücken oder die Röte ins Gesicht
laufen bzw. schießen würde, sollte P. in seinem Bericht konkreter werden. Denn
dieser Sänger Franz sei allemal erheblich eingestiegen. Überhaupt sei ihm, dem
P., dieser Sänger Franz von Anfang an als ein äußerst vitaler, um nicht zu
sagen viehischer Naturbursche vorgekommen.
Etwa vier Minuten in äußerlich durch
leichtes körperliches Beben deutlich werdender Binnenerregung, schien P. von
Erinnerungen an diese Begegnung überaus eingenommen.
Wieder zur Ruhe gekommen, schloss P. mit dem
altertümlichen Gruß: Gott segne das ehrbare Handwerk.
P. wurde daraufhin entlassen und der Pflege
übergeben.
Aktennotiz 3:
Heute Nacht habe bei P. dieser Sänger Franz in
einer Kriegsmontur vorgesprochen. Er habe einen Wehrmachtsstahlhelm häuptens
gehabt. Für den er (so P.'s Worte) wohl heutzutage bei einschlägig
orientierten, gerade jungen rechtslastigen Zeitgenossen ein schönes
Taschengeld nach durchgeführter Veräußerung erlösen könnte. P. habe sich
diesen Fetisch aus ihm (wie er fest versicherte) unerfindlichen Gründen
ebenfalls aufs Haupt setzen wollen. Dies obzwar er nach eigenem Bekunden
Pazifist 'bis in die Knochen' sei. Er habe immer wieder nach diesem Furcht
erregenden Stück ausgeholt, allerdings ständig ins Leere gegriffen (weswegen
ihn heute – so P.'s Befürchtung – der Pfleger Josef wieder auslachen werde,
wenn er zum Dienst auftauche, und ihn sicher als einen Luftangler und Nullgreifer
herabwürdigen werde).
Viel mehr bewege P. jedoch, dass diese
Erscheinung Sänger Franz geäußert habe, sich für immer zurückzuziehen. Er habe
das mit den Worten getan, dass sein totaler Weggang an der Zeit sei nach seinem
ausführlichen Auftritt im Diesseits. Er, Sänger Franz, plane, seinen finalen
Abgang sozusagen mit einem mannhaften Paukenschlag zu vollführen. Das sei er
seinem Beruf als Nagelschmied selbst dann noch schuldig, wenn er auch zuletzt
Jahrzehnte in der Fabrik gearbeitet, vielmehr meist sogar geschuftet habe für
die paar Groschen immer. Seinem Abgangswunsch betreffend, erkläre sich die
Kriegsmontur seines letzten nächtlichen Auftritts. Sänger Franz habe überlegt,
ob er es nicht der Gepflogenheit der Zeit gemäß im vorderen Orient veranstalten
sollte. Indem er sich als Bombe unter irgendwelchen Mitmenschen in die Luft
sprenge, um diese dann als Reisegefährten mit ins Jenseits zu nehmen. Niemand
wisse, wie lange – und womöglich langweilig – sich diese Fahrt gestalte. Aber
er habe starke Bedenken, dass man ihn einmal wegen seiner Montur und vor allem
wegen seines fortgeschrittenen Alters dort nicht akzeptieren werde. Da man in
dieser Gegend lieber seine jungen Männer auf diese Reise ins Jenseits schicke.
Denen ja dann im islamistischen Himmel gut siebzig Jungfrauen zustünden.
Sänger Franz soll mit der Bemerkung, was er in seinem Alter mit so vielen und
noch dazu erst in die Geheimnisse der Liebeshandlungen einzuführenden Mädchen
denn anstellen solle, für seine Verhältnisse überraschend verschämt gelacht
haben. Er wolle das mit diesen doch letztlich vermaledeiten Körperlichkeiten ab
jetzt endgültig den Jungen überlassen. Auch habe er ja zwar keine Nachkommen,
jedenfalls soweit er es wisse. Denn wissen könne es bekanntermaßen ein Mann
nie mit Sicherheit, wie es heißt. Eine Benachteiligung gegenüber der Frau, ließ
er sich noch herbei, die es ja nun mal bestimmt merke. Obgleich man da schon
auch einigermaßen unglaubliche Sachen gehört habe, dass es eine erst gemerkt
haben will, dass da was angestanden ist, als ihr der Klapperstorch sein Bündel
schon beigelegt hatte.
