Darlegung
1. Mündlich Überliefertes von gesellschaftlicher/religiöser Bedeutung, das sich über Zeiten hinweg gebildet hatte, wird von als kompetent anerkannten Gremien selektiert, kanonisiert (zur Richtschnur und Regel aufgestellt) und daraufhin als verbindlich erklärt. Dadurch wird zunächst der bildende und formende Gedankenfluss zumindest eingeschränkt – was im Grunde immer das Ziel einer Fixierung ist. Die in der Entstehungszeit gebräuchlichen, vom zeitbedingten Auffassungsvermögen geprägten Denkfiguren, wie beispielsweise mythisch Umschriebenes, werden dadurch allerdings festgeschrieben und weitergetragen.
2. Es ist für viele Gläubige sicher schwierig, den Willen des Schöpfers aus dem paradiesischen Idyll der Genesis herauszulesen und dann in die Energieballung der Anfangssingularität vor dem Urknall zu übertragen und schließlich diesen Prozess mit 13,8 Milliarden Jahren zu beziffern. Ebenso dürfte es vielen Gläubigen Probleme bereiten, den Sündenfall nebst dem Verlust des Paradieses der fortgeschrittenen Evolution und der damit verbundenen Ausweitung des Intellekts, folglich dem Entstehen des Verantwortungsbewusstseins und der Erkenntnismöglichkeit – »Baum der Erkenntnis« – zuzuschreiben.
2.1 Die Thora der Juden, die fünf Bücher Moses, der erste Teil des Alten Testaments, wurde ab ungefähr 440 v. Chr. aus den mündlichen und teils bereits schriftlichen Überlieferungen zusammengefasst; sie ist ab 250 v. Chr. ins Griechische übersetzt worden und als Pentateuch erschienen.
Die Qumran-Forschung setzt die Niederschriften der Texte der altisraelischen religiösen Gruppe der Essener (die auf Alt-Hebräisch, Aramäisch und Griechisch verfasst sind) in einen Zeitraum von etwa 150 v. Chr. bis über Mitte des 1. Jhd. n. Chr. (Niederschlagung des jüdischen Aufstandes durch die Römer). Sie zeigt auf, dass die Inhalte noch nicht bis ins Detail festgeschrieben waren – was das gesamte religiöse Schriftwerk des Judentums, besonders was die Auslegungen im Talmud über das Mittelalter hinaus, betrifft und zu Hunderten Ge- und Verboten (genau beziffert sind es 613) führte, und zwar die jüdische Lebensgestaltung betreffend.
2.2 Die Evangelien als Kern des Neuen Testaments sind Erinnerungswerke der Zusammenfassung der Beobachtungen des Lebens von Jesus – der sich selbst nie schriftlich geäußert hatte. Die Festschreibung begann ab etwa der Hälfte des 1. Jhd. und ist unter den Namen von Matthäus (einem Jünger), Markus (Begleiter von Petrus), Lukas (Begleiter von Paulus) und Johannes (einem Jünger) erschienen. Nach neuerer Erkenntnis stammen die Evangelien jeweils von verschiedenen Verfassern (»Mehrheitsmeinung«, wird also in der Bibelforschung vorherrschend vertreten).
2.3 Die fixierten und zu jenseitigen Offenbarungen erhobenen Gedankengebilde (»Wort Gottes«) wurden immer wieder bearbeitet und ergänzt. Im Gegensatz zu den sogenannten Evangelikalen könnte der gegenwartsbewusste Gläubige gewärtigen, dass das überkommene Wort Gottes nicht Gottes letztes Wort ist: Denn der Schöpfungsverlauf von Werden, Wandel und Vergehen, der sich in Evolution, Mutation, Expansion des Orbits etc. zeigt, währt kosmoslang. Die Umgestaltung und Ergänzung der Texte erfolgte bereits bei der Übertragung in andere Sprachen und dem steten Sprachwandel. »Wörter des Originals haben in Übersetzungen oft unzulängliche Entsprechungen.« (Alfred Läpple, Hrsg., »Die Schriftrollen von Qumran«, Augsburg 1997, S. 61; Läpple war Theologe)
Im christlichen Vaterunser lag die Bedeutung des Wortes »Versuchung« in früherer Zeit bei »Prüfung«, heute wird das Wort jedoch als »Verführung« verstanden – was im Französischen und Italienischen geändert, im Deutschen beim überholten Ausdruck belassen wurde (Stand 2020). Ein anderes Beispiel belegt das Erfordernis der biblischen Ausdrucksforschung: Im Vergleich der »Lehre von Jesus vs. Hausarbeiten« im Lukas-Evangelium »Jesus bei Martha« wurde in der Übersetzung von 1966 »gut«, 2016 »besser«, 2019 wieder »gut« angewendet – was nicht nur für die ohnedies stets bei Übersetzungen umstrittene sprachliche Korrektheit, sondern auch inhaltlich, nämlich für den beurteilenden Vergleich von Lehre und Alltagsarbeit von Bedeutung ist. (Im Übrigen könnte bei der Bewertung des Stellenwertes der Arbeit im Leben der Menschen davon ausgegangen werden, dass ein gewissenhaftes Tun meist auch auf ein Lernen und im Grunde auf ein Beten ausgerichtet sein kann – was immerhin in der benediktinischen Formel »beten und arbeiten« (»ora et labora«) als Einheit zum Ausdruck kommt.)