P.
fügt an dieser Stelle ein, dass die Nächte mit dem Besuch von Sänger Franz stets
sehr kurzweilig gewesen seien, da dieser mit seinen Aufschlüssen immer so ins
Volle gegriffen habe. Dass er, P., es äußerst bedauerlich finde, dass sich
Sänger Franz nun abgemeldet habe.
Darauf fährt P. jedenfalls in Darstellungen von
Sänger Franz fort und berichtet von dessen ergänzender Mitteilung, dass sich
bei ihm ein Neffe gemeldet habe, der auf Sänger Franz' Nachlass, insbesondere
das Häuschen verwandtschaftlichen Zugriff im Ablebensfall seines Onkels geltend
zu machen gedacht habe. Was ihm, Sänger Franz, keinerlei Probleme bereite, ja
vorerst sogar außerordentlich wurscht sei. Doch er habe sich über diesen Neffen
als menschliches, respektive verwandtschaftliches Exemplar, das da wie aus dem
Nichts aufgetaucht sei, doch zunächst einigermaßen erheitert. Es handle sich um
einen quasi geistigen Nachkommen genau der Leute, die immer über ihm als dem
Malocher Sänger Franz waren. Diese fetten Vögel waren allerdings so weit oben,
dass er, Sänger Franz, ihnen selbstredend nie direkt begegnen hätte können.
Deren Existenz auf Fernansicht ihrer selbst (sie hatten sich nämlich selber so
gut wie aus dem Auge verloren), hingegen auf Nahwirkung ihrer Veranlassungen
für ihre unterdrückten und ausgebeuteten Kreaturen ausgerichtet war. Solche leider
menschenähnlichen Gebilde mit dem glatten Gesicht über der Krawatte, aus dem
diese gierigen, fresssüchtigen, schon immer vorweg alles verschlingenden Augen
brannten. Kreaturen, die auf allem, was unter ihnen war, herumtrampelten – ohne
ihnen, den armen Schweinen unten, im Eigentlichen wehtun zu wollen (was man ja
auch wieder feststellen müsse, was letztlich auch wieder irgendwie zu ihren
Gunsten spreche und schließlich tatsächlich in ein Quäntchen Mitleid einfließe.
Nämlich dafür, dass man ihnen mit all der gegenwärtigen Kritik in der Regel
doch auch ein bisschen Unrecht tue). Schlicht und ergreifend seien sie, nämlich
die eben erwähnten armen Schweine, lediglich in Ermangelung anderer als der
menschlichen Gerätschaft zum Aufstieg dieser Figuren erforderlich gewesen.
Ach, habe Sänger nach einer kurzen Pause am
Ende geseufzt, so etwas habe man selber sozusagen auch mit hervorgebracht und
es sei aus seinem verdammten proletarischen Fleisch und Blut, wenn auch um ein
paar Ecken herum.
Ach,
echote nach dieser Wiedergabe nun P. und fuhr fort: Sänger Franz habe sich
offenbar hoch befriedigt davongemacht, bedauerlicherweise für immer. (P. habe
er allerdings zunächst mit der Verwunderung über seine, Sänger Franz', überaus
und überraschend wuchtigen Sätze zurückgelassen. Nämlicher pflegte sich
ansonsten in einer Kürze auszudrücken, die ihm häufig sogar die Vollendung
seiner syntaktischen Gebilde verwehrt habe.
Sänger
Franz' Charakterisierung der – wie er sie nannte – fetten Vögel, habe P. an
einen Schulkameraden, einen gewissen Mentenheim, erinnert. Sänger Franz habe
ihm die Augen dafür geöffnet, dass besagter Mentenheim ja in dieses Raster der
schon auch irgendwie Mitleid erweckenden Amoraliker passe.)
Vermerk:
Es ist durchaus angezeigt, dass P. mit der Vakanz
eines zwar für ihn kurzweiligen, doch immerhin therapeutisch störenden Elements
in den Genuss eines Heilungsfortschritts gelangt. Möglicherweise hat sich
damit das Personeninventar seines halluzinatorischen Vorrats tatsächlich
verringert, wenn nicht gar erschöpft.
Aktennotiz 4:
Heutigen
nachts sei P. eine Frau Hedwig erschienen, eine Heilige, wie er behauptet. P.
holt in seiner Aufzeichnung etwas historisch aus. Dass es sich für ihn zunächst
um jene mittelalterliche Edelfrau aus Andechs am Ammersee handle (wie er
schelmisch anmerkt: Eine Dame, die lange vor der Einrichtung der Bierwallfahrt
durch die Mönche dort oben gelebt hatte), welche mit dem schlesisch-polnischen
Piasten-Herzog Heinrich verheiratet worden war.
Diese Chimäre (ärztl. Anm. – sit venia verbo)
habe P. zu verstehen gegeben, dass sie jetzt pflegerisch besonders
Notleidenden gegenüber tätig sei. Dies geschehe mittels ihres überirdischen
Status’, dem sie sich verständlicherweise nicht entziehen könne und wolle, –
sehr ätherisch. Und zwar nach ihrer Promotion medizinisch im weitesten Sinne.
Diese heilige Frau Doktor Hedwig trug P. die Geschichte von einem ganz
bestimmten, ihm (P.) gut bekannten, Mentenheim genannten, Erfolgsmenschen vor.
Nämlich einem, wie er in historisch-religiös-moralisierender und was sonst noch
Literatur gelegentlich auf-, aber doch leider selten ganz ausgeführt ist. Diese
heilige Frau Kollegin (Anm. des Behandelnden) habe aufgezeigt, wie dieser
gewesene Erfolgsmensch nun verelendet existiere. Wie nämlich er ehedem
gewissermaßen gerade von seinen Erfolgen aufgeputscht und dessen Kräfte von
seiner unersättlichen Raffgier verschlungen wurden. Wie dieser Mensch dann von
seiner Habsucht aufgefressen, zumindest stark angenagt worden war.
P. habe bei dieser Darlegung der Heiligen an
den Magen als sozusagen Fresssack gedacht. Welcher erfahrungsgemäß tatsächlich
im Stande ist, sich auch selber anzudauen. P. habe, davon ausgehend, tatsächlich
sofort an einen ehemaligen Mitschüler, einen gewissen Karl Mentenheim, denken
müssen, dem er gegen Ende seiner Außenzeit (nach seinen Worten zitiert) äußerst
kritisch gegenüberstand. Besagter sei ihm (P.) die ganzen Jahre Sonne gewesen,
in deren Schatten sich P. aufgehalten habe. Schließlich sei ihm (P.) jedoch
aufgegangen, dass dieser Mentenheim ein Ausbund an Ichbezogenheit war, für den
die Anderen nur allemal als Sprossen seiner Karriereleiter gedient hätten.
Diesem M. sei er jetzt jedoch im Begriff,
nichts mehr nachzutragen. Obgleich er diesem M. (setzt P. erneut an) ja in
dessen Fresslust zum Opfer gefallen und beinahe ganz verschlungen worden wäre.
Wenn P. sich dem nicht durch Tarnung seines Inneren (sic!) im letzten Moment
entzogen hätte. Für genannte Bewegung zu einer Art Fern-Versöhnung sei
allerdings doch letztlich die zwar indirekte, doch immerhin begnadete
Vermittlung o. g. Frau Doktor Hedwig ausschlaggebend gewesen.
P. gibt schließlich vor, allmählich, vor
allem bei näherem Hinsehen in deren Physiognomie – und nach etlichen verbalen
Passagen, nebst ihrer Art, sich auszudrücken, eine gute alte Bekannte
ausgemacht haben zu wollen. Eine gewisse Elsbeth stecke in dieser Verwandlung,
erklärt er erregt atmend, um sich schließlich tief seufzend zu befreien. Eine
Dame, mit der er eine Zeit lang (doch nur der alten Redeweise nach und nicht
wirklich, jedenfalls nicht fortwährend) Tisch und Bett geteilt zu haben wähnt.