1.3.1 Vor allem wirkten Gewichtungen und damit auch mitunter bedeutende Modifikationen durch interpretatorische Aktivitäten (beispielsweise mittels Lehrschreiben und Dogmen des Vatikans).
Ein bekanntes Beispiel des Sinnwandels durch Auslegung ist die Bezeichnung Mariens im Neuen Testament, die dort als »junge Frau« dargestellt ist: Wohl in Andacht und Verehrung erwuchs daraus »Jungfrau«, was von den Dogmatikern mit dem Prädikat »immerwährend« versehen, zu »Semper Virgine« und zum verbindlichen Glaubenssatz erhoben wurde.
Es könnte allerdings darüber nachgedacht werden , ob die Marienverehrung der Alltags-Christen Schaden nähme durch eine menschlich biologische, also der Natur entsprechende Betrachtungsweise: Denn Gott schenkte sich der Natur seiner Schöpfung entsprechend durch die junge Frau Maria den Menschen als Mensch Jesus Christus.
1.3.2 Peter Abaelard (12. Jhd.) wies in »Sic et Non« auf widersprüchliche Sätze in der Bibel und den Schriften der Kirchenlehrer hin und vertrat die Ansicht, dass eine unkritische Übernahme der Texte falsch sei. (Peter Kunzmann & Franz-Peter Burkard, »Philosophie«, München 2011, S.75)
Im Prozess
der Selbstfindung und bei der erforderlichen Gesinnungsausrichtung sind die
Traditionen Orientierungspunkte. Sie sind einerseits Fundament und dienen
darüber hinaus bereits als Startpunkte für den Aufbruch zur Gestaltung der
eigenen Lebensplanung. Entscheidend ist dabei der Grad der Bindung an das durch
diese Traditionen Vorgeformte. Allerdings spielen auch Elemente der
persönlichen Prägung durch das soziale Umfeld eine Rolle.
2. Das Bemühen, sich ein gelingendes Leben zu gestalten, ist seit je ein menschliches Grundanliegen. Platon erfasst es in seiner Definition von Eros: Das Streben, in die Lage des wahren Seins in der Idee des Schönen und Guten (Kalokagathie) zu gelangen. Das ist bei ihm die Liebe zur Weisheit und zur Zeugungskraft, und zwar sowohl der geistigen wie auch der körperlichen.
2.1 Sokrates (4. Jhd. v. Chr.) spricht von Areté (Tüchtigkeit) der Seele, die zum Guten führe.
2.2 Aristoteles (3. Jhd. v. Chr.) erblickt die Wahrheit im Verhältnis zu den Sachverhalten.
2.2.1 Von Bedeutung ist jedoch die Qualität der Sachverhalte. Aristoteles setzt auf die ethischen Tugenden, die in der bestehenden Ordnung der Gesellschaft zu finden seien.
2.2.1.1 Stets stellt sich die Frage nach der Norm. Den Verhaltensbereich betreffend, besagen Peter R. Hofstätters Überlegungen zur Normalitätsbildung: »Die statistische Norm identifiziert Normalität und Häufigkeit [...] Die ideale Norm definiert einen Zustand der Vollkommenheit [...] Die funktionale Norm [...] definiert als normal den einem Einzelwesen hinsichtlich seiner Zielsetzung [...] gemäßen Zustand«. (Peter R. Hofstätter, »Psychologie«, Frankfurt 1957, S. 219)
2.2.1.2 In seiner Gebrauchsethik, der »Man-heit«, der »Durchschnittlich- und Alltäglichkeit« (Martin Heidegger, »Der Begriff der Zeit«, Tübingen 1989, S. 13 f.) wird sich der immer situativ bestimmte Einzelne an allen drei Kategorien orientieren. Bei seinen Handlungsentscheidungen findet also die Mehrheitsmeinung oder die ideologische/dogmatische oder die selbstbedarfliche Einstellung Berücksichtigung – in der Regel ein Gemenge daraus mit jeweils graduellem Unterschied. Bedeutsam ist die Grundeinstellung, die in der (selbst-)erziehlichen Prägung entsteht und durch den Einfluss des sozialen Umfeldes fortschreitend mitgeformt wird.