Er holt aus: Eine Person anderen Geschlechts zwar, die in seiner Nähe sich
aufgehalten, aber doch in ihrer Abgehobenheit seine, des P., irdische
Lebensgewohnheiten beharrlich überflog. Bis sie eines Tages ganz entschwebt
gewesen sei. Er sei auch mit der Annahme des Namens Hedwig, derer sie sich
offenkundig befleißigte, absolut einverstanden. Da dies wohl dem Heiligwerden
dienlich sei, wie alle Welt es vom Heiligen Vater in Rom erfahren konnte, der (wie
stets seine Vorgänger) auch seinen Namen wechselte. P. wäre nun über die
Verwirklichung Elisabeths vorbestimmter Engelhaftigkeit hoch befriedigt. Er
gönne ihr das Hedwigsein von Herzen, beendet seinen Vortrag und geht schweigend
offenbar seinen Schemen gedanklich weiter nach.
Vermerk:
Wenn sich der hier Beurteilende auch des
Eindrucks einer Beruhigung des Patienten dank der ihm verordneten
therapeutischen verbalen Aufarbeitung nicht verschließen kann, so sei doch
ungeachtet dessen auf eine Mutmaßung in vorliegendem Fall hingewiesen: Der
Patient befleißigt sich zumindest phasenweise einer gewissen, graduell noch
nicht ganz festzulegenden Simulation. Die Anführung von P., er habe sich einer
Tarnung seines Inneren bedient, mag als ein deutlicher, durchaus ernst zu
nehmender Hinweis darauf gewertet werden.
Aktennotiz 5:
Der Patient Pinser bittet heute um einen
erneuten Totalhaarschnitt, nebst -rasur, und zwar (ganz nach seinen Worten)
auch an den gewöhnlich nicht öffentlich gemachten Stellen des Körpers. Seine
Worte folgend im Zitat: Über nämliche Leiblichkeit, der heutzutage häufig vernachlässigten
Nichtöffentlichkeit der Körperteile, über welche die Höflichkeit zwar immer
noch ihr überaus verschlissenes Gewand des Schweigens zu breiten versuche, wolle
er sich gelegentlich moralisch auslassen.
Herr Pinser begründet seinen Antrag
folgendermaßen: Mit zunehmender Haarlänge falle er in letzter Zeit immer
häufiger in eine Art Messiasrolle. Insbesondere, wenn er sich im Nachthemd aus
Gründen nicht weiter zu unterdrückenden Harndrangs zum Urinieren begeben genötigt
sehe. Wie weit das lange, hinten offene und irgendwie beflügelt wirkende
Kleidungsstück dabei eine fördernde Rolle einnehme, das möge vorerst
dahingestellt sein. Denn es solle der Anstalt keinesfalls unterstellt werden,
dass sie sich ihre Engel mit derlei simplen Maßnahmen selber zu schaffen in der
Lage sei. Dieses o. a. Messiasgefühl aber überkomme ihn ganz besonders dann,
wenn er sich im Anstaltsandachtsraum des Tags oder zu späterer Stunde
aufgehalten hatte und (Zitat) zu einem guten Gespräch mit Allelter (zu welcher
Bezeichnung später abzuhandeln sein würde) gefunden hatte.
Das Besondere an seinem Messiasgefühl sei,
dass er sich dessen während seines Theaters (wie er es ruhig, doch voll Respekt
nennen wolle) nie selber bewusst ist. Er sei erst vom Pfleger Josef darauf
hingewiesen worden. Er nehme es jedoch diesem ohne weiteres ab (sein unanständiges
Grinsen dabei großzügig ignorierend). Herr Pinser fühle sich dann so wohl, ja
überaus und geradezu selig. Herr Pinser sei sogar in Versuchung, darin
fortzufahren, sich ganz da hineinfallen zu lassen, weil er zu wissen glaube,
dass er in diesem Falle gar nicht bodenlos stürzen könne, sondern sogar mit
Netz und doppeltem Boden bei diesem Fall ganz überirdisch gesichert wäre.
Hingegen fühle er sich all dessen als – dem alten Ausdruck nach – Erdenwurm gar
so unwürdig.
Vermerk:
Herr Pinser erörterte noch, nachdem die
Vorlage seiner schriftlichen Ausführungen zur Kenntnis genommen war (zwar
unaufgefordert, aber immerhin), sein o. a. Allelter-Konzept. Er erklärte, dass
die gängige, religionsfundierte, von der Kunst umgesetzte christliche
Gottvorstellung bei ihm nicht nur auf Skepsis stoße, sondern auf grundlegende
und ganz entschiedene Ablehnung. Herr Pinser führte aus, dass die unsägliche
(Zitat) Darbietung: Vater, Sohn und Geist (in der Kunst, besonders des Barock,
entsprechend infantil ausgeführt) für die postulierte Dreieinigkeit eine
Zumutung verkörpere. Er beurteilt dieses unsäglich platte (Zitat) Unterfangen
sogar als gotteslästerlich und im Besonderen gegen das abrahamitische
Grundgebot verstoßend, sich nämlich kein Bild machen zu sollen. Für den
heutigen, nicht mehr magisch und mystisch orientierten Menschen selbst sei
diese oben gerügte Vorstellung unverständlich, um nicht auch zu sagen: eine
Zumutung.
Wolle man einer Vorstellung einer All-Person
mit menschlichen Mitteln nahe kommen, was ohnedies wegen der Beschränktheit der
irdischen Geistigkeit eine Anmaßung sondergleichen verkörpere, so müsse man an
etwas so Gewaltiges wie eine Allursprünglichkeit, Allgegenwärtigkeit,
Allmöglichkeit denken und diese darüber hinaus, an etwas wie Elternschaft
koppeln können, um die menschlichen Bedürfnisse nach Ursprung zu befriedigen.
Daher sei seine Konstruktion dieses Allelter, das ohne Artikel zu gebrauchen
sei und damit die unglaubliche Frage nach der Geschlechtlichkeit auch erst gar
nicht aufkommen lasse.
... (Eine weitere
Akteneinsicht war dann leider nicht mehr möglich.)
So weit also die anstaltlichen Notizen über
die mutmaßlich morbide Phase des Hugo Pinser, alias Tom. Es ist zu vermuten,
dass weitere Aufzeichnungen existieren, in welchen verschiedene weitere Vorgänge,
nämlich die etwas heftig aus der Normalität laufenden Gegebenheiten
festgehalten sein mögen. Diese werden dann wohl in der gewiss zwar auf
Ungewöhnlichkeiten eingestellten Einrichtung dennoch unter Verschluss gehalten
werden. Da taucht vermutlich das absonderliche Verhalten des ärztlichen Kollegen
auf. Das in der Belegschaft zwar belächelt und nur gelegentlich mit der
Vermutung belegt wurde, dass auch in solchen Einrichtungen eine
Ansteckungsgefahr gegeben ist – und sich jeder in Acht nehmen müsse. In der
Führungsetage betrachteten sie die Vorgänge allerdings als Peinlichkeit, bei
der allerdings der Ball flach gehalten werden sollte, damit bald Gras darüber
wachse. Doch gelegentlich darauf angesprochen, war auch zu hören – vielleicht
mit einem Lächeln unterlegt –, Dr. Sommer habe nur die Fakultät gewechselt,
nämlich von der Medizin zu einer Art reformatorischer Theologie.
Zu erfahren war immerhin, dass dieser behandelnde
Arzt, Dr. med. Alfons Sonner, nach der letzten Sitzung mit besagtem Patienten
(den er im Übrigen nicht mehr so betitelte, sondern respektvoll mit vollem
Namen benannte) zunächst mehrere unruhige Nächte zu durchleben, eher zu
durchwachen hatte. Worauf er sich als nervlich aufgerieben und körperlich
erschöpft als dienstunfähig meldete.