2.2.1.3 Von Bedeutung für die sokratische Tüchtigkeit der Seele und den Weg zum Gelingen des Guten sind nicht lediglich die im Grunde zunächst nur abstrakten Normverbindlichkeiten. Vor allem spielt deren Praktikabilität im Alltag des Einzelnen eine Rolle, die deren Annehmbarkeit bestimmt (z. B. bei Problemen der Umsetzung der katholischen Sexual-Moral: Jegliche sexuelle Betätigung ohne die Bereitschaft zum Kind gelte selbst in der Ehe – als Ausnahme gilt dabei die Verhütungsmethode nach »Knaus-Ogino«, die sogenannte Kalendermethode – als schwere Verfehlung). Die ideale bzw. funktionale Norm kann, wenn sie bedingungslos gefordert und umgesetzt wird, mitunter Störungen verschiedenster Art auslösen. Auch mit der statistischen Norm, als der Verhaltenskopie der Mehrheit, ist abwägend umzugehen.
2.3 Die kritische Grundhaltung zur Erreichung der Wahrheit gibt zu bedenken: Auch wenn eine durch Mehrheitsentscheidung (statistische Norm) mittels Wahlen als kompetent anzuerkennende Institution einen verbindlichen Rechtsgegenstand (ideale Norm) setzt, der z. B. gegen die im Grunde immer unveränderlichen Menschenrechte verstößt, so ist ein Handeln danach nicht wahr/richtig – wie gerade die jüngere deutsche Geschichte lehrt.
3. »Warum ist überhaupt Sein und nicht viel mehr nichts?«, gilt Martin Heidegger (»Einführung in die Metaphysik«, Tübingen 1987, S. 1) als Grundfrage der Metaphysik.
3.1 Mit »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« schließt Ludwig Wittgenstein seinen Tractatus. (»Tractatus logico-philosophicus«, Frankfurt 1984, S. 85
3.1.1 Es ist sinnlos, nach etwas zu fragen, wenn von vornherein klar zu sein scheint, dass es nicht beantwortbar ist. Denn Reaktionen darauf könnten nur Vermutungen sein.
4. Das Wissen um das Universum ist fortgeschritten. Obwohl noch gering, reicht es aber bis zum Phänomen des sogenannten Urknalls.
4.1 Der religiöse Glaube, die Welt sei erschaffen von einer nicht zu erfassenden Wesenheit, Gott, als Urkraft allen Seins, kann die vom Wissen darum freien Räume des Bewusstseins besetzen: Dieser Glaube füllt und erweitert somit das Sein. Im Umgang mit dem in der Psyche angelegten Glaubensbedürfnis des Menschen ist der Urgrund allen Seins allerdings schlüssig zu begreifen:
so könnte des Menschen natürliche Glaubenskraft dazu führen, den Urgrund allen Seins in seinem Bewusstsein (verhalten) personalisierend zu beleben;
dadurch erschiene in dieser Verlebendigung die Vorstellung von (annähernd) leibhaftiger Göttlichkeit;
eine Zurückhaltung im persönlichen Vorstellungsgefüge der Bildung physischer Substanz, also von Körperlichkeit in Vermenschlichung, des so Gewonnenen vorausgesetzt, entstünde im Bewusstsein die reine lebendige Geistigkeit des Urgrundes allen Seins – und zwar ohne sich des Schaffens eigener Götterwelten zeihen zu müssen, da die Verlebendigung des Urgrundes allen Seins ein logisches Erfordernis im menschlichen Bewusstsein verkörpert.
5. Selbst wenn in den Glauben eine überirdische Institution als Ursache aller kosmischen Vorhandenheiten einflösse, wäre die Frage nach dem Warum der weltlichen Gegebenheit nicht beantwortet, da nicht beantwortbar – demnach unsinnig.
- Gedanken zur
Transsubstantiation, der Wandlung der Gaben ab Seite 40
- Vorstellung des
monotheistischen Denkmodels zur Trinität der Seinsweisen des Urgrundes allen Seins ab Seite 46