Um den weiteren Weg der beiden Männer
einigermaßen verfolgen zu können, muss man sich leider der Gerüchte darum
annehmen. Und zwar zunächst der wahrscheinlichsten, nämlich dass Dr. med.
Sonner Herrn Hugo Pinser gesundgeschrieben, freilich entlassen und zum
Erstaunen aller persönlich seinen Hut genommen habe.
Zu diesem Vorgang – so wird behauptet – sei
die Entwicklung von Herrn Pinsers Allelter-Folgerung auf Dr. Sonner von
überwältigender Wirkung gewesen. Er habe sie quasi übernommen. Und nicht genug
damit. Er versuchte sogar, sie in seinem Umfeld wiederholt zu erwähnen. Für den
entscheidenden Schritt war dann ausschlaggebend, was Dr. Sonner im
Kollegenkreis vortrug. Dass nämlich Herr Pinser ihm gegenüber mit einer sehr
klaren und dem geistigen Verwirrtsein nicht zuzuordnenden Folgerung aufgewartet
und ihn damit zunächst an klassische Beweisführung erinnert und darauf in
Erstaunen versetzt habe. Diese Äußerung Pinsers habe gelautet:
Obersatz: Christus
sprach mit dem alleinzigen Gott.
Untersatz: Christus ist
Gott.
Schlusssatz: Also
sprach Christus mit sich selber.
Und im Übrigen brauche jemand, der Göttliches
suche, damit ohnehin erst mit der Ursache alles Seins vor dem Urknall beginnen.
Habe Herr Pinser ausgeholt. Denn bis zu diesem Ereignis vor etwa vierzehn
Milliarden Jahren sei man wissenschaftlich vorgedrungen und wisse ziemlich viel.
Zu glauben habe einer also lediglich, dass die Forscher recht haben.
Dr. Sonner hatte diese Darlegung des Herrn Hugo
Pinser leider nicht mehr protokolliert, so also hier die freie Übernahme der Mitteilung
'aus zweiter Hand'. Es steht zu vermuten, dass Dr. Sonner Herrn Hugo Pinser
umgehend nach Absetzen der zitierten Beweisführung für gesund beurteilt hatte
und dass er deswegen Herrn Hugo Pinsers Ausführungen keinen Platz mehr in der
Krankenakte einräumen wollte.
Wie man das nun auch immer würdigen mag, was
einem da zu Ohren gekommen ist, ob man es überhaupt aufzunehmen bereit und gar
zu beurteilen geneigt ist: Die beiden sollen seither im Lande umherziehen und
als eine Art Wanderprediger auftreten. Ordentlich gekleidet seien sie, etwa in
der Mode (wenn überhaupt), jedenfalls dunkel gehalten. Sie erzeugten, obendrein
als Duo, gewissermaßen den Eindruck wie jene umherziehenden Evangelisten, die
weidlich als Besucher an der Haustür und als überaus gesprächsfreudig bekannt
sind.
Unsere beiden Freunde hätten sich allerdings
auf Pfarrhäuser spezialisiert gehabt.
Ob und (wenn überhaupt) in welchem Maße sie
dort immer auf Aufnahme- und Gesprächsbereitschaft trafen, konnte vorerst
leider nicht in Erfahrung gebracht werden.
Obwohl
die beiden Verkünder sehr dezent auftraten und so gut wie keine Spuren
hinterließen, war doch vor einiger Zeit in der örtlichen Presse ein Leserbrief
auszumachen. Dieser war wohl in Replik der Maßregelung eines katholischen
Priesters, der es gewagt hatte, mit einem protestantischen Geistlichen
sozusagen sakral zu Tische zu gehen. Der Redakteur hatte dieses Schreiben aus
zwei Gründen angenommen, vermuteten Insider. Einmal kannte er Dr. Sonner (nicht
etwa als Patient, sei hier versichert), zum anderen war von ihm, dem
Zeitungsmann, selber weidlich bekannt, dass er gerade in ambrosischen Dingen
gerne mal wider den Stachel löcke.
Ökumene – und so weiter?
Welch eine Unstimmigkeit: Das ist (mein Leib). kontra (z. B. bei
den Zwinglianern) das sei (...) – Geht es lediglich um Wirklichkeitsform gegen
Möglichkeitsform?
Es handelt sich dagegen nicht nur um ein grammatikalisches Problem.
Die Auseinandersetzung zielt auf nichts weniger als auf die Kernaussage der christlichen
Eucharistie (deren ursprüngliche Bedeutung 'Danksagung' die Erweiterung 'Leib
des Herrn' erfahren hatte).
So etwas Gewaltiges und gleichermaßen Unbegreifliches wie die Ver-Wandlung,
mit Fachbegriff Transsubstantiation, des Brotes in den Leib des Gottessohnes steht
zur Erörterung.
Hierbei ist es überflüssig anzumerken, dass die menschliche
Wahrnehmung ganz und gar außer Stande ist, eine 'Metamorphose' des Brotes in
den Leib Christi zu erfassen. Ja, die Erwartung, dass in der Kommunion der
'Leib Christi' sinnlich ergreifbar gereicht würde, erscheint nachgerade
unsinnig.
Den Anhängern der Lehre aber, dass die gottesdienstliche Wandlung eine
Wirklichkeit schaffender Vorgang sei, erscheint Luthers Vorstellung
unannehmbar, es handele sich um einen symbolischen Akt, auch wenn Luther
zugesteht, dass Christus stets in allem gegenwärtig sei.
Den katholischen Anti-Symbolisten ist es (ebenso) unmöglich, auf
Rationalität abzustellen. Sie kommen gewiss nicht umhin, eine Art innere
Wirklichkeit zu bemühen.
Es liegt bestimmt im Wesen von Religion schlechthin, dass die
Vertreter der einen wie der anderen Richtung gehalten sind, den zitierten
rationalen Bereich der Wahrnehmung zu überschreiten, um zum Glauben zu
gelangen. Im emotionalen Bereich des Glaubens jedoch fallen die Gegensätze
zusammen. Ja, sie heben sich auf. Gleichgültig also, wie formuliert wird, beide
Richtungen finden sich im Glauben (so man denn dazu fähig ist) an die
Gegenwärtigkeit von Christus wieder – und vor allem finden sie dort zusammen.
Ist demzufolge unter Gläubigen die wahre Ökumene nicht bereits
gestiftet? Auch die erwähnten Anti-Symbolisten sind dort längst angekommen,
ohne es sich allerdings einzugestehen: Die Wandlung findet ausschließlich im
Glauben statt, und sie ist ein Akt der Seele.
(Vermerk 1 bezüglich des Glaubens: Man muss nicht glauben können,
sondern man muss 'nur' glauben wollen, um gerechtfertigt zu sein.)
Dass dies auch von den römischen Fundamentalisten so oder so
ähnlich gesehen wird, ist anzunehmen. So steht zu vermuten, dass es Rom um eine
andere Qualität geht, sozusagen um eine Begleitgröße des Dissenses. Auf
katholischer Seite wird der Verlust der Exklusivität des Sakramentempfangs in
der Ökumene befürchtet. Es wird unterstellt, dass das Kommunizieren in eine
Beliebigkeit 'abgleitet' und der voranzusetzende 'Reinigungsakt' in Beichte und
Buße nicht mehr (ausreichend) gepflegt wird. Ein führender Katholik wurde
immerhin mit der zynischen Bemerkung 'Brötchen essen' als Bezeichnung für das
evangelische Abendmahl zitiert.
(Vermerk 2 und zur wohl wichtigsten Aufgabe von Kirche: Sie hat die
Atmosphäre zu schaffen, in welcher der Glaube beim Einzelnen entstehen kann.)
Dr. A. Sonner, z. Zt. verreist
Der Redakteur galt, nachdem der Text wie
üblich 'außer Verantwortung der Redaktion' erschienen war, als seinerseits 'z.
Zt. verreist', wegen Urlaubs, wie es hieß. Etliche Antwortschreiben liefen bei
der Zeitung ein. Darunter befanden sich richtige Abhandlungen. Es ging immerhin
um die Seele und in der Anschauung von entsprechend engagierten Zeitgenossen um
deren Heil, also um Belange der Ewigkeit, einer Zeit-, also Endlosigkeit, wie
man annimmt. Das ist gerade in der Provinz, wo die Menschen offenbar mehr Zeit
haben, also sich der Ewigkeit vielleicht näher fühlen, von großer Bedeutung,
wussten sie in der Lokalredaktion. Neben den Briefen ging so manche
telefonische Anfrage ein, vornehmlich von Leuten, die sich dem Anschein nach
nicht unbedingt abgedruckt und damit öffentlich festgelegt wissen wollten.
Jemand wollte etwa wissen, ob das Heimatblatt nun doch endgültig zur
Kirchenzeitung mutiert sei. Einen anderen Fernmündlichen interessierte, wie das
Lokalblatt dazu komme, sich in so einen großkirchlichen Nicht-Dialog
einzumischen, in das sanktionierte Schweigen der beiden gerne auch so genannten
Bräute Christi nämlich, wo sich in dieser Sache bereits Luther und Zwingli
nicht einigen konnten.
Dass mystische Erhabenheiten einfach keine
Aufklärung duldeten und dass das jeder mit einem Funken Bildung wissen müsse,
meinte eine Anruferin zwar entrüstet, aber doch wenigstens kurz und bündig.
Nämlicher Zusatz des Verreistseins beim
Verfasser eines Leserbriefes gelte selbstverständlich als ganz und gar unüblich,
schimpfte noch einer telefonisch, da so eine Floskel nichts anderes bedeute,
als in Ruhe gelassen werden zu wollen. Das solle sich eine Tageszeitung gefälligst
aus existenziellen Gründen versagen. Er spiele jedenfalls mit dem Gedanken,
sein Abo zu kündigen.
Da die Welt ständig neue Erstaunlichkeiten
hervorbringt, wurde der Angelegenheit bald keine Aufmerksamkeit gewidmet.
Die Herren Sonner und Pinser betreffend,
konnte nach einiger Zeit doch auch noch in Erfahrung gebracht werden, dass die
beiden des Klinkenputzens, wie ja der unschöne Ausdruck für Hausbesuche lautet,
bald leid waren. Auch sei ihnen eines ziemlich bedränglich auf die Seele
gegangen. Nämlich die Erkenntnis, gerade an den Häusern der geweihten Herren
abgewiesen zu werden. So kamen sie auf die Idee, sich diese Türen dadurch zu
öffnen, indem sie sich jeweils zum Beichtgespräch anmeldeten. Dort werden sie
dann möglicherweise wenigstens versucht haben, ihr aufklärerisches Anliegen um
die Speisenwandlung mittels Glaubenskraft und die anderen Erleuchtungen zu
diskutieren oder einfach nur vorzutragen. Etwas Genaueres über Inhalt und
Verlauf dieser Aktionen im Beicht-Raum war natürlich aus den allseits –
zumindest aber in den konfessionell konformen und daher eingeweihten Kreisen –
bekannten Gründen nie zu erfahren. Diese Methode habe sich jedenfalls einige
Zeit bewährt, da die geweihten Herren, mit denen sie in diesen Diskurs traten,
an das Beichtgeheimnis gebunden (wie vorhin angedeutet), nichts verlautbaren
lassen durften.
Ganz erfolglos dürften diese Gespräche für
unsere beiden nicht gewesen sein. Das zumindest in eigener Einschätzung, da
sie eine ganze Weile fortgesetzt worden waren. Doch sind auch etliche Beobachter
damit zu vernehmen gewesen, dass sowohl Dr. Sonner wie auch sein Partner Hugo
Pinser, alias Tom, die sozusagen heiligen Hallen stets mit einem sehr
zufriedenen Gesichtsausdruck verlassen haben sollen